Das Buch

Berührungen gehören zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Sie sind Teil unseres biologisch-seelischen Urprogramms. Ein Mangel daran kann nachweislich krank machen. Umgekehrt können Berührungen sowohl bei körperlichen als auch bei psychischen Erkrankungen therapeutisch eingesetzt werden. Denn die Haut ist das Organ, an dem unser Selbstbewusstsein, unsere Identität hängt und das über eine eigene Intelligenz verfügt. Berührungen sind somit unverzichtbar für den Erhalt unserer Gesundheit und mobilisieren unsere Selbstheilungskräfte.

Anhand zahlreicher anschaulicher Fallbeispiele und praktischer Übungen führen zwei erfahrene Experten in dieses Thema ein. Bruno Müller-Oerlinghausen und Gabriele Mariell Kiebgis forschen und arbeiten seit vielen Jahren in diesem Bereich. Ihr Buch ist nicht nur ein Plädoyer für mehr Berührung in unserer berührungsarmen Zeit, sondern sie zeigen, wie Sie ein neues Körperbewusstsein entwickeln und so mehr Lebensfreude und Energie erfahren können.

Die Autoren

Prof. Dr.med. Bruno Müller-Oerlinghausen leitete an der Psychatrischen Klinik der Freien Universität Berlin eine Forschungsgruppe für Klinische Psychopharmakologie. Er ist international anerkannter Experte für Depressionsbehandlung, bei der er körpertherapeutische Methoden eingeführt und wissenschaftlich untersucht hat. Er ist Träger der Paracelsus-Medaille, der höchsten Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft und gehört dem Expertenbeirat für Arzneimittel der Stiftung Warentest an.

Gabriele Mariell Kiebgis ist Massage- und Körpertherapeutin und zertifizierte Postural Integrator mit langjähriger Erfahrung in zahlreichen Behandlungsmethoden. Sie hat eine spezielle Psychoaktive Massage entwickelt, die sie in Seminaren und Fortbildungskursen unterrichtet und gemeinsam mit Bruno Müller-Oerlinghausen auch wissenschaftlich untersucht.

Prof. Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen
Gabriele Mariell Kiebgis


Berührung

Warum wir sie brauchen
und wie sie uns heilt

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Ullstein leben ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH


ISBN 978-3-8437-1799-1


© 2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Lektorat: Gudrun Jänisch
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: Getty Images; pixeldeluxe
Innenillustration: freepik.com

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort

»Die Haut vergisst nichts« – eigentlich nur ein Spruch der Hautärzte – oder? Was aber wäre, wenn die Haut tatsächlich eine Art Intelligenz hätte, die nicht nur ein Zuviel an UV-Strahlung, sondern auch die positiven Wirkungen alltäglicher oder therapeutischer Berührung speichert, bearbeitet und an unser Gehirn weiterleiten würde, als elementare Bedingung für unser seelisches und körperliches Wohlbefinden?

Die Haut als unser ältestes und größtes Sinnesorgan vermittelt die vielfältigen Qualitäten jeder Art von Berührung inklusive des damit verbundenen Wohlgefühls. Sie vermittelt unser Ich-Bewusstsein. Können Sie sich vorstellen, dass unsere Haut auch dafür verantwortlich sein kann, dass wir den zu uns passenden Partner oder die richtige Partnerin finden? Besitzt die Haut, die uns umhüllt und unsere Grenze von außen und innen verkörpert, tatsächlich eine Art Gehirn wie z. B. auch unsere innere Haut – der Darm? Können wir uns dieser Intelligenz bedienen, um glücklicher und gesünder zu sein? Diese Fragen werden wir ausführlich beantworten. Wir laden Sie ein zu einer Reise in die Welt der Berührung. Sie werden etwas über Ihr eigenes, vielleicht bislang gar nicht bewusstes Grundbedürfnis nach Berührung erfahren. Studien haben gezeigt, dass die moderne gesellschaftliche Berührungsarmut krank macht. In der digitalisierten Welt streicheln wir wohl täglich unser Smartphone häufiger als unseren Partner oder unsere Partnerin.1 Sollten wir uns weiterhin in Richtung einer »Fass-mich-nicht-an«-Gesellschaft entwickeln, werden wir zukünftig mehr und mehr Depressive, Spür-Autisten und Fühl-Betäubte um uns herum haben. Und die Sprache der Berührung haben wir irgendwann ganz vergessen. Bald wird dann auch der Tag kommen, an dem wir uns nicht mehr die Hand zur Begrüßung geben, vielleicht uns nur gegenseitig mit dem Smartphone eine standardisierte Berührungsformel senden, und unser Liebesleben wird in der neuen Cyberwelt digitalisierbaren Optimierungsformeln folgen. New brave world! Ob wir uns darin wohlfühlen werden?

