Petra Bock

Der entstörte Mensch

Wie wir uns und die Welt verändern

Warum wir nach dem technischen jetzt
den menschlichen Fortschritt brauchen

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Petra Bock

Dr. Petra Bock zählt zu den bedeutendsten Coaches in Deutschland und begleitet zahlreiche Menschen dabei, ihre Hindernisse zu überwinden und ein erfülltes Leben zu führen. Sie wurde 2012 mit dem Coaching-Award ausgezeichnet und ist eine der meistgebuchten Vortragsrednerinnen im deutschsprachigen Raum. Mit ihren Büchern und ihren Rundfunk- und Fernsehauftritten hat sie ein Millionenpublikum erreicht und begeistert.

Impressum

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Lektorat: Nadine Lipp

Covergestaltung: NETWORK! Werbeagentur, München

ISBN 978-3-426-42621-0

Endnoten

Al Gore: Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014, S. 458 ff.

Z.B.: Mindfuck. Warum wir uns selbst sabotieren und was wir dagegen tun können, München 2011. Die Reihe der Mindfuck-Bücher über mentale Blockaden und ihre Überwindung ist 2019 außer in Deutschland, Österreich und der Schweiz in den jeweiligen Landessprachen in folgenden Ländern erschienen: Türkei, Italien, Tschechien, Ungarn, Ukraine, Lettland, Litauen, Serbien, Japan, Korea und China.

WHO-Regionalbüro für Europa, auf www.euro.who.int/de, Stichwort »Depressionen in Europa«. Die Europäische Kommission (Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz) sieht in der »Bekämpfung von Depression eine der größten Herausforderungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit im 21. Jahrhundert«. Zit. nach Europäische Kommission, Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz, Maßnahmen gegen Depressionen, Luxemburg.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen sowie affektive Störungen sollen nach den Prognosen der WHO ab 2020 die häufigsten Krankheiten der Welt sein, die zu einem verfrühten Tod führen. Sie stehen in engem Zusammenhang mit Stress und subjektiv empfundener Überforderung. Wer an einer Depression erkrankt, hat ein deutlich erhöhtes Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu erkranken und umgekehrt.

Laut Informationen aus dem Fachbereich Ethnologie der Universität München werden im südindischen Bundesstaat Kerala, der für seine regelmäßig hohen Rankings in Entwicklungsindizes bekannt ist, in den letzten Jahren mehr Depressionen diagnostiziert. Experten erklären diese Entwicklung mit dem Zerfall von Großfamilien durch Migration in die Golfstaaten, mit Mehrfachbelastungen von Eltern, vernachlässigten Kindern, allein gelassenen Alten sowie einer hohen Arbeitslosigkeit bei hohem Bildungsstand. Quelle: www.ethnologie.uni-muenchen.de/personen/mitar beiterinnen/lang/lokale_realitaet_depression/index.html (abgerufen am 3. November 2019). Zu China gibt es unterschiedliche Zahlen. Laut WHO leiden 100 Millionen Menschen an psychischen Erkrankungen, 54 Millionen davon an Depressionen (www.wpro.who.int/china/).

Die Definitionen finden sich seit 1990 im neu konzipierten Human Development Report Index der Vereinten Nationen.

Martha C. Nussbaum: Creating Capabilities. The Human Development Approach, Cambridge, Massachusetts, and London 2011 oder Robert und Edward Skidelsky: Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens, München 2014.

Christian Schubert: Was uns krank macht. Was uns heilt. Ein Aufbruch in eine neue Medizin, Munderfing 2017, S. 126 f. Den Zusammenhang zwischen Stress, einem modernen Lebensstil (Überernährung, Bewegungsmangel etc.) und Depressionen zeigt der Neuropsychiater und Neurowissenschaftler Edward Bullmore in seinem Buch: Die entzündete Seele. Ein radikal neuer Ansatz zur Heilung von Depressionen, München 2018.

Ebd.

Erwerbstätigenbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) 2018, Zeitdruck und Co – Wird Arbeiten immer intensiver und belastender?, Dortmund 2018.

