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www.piper.de
Mit einem Vorwort von Konrad Lorenz
Mit 23 Fotos sowie 44 Zeichnungen des Verfassers
ISBN 978-3-492-96595-8
Juli 2017
© Piper Verlag GmbH, München 1971
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: Darwin Wiggett/First Light/Corbis
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Zum Sehen geboren
Zum Schauen bestellt
Das unvoreingenommene Anschauen der Natur ist Beginn und Grundlage allen Forschens, und es ist um so unentbehrlicher, je komplizierter das zu erforschende Objekt ist. Nächst dem Menschen selbst sind die höheren Tiere die kompliziertesten Systeme, die es auf unserem Planeten gibt, und wenn wir heute eine ganze Menge über die subtilsten Probleme der Physik und Chemie, aber vergleichsweise gottsjämmerlich wenig über uns selbst wissen, so liegt das zum großen Teil daran, daß das Schauen unmodern geworden ist und daß nur das Quantifizierbare als legitimes Objekt der Wissenschaft angesehen wird. So gilt heute auch in der breiten wissenschaftlichen Öffentlichkeit derjenige recht wenig, der aus reiner Freude am Schauen forscht.
Um in das Wesen eines höheren Tieres einzudringen, muß man aber sehr lange schauen und dazu noch sehr gute Augen haben. Ohne die Freude am Schauen würde selbst die Geduld eines ostasiatischen Heiligen nicht ausreichen, um ein und dasselbe Tier oder eine und dieselbe Tierart durch jene langen Zeiträume zu beobachten, die nötig sind, um die wesentlichen Züge des Verhaltens zu erkennen. Daher sind die größten und erfolgreichsten Verhaltensforscher stets nicht nur Dilettanten im echten Sinne (das Wort Dilettant leitet sich vom italienischen Verb »dilettarsi«, sich ergötzen, ab), sondern dazu noch Amateure, »Liebhaber«, für ganz bestimmte Tiere oder Tiergruppen. Charles Otis Whitman, der eine große Pionier der vergleichenden Verhaltensforschung, war geradezu vernarrt in die Ordnung der Tauben, der andere, Oskar Heinroth, in die der Entenvögel. Der mit diesen unentbehrlichen Voraussetzungen erfolgreicher Verhaltensforschung Begabte muß für die Masse der modernen Zivilisationsmenschen, die keinen Wert kennen als den des Geldes, als doppelt verrückt erscheinen.
Ein solcher doppelt Verrückter – mit anderen Worten ein echter und rechter Verhaltensforscher – ist Eberhard Trumler. Er hat die »guten Augen«, die zum Beobachten, zum Erschauen des Wesentlichen nötig sind, und dies tut sich auch in seiner großartigen Begabung zum Zeichnen von Tieren und tierischen Ausdrucksbewegungen kund. Die leichte Übertreibung, die an die Karikatur grenzt, indem sie das Wesentliche überbetont, ist kennzeichnend für die Zeichnungen des Künstlers, der – wie Lynkeus der Türmer — zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt ist. Die gute und wahre Karikatur ist der beste Beweis, daß der Zeichner in das Wesen des Karikierten eingedrungen ist, und wer die Zeichnungen in Trumlers Pferdebuch gesehen hat, der hat seines Geistes einen Hauch verspürt.
Die Pferde sind die eine große Liebe in Trumlers Leben, die Hunde sind die zweite. Gegenwärtig sitzt er in Oberbayern, in einer alten Mühle, und gibt das Geld, das er sich mit seinen ausgezeichneten Tierbüchern verdient, für die Erhaltung einer Unmenge von »rasselosen« Hunden aus, deren Zucht nichts einbringt und deren Ernährung durchaus nicht billig ist.
Ich glaube Hunde selbst ziemlich gut zu kennen und habe sogar gewagt, ein allgemeinverständliches Buch über sie zu schreiben. Trumler aber kennt sie noch unvergleichlich besser; beim Lesen seines Buches war ich immer wieder erstaunt, ja beschämt, festzustellen, wie viele Einzelheiten er beobachtet und in ihrer Bedeutung gewürdigt hat, die mir zwar bekannt waren, die ich gesehen, aber doch nicht gesehen hatte. Seine Stärke liegt darin, daß er so viele und so verschiedene Hundepersönlichkeiten in nahem Kontakt kennengelernt hat. Ich gebrauche das Wort »Persönlichkeit« im Bewußtsein seiner Tragweite. »Persona« heißt ursprünglich die Maske, im übertragenen Sinne die Rolle, die der sie tragende Schauspieler im Rahmen des Dramas spielt. Der Begriff der menschlichen Person ist durch die Rolle bestimmt, die der Einzelmensch im Bezugssystem seiner Familie und seiner Sozietät spielt. Es bedeutet eine gewaltige Überschätzung der individuellen Verschiedenheiten zwischen den Einzelwesen einer hochentwickelten Tierart, »dem Tier« die Fähigkeit abzusprechen, bestimmte soziale »Rollen« in gleicher Weise zu übernehmen. Höhere Tiere, wie Elefanten, Pferde und Hunde, sind, wie jeder Kenner bestätigen wird, individuell so stark voneinander verschieden, daß man in die Struktur ihrer Sozietäten gar keinen richtigen Einblick bekommen kann, wenn man nicht die Verschiedenheit der Individuen und damit ihre Fähigkeit, bestimmte Rollen zu übernehmen, mit in Betracht zieht. Eben dieser Umstand macht sie zu Personen im philosophischen Sinne dieses Wortes.
Eberhard Trumler schildert uns eine Reihe von Hundepersönlichkeiten. Er schildert sie von der Wiege bis zum Grabe, in allen Eigenheiten ihrer körperlichen Entwicklung und ihres Verhaltens, in den allen Individuen gemeinsamen arteigenen Merkmalen und andererseits in ihren die Einzelpersönlichkeit kennzeichnenden Verschiedenheiten. Er behandelt die Fragen der stammesgeschichtlichen Herkunft, der Entstehung des Haushundes aus wilden Vorfahren, die er ebensogut kennt wie unseren Canis »familiaris«. Sein besonderes Interesse gilt dem verwilderten Haushund, dem Dingo.
Die Fülle des Wissens, die in dem vorliegenden Buche zusammengetragen ist, wird nicht nur den Tierliebhaber entzükken, sondern auch den Fachwissenschaftler bereichern. Was mich ganz besonders freut, ist, daß Trumlers Hundebuch wieder mit seinen wundervollen Zeichnungen illustriert ist.
Möge das neue Hundebuch die Beachtung finden, die es verdient, möge es die vielen Hundefreunde mit einem Autor bekannt machen, der den Sinn für die Schönheit der Natur mit echtem Forschungsdrang vereinigt.