Wir zeigen Ihnen, warum Körperkontakt durch Berührung lebensnotwendig ist, wie er in heilender Absicht schon immer genutzt wurde und auch heute noch genutzt werden kann. Wir können mit alltäglicher oder professioneller Berührung der drohenden physischen und psychischen Überbelastung entgegentreten. Sie ist eine Grundlage, um mit anderen Menschen auf natürliche Weise zu kommunizieren. Der große Naturforscher Charles Darwin soll gemeint haben, dass auch Pflanzen sich miteinander durch gegenseitige Berührung unterhalten.2

Sie erfahren, wie die Intelligenz Ihrer Haut funktioniert und wie Sie dieses vielfältige Kommunikationsorgan für sich nutzen können. Sie werden damit nicht nur zufriedener und kreativer, wissenschaftlich ausgedrückt mit einem besseren Kohärenzgefühl leben, auch Ihre Mitmenschen werden sich in Ihrer Gegenwart wohler fühlen.

Dieses Buch ist kein Kompendium über verschiedene Massagetechniken und auch kein Glücks-Ratgeber. Das große Thema Berührung vermitteln wir Ihnen auf der Grundlage unserer beruflichen Erfahrungen und mit Beispielen aus der Wissenschaft. Wir laden Sie zu einfachen Übungen ein, die Ihnen helfen, Ihre körperliche Selbstwahrnehmung zu verfeinern und Sie für passive und aktive Berührung empfänglich zu machen. Wir gehen auch auf Spielarten von Berührung im sinnlich-erotischen Kontext ein und zeigen, wie die Entwicklung erotisch-sexueller Energie Ihr Leben und das Ihres Partners oder Ihrer Partnerin farbiger und interessanter machen kann.

Wir gehen schließlich der Frage nach: Kann professionelle Berührung nicht nur bei Rückenschmerzen, sondern auch bei seelischen Störungen heilsam sein? Schon an dieser Stelle beantworten wir diese Frage mit einem ausdrücklichen Ja! Nicht nur weil inzwischen Forschungsergebnisse aus vielen Ländern darauf klare Antworten geben, sondern auch weil wir selber uns seit Jahrzehnten mit den körperlichen und psychischen Wirkungen professioneller Berührung praktisch und wissenschaftlich beschäftigen und sie auch selbst erfahren haben.

Kommen Sie mit auf eine Reise, die unter die Haut geht!

Berlin/Kressbronn am Bodensee, im April 2018

Prof. Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen
Gabriele Mariell Kiebgis

Einführung

Der Mensch ist nichts
als ein Bündel von Beziehungen.

Antoine de Saint-Exupéry

Berührung – Kommunikation,
die unter die Haut geht

Der Mensch lebt und definiert sich im Bezug zum anderen, sei er Mensch oder Gott. Seine Grundposition ist exzentrisch, und diese Sicht der menschlichen Existenz bedeutet: Ich bin erst Mensch, wenn ich Du denken und sagen, also kommunizieren kann. Kommunikation zwischen Menschen geht in unserer Kultur vor allem über das Wort. Aber die ältere und immer noch elementare Kommunikationsform ist nicht nur im Tierreich, sondern auch beim Menschen die körperliche Berührung. Berührung umfasst ein breites Spektrum: vom Handschlag zwischen Chef und Mitarbeiter bis zum unendlich langen Kuss zweier Verliebter, vom gemeinschaftlichen Raufen und Kräftemessen, wie es unter Männern auf dem Lande noch üblich ist, bis zur modernen Kuschelparty. Am meisten berühren wir kommunizierend mit unseren Händen. Hier befinden sich unzählige Tastrezeptoren, die sensorische Höchstleistungen vollbringen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was wir so alles bewusst oder unbewusst am Tag berühren und wer uns berührt? Die Haut ist gesellig, sie will aktiv sein und das heißt: Berühren und berühren lassen, auch bis in die Seele hinein.