Barmer Arztreport 2018, Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Grobe et al., Wuppertal 2018.

Gerd Laux, Otto Dietmaier: Psychopharmaka im Alter, Springer, Berlin 2013.

Yong Du et al.: Psychotropic drug use and alcohol consumption among older adults in Germany: results of the German Health Interview and Examination Survey for Adults 2008–2011, BMJ Open 2016;6(10):e012182. doi: 10.1136/bmjopen-2016-012182

Neben dem Human Development Index der Vereinten Nationen bestätigen das verschiedene repräsentative Studien, z.B. das Best Countries Ranking 2019 des Nachrichtenmagazins U.S. News, für das weltweit 20300 Menschen zu 80 ausgewählten Nationen befragt wurden. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/731635/umfrage/top-20-laender-nach-dem-best-countries-ranking/

Facundo Alvaredo, Lucas Chancel et al.: Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2018. Siehe hierzu auch: www.sueddeutsche.de/wirt schaft/einkommensverteilung-deutschland-ist-so-ungleich-wie-vor-100-jahren-1.3791457

Die Zahlen stammen aus einer vom Allensbach-Institut im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Juli 2019 durchgeführten Umfrage; https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/ 2019-07/institut-fuer-demoskopie-identitaetsgefuehl-ostdeutsch land-umfrage (zuletzt aufgerufen am 3. November 2019).

Dazu eindrücklich: Jürgen Renn, Bernd Scherer: Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge, Berlin 2015, Einführung, S. 10 und 11.

Renn, Scherer: a. a. O., S. 9.

Dazu sagte der Klimaforscher Gernot Wagner in einem Interview: »Das Klimawandelproblem ist globaler, es ist langfristiger, es ist ungewisser und letztlich irreversibler als alle anderen gesellschaftlichen Probleme, die ich kenne.« https://science.orf.at/stories/2918723/

Clive Hamilton: Getting the Anthropocene so wrong, in: The Anthropocene Review, Vol. 3 (2), S. 93–106, 2015 und ders.: The Anthropocene as rupture, in: The Anthropocene Review, Vol. 3 (2), S. 93–106, 2016.

Gernot Wagner, Martin L. Weitzman: Klimaschock. Die extremen wirtschaftlichen Konsequenzen des Klimawandels, Wien 2016. Siehe dazu auch den Ausschnitt aus Eva Menasses Dankesrede anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises 2019, der in Deutschland großes Aufsehen erregt hat: »Gernot Wagner, ein Österreicher, der in Harvard forscht, nannte den Klimawandel das ›perfekte Problem‹. Selbst wenn wir Menschen es schaffen würden, unsere Emissionen von einem Tag auf den anderen abzudrehen wie einen Lichtschalter, dann würden die Temperaturen erst recht und mit katastrophalen Folgen hochschnellen. Warum? Weil wir nicht nur das klimaschädliche CO2 in die Atmosphäre blasen, sondern auch das luftverschmutzende CO2, das in den erdnahen Schichten hängen bleibt und damit die Sonneneinstrahlung abmildert. Es wirkt für die malträtierte Erde wie ein Sonnenschirm. Die Luftverschmutzung mindert also die schlimmsten Folgen unserer Emissionen, auch wenn sie im Jahr 3 bis 6 Millionen Menschen tötet.«, www.kiwi-verlag.de/blog/2019/05/29/fuer-pessimismus-ist-es-zu-spaet-dankesrede-von-eva-menasse-anlaesslich-der-verleihung-des-ludwig-boerne-preises/

Jeremy J. Schmidt, Peter G. Brown, Christopher J. Orr: Ethics in the Anthropocene: A research agenda, in: The Anthropocene Review, Vol. 3 (3), S. 188–200, 2016.

Eva Horn: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a. M. 2014.

Zitiert nach Volker Weidermann: Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher, München 2012, S. 368.

»Für Pessimismus ist es zu spät«, Interview mit Gernot Wagner vom 14.06.2018; das Interview führte Robert Czepel für sience.orf.at.