In einer von Wäldern und Weiden umgebenen kleinen Talsenke steht auf 200jährigen Grundmauern die Grubmühle, oder, genauer gesagt, das, was von ihr nach einem großen Brand übriggeblieben ist. Ein Bach umfließt im Bogen das Anwesen, ein schilfbewachsener Teich gehört dazu, Wiesen und ein Auwäldchen mit Pappeln, Ulmen und Weiden. Hinzu kommen noch Buchen, Eichen, Fichten, Ahorn, Birken, dazwischen Haselsträucher, Liguster, Holunder – es ist ein kleines Stück einer reizvollen Landschaft, fernab des lärmenden Getriebes großer Städte.
Mein Arbeitszimmer befindet sich im ersten Stock der Grubmühle. Auf meinem Schreibtisch steht immer ein Feldstecher. Manchmal benütze ich ihn, um zu sehen, wie eine Bachstelze mit wildem Grimm ein in der Nähe wohnendes Bergstelzen-Pärchen aus ihrem Revier verjagt, oder um zu beobachten, wie das Bussard-Paar Futter zum Horst hinüberträgt. Aber normalerweise sind die gläsernen Augen meines wichtigsten Arbeitsgerätes auf »mein Volk« gerichtet. Ich kann fast alle meine Hunde von hier aus sehen. Wenn ich mehr Zeit habe, dann steige ich noch eine Treppe höher und setze mich auf den Balkon; von ihm aus habe ich einen noch besseren Einblick in meine Zwinger. Seit Jahren bin ich von morgens bis abends von etwa dreißig bis sechzig Hunden umgeben. Ich züchte Hunde. Das muß ein gutes Geschäft sein, mag man denken. Dazu möchte ich sagen: Es ist eine wunderschöne Beschäftigung. Wenn ich irgendwelche wertvollen Rassehunde züchten würde, wer weiß, vielleicht wäre es dann wirklich auch ein gutes Geschäft. Der Jammer ist aber: ich kann meine Hunde gar nicht verkaufen – ich kann sie nicht einmal verschenken! Was sind das denn für Hunde, die man nicht einmal verschenken kann? Es sind Dingos, jene australischen Wildhunde, die man ab und zu in Tiergärten zu sehen bekommt. Auch die Stammeltern meiner Dingos kommen aus einem Zoo; ich verdanke sie Alfred Seitz, der bis 1970 den Tiergarten Nürnberg geleitet hat. Dingos eignen sich nicht als Heimhunde im üblichen Sinne, sie machen zu viele Schwierigkeiten. Doch nicht genug damit. Ich habe diese Dingos auch mit Haushunden verkreuzt und diese Bastarde in einigen Generationen weitergezüchtet. Auch das ergibt Hunde, die man niemandem, der Wert auf ein gepflegtes Heim legt, zumuten könnte. Dann habe ich Schakale – also auch keine Hunde im üblichen Sinne. Ferner lebt hier ein Elchhundepaar. Dieses Paar hat einen großen Abstammungsnachweis, also einen »Stammbaum«, und es kann sein, daß ich Nachkommen dieses Paares tatsächlich einmal verkaufen kann; aber das wird noch sehr lang dauern, denn der Rüde ist noch ein Kind, und wer will schon wissen, ob gleich der erste Wurf so ausfällt, wie man sich das wünscht? – Die beiden Schäferhunde darf ich nicht vergessen; schöne Hunde, wunderschöne Hunde sogar. Aber es handelt sich um Vater und Tochter, und damit kommt man erfahrungsgemäß nicht weit; auch gut, sie haben ohnehin keine Abstammungsnachweise. Ich kann also auch keinen Schäferhund verkaufen.
So bleibe ich halt, wie man so sagt, auf meinen Hunden sitzen. Genau das will ich aber, denn sie alle sollen mir helfen, Fragen der Haustierwerdung und der damit verbundenen Verhaltensänderungen zu entschlüsseln. Deswegen bin ich auf den Hund gekommen!
Ich stelle planmäßige Zuchtversuche an, um zu sehen, wie Wildtiere zu Haustieren wurden; wie sich dabei so vieles geändert hat: der Körperbau, die Färbung, die Behaarung, aber vor allem auch das Verhalten, das uns in diesem Buch besonders interessieren wird. Ich werde zeigen, daß man das Verhalten des Haushundes nicht an Dackeln, Schäferhunden oder Terriern erforschen kann, sondern daß man hier nur Teile des Verhaltens entdeckt und daß so manches davon irgendwie verändert und von Individuum zu Individuum verschieden ist. Konrad Lorenz, der Begründer der Verhaltensforschung, der selbst so viel zum Verständnis des Hundeverhaltens beigetragen hat, gab uns diesen Schlüssel in die Hand: Nur das Wildtier hat sein artgemäßes Inventar an Verhaltensweisen komplett und unabgewandelt zu eigen; das Haustier aber hat auf dem Wege seines Erbwandels, der so viele unbekannte Komponenten enthält, undurchschaubare und oftmals sehr komplizierte Veränderungen erfahren, daß es nicht mehr möglich ist, in der Vielheit eine grundsätzliche Einheit zu finden. Das wird erst dann möglich sein, wenn wir das Verhalten der ursprünglichen, unverbildeten Urformen kennen und wenn wir darüber hinaus auch noch feststellen, wie und wodurch jenes Geschehen, das wir Domestikation, Haustierwerdung, nennen, das Ursprungsverhalten abgeändert hat. Je mehr wir davon wissen und in Zukunft noch erfahren werden, um so besser werden wir jeden einzelnen unserer heutigen so mannigfaltigen Hunde verstehen.
Das ist auch der Grund, warum in diesem Buch sehr viel von Wölfen, Schakalen und Dingos zu lesen sein wird und nur wenig von dem jedem Leser vertrauten Haushund; aber ich kann gleich versprechen, daß gerade diese Schilderungen, Beobachtungen und Erlebnisse dem Leser mehr Aufschluß über seinen Dackel, Boxer, Pinscher, Schäferhund, Zwergpudel, Windhund oder welche Rasse es immer sei, bieten werden, als wenn ich nur von solchen Hunden berichten würde. Ich kann es mit gutem Gewissen zusagen, denn ich habe in all diesen Jahren meines »Hundelebens« gerade bei jenen Tieren, die dem Hundefreund so fremdartig erscheinen mögen, bei diesen fuchsgesichtigen, exotisch wirkenden Dingos, mehr über die Wirklichkeit Hund erfahren, als das bei irgendeinem unserer Haushunde möglich wäre.
