Bachmann, Ingeborg Die gestundete Zeit

PIPER

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Textgrundlage: Werke, Band 1, herausgegeben von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, Piper Verlag, München 1982, 3. Auflage 1993.

Der Abdruck von »Ein Monolog des Fürsten Myschkin zu der Balltepantomime ›Der Idiot‹, Musik von Hans Werner Henze, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags B. Schott`s Söhne, © Schott Musik International Mainz.«

ISBN 978-3-492-97279-6

Juni 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1978

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Dr. Heinz Bachmann

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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I

Ausfahrt

Vom Lande steigt Rauch auf.

Die kleine Fischerhütte behalt im Aug,

denn die Sonne wird sinken,

ehe du zehn Meilen zurückgelegt hast.

Das dunkle Wasser, tausendäugig,

schlägt die Wimper von weißer Gischt auf,

um dich anzusehen, groß und lang,

dreißig Tage lang.

Auch wenn das Schiff hart stampft

und einen unsicheren Schritt tut,

steh ruhig auf Deck.

An den Tischen essen sie jetzt

den geräucherten Fisch;

dann werden die Männer hinknien

und die Netze flicken,

aber nachts wird geschlafen,

eine Stunde oder zwei Stunden,

und ihre Hände werden weich sein,

frei von Salz und Öl,

weich wie das Brot des Traumes,

von dem sie brechen.

Die erste Welle der Nacht schlägt ans Ufer,

die zweite erreicht schon dich.

Aber wenn du scharf hinüberschaust,

kannst du den Baum noch sehen,

der trotzig den Arm hebt

– einen hat ihm der Wind schon abgeschlagen

– und du denkst: wie lange noch,

wie lange noch

wird das krumme Holz den Wettern standhalten?

Vom Land ist nichts mehr zu sehen.

Du hättest dich mit einer Hand in die Sandbank krallen

oder mit einer Locke an die Klippen heften sollen.

In die Muscheln blasend, gleiten die Ungeheuer des Meers

auf die Rücken der Wellen, sie reiten und schlagen

mit blanken Säbeln die Tage in Stücke, eine rote Spur

bleibt im Wasser, dort legt dich der Schlaf hin,

auf den Rest deiner Stunden,

und dir schwinden die Sinne.

Da ist etwas mit den Tauen geschehen,

man ruft dich, und du bist froh,

daß man dich braucht. Das Beste

ist die Arbeit auf den Schiffen,

die weithin fahren,

das Tauknüpfen, das Wasserschöpfen,

das Wändedichten und das Hüten der Fracht.

Das Beste ist, müde zu sein und am Abend

hinzufallen. Das Beste ist, am Morgen,

mit dem ersten Licht, hell zu werden,

gegen den unverrückbaren Himmel zu stehen,

der ungangbaren Wasser nicht zu achten

und das Schiff über die Wellen zu heben,

auf das immerwiederkehrende Sonnenufer zu.

Abschied von England

Ich habe deinen Boden kaum betreten,

schweigsames Land, kaum einen Stein berührt,

ich war von deinem Himmel so hoch gehoben,

so in Wolken, Dunst und in noch Ferneres gestellt,

daß ich dich schon verließ,

als ich vor Anker ging.

Du hast meine Augen geschlossen

mit Meerhauch und Eichenblatt,

von meinen Tränen begossen,

hieltst du die Gräser satt;

aus meinen Träumen gelöst,

wagten sich Sonnen heran,

doch alles war wieder fort,

wenn dein Tag begann.

Alles blieb ungesagt.

Durch die Straßen flatterten die großen grauen Vögel

und wiesen mich aus.

War ich je hier?

Ich wollte nicht gesehen werden.

Meine Augen sind offen.

Meerhauch und Eichenblatt?

Unter den Schlangen des Meers

seh ich, an deiner Statt,

das Land meiner Seele erliegen.

Ich habe seinen Boden nie betreten.

Fall ab, Herz

Fall ab, Herz, vom Baum der Zeit,

fallt, ihr Blätter, aus den erkalteten Ästen,

die einst die Sonne umarmt’,

fallt, wie Tränen fallen aus dem geweiteten Aug!

Fliegt noch die Locke taglang im Wind

um des Landgotts gebräunte Stirn,

unter dem Hemd preßt die Faust

schon die klaffende Wunde.

Drum sei hart, wenn der zarte Rücken der Wolken

sich dir einmal noch beugt,

nimm es für nichts, wenn der Hymettos die Waben

noch einmal dir füllt.

Denn wenig gilt dem Landmann ein Halm in der Dürre,

wenig ein Sommer vor unserem großen Geschlecht.

Und was bezeugt schon dein Herz?

Zwischen gestern und morgen schwingt es,

lautlos und fremd,

und was es schlägt,

ist schon sein Fall aus der Zeit.

Dunkles zu sagen

Wie Orpheus spiel ich

auf den Saiten des Lebens den Tod

und in die Schönheit der Erde

und deiner Augen, die den Himmel verwalten,

weiß ich nur Dunkles zu sagen.

Vergiß nicht, daß auch du, plötzlich,

an jenem Morgen, als dein Lager

noch naß war von Tau und die Nelke

an deinem Herzen schlief,

den dunklen Fluß sahst,

der an dir vorbeizog.

Die Saite des Schweigens

gespannt auf die Welle von Blut,

griff ich dein tönendes Herz.

Verwandelt ward deine Locke

ins Schattenhaar der Nacht,

der Finsternis schwarze Flocken

beschneiten dein Antlitz.

Und ich gehör dir nicht zu.

Beide klagen wir nun.

Aber wie Orpheus weiß ich

auf der Seite des Todes das Leben,

und mir blaut

dein für immer geschlossenes Aug.

Paris

Aufs Rad der Nacht geflochten

schlafen die Verlorenen

in den donnernden Gängen unten,

doch wo wir sind, ist Licht.

Wir haben die Arme voll Blumen,

Mimosen aus vielen Jahren;

Goldnes fällt von Brücke zu Brücke

atemlos in den Fluß.

Kalt ist das Licht,

noch kälter der Stein vor dem Tor,

und die Schalen der Brunnen

sind schon zur Hälfte geleert.

Was wird sein, wenn wir, vom Heimweh

benommen bis ans fliehende Haar,

hier bleiben und fragen: was wird sein,

wenn wir die Schönheit bestehen?

Auf den Wagen des Lichts gehoben,

wachend auch, sind wir verloren,

auf den Straßen der Genien oben,

doch wo wir nicht sind, ist Nacht.

Die große Fracht

Die große Fracht des Sommers ist verladen,

das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,

wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.

Die große Fracht des Sommers ist verladen.

Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,

und auf die Lippen der Galionsfiguren