Peter Kruse: Next practice. Erfolgreiches Management von Instabilität. Veränderung durch Vernetzung, Offenbach 2004, S. 57.

Petra Bock: Mindfuck. Warum wir uns selbst sabotieren und was wir dagegen tun können, München 2011.

Dazu grundlegend: Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012.

Der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer, von den Nazis ausgegrenzter Professor, schrieb in der sogenannten Inneren Emigration im Dritten Reich geheime Tagebücher. Sie erschienen 1995 unter dem Titel »Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten«.

Eindrucksvolle Zeugnisse dieser literarischen Methode der Kritik an einer gestörten Welt, die er freilich nicht in diesen Begriff fasste, sind vor allem seine Werke »Auslöschung. Ein Zerfall« aus dem Jahr 1986 und »Alte Meister. Komödie« aus dem Jahr 1985.

Siehe dazu grundlegend: Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift, München 2014.

Diese Zahl nennen neueste Forschungen. Vgl. Ewen Callaway: Oldest Homo sapiens fossil claim rewrites our species’ history, in: Nature, Juni 2017.

Vgl. die Ausführungen Parzingers zu den Grabfunden in Çatal Höyük, einer großen frühzeitlichen Siedlung aus den Jahren 7400 bis 6200 vor unserer Zeitrechnung. In Parzinger, a. a. O., S. 145.

Parzinger, a. a. O., S. 116.

Karl Marx und seine geistigen Nachfolger waren der Meinung, es war die Einführung des Privateigentums in genau dieser Epoche, die den Anfang allen menschlichen Unglücks markierte. Aber die Erfindung des Privateigentums war die Folge der Sesshaftwerdung, und diese wiederum folgte einem tief greifenden Paradigmenwechsel im menschlichen Denken, der der ältesten Frage der Menschheit entsprang: der Frage nach einem besseren und sichereren Überleben. Den Spieß mental umzudrehen und die Natur mit menschlicher Intelligenz so zu bearbeiten, dass sie Menschen ernährte, statt ihr in Gruppen zu folgen und sich ihr optimal anzupassen, war eine gigantische mentale Leistung und ist zugleich der Ursprung der heutigen Ambivalenz menschlichen Daseins. Es hat nicht nur zur Entstehung von Privateigentum geführt, sondern auch zur Idee von Dominanz und Unterwerfung sowie der Ausbeutung von Mensch und Natur. Genau deshalb verändern sich Gesellschaften auch dann nicht zum Besseren, wenn Privateigentum abgeschafft wird. Im Gegenteil, denn es beraubt Menschen innerhalb strenger Hierarchien eines Mindestmaßes an Kontrolle über die eigenen Lebensgrundlagen. Die Abschaffung des Privateigentums würde Menschen unter den Bedingungen gestörten Denkens noch mehr und schutzloser dem Recht des Stärkeren preisgeben, als es bereits heute der Fall ist. Alle Experimente in diese Richtung, die wir aus dem 20. Jahrhundert kennen, haben genau das bewiesen. Nirgends ist die Abhängigkeit von Menschen größer als dort, wo sie nichts Eigenes besitzen dürfen oder können.