Kleiner sprachlicher Exkurs: Das Wort »begreifen« zeigt in seinen vielen Abwandlungen deutlich, wie wichtig die Funktion unserer Hände für das Begreifen, das »Erfassen« unserer Welt ist. Erhellend ist in diesem Kontext die Bildlichkeit unserer Sprache, wenn wir z. B. sagen, dass uns ein Vorkommnis oder ein Gedanke besonders ergriffen hat, oder wenn wir von einem begriffsstutzigen Menschen sprechen. Wenn wir jemanden fragen: »Hast du das kapiert?«, nehmen wir ebenfalls Bezug auf ein altes lateinisches Wort, das ursprünglich »fassen, ergreifen« bedeutete. Auch das Wort »berühren« hat nicht nur die Bedeutung des Betastens, sondern auch des seelischen Anrührens. Einen ähnlich weiten Bedeutungshorizont hat auch das englische Wort »to touch«: Es kann sowohl das Berühren eines Gegenstandes oder einer Person meinen, aber es kann auch im Sinne von »zu Tränen rühren« gebraucht werden. Zusätzlich hat es die Bedeutung, in Kontakt mit jemandem zu kommen, was nicht körperlich gemeint ist: »To get into touch with somebody«. Und noch ein sprachlicher Hinweis: Im Hebräischen soll das Wort für gut = thôhb eigentlich »sanft berühren« bedeuten.

Berührung im Alltag

Jeden Tag könnten wir ein ganzes Heft füllen mit dem, was wir von morgens sieben bis nachts um 24:00 Uhr an Berührungen erlebt haben. Zweifelsohne werden wir feststellen, dass wir sehr viel mehr berührt haben, als dass wir berührt wurden.

In den Erzählungen von Maria und Noah, die uns in diesem Buch begleiten, sind viele unserer konkreten Erlebnisse mit Patienten und Klienten eingegangen. Maria, die gerade 32 Jahre wurde, arbeitet als Bibliothekarin in einer großen Gedenkbibliothek. Die geregelte Arbeitszeit lässt ihr Zeit, den gemeinsamen Haushalt zu organisieren. Sie kocht gerne und probiert sich in neuen Gerichten aus. Noah ist nur wenig älter und Assistenzarzt in einer psychiatrischen Universitätsklinik. Dort setzt er sich intensiv für die Einführung einer wissenschaftlich fundierten Spezialambulanz für Körpertherapie ein. 12 Stunden und mehr Klinikalltag und Schichtdienst am Wochenende sind die Regel. Seit Monaten beschäftigte er sich, meist noch bis spät in die Nacht, mit seinem Konzept, das er der Klinikleitung vorschlagen wird. Beobachten wir einen normalen Arbeitsalltag von Noah:

Am Morgen berührt er seinen Wecker, den er ausschaltet, die Seife, die Zahnbürste, seine Kleidungsstücke, die Teetasse, den Hausschlüssel, das Autolenkrad, den Brief, den er noch zur Post bringt. Bis dahin hat er noch keinen Menschen berührt und wurde auch nicht durch einen Menschen berührt. Vielleicht hatte er Glück und Maria war schon auf und schenkte ihm zum Abschied an der Haustür ein Küsschen. In der Klinik angekommen, nickt er allen freundlich zu, gibt seiner Sekretärin vielleicht die Hand. Bei seinen Patienten vermeidet er wegen der derzeitigen Grippesaison die Begrüßung mit Handschlag, oder er desinfiziert seine Hände, wenn es nicht zu vermeiden war. Am frühen Nachmittag macht er mit seinen Studierenden, die keine Ahnung haben, ein Experiment: Im Seminarraum gibt es gut gepolsterte und nicht gepolsterte Stühle. Er nummeriert sie, ohne dass es für andere zu sehen ist. Die Studierenden setzen sich zufällig verteilt auf die einen oder anderen Stühle. Ihnen wird ein moralisch etwas schwieriger Fall vorgestellt. Noah bittet die Teilnehmer, das Verhalten der beteiligten Akteure kritisch zu bewerten. Das Ergebnis entspricht einer wissenschaftlichen Studie aus den USA1: Diejenigen, die hart gesessen hatten, beurteilten die jeweilige Handlungsweise härter und verständnisloser als ihre Kommilitonen auf den Polsterstühlen.