Die Welt des Hundes ist reicher, als man denkt, wenn man mit seinem »Hasso« oder »Lumpi« an der Leine spazierengeht. Wer sich die Mühe macht, in diese Welt nur ein wenig einzudringen, der wird seinen Hund mit anderen Augen sehen lernen. Er wird vor allem den Hund nicht für ein Geschöpf halten, das aus Stubenreinheit, Gehorsam, Fütterung und Pflege besteht. Er wird auch erkennen, daß alles das, was man aus Tierliebe in den Hund hineinprojiziert, ein dürftiger Schatten dessen ist, was im Hund wirklich steckt, wenn er das sein darf, was er in Wahrheit ist: ein Hund!
Ich habe dieses Buch in der Hoffnung geschrieben, daß es einiges dazu beitragen kann, das aus überlieferter Unwissenheit und gewohnter Gedankenlosigkeit dem Hund vielfach zugemutete Sklavendasein leichter zu machen. Es wäre schön, wenn die folgenden Seiten zum Nachdenken anregen würden, ob wir wirklich alles tun, um dem Hund gerecht zu werden und sein Leben nicht zu einem unwürdigen »Hundeleben« werden zu lassen.
Man kann nur über Hunde schreiben, die man kennt. Weil man aber nicht all die Millionen gegenwärtiger und künftiger Hunde kennen kann, wird es immer wieder welche darunter geben, die in dieser oder jener Beziehung anders sind. Ich glaube daher, daß wir gut daran tun, uns erst einmal über die Frage zu unterhalten, woher diese große Individualität bei unseren Hunden stammt, ehe wir nach den allgemeinen Verhaltensmustern forschen. Nur so kann ich der Gefahr entgehen, daß mich künftig alle Hunde gesträubten Fells anknurren und mich einen »Gleichmacher« nennen, der ihre ausgeprägte Persönlichkeit, ihre individuelle Besonderheit übersieht und ihren Herrchen und Frauchen weismachen will, daß es ein uniformes Verhalten der Hunde gibt.
Aller Fleiß und alle Mühe des Forschers ist am Ende vergebens, wenn er seine Studien auf ungenügenden Grundlagen aufbaut und gar, wenn er vom ungeeigneten »Material« ausgeht, wie man im Jargon des Wissenschaftlers die Hunde nennen müßte, deren Verhalten man erforschen will. Es ist für jedermann selbstverständlich, daß ich das Hundeverhalten nicht an Katzen erforschen kann; genauso selbstverständlich sollte es sein, daß man das Hundeverhalten nicht an hochgezüchteten Rassehunden erforschen kann – hierfür sind sie nun einmal ein denkbar ungeeignetes Material. An ihnen kann man nur die historisch gewordenen Verhaltens-Abänderungen von einem einstigen Verhalten studieren, das man für diesen Zweck aber erst einmal genau kennen muß. Es geht uns also um das ursprüngliche, um das »Ur«-Verhalten, um das Verhalten also, das die Natur, vom Menschen unbeeinflußt, ihren Wildhunden »angezüchtet« hat, ehe der Mensch mit seiner Züchterkunst die Natur »verbesserte« und Rassehunde nach seiner Vorstellung schuf.
Wie ausgeprägt die Individualität bei unseren Hunden ist und welche Rätsel ein einzelner Hund in seinem Verhalten aufgeben kann, hat mich meine Stina gelehrt. Hier ist die Geschichte vom Kummer mit Stina.
Stina ist eines von drei einander sehr unähnlichen Geschwistern, die ich auf krummen Wegen mit Hilfe meiner Elchhündin Binna und einer weiter zurückliegenden Einkreuzung von Dingos gezüchtet hatte. Während zwei dieser damals acht Monate alten Hunde eine Schulterhöhe von etwa 45 Zentimeter hatten, war der dritte mit seinen knapp 30 Zentimetern ein richtiger Zwerg. Gerade der Zwerg aber empfing mich am Gitter immer mit einer überströmenden Herzlichkeit. Eines Tages sagte ich mir: Nein – dieses liebenswürdige Hündchen ist nichts für den Zwinger, es wird der erste Hund sein, der mein Arbeitszimmer mit mir teilen darf. Ich werde ihn verwöhnen, stets um mich haben, und er wird auf meinem Schoß liegen, wenn ich mein Buch über das Verhalten der Hunde schreibe.
Selbstverständlich kann ein im Zwinger aufgewachsener Hund nicht wissen, daß man im Arbeitszimmer seines Herrchens seine Bedürfnisse weder am Fußboden noch auf einem Polstersessel verrichten darf. Es ist aber für einen gelernten Hundehalter eine Kleinigkeit, dies einem Hund sehr schnell abzugewöhnen.
So dachte ich damals, als ich die ersten Häufchen auf die Schaufel kehrte.
Aber auch nach drei Wochen hatte sich in diesem Punkt nichts geändert! Meine reizende Stina wurde sehr nervös, wenn sie längere Zeit im Freien war; sie konnte es kaum erwarten, in mein Arbeitszimmer zurückzukehren. Denn nur hier und nirgendwo sonst war es schön, dem inneren Drang nachzugeben. Man muß den verklärten und zufriedenen Ausdruck ihres kleinen dunklen Gesichtchens gesehen haben, wenn sie danach das Getane begutachtete! Dabei entdeckte meine Stina jeden Tag einen neuen, originellen Platz für ihre großen und kleinen Geschäfte.
Stina war keinesfalls dumm. Sie hatte es innerhalb von 24 Stunden heraus, daß ich Wert auf Stubenreinheit lege. Aber sie war eben mit meiner komischen Pedanterie nicht einverstanden. Deshalb beschäftigte sie sich in der Folgezeit allein mit dem Problem, wie man mich überlisten könne. Sie löste die Frage in 99 von 100 Fällen. Sie muß auch viel darüber nachgedacht haben, wie man der Gefahr, ein Schoßhund zu werden, entgehen kann. Ich glaube an sich nicht daran, daß ein Hund nachdenken kann, zumindest nicht so abstrakt wie ein Mensch. Aber bei Stina muß das irgendwie anders sein.
Bei Stina ist fast alles anders, und wenn sie mich aus sicherer Entfernung mit schrägem Blick von unten her ansieht, habe ich das Gefühl, daß sie mich nicht ernst nimmt. Am wenigsten meine Vorstellungen über das Hundeverhalten. Über die scheint sie sich ausgesprochen lustig zu machen!
Anfangs dachte ich, ich müßte nur etwas Geduld haben; schließlich war Stina im Zwinger aufgewachsen und an seine Verhältnisse gewöhnt. Ich war öfter bei ihr gewesen, und jedesmal war sie die Liebenswürdigkeit selbst; genauer gesagt: frech und zudringlich, wie ihre beiden Geschwister auch. Also mußte es an der für sie noch fremden Umgebung liegen, an die sie sich erst einmal gewöhnen mußte. Aber das war eben ein Trugschluß.