Bereits in den 1970er-Jahren wies die feministische Philosophin Hélène Cixous in ihrem Essay »Sorties« auf bipolare Denkstrukturen hin und hielt sie für eine Machtstrategie des Patriarchats. Ich bin anderer Auffassung. Bipolares Denken ist keine bewusste Erfindung männlicher Menschen, um weibliche Menschen zu unterdrücken, sondern eine menschliche Denkbewegung, die in einer bestimmten Phase der Menschheitsentwicklung evolutionspsychologische Relevanz hatte. Menschen aller Geschlechter haben sie vollzogen und nicht nur auf sich, sondern auch auf anderes bezogen, bis hin zur Gegensatzbildung und Hierarchisierung von Gedanken, Gefühlen und Ideen. Die Zuordnung bestimmter Werte auf ein Geschlecht ist nur eine von vielen Formen der Zuordnung von Rangordnungen und der Bildung von Hierarchien. Und sie bedarf Menschen, die in der Lage und bereit sind, eine angebliche Nachordnung und Unterlegenheit kognitiv und psychoemotional nachzuvollziehen. Das heißt nicht etwa, dass Frauen gerne gehorchen würden, sondern dass Menschen Beziehungssysteme kreieren, in denen sie bereit sind zu glauben, dass bipolare Gegensätze und Rangfolgen real und legitim sind, und diese Überzeugungen auch an ihre Nachkommen weitergeben. Die Mehrheit der Menschen lernt, sich mit den ihnen gesellschaftlich zugewiesenen Positionen zu identifizieren. Das kann ein schmerzhafter, aber auch ein unbewusster oder sogar aktiv unterstützter Prozess sein. Die Fundamentalhierarchien sind ein so tief verankertes Erbe des alten Denkens, dass sie aus meiner Sicht innerhalb des alten Denkrahmens nicht vollständig zu überwinden sind. Und dass sie sich möglicherweise von selbst in Luft auflösen, wenn menschliches Denken einem anderen Paradigma und dadurch einer anderen Logik folgt.

Ebenso wie der Feminismus keine weibliche, sondern eine menschliche Erfindung ist, die wir nur im Kontext verschiedener, im 20. Jahrhundert auftauchender Emanzipationsbewegungen verstehen können. Sowohl das Patriarchat als auch der Feminismus brauchen ein gemeinsames Grundverständnis über Gegensätze und Hierarchien, die Menschen sehr wahrscheinlich erst im Holozän entwickelt haben.

Vgl. Julia Tao: Die Natur des Menschen und das Fundament der Moral. Eine chinesisch-konfuzianische Perspektive, in: Hans Joas (Hg.): Vielfalt der Moderne. Ansichten der Moderne, Frankfurt a. M. 2012, S. 91 ff.

Matthew Reed: Africa connectivity metrics and forecasts, https://ovum.informa.com/resources/product-content/afrika-report, November 2017.

Damit erhalten wir ein Denken, das in Programmierung und Design längst angekommen ist, sich im alten Denkrahmen aber nicht wirksam verankern lässt: ein Netzwerkdenken, das sich, wie Ulrich Weinberg vom Hasso-Plattner-Institut sagt, elementar vom alten »Brockhaus-Denken« unterscheidet. Es entsteht aus meiner Sicht bei Menschen aber nur dann organisch und nachhaltig, wenn sich die Leittheorie über das Leben ändert. Ansonsten wird es lediglich, wie so viele gute Ideen, in den alten Denkrahmen hineingepresst, der es uns – wie den Gedanken von Diversity – entweder nicht verstehen lässt oder zu schnell zu einer Ideologie pervertiert, der man folgen möchte, weil man sonst den Anschluss verlieren könnte. Ulrich Weinberg: Network Thinking. Was kommt nach dem Brockhaus-Denken?, Hamburg 2015.

Zu einem ähnlichen Schluss kam der Naturforscher Alexander von Humboldt durch die gezielte Beobachtung von Naturphänomenen. Er beschrieb Natur als lebendes Netz, in dem alles miteinander zusammenhängt. Vgl. Alexander von Humboldt: Kosmos-Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Das Werk erschien in den Jahren 1845 bis 1862 in mehreren Bänden. Vgl. dazu jüngst: Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, München 2016.