Tag für Tag spielen Berührungen und ihre Auswirkungen auf Gefühle und Entscheidungen eine Rolle. Dabei ist es egal, ob wir sie bewusst oder unbewusst wahrnehmen.

Nach dem Seminar geht Noah noch zu einem befreundeten Arzt. Ihn quälen seit kurzer Zeit stärkere Bauchschmerzen, und da er in einigen Tagen nach New York reisen wird, ist er etwas besorgt. Sein Kollege sitzt nach einer kurzen Begrüßung hinter seinem PC und fragt zuerst, ob schon einmal eine Darmspiegelung durchgeführt wurde. Noah verneint. Bevor ihn der Arzt zur Durchführung dieser Untersuchung anmahnt, beginnt er mit Noah gemeinsam über verschiedene Möglichkeiten als Ursache für seine Schmerzen zu diskutieren. »Vermutlich sind es entzündete Divertikel. Kann man da irgendetwas tun? Vielleicht die Ernährung ändern?« Sein Kollege antwortet: »Nein, eigentlich nicht.« Es entsteht ein kurzes Schweigen, dann sagt er: »Also, geholfen habe ich Ihnen eigentlich nicht«. »Stimmt«, erwidert Noah.

Der Arzt steht auf und meint: »Also, dann machen Sie sich mal frei und legen sich auf die Liege, ich werde Sie untersuchen.« »Endlich«, denkt Noah. 15 Minuten waren schon vergangen, bis er nun endlich die erfahrenen Hände seines Kollegen auf seinem Bauch spürt. Darauf hatte Noah gewartet, denn für ihn hat »behandeln« etwas mit den Händen zu tun. Der Tastbefund war in Ordnung, und Noah verlässt ohne Diagnose die Praxis und ist beruhigt. Der Reise nach New York steht nichts mehr im Wege.

Anschließend trifft er in einem Café einen Freund, mit dem er sich angeregt unterhält. Die Serviererin ist freundlich, und Noah lächelt sie an. Als er später seine Rechnung bei ihr begleicht, sagt sie: »Danke, und kommen Sie mal wieder«, dabei berührt sie ihn ganz leicht an seiner Schulter. Noah fühlt sich plötzlich rundum wohl.

Die Serviererin hat am Monatsende mit diesem Verhalten den Kunden gegenüber mehr Trinkgeld in der Tasche als andere, die ihre Kunden nicht berühren. Man hat dieses Phänomen auch den Midas-Effekt genannt, nach dem König aus der griechischen Sagenwelt, der alles, was er berührte, zu Gold machen konnte2. Diese erstaunlichen Wirkungen von oft ganz zufällig wirkenden Berührungen zwischen zwei Menschen sind inzwischen wissenschaftlich untersucht worden3,4. Kunden in einem Warenhaus sind z. B. eher geneigt, an einer Befragung oder Verkostung teilzunehmen, wenn sie zuvor ganz unauffällig leicht berührt wurden. Auch Busfahrer waren in einer Studie eher bereit, einem Passagier eine Freifahrt zu gewähren, wenn sie von diesem im Gespräch leicht z. B. am Unterarm oder an der Schulter angetippt wurden.

Die Wissenschaftler haben auch herausgefunden, dass die meisten Menschen sechs verschiedene Gefühle aus einer Berührung heraus fühlen können, und zwar mit beachtlicher Genauigkeit: Sympathie, Dankbarkeit, Liebe, Ärger, Furcht und Widerwillen5, 6.

Die Forschung hat sich auch mit den positiven Effekten gegenseitiger Berührung bei Paaren beschäftigt. Ein Klassiker unter den Berührungs-Wissenschaftlern hat postuliert, Berührung und Liebe seien untrennbar!7.