So hat der kleine Hund mich völlig aus dem Konzept gebracht und mich mehr als drei Wochen an der Nase herumgeführt. Es ist einfach nicht möglich, das Hochgefühl der ersten Zeilen eines Buches zu durchleben, wenn eine Stina mit gespanntem Blick jede kleinste Bewegung, die man macht, verfolgt, um sofort in eine andere Ecke des Zimmers zu traben, wenn sie den Verdacht hat, diese Bewegung könnte ihr gelten.
Schließlich wurde ich selbst von Tag zu Tag unsicherer und begann an mir zu zweifeln, weil ich mit einem so kleinen Hund nicht fertig wurde. Wenn ich einen Dingo, einen Wildhund also, der bös und gefährlich wie ein Wolf werden kann, nach zweijährigem Zwingerleben in mein Zimmer nehme, wird er zwar im Verlaufe von mehreren Stunden die Einrichtung zu einem unentwirrbaren Gemengsel aus Holzspänen, Glassplittern und Papierstückchen verarbeiten; aber er wird zwischendurch jede freie Minute, die ihm dabei bleibt, dazu verwenden, um mir das Gesicht abzuschlecken, auf meinen Schoß zu springen, auf meinen Kopf zu steigen oder sonst auf seine Weise zu erkennen geben, wie wunderschön doch solche Kontakte zwischen Hund und Mensch sind. Ein Bauer wollte einmal seinen berüchtigt scharfen Wachhund erschießen, weil er mich nicht zerrissen hatte, sondern sich mit mir anfreundete. Der Vater eines Freundes schenkte mir eine von seinen besten Zigarren, weil seine alle Fremden stets abweisende Dackelin nach minutenlanger Bekanntschaft auf meinen Schoß krabbelte und zufrieden ihren schlanken Kopf zwischen Hemd und Jacke legte.
Mit Stina aber komme ich bis heute nicht zurecht. Zwar hat sie sehr freundliche Anwandlungen, wenn ich auf meinem gewohnten Platz sitze und sie zur Tür hereinkommt. Sie begrüßt mich dann sehr lieb, stellt sich sogar mit den Vorderfüßen auf die Sitzfläche des Sessels, wedelt und leckt meine Hand; sie läßt sich kraulen und freut sich ganz offensichtlich. Findet sie aber, daß die Begrüßung lang und intensiv genug gewesen ist, dann verschwindet sie blitzartig unter der Couch und kommt erst hervor, wenn ich die Tür weit öffne und »Stina, raus!« rufe. Sie flitzt durch die offene Tür in den Korridor und weicht dann jedesmal mit eingeklemmtem Schwanz ängstlich aus, wenn ich vorbeigehe. Sie spielt mit den großen Schäferhunden im Freien, kommt aber kaum oder nur ausnahmsweise auf mein Rufen und muß schließlich mit List ins Haus gelockt werden.
So ist das mit Stina, dem kleinen Hund, den ich von seiner Geburt an kenne, den ich als Welpe alle zwei Tage gewogen habe, dessen Geschwister die Freundlichkeit selbst sind, ohne jegliche Scheu.
Was mir mit Stina passierte, kann nämlich jedem Leser dieses Buches auch passieren. Er wird dann seinen Hund betrachten, den Kopf schütteln, alle Hundebücher – auch meines! – resigniert aus der Hand legen und sagen: kein Wort wahr! Und ich werde ihm nicht einmal widersprechen können – was seinen, genau seinen Hund betrifft.
Es erheitert mich immer wieder, wenn ich beobachte, wie ein Auto, das in schneller Fahrt die etwa hundert Meter entfernte Straße entlangkommt, plötzlich anhält und im Rückwärtsgang zurückfährt, um schließlich zögernd in den zu den Zwingern führenden Weg einzubiegen. Ich weiß dann, daß es sich um Fremde handelt, die sich auf diese wenig bekannte neue Straße verirrt haben. Meist wird am ersten Zwinger gehalten, die Leute steigen aus und stehen dann sichtlich ratlos vor den Hunden. Diese Ratlosigkeit wächst, wenn sie sich weiteren Zwingern zuwenden. Manche besteigen nach einer Weile kopfschüttelnd wieder ihren Wagen, andere wollen es genau wissen und kommen fragen. »Bittschön – was sind das für Hunde – oder sind das Füchse?«
Wenn ich es erklärt habe, kommt unweigerlich die nächste Frage: »Kann man so ein Tier kaufen?« Meine Antwort ist zu meinem eigenen Bedauern ein Nein – davon hab ich ja schon erzählt. Die Frager bedanken sich dann freundlich und schütteln auch den Kopf, aber erst, wenn sie im Wagen sitzen. Sie schütteln ihn nun nicht, weil sie mit den Hunden nichts anfangen können, sondern über den Verrückten, der Hunde züchtet, mit denen man nichts anfangen kann.
Dabei kann man in Wahrheit sehr viel mit ihnen anfangen, so viel, daß auch dieses Buch noch lange nicht alles enthält, was es hierüber zu sagen gäbe. Der Leser erwartet, daß ich vom Verhalten des Hundes berichte, deswegen muß ich viele andere Dinge, die nicht minder interessant wären, weglassen. Soweit sie mit dem Verhalten in Verbindung zu bringen sind, werde ich ohnedies einige andere Dinge am Rande streifen. Ich will nun meine »Urhunde« erst einmal vorstellen.
Ich entschloß mich zum Erwerb der Elchhündin Binna, als ich einiges über die Geschichte dieser Tiere erfahren hatte. Sie sollen nämlich nach dem Zeugnis der skandinavischen Kynologen in ihrer heutigen Form schon vor einigen tausend Jahren gezüchtet worden sein. Ausgangsform soll ein nordischer Torfspitz gewesen sein, wie man seine Überreste am Ladogasee gefunden hat, in Lagerstätten, die mindestens 6000 Jahre alt sind. Zu dieser Zeit waren derartige Hunde schon weit verbreitet; sie bewachten auch die Pfahlbausiedlungen der Schweizer Seen.
Meine Binna entstammt also einem uralten Hundegeschlecht und verkörpert bis zu einem gewissen Grad einen steinzeitlichen Hundetyp. Gerade das war es, was mich bewog, mich mit dieser Hunderasse näher zu befassen; diese Rasse war auch keinen »Modeströmungen« unterworfen wie so viele unserer Rassehunde. Somit hatte ich ein Haustier, das in seinen Erbanlagen von alters her unverändert und einheitlich ist. Natürlich kann der Fachmann Unterschiede zwischen den Elchhunden sehen, aber sie sind geringfügig; ich möchte meinen, sie sind nicht größer als die Unterschiede in einem Rudel blutsverwandter Wölfe.