Meine Überlegungen zur Natur unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt erheblich von den wertvollen und inspirierenden Impulsen, die der norwegische Philosoph und Ökologie-Denker Arne Naess (1912–2009) gegeben hat. Naess forderte den Menschen auf, zu »denken wie ein Berg«, und er meinte damit in Anlehnung an den amerikanischen Ökologen Aldo Leopold, sich als Teil der Natur wahrzunehmen, ein ökologisches Selbstverständnis zu entwickeln und uns unseres Verhältnisses zur Gemeinschaft aller Lebewesen bewusst zu sein. In seinem Konzept der Tiefenökologie forderte er, sich umfassend mit einer Welt zu identifizieren, in der auch andere Lebewesen ebenso wie Berge und andere natürliche Entitäten vorkommen. Vieles an diesen Überlegungen ist erfrischend und passend für die Herausforderungen des frühen Anthropozäns, in dem die ökologische Krise erst an ihrem Beginn steht. Doch entstört müssen wir tatsächlich mit aller Kraft und Konsequenz weiterdenken und die besondere mentale Kondition des Menschen nicht zurückbinden, sondern weiterentwickeln, denn sie ist selbst Natur. Unsere menschlichen Eigenheiten und unsere bahnbrechende Imaginationskraft in eine Rückwärtsbewegung in Richtung Identifikation und Symbiose mit der Natur zu drängen, wie Naess es vorschlägt, wäre kein Fortschritt. Weder für die Natur noch für den Menschen, der selbst Natur ist. Naess schlug vor, die Entfaltung und die Selbstrealisierung des Individuums im Rahmen eines großen Ganzen zur Leitidee einer ökologischen Philosophie zu machen, erkannte aber die gegenläufige Bewegung innerhalb der Architektur des Denkens nicht, das Selbstverwirklichung und Entfaltung innerhalb seines eigenen, nicht aufgeklärten Verständnisses ebenso wenig denken kann wie Freiheit oder Gleichheit. Naess hoffte darüber hinaus, der Mensch würde verstehen, dass er selbst ein Teil der Natur ist, und deshalb auch damit aufhören, sie zu zerstören. Doch Menschen wissen durchaus, dass sie ein Teil der Natur sind und dass sie ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören, und hören dennoch nicht damit auf. Denn wir suchen aus dem alten Rahmen heraus geradezu zwanghaft nach dem anderen, dem Gegenläufigen, das wir bezwingen, ausbeuten und kontrollieren können. Es ist das Selbstverständnis des gestörten Menschen, und es unterwandert jede andere Einsicht.

Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Frankfurt a. M. 1992 (7. Auflage), S. 72 in Verweis auf Platons »Gorgias«.

Um klassische Blockaden aus dem gestörten Denken zu erkennen und aufzulösen, finden sich zahlreiche Tipps und Praxisbeispiele in meiner Buchreihe unter dem Titel »Mindfuck«.

Kwame Anthony Appiah: Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt, München 2011.

Vgl. dazu auch das Projekt des Autoren- und Moderatorenteams »Viertausendhertz«. Der Blogger, Podcaster und Buchautor Michael Seemann ist Host eines Podcasts mit dem Titel »Planet B. Ideen für den Neuanfang«, der sich mit neuen Ideen für ein gesellschaftliches Zusammenleben beschäftigt. www.vier tausendhertz.de

Neu betrachtet ist Design Thinking keine Methode, die technisches Denken auf menschliche Kreationsprozesse überträgt und auf Teufel komm raus Wettbewerbsvorteile bringen soll, sondern eine schlicht und einfach aus technischen Entwicklungsprozessen stammende gut funktionierende Methode, mit der wir den menschlichen Fortschritt voranbringen können. Am besten funktioniert sie, wenn sich die am Prozess beteiligten Menschen selbst bereits im Entfaltungsmodus befinden, was selbst wiederum keine Frage spezieller Rituale oder der Vorgehensweise, sondern der Denkweise ist. Um Design Thinking in seinem vollen Potenzial für eine positive Veränderung der Welt zu erschließen, ist es aus meiner Sicht unerlässlich, den menschlichen und kommunikativen Wandel im Sinne der Entstörung zu integrieren.

Mélanie Laurent und Cyril Dion: »Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen«, Frankreich 2015. Filmstart in deutschen Kinos war im Sommer 2016.