Die leichte Berührung eines Mannes durch eine junge Frau (sie ist eine Komplizin des Experimentators) in einer französischen Bar führt dazu, dass der Mann verstärktes Interesse an ihr zeigt. Er ist z. B. zu einer kleinen Hilfeleistung bereit oder bittet sie um ihre Telefonnummer 8. Umgekehrt macht die leichte Berührung des Unterarms einer Frau durch einen dazu heimlich eingeschleusten jungen Mann in der Bar sie eher geneigt, ihm später ihre Telefonnummer zu geben oder mit ihm einen Slowfox zu tanzen9. Werden Studenten und Studentinnen, die derzeit sich im Zustand romantischer Liebe (das ist eine der wissenschaftlichen Klassifikationen für Zustände der Liebe)10 befinden, befragt, was für sie der wichtigste Faktor für die Aufrechterhaltung ihrer romantischen Verbindung ist, so werden sie an erster Stelle körperliche Berührung, gegenseitige Massagen u.ä nennen11. Welche Bedeutung und Wirkung hat das Händchenhalten? Dazu haben amerikanische Forscher 16 verheiratete Frauen in einem Hirnscanner (MRT) untersucht und genau gemessen, wie sich die Hirnaktivität verändert, wenn vor einer stressbeladenen Situation, der sie ausgesetzt wurden, jeweils der zugehörige Mann ihre Hand hielt: Die Stressreaktionen waren vermindert und zwar deutlich mehr, als wenn eine fremde Person ihre Hand hielt12. Auch in einer späteren Studie einer amerikanischen Psychologin zeigte sich: Wurden Paare über vier Wochen speziell ermuntert, sich gegenseitig zu berühren, waren anschließend ihre Laborwerte, die Stressbelastung anzeigen, niedriger als bei Paaren, denen keine solche Instruktion gegeben wurde13. Wenn Paare nebeneinander gehen, geraten sie bald in eine synchrone Schrittfolge. Dieses Verhalten, das wir ja öfters im Freien beobachten können, scheint besonders schnell einzutreten, wenn sie sich an der Hand halten, egal ob sie sich schon länger kennen oder nicht14. In einer ganz neuen Studie aus den USA konnte mit aufwendiger Methodik gezeigt werden, dass Sich-gegenseitig-an-der-Hand-halten einen experimentell erzeugten Schmerz reduzieren kann und dass sich die Hirnstromaktivitäten der beiden Partner dabei quasi synchronisieren15.

Als Noah nach Hause kommt, steht Maria schon erwartungsvoll an der Tür. Sie trägt ein Kleid, das ihrer Figur sehr schmeichelt. Sie hält einen Kochlöffel in die Luft: »Ich habe für uns gekocht, etwas, das du sehr, sehr gerne magst.« Noah freut sich und umarmt sie und lässt sich, mit Kochlöffel, von ihr umarmen.

Das erwartet Sie –
ein Kurzführer durch das Buch

Sind Sie neugierig geworden und wollen Sie mehr erfahren über die Geheimnisse der Berührung und des Körperkontakts? Damit Sie sich in diesem Buch möglichst schnell zurechtfinden, skizzieren wir Ihnen nachfolgend, worum es in den folgenden Kapiteln gehen wird. Wie Sie gelesen haben, werden uns Maria und Noah dabei begleiten.

Zu Beginn zeigen wir Ihnen an sehr konkreten Beispielen, welche Lebenskraft Berührung für uns alle darstellt. Erst vor einigen Jahrzehnten ist die Bedeutung des körperlichen Erlebens und seiner Verbindung mit seelischen Vorgängen zum Beispiel von Wilhelm Reich wiederentdeckt worden. Wir sprechen den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und individueller Berührungs-Armut und seelischen Verkümmerungen an und stellen Beispiele für den positiven Effekt von Berührung dagegen.

Im darauf folgenden Abschnitt werden gewichtige Themen wie der Zusammenhang von Körper, Geist und Seele berührt. Damit betreten wir sowohl die neurophysiologische wie auch die philosophische und psychologische Ebene. Wir stellen uns die Frage, wie wir überhaupt zu unserem Selbst kommen und warum dies immer auch Körper-Ich bedeutet. Wir erklären das Kohärenzgefühl und die Resilienz und erörtern, was eigentlich einen glücklichen, harmonischen, lebendigen Menschen ausmacht.

Das Kapitel über den Tastsinn und unser Haut-Gehirn widmet sich aus einer primär biologischen Perspektive dem Medium der Berührung, also der Haut, unserem ältesten, größten und wichtigsten Sinnesorgan. Wie funktioniert der Informationsfluss zwischen Haut und Gehirn? Heilsame Berührung geht über die Haut, die aus unserer Sicht über eine spezifische Intelligenz verfügt. Sie erfahren faszinierende wissenschaftliche Befunde zur biologischen Grundlage unseres Wohlgefühls.