Natürlich sind Elchhunde Haushunde im vollen Sinn des Wortes. Rassehunde sogar, sorgsam gezüchtet unter der Zuchtauslese des Menschen, und das während einiger Jahrtausende. – Kann ich nun bei solchen Hunden, bei denen man auf den Ausstellungen sogar darauf achtet, daß die dicht und lang behaarte Rute genau auf der Mittellinie der Kruppe eingerollt getragen wird, noch ein Urverhalten erwarten?
Vielleicht ist diese Frage zu beantworten, wenn man einmal überlegt, wofür und auf welche Weise der Elchhund gezüchtet wird. Denken wir zunächst daran, daß alle Skandinavier überaus hundefreundliche Menschen mit sehr viel Sinn für Natur sind. In den wenigen Großstädten aber hält sich kaum ein Mensch einen Elchhund – wozu auch? Der Hundeverstand des Nordländers gewährleistet dem Elchhund das Heim, das ihm gemäß ist: die Gutshöfe auf dem Lande, ob groß oder klein, sind seine Wohnstatt. In Oslo oder in Stockholm erkennt man die Hundefreudigkeit daran, daß es hier alle Rassen der Welt in oft ganz hervorragenden Spitzentieren zu sehen gibt. Um Elchhunde zu sehen, muß man schon hinaus in die Fjorde und Fjelle, in die endlosen Fichtenwälder mit den birkenumstandenen Mooren dazwischen; also in den Lebensraum des Elchs.
Für die Jagd auf diese Riesenhirsche mit den Ramsköpfen und den spitzenbewehrten Schaufeln wird der Elchhund seit Urzeiten gezüchtet und gehalten. Diese stattlichen Elche sind ein ungemein schwer aufzuspürendes Wild, das es geschickt versteht, sich jedem Verfolger zu entziehen. Ohne den Elchhund hätte die Elchjagd wenig Aussicht auf Erfolg. Er zieht unermüdlich mit tiefer Nase auf den Elchwechseln dahin, unterscheidet alte von frischen, »heißen« Fährten und findet schließlich seinen Elch, und wenn er drei Tage lang ohne Rast und Ruh auf der Fährte bleiben muß. Elchwechsel führen über Stock und Stein, bald die steilen Felskuppen hinan, bald hinab durch das Moor; es ist für den Jäger eine beachtliche Strapaze, seinem ungeduldigen Hund zu folgen. Er zieht mit aller Kraft an der langen Leine, die Nase dicht am Boden. Sobald sich die Erregung des Elchhundes deutlich zu steigern beginnt, wird die Leine losgeklinkt. Nun stiebt er los, um das nahe Wild zu stellen. Es ist nahezu unfaßlich, wie so ein halbmeter hoher Hund es fertigbringt, einen derart wehrhaften Zweimeterriesen am Ort festzubannen, bis der Jäger heran ist und seine Büchse in Anschlag bringt. Laut bellend umkreist der Elchhund den Hirsch, der bei aller Gewandtheit nicht dazukommt, seine mehrendigen Schaufeln einzusetzen.
Das ist Leistung. Sie steht an der Spitze aller Ausleseprinzipien der Elchhundezucht. Je mehr Elche ein Hund gestellt hat, um so bekannter ist sein Name und um so mehr wird er zur Zucht herangezogen. Diese ganze Arbeit auf der Elchjagd ist aber ein Stück Urverhalten des Hundes: Genauso ziehen Wölfe auf der Elchfährte, um in gemeinsamer Aktion den Elch zu stellen und zu töten. Ein Wolf, dessen Nase hierfür nicht gut genug ist oder der den Strapazen langer Verfolgung nicht gewachsen ist, wird in der Natur genauso aus der Zucht ausscheiden wie ein Elchhund. Wie wir noch sehen werden, lernen die Jungwölfe die Raffinessen der Jagd von den Alttieren. So ist das auch bei den Elchhunden, denn die Ausbildung der unerfahrenen wird den alten, erfahrenen Artgenossen überlassen. Ein Junghund, der zu dumm oder zu träge ist, um zu lernen, scheidet ebenso aus, wie ein Wolf ausscheiden würde, der hier versagte.
So sorgt die Elchhundezucht allein seit Urzeiten dafür, daß nur instinktsichere, gesunde, kluge und widerstandsfähige Tiere zur Fortpflanzung kommen. Damit ist aber auch gewährleistet, daß zumindest sehr viel vom alten Hundeverhalten unverändert blieb.
Meine Binna ist blind und taub, wenn sie auf einer Spur oder Fährte dahinzieht – ich kann mir die Lunge aus dem Leib schreien, sie reagiert nicht darauf. Warum auch – es wäre doch widersinnig, auf die Beute zu verzichten. Aber wenn sie das verfolgte Wild gestellt hat, dann ist der Fall für sie erledigt. Da es keinen Leitwolf gibt, der die Beute reißt, und keinen Jäger, der schießt, kehrt sie um und geht nach Hause. Töten kann sie das Wild nicht. Ich nehme an, daß das Reißen von größerem Wild bei Wölfen kein angeborenes Instinktverhalten ist, sondern gelernt werden muß. In diesem Fall hätten wir beim Elchhund also keinen Instinktausfall, sondern nur eine »Bildungslücke«. Was hingegen sicher angeboren ist, ist das Erbeuten von Kleintieren, wie etwa Mäusen. Hier ist Binna sehr erfolgreich; nach Mäusen zu graben ist ihr ein wahres Vergnügen.
Mit meiner Elchhündin Binna hatte ich begonnen, Verhaltensbeobachtungen an Hunden zu machen. Als mir dann von Alfred Seitz zwei Dingowelpen angeboten wurden, überlegte ich nicht lange, sondern griff zu. So kamen der Rüde Aboriginal und seine Schwester Suki zu mir ins Haus.
Dingos, die wilden Hunde Australiens, sind ganz sicher ein uraltes Geschlecht. Man nimmt an, daß diese gelben Hunde vor acht- bis zehntausend Jahren mit den heutigen Ureinwohnern (den Aboriginals, wie der weiße Australier sie nennt) nach dem fünften Kontinent gekommen sind. Wahrscheinlich ist Südostasien die Urheimat dieses Steinzeit-Hundes. Von dort kam er über Neuguinea nach Australien.
In Neuguinea gibt es in einzelnen Gebieten Papua-Hunde, die man auf den ersten Blick für echte Dingos halten könnte. Thomas Schultze-Westrum, der viele Forschungen in jenen Gegenden durchgeführt hat, zeigte mir eine Reihe von Farbaufnahmen solcher dingoähnlicher Haushunde. Man wird sie seiner Meinung nach nicht mehr lange finden, denn für die Papuas sind Europäerhunde begehrenswerter als ihre gewohnten Dorfhunde, die meist undefinierbare Mischlinge sind. Neben jenen sehr zahmen Papuahunden gibt es dort aber auch frei lebende »Wildhunde«. 1955 hat ein Beamter der australischen Regierung namens Hallstrom ein Pärchen derartiger Hunde in den Zoo von Sydney gebracht. Der australische Zoologe Troughton meinte, daß es echte Wildhunde, etwa gleich Wolf oder Schakal, seien und gab ihnen den wissenschaftlichen Namen Canis hallstromi. Es stellte sich aber bald heraus, daß es sich hier um nichts anderes handeln kann als um eine Sonderform des Dingos.