Die folgenden Beispiele zu KISS und den Initiativen der Stadt Frome in Großbritannien stammen aus der Sendung »Epidemie Einsamkeit«, die am 14. Februar 2019 auf 3sat unter der Rubrik »Wissen« ausgestrahlt wurde. Sie ist noch bis zum 15.2.2024 abrufbar und stellt viele weitere fantastische Projekte und Initiativen vor. Vgl. www.3sat.de/wissen/wissenschaftsdoku/epidemie-ein samkeit-102.html, zuletzt abgerufen am 6. Januar 2020.

Ein Motto des in Berlin gegründeten Integrationsprojektes »Über den Tellerrand kochen e.V.« lautet: »When you have more than you need, build a longer table. Not a higher fence.« (Wenn du mehr hast, als du brauchst, baue einen längeren Tisch, nicht einen höheren Zaun.) Quelle: https://ueberdentellerrand.org, abgerufen am 29.12.2019.

Das bedeutet, sehr genau darauf zu achten, dass das bright net keine reine Umweltplattform ist und auch nicht einfache Ursache-Wirkungs-Theorien des Holozäns à la »eigentlich ist ›der Kapitalismus‹ schuld oder ›der weiße Mann‹« transportiert. In Großbritannien hat sich ein Netzwerk unter dem Namen Anthropocene Actions gebildet, das verschiedene Bewegungen bündeln und auf ein neues Wirkungsniveau bringen möchte, die sich für eine Veränderung menschlicher Kultur in Richtung Kooperation statt Konkurrenz einsetzen. Vgl. https://www.anaction.org. Dort findet sich auch ein jeweils aktuelles Verzeichnis von »Bewegungen«, die man aus der Sicht des Netzwerkes für kompatibel und ähnlich denkend einstuft. Diese Bewegungen vertreten zum Teil gestört radikales Gedankengut, was dem Anliegen von Anthropocene Actions aus meiner Sicht schadet.

Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 2011. Elinor Ostrom: Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, München 2011.

Für diese Informationen danke ich Andrea Köhn, die diesen Wandel in den Jahren 2015 bis 2020 als Vorstand maßgeblich mitgestaltet hat.

Vgl. www.nexteconomyaward.de, zuletzt abgerufen am 02. Dezember 2019.

SIRPLUS gibt dabei grundsätzlich den »Tafeln« Vorrang, die auch Überschüsse abnehmen und als reines Nonprofit-Projekt zu einem symbolischen Preis an Menschen, die Unterstützung brauchen, weitergeben. Vgl. https://sirplus.de. Auf dieser Seite finden sich detaillierte Informationen über das durchdachte, faire und umweltorientierte Konzept, in dem aus meiner Sicht an alles gedacht wurde, was komplex gedachtes entstörtes Business ausmacht.

Die Alltagshelfer müssen zwar selbstständig sein, werden aber im Gegensatz zu anderen mit Selbstständigen arbeitenden Vermittlungsdiensten in anderen Branchen mit einem fairen Stundenlohn, der deutlich über dem Mindestlohn liegt, entlohnt.

Es handelt sich um die bereits im Jahr 1934 gegründete WIR Bank Genossenschaft mit Sitz in Basel. Mit der Währung kann in rund 30000 am Währungsverbund teilnehmenden Schweizer kleinen und mittleren Unternehmen bezahlt werden. Es gibt keinen Zins, was den Anreiz erhöht, die Komplementärwährung, den sogenannten WIR, schnell wieder zu investieren und damit den Wirtschaftskreislauf zwischen den teilnehmenden Unternehmen zu stärken.

Bürgergutachten Demokratie. Die Empfehlungen des Bürgerrats in Leipzig, 13./14. und 27./28. September 2019. Download unter www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buergergutachten.pdf

www.law4school.de

www.familylab.de

Für Linda und Frederic

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

 

Hölderlin

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

an einem regnerischen Morgen im November 2019 stand ich in einer Seminarpause an einem bodentiefen Fenster und blickte auf die Berliner Friedrichstraße. Junge »Fridays for Future«-Demonstranten zogen vorbei. Sie trugen Plakate und Transparente mit sich, auf denen sie ihrem Ärger Luft machten und ihre Sorgen um die Zukunft der Erde zum Ausdruck brachten. Eine junge Frau sah zu mir hinauf. Unsere Blicke trafen sich. Da hob sie die Hand und winkte mir zu. Sie hätte meine Tochter sein können.