Nach diesen einleitenden Erörterungen befassen wir uns in dem nun folgenden Kapitel mit heilsamen Berührungen in der Praxis. Dabei geht es um therapeutisch intendierte Berührung und damit insbesondere auch um Massage, deren Praxis und Technik wir an vielen Beispielen beschreiben. Unser besonderes Interesse gilt den Psychoaktiven Massagen. Zudem illustrieren wir Ihnen die Prinzipien von Lomi-Lomi, Ayurveda, Therapeutic Touch und anderen Behandlungsformen in jeweils komprimierter Form.

Anschließend stellen wir zusammenfassend dar, welche wichtigen wissenschaftlichen Ergebnisse es zur Wirksamkeit insbesondere von Massagen mit psychoaktivem Hintergrund gibt. Welche Studien sind hierzu in unserem Land und anderswo gemacht worden? Wir konzentrieren uns dabei auf die Wirksamkeit von Massage speziell bei Depression und Angstzuständen, Traumatisierungen, Rückenschmerz und Brustkrebspatientinnen aber auch bei sogenannten Gesunden. Und wir versuchen auf verschiedenen Ebenen zu erklären, wie die psychischen Effekte von Massage, mit denen wir uns über Jahrzehnte beschäftigt haben, zustande kommen.

Das folgende Kapitel stellt Ihnen psychiatrische Störungen vor, die mit einem krankhaft veränderten Körpergefühl oder auch Berührungsängsten einhergehen. Ein Beispiel sind die verbreiteten Essstörungen, insbesondere die Magersucht. Wir beschreiben sie kurz und erklären moderne Methoden der für solche Patienten und Patientinnen wichtigen Körperpsychotherapie, wo auch Massagen ihren festen Platz haben.

Jetzt ist es Zeit, Sie mit praktischen Möglichkeiten vertraut zu machen, wie Sie selbst allein oder mit Ihren Partnern verschiedene Arten von Berührung erfahren und üben können. Sie finden dazu viele Vorschläge. Wir geben Ihnen auch Anleitungen zu einer verfeinerten, intensivierten Wahrnehmung Ihres eigenen Körpers. Und so werden Sie hoffentlich bald nicht mehr zu den vielen Menschen gehören – es sollen ca. 50 Prozent sein –, die auch während einer entspannenden Massage oder im intimen Zusammensein mit ihrem Partner ihr Smartphone nicht ausschalten.

Berührung ist das Medium und das Ziel von Erotik, einem wesentlichen Element unserer Lebenskraft und -freude. Deshalb wollen wir Ihnen in einem speziellen Abschnitt den Zusammenhang zwischen Berührung und erotischem Spiel in ausgewählten Beispielen näherbringen und nach der Bedeutung des Orgasmus fragen. Wussten Sie übrigens schon, dass Orgasmus schönere Haut macht? Sie werden auch erfahren, worum es bei der Tantra- oder auch bei der erotischen Massage geht, und was wir unter einer Paar-Wellness-Massage, die diesen Namen wirklich verdient, verstehen. Und schließlich wollen wir Sie mit den sinnlich-erotischen Berührungen im Tango Argentino bekannt machen.

Die Art und Weise, wie sich Menschen und insbesondere Mann und Frau gegenseitig berühren dürfen, ist in den europäischen und außereuropäischen Kulturen und Religionen sehr unterschiedlich geregelt. Wie sich das Verhältnis der Geschlechter und ihr Berührungs-Kodex im 19. und 20. Jahrhundert in Europa verändert haben, erfahren Sie im letzten Kapitel dieses Buches.

Sind Sie nun Berührungs-neugierig, vielleicht sogar Berührungs-hungrig geworden? Wenn ja, finden Sie im Anhang praktische Hinweise, Adressen, empfehlenswerte Literatur und Tipps, wie Sie die Qualität von Angeboten auf dem scheinbar unendlichen kommerziellen Berührungsmarkt kritisch beurteilen und für sich nutzbar machen können.

Und jetzt wünschen wir eine gute Reise durch die Berührungswelt – übrigens: Haben Sie heute schon jemanden umarmt?