Diese beiden Tiere züchteten im Zoo von Sydney fleißig. Jungtiere von ihnen kamen dann in den Zoo von San Diego. Sie hatten 1962 Junge, von denen ein Paar in den Haustiergarten des Instituts für Haustierkunde der Universität Kiel gelangte und dort 1964 vier männliche und drei weibliche Nachkommen brachte. Einer dieser Rüden war Luxl, der Stammvater meiner Dingos.
Soweit ich das nach dem Aussehen von Luxl sowie einigen Fotos anderer Tiere dieser Linie beurteilen kann, unterscheidet sich der wildlebende Dingo Neuguineas vom australischen Dingo zunächst dadurch, daß er etwas kleiner ist. Luxl hatte eine Schulterhöhe von 40,5 cm, entsprach damit etwa einem Beagle, Bedlington Terrier oder kräftigen Großspitz. Er war also ein verhältnismäßig kleiner Hund. Als wir ihn einmal mit der Elchhündin Binna verheiraten wollten, plagte er sich ganz schrecklich ab, ohne es zu schaffen – er war für die etwa 47 cm hohe Binna einfach zu klein. Ich möchte sagen, daß der Neuguinea-Dingo die Bergwaldform des Dingos darstellt, wofür die ziemlich niedrigen Läufe sprechen, der weit fuchsartigere Kopf und das längere Fell. Australische Dingos sind schlank, hochläufig, schmalköpfig und viel windhundähnlicher. Ein wesentlicher Unterschied findet sich auch in der buschigen Ringelrute des Hallstrom-Dingos im Vergleich zur schlanken Säbelrute der Australier. Vom Leben des Neuguinea-Dingos wissen wir nichts. Von den australischen Dingos aber können wir mit Sicherheit sagen, daß sie, seit sie den Boden des kleinsten Kontinents betreten haben, gleich Wölfen ein freies, ungebundenes Wildleben führen. Sie unterliegen bis heute der natürlichen Auslese, und kein Mensch bestimmt, welcher Rüde und welche Hündin züchten dürfen.
Sie besitzen aber auch eine ganze Reihe von Merkmalen, die man gewöhnlich nur bei echten Haustieren antrifft. Es gibt keinen einzigen Vertreter der Hundeartigen – der Gattung Canis ebensowenig wie der anderen Gattungen dieser Familie – mit Säbelrute, also einer normalerweise senkrecht hochgestellten, am Ende kopfwärts geneigten Rute. Sie tritt nur bei Haushunden auf, und beim Dingo. Der Hallstrom-Dingo aus Neuguinea hat sogar eine Ringelrute wie ein Spitz. Außerdem besitzen die Dingos alle weiße »Abzeichen«, vor allem weiße Pfoten, einen weißen Brustfleck – der sich bis auf den Bauch erstrecken kann – und eine weiße Schwanzspitze. Oft genug sind an Kehle, Kinn und sogar am vorderen Nasenrücken derartige weiße Stellen im Fell. Auch das sind Haustiermerkmale; aber ich werde noch darauf zurückkommen, daß solche »Haustiermerkmale« gelegentlich auch in der freien Natur auftreten können.
Der Dingo hat jedenfalls über sehr lange Zeiten hin als wildlebender, vom Menschen völlig unbeeinflußter Hund gelebt, er war der natürlichen Auslese unterworfen, und so können wir mit Fug und Recht annehmen, daß sein angestammtes Verhaltensinventar vollständiger ist als bei jedem anderen Haushund. So bleibt die Frage: Was hat der Dingo mit unseren Haushunden zu tun?
Wenn die Forscher, die sich damit befaßt haben, es richtig sehen, dann hat der Dingo sehr viel mit unseren Haushunden zu tun. Manche behaupten sogar, daß alle unsere Haushunde vom Dingo abstammen oder doch wesentlich von ihm beeinflußt wurden. So hat man, um nur ein interessantes Beispiel zu erwähnen, im Senckenberg-Moor bei Frankfurt am Main zusammen mit dem Skelett eines Auerochsen die Knochen samt Schädel eines Hundes gefunden, der als Haushund eingeschätzt wurde. Eine Datierung der Lagerstätte ergab ein Alter von rund 11 000 Jahren! Der Untersucher, Robert Mertens, wies auf die erstaunliche Ähnlichkeit der Knochen und des Schädels mit denen des Dingos hin und war seiner Sache sicher, daß es sich um keinen Wolf handeln könne. Das war 1936, und man hat in der Zwischenzeit wohl Zweifel an der Datierung gezogen, nicht aber an der Dingoähnlichkeit; so soll der Fund »nur« 9-bis 10 000 Jahre alt sein, aber ich denke, auf die paar Jährchen kommt es nun auch nicht mehr an! Damit hätten wir hier nicht nur einen der ältesten Haushunde, die wir kennen, vor uns, sondern dazu noch einen dingoartigen Hund, und da es kaum anzunehmen ist, daß Dingos von ihrer asiatischen Urheimat nach Deutschland gelaufen sind, muß sie der Mensch irgendwie dahin gebracht haben. Genau, wie die Ureinwohner Australiens zu jener Zeit den Dingo nach Australien brachten.
Sicher hat sich schon so mancher Leser gefragt: Warum so umständlich, warum nicht gleich den Ahnherrn aller Hunde, den Wolf? Da muß doch das gesuchte Ur-Verhalten in reinster Ausprägung vorhanden sein!
Ganz gewiß ja, aber da müssen wir vielleicht doch ein wenig mehr über den Wolf nachdenken. Zunächst eine Feststellung: Den Wolf schlechthin gibt es nicht – es gibt nur zahlreiche Wolfsformen, die man in der Zoologie als Unterarten der Art Wolf bezeichnet. Fachleute zählen uns gleich einundzwanzig solcher Wolfs-Unterarten auf. Die gibt es deswegen, weil die Art Wolf über ganz Europa, Asien und Nordamerika verbreitet ist oder doch bis zum vorigen Jahrhundert verbreitet war. Nun ist naturgemäß der Lebensraum eines sibirischen Wolfes ein ganz anderer als der eines südindischen oder eines spanischen Wolfes. Alle Tiere passen sich ihrem Lebensraum in Körperbau und Verhalten an. Daher hat ein arktischer Wolf nicht nur ein anderes Aussehen als einer aus Indien, sondern auch ein ganz anderes Verhalten.