Es gibt Momente im Leben, wo sich auf einmal Erkenntnisse verdichten und sich Jahre zurückliegende Erinnerungen vor unserem inneren Auge abspielen. Wie viele Menschen, dachte ich mir, als die junge Frau weiterging, waren in den vergangenen hundert Jahren durch die Straßen Berlins gezogen, um ihren Sorgen und ihrem Ärger Luft zu machen? Wie oft waren an genau diesem Ort, am Bahnhof Friedrichstraße, der über Jahrzehnte zwei Weltsysteme voneinander trennte, Menschen in Angst und Sorge unterwegs? Nun war alles wieder da.

Ich erinnerte mich an das »rote Telefon«, das mich als Kind so beschäftigt hatte. Ich war etwa zehn oder elf Jahre alt. Damals hielt der Kalte Krieg die Welt in Atem. Ich hatte große Angst davor, eines Tages in einem riesigen Feuerball zu verglühen wie die Menschen in Hiroshima, deren Silhouetten sich als Schatten in die Mauern ihrer zerstörten Häuser eingebrannt hatten. Alles schien so sinnlos angesichts der übermächtigen Bedrohung. In der Schule mussten wir üben, uns vor einer Atomexplosion unter den Schulbänken zu verstecken. Wir wussten, wie vergeblich das im Fall der Fälle gewesen wäre. Und verstanden nicht, warum die Welt so war, wie sie war.

Es hieß, auf den Schreibtischen der Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion stünde jeweils ein rotes Telefon. Im sogenannten Ernstfall könnten die beiden noch telefonieren, bevor der eine oder beide auf den »Knopf drückten« und der dritte Weltkrieg, ein die Erde vernichtender Atomkrieg, beginnen würde. Ich habe mich damals oft gefragt, warum sie nicht einfach so zum Hörer griffen und miteinander redeten. Warum dieser Wahnsinn sein musste, diese furchtbare Angst und Bedrohung allen Lebens auf der Erde, wo sie doch beide erwachsen waren und alles anders machen konnten.

Etwas Ähnliches mag der damals sechzehnjährigen Greta Thunberg durch den Kopf gegangen sein, bevor sie 2018 in Krakau die Delegierten der Weltklimakonferenz daran erinnerte, dass sie sich doch bitte erwachsen verhalten und ihre Verantwortung für das Leben auf der Erde übernehmen müssten. Wiederholt sich Geschichte?

Heute bin ich selbst lange erwachsen und gehöre einer Generation an, die die Geschicke der nächsten zehn, zwanzig Jahre entscheidend mitprägen wird. Mein ganzes Leben habe ich mich als Wissenschaftlerin und Beraterin mit der Geschichte und den Möglichkeiten menschlicher Veränderung beschäftigt. Es wollte mir nie einleuchten, warum wir nicht andere sein können, reifer, besser, konstruktiver. Und ich meine, einem blinden Fleck auf die Spur gekommen zu sein, den ich in dem vorliegenden Buch aufklären möchte. Er könnte, das ist meine Hoffnung, einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, wie wir uns und die Welt endlich zum Besseren verändern können.

Jeder, der heute erwachsen ist, hat weltgeschichtliche Umbrüche erlebt. Viele leiden noch heute darunter. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir noch zu unseren Lebzeiten aufhören können mit dem Wahnsinn der Wiederholung der vielen Fehler, die wir innerhalb der menschlichen Zivilisation seit so langer Zeit an uns selbst und anderen Lebewesen begehen. Wir haben heute erstmals nicht nur Anlass, sondern auch die Möglichkeiten dazu.