Leider kann ich diese Behauptung nur aufstellen, weil ich das aus dem erschließen kann, was wir von anderen Tieren in dieser Beziehung wissen. Ich kann also nur sagen: Es wird wohl beim Wolf nicht anders sein als bei den übrigen Tierarten unserer Erde. Wir wissen gerade von den südlichen Wölfen am wenigsten. Diese wären aber aus ganz bestimmten Gründen besonders interessant.
Erinnern wir uns doch in diesem Zusammenhang daran, daß der Haushund in der Zeit zwischen zehn- und zwölftausend Jahren entstanden sein dürfte. Um diese Zeit war die Vereisung Europas zwar schon weit nach dem Norden hin zurückgegangen, aber noch war die zivilisatorische Entwicklung hier kaum bis zur eigenständigen Tierzucht vorgedrungen. Es ist vielmehr weitaus wahrscheinlicher, daß die ersten Haustierrassen aus dem Vorderen Orient – in dem es zu dieser Zeit schon hochentwickelte Kulturen gab – in unsere Breiten gelangt sind. So wäre es sogar denkbar, daß der Haushund noch älter ist, als ich zuvor angab.
Jedenfalls bin ich sicher, daß wir das Zentrum der ersten Haustierwerdung des Hundes in einem Raum zwischen Vorderasien und Indien annehmen können. Dort aber leben eigene Wolfsunterarten – vor allem der Indische Wolf (Canis lupus pallipes) –, von deren Verhalten wir weit weniger wissen als von dem der Wölfe Nordeuropas, Nordasiens und Nordamerikas.
Ich halte es trotzdem für wichtig, Leben und Verhalten auch der nordischen Wölfe ganz genau und in allen Einzelheiten zu erforschen, denn – abgesehen von ihrer schon erwähnten Beteiligung am Zustandekommen vieler unserer Hunderassen – führen sie uns sicherlich ein Höchstmaß an Sozialleben über den engeren Familienverband hinaus vor. Die harten Lebensbedingungen ihrer Heimatländer erfordern den winterlichen Zusammenschluß zu jagdlich erfolgssicheren Rudeln und damit sehr ausgeprägte soziale Verhaltensweisen, wie sie die besten unserer Haushunde auch auszeichnen. Was mich hindert, das Ur-Verhalten an diesen Wölfen zu studieren, ist der Umstand, daß ich ihnen die Lebensbedingungen nicht bieten kann, die eine Voraussetzung zur freien Entfaltung ihrer natürlichen Lebensweise sind. Diese Wölfe leben in der Paarungszeit im Februar und März paarweise, ziehen ihre im April und Mai geborenen Jungen zu zweit auf und bilden im Herbst mit ihnen und vermutlich mit den Jungen vom Vorjahr ein kopfreicheres Rudel. Es bedürfte eines landschaftlich abwechslungsreichen, vor allem auch waldbestandenen Areals von wenigstens 100 Hektar, von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben. Hoffen wir, daß der junge Wolfsforscher aus Schweden Erik Zimen ein derartiges Projekt im Rahmen des größten deutschen Naturschutzgebietes, im Bayerischen Wald, bald wissenschaftlich auswerten kann. Das würde die Haustierforschung um einen gewaltigen Schritt vorwärtsbringen.
Nun ist auch immer wieder die Rede davon, daß zumindest einer der Hundevorfahren, wenn nicht sogar der ausschließliche, der Schakal sein soll. Diese Frage ist sehr umstritten, da es aber bislang keinen überzeugenden Gegenbeweis gibt, müssen wir uns hier damit befassen. Es wird zum Beispiel damit argumentiert, daß der hier gemeinte Goldschakal (Canis aureus) ein Begleiter des Löwen ist. Er lebt neben den Löwenfamilien und wartet, bis die sich an ihrer Beute gesättigt haben. Ziehen sich die Löwen von den Resten des Zebras oder Gnus wieder zu ihrem gewohnten Ruheplatz zurück, dann machen sich die Schakale über die Überbleibsel her. So liegt es also in der Natur der Schakale, erfolgreichen Jägern nachzufolgen, und möglicherweise übertrugen sie dieses Verhalten dann auf den als Großtierjäger auftretenden Menschen. Das wieder könnte den Menschen auf den Gedanken gebracht haben, sich den Schakal zu zähmen und zum Haustier zu machen.
Das klingt sehr hübsch, und da es auch andere Argumente gibt – man denke an die Verhaltens-Schlüsse, die Konrad Lorenz gezogen hat – und weil Schakale grundsätzlich hübsche Hündchen sind, so habe ich nicht eher Ruhe gegeben, bis ich meinen Hunden zwei Schakale beigesellen konnte.
Sie waren gerade sechs Wochen alt, als sie hier in der Grubmühle einzogen – winzige, entsetzlich ängstliche Geschöpfe, viel zierlicher als alle Hundewelpen, die ich bisher gesehen habe. Sie waren aber auch schon viel weiter, als es gleichalte Hundewelpen sonst sind. Bereits nach drei Tagen mußte ich mir trotz aller Hoffnungen, bei Schakalen Hundeverhalten zu sehen, eingestehen: Sollten unsere Hunde mit Schakalen etwas zu tun haben, dann ganz gewiß nicht mit meinem Ben und meinem Ali. Die Kerle legen nämlich einige Verhaltensweisen an den Tag, die ich weder bei einem Dingo noch bei irgendeinem unserer Haushunde jemals beobachtet habe. Dazu kommt, daß sie ein körperliches Merkmal haben, das ich bisher bei Hunden, Wölfen und Dingos noch nie gesehen hatte: Bei ihnen sind die beiden mittleren Zehenballen nicht durchgehend voneinander getrennt, sondern am Hinterende verwachsen, wodurch ein hufeisenartiger Doppelballen entsteht; das haben beide Tiere so auf den Vorder- und auf den Hinterpfoten. Sosehr mich das zunächst auch gestört hat – heute sehe ich das bereits anders; denn eine von mir auf komplizierten Inzuchtwegen gezüchtete, farbveränderte Dingohündin hat ganz genau solche verwachsenen Zehenballen! – Voreiligkeit bei Schlußfolgerungen ist also sehr gefährlich, und so mag es dem weiteren Vergleich zwischen meinen Schakalen und meinen anderen Hunden überlassen bleiben, wieweit solche ersten Eindrücke und Beobachtungen wirklichen Aussagewert haben. (Siehe Seite 41.)
Nun muß ich freilich gestehen, daß sich auch der Goldschakal, ähnlich wie der Wolf, in zahlreiche – nämlich neunzehn – Unterarten aufteilt, die beachtliche Farb- und Größenunterschiede aufweisen. Auch der Verbreitungsraum des Goldschakals ist sehr groß, reicht er doch von Sumatra über ganz Südasien bis zum Mittelmeerraum. Welcher dieser Unterarten, die vielfach nur mangelhaft bekannt sind, meine beiden Brüder angehören, kann ich heute noch nicht sagen, da sie erst einmal erwachsen sein müssen. Jedenfalls seien sie hier einmal als echte Wildhunde vorgestellt, die auch zu meinem Bestand gehören.
Das Wort Bastard hat einen abwertenden Beigeschmack. Aber es gibt viele Leute, die sich so ein Tier zugelegt haben und schwören, der schönste und edelste Rassehund könne ihrem »Zamperl« nicht das Wasser reichen. Das hat viel für sich, denn daß aus der Vermischung unterschiedlichen Erbgutes sehr oft hervorragende Tiere entstehen, ist eine der wesentlichsten Erkenntnisse der modernen Tierzucht. Man spricht vom »Bastard-Luxurieren« und meint damit die Tatsache, daß die Mischlingstiere leistungsfähiger sind als ihre reinrassigen Erzeuger. Bei Hühnern erzielt man die Eierrekordleistungen gerade mit solchen »Hybriden«, wie man die Bastarde auch nennt, und nicht anders machen es heute bereits die fortschrittlichen Schweine- und Rinderzüchter. Einen Nachteil muß man dabei in Kauf nehmen: Man darf diese Hybriden nicht weiterzüchten. Sie können nur als Hochleistungstiere genützt werden. Daher müssen zur Erzeugung solcher Hybriden die beiden im Erbgut so verschiedenen Elternrassen als reine Linien für sich gezüchtet werden.
Hybridleistungen sind bei Hühnern die Eier, bei Schweinen das Fleisch und bei Kühen die Milch. Den Hundemischlingen sagt man besondere Klugheit und andere gute Eigenschaften nach, die durchaus in den Bereich des Interesses eines Verhaltensforschers fallen können. Also mein Gedanke: Könnte man vielleicht Bastard-Luxurieren im Verhalten feststellen? Hunde mit einem sehr ausgeprägten Verhaltenspotential wären doch wirklich interessant. Und daher habe ich eines Tages meiner Elchhündin Binna den Dingorüden Aboriginal – kurz Abo gerufen – zum Manne gegeben.
Das Ergebnis entsprach meinen Hoffnungen. Ich beließ aus dem siebenköpfigen Wurf einen Rüden und zwei Hündinnen. Alle entwickelten sich zu ganz prächtigen Hunden, an denen man seine wahre Freude hat. Björn, der Rüde, ist ein kraftvoller, wundervoll gebauter Hund, selbstbewußt und voll Lebensenergie. Seine Schwester Bente steht ihm nicht nach – auch sie ist kräftiger als die Elchhündin oder gar eine Dingohündin. Das galt auch für die zweite Schwester Fella, die unglücklicherweise von einem Jäger als »wildernder Hund« erschossen wurde. Bei dem ausgeprägten Urverhalten dieser Hunde war der Anlaß zu diesem Unglücksfall sogar verständlich. Wir hatten einen neuen Zwinger errichtet. Weitaus geschickter als Elchhund oder Dingo verstanden es die drei Mischlinge, innerhalb von Stunden die schwache Stelle zu finden, die jeder neue Zwinger hat. Sie unterwühlten das Gitter, und Fella und Bente entliefen in den nahen Wald. Das war um 8 Uhr morgens. Um 12 Uhr mittags kam Bente allein zurück. Mühsam schleppte sie sich bis zum Haus, dann brach sie zusammen. Ihr gelbes Fell war blutüberströmt, und wir stellten fest, daß von der Schnauzenspitze bis zur Schwanzwurzel die ganze rechte Körperseite von Schrotkugeln förmlich durchsiebt war. Aber der Schuß mußte aus größerer Entfernung gekommen sein – die Kügelchen waren nicht tief eingedrungen. So hatten wir die Hoffnung, wenigstens dieses Tier am Leben zu erhalten, denn Fella blieb verschwunden. Bente überstand die »Bleivergiftung« in kürzester Zeit und wurde bald danach läufig – es sind eben harte, zähe Hunde, diese Mischlinge aus Dingo und Elchhund.
So hatte ich also Bastarde gezüchtet, die körperlich besonders gut entwickelt sind und auch verhaltensmäßig geradezu Musterhunde genannt werden können.
Aber auch damit war ich noch nicht zufrieden. Mich beschäftigt ja nicht nur die Frage, wie das Urverhalten der Hunde ausgesehen hat, sondern ich will dieses Wissen auch dazu nutzen, herauszubekommen, auf welchem Wege und wodurch die Verhaltensweisen unserer Hunde in mancher Hinsicht anders geworden sind. Deswegen machte ich gerade das, was man mit Bastarden nicht machen soll: Ich verheiratete Björn mit seiner Schwester Bente. Das ist, von der Leistungszucht her gesehen, gleich ein doppelt schweres Vergehen. Denn einmal züchtete ich mit Hybriden weiter, und dann auch gleich noch mit Geschwistern – das konnte ja gar nicht gutgehen.
Es sollte auch nicht gutgehen; ich wollte ja Verhaltensänderungen, zumindest Abschwächungen sehen. Die ersten Kinder dieses Paares sind nun bald zwei Jahre alt; Verhaltensänderungen habe ich bislang noch kaum beobachtet, was nicht heißen soll, daß sie nicht doch in geringem Maße eingetreten sein können. Auch Knud und Kala, wie das Nachkommenpaar von Björn und Bente heißt, sind durchaus gesunde, lebenskräftige Hunde, schön gebaut, allerdings ein wenig kleiner als ihre Eltern. Auch sie bekamen zusammen Kinder – lebenskräftige, gesunde, hübsche Kinder –, aber auch sie sind wieder kleiner als ihre Eltern. Sie sind noch zu jung, als daß sich Schlüsse auf ihre Verhaltensweisen ziehen ließen. Als Welpen und Junghunde erscheinen sie mir aber doch ganz normal.
Wenn man etwas genau wissen will, schreckt man vor nichts zurück. So habe ich auch noch meine Elchhündin Binna einmal mit ihrem Sohn Björn, das anderemal mit ihrem Enkel Knud verheiratet. Hier freilich gab es schon einiges zu sehen. Nicht alle Welpen ihrer stets siebenköpfigen Würfe entsprachen idealen Vorstellungen, es kam sogar vor, daß ein Welpe laufend an Gewicht verlor und eingeschläfert werden mußte, ehe er ganz verhungerte. Derartiges hat es sonst in meinen Zwingern nicht gegeben. Die Welpen aber, die eine normale Entwicklung zeigten, die wurden recht hübsche, wenn auch kleine Hunde.