Es ist die beste Zeit, die es jemals gab, um einen inneren Wandel einzuleiten, der uns nicht nur zu besseren, sondern auch zu glücklicheren, erfüllten Menschen macht. Nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich erwachsen. Frei, lebensfreundlich, konstruktiv. Wäre es nicht schön, wenn kommende Generationen uns nicht mehr dazu auffordern müssten?

Ich wünsche mir, dass dieses Buch Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, Erkenntnisse und Inspiration dazu bringt. Möge es Ihnen Anregung bieten, grundlegende Fragen mit anderen Augen zu betrachten und neue, kreative Lösungen zu entwickeln. Auf uns, die heute Lebenden, kommt es an. Lassen Sie uns aus unserer recht übersichtlich bemessenen Zeit auf dieser faszinierenden Erde etwas Besonderes machen. Etwas, auf das wir selbst und die, die nach uns kommen werden, stolz sein können.

 

Petra Bock

Berlin, im Januar 2020

Einführung:
Auf der Suche nach einem neuen Paradigma

Reisenden, die auf der Autobahn vom Elsass in Richtung Lyon unterwegs sind, begegnet kurz vor der Stadt Belfort eines der typischen touristischen Hinweisschilder, die gewöhnlich eine Sehenswürdigkeit ankündigen. Dieses Schild ist aber merkwürdig, weil das, worauf es hinweist, nicht sichtbar ist und dennoch die größten Auswirkungen auf das Leben und die Landschaft eines ganzen Kontinents hat. Tief unter der Erdoberfläche verläuft eine Linie, eine Wasserscheide, die sich von Gibraltar bis Moskau quer durch den europäischen Kontinent zieht. Je nachdem, auf welcher Seite ein Regentropfen zu Boden fällt, entscheidet sich, in welchen Fluss und schließlich in welches Meer er fließen wird, ob ihn seine Wege in die Meere des Nordens oder in die des Südens führen werden.

In diesem Buch geht es um ein Ereignis, das ebenfalls in der Tiefe verborgen ist und in seinem Charakter und seinen Auswirkungen auf alles, was das Leben in dieser Zeit und in Zukunft betrifft, nicht weniger weitreichend ist: Es geht um die geistigen Fundamente unseres bisherigen Menschseins. Um die Frage, wie wir diese besser verstehen und verändern können, um uns in diesem Jahrhundert wieder zurechtzufinden und unserem eigenen Leben, ebenso wie allem Leben auf der Erde, eine neue Chance zu geben.

Ich werde zeigen, dass menschliches Denken bis heute einem sehr zwiespältigen Paradigma folgt, das aus einer Epoche der menschlichen Zivilisation stammt, die heute zu Ende geht. Dieses Paradigma hindert uns daran, in einer anderen Qualität zu denken und erfolgreiche Antworten auf die Fragen zu finden, die uns dieses Jahrhundert in bislang beispielloser Weise stellt. Es polt uns dagegen mit geradezu mathematischer Präzision auf Konflikte, auf ein sinnloses Ringen um Dominanz, auf zerstörerische Denkweisen und Strategien, auf ein Verhalten, mit dem wir uns und anderes Leben niedermachen. Es zwingt uns dazu, unsere Probleme zu vertiefen, statt sie endlich gemeinsam zu lösen.

Denken, das aus der Zeit gefallen ist

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, dass sich alles um uns herum innerhalb eines knappen Jahrhunderts fundamental verändert hat und weiterhin verändern wird, die menschliche Denkweise in ihrer Ausrichtung und grundlegenden Logik aber bislang gleich geblieben ist. Der technische und wissenschaftliche Fortschritt hat seit etwa einer menschlichen Lebensspanne alles, buchstäblich alles verändert, aber unser Denken, unsere Überzeugungen und Lebensstrategien haben sich in ihren Grundlagen nicht verändert.

In unseren Köpfen existiert ein feines Geflecht von Überzeugungen, Regeln und Ängsten, die einem Rahmen entstammen, der uns suggeriert, wofür wir das Leben zu halten haben. Alles, was wir wahrnehmen, denken, fühlen und tun, stammt aus diesem unsichtbaren Rahmen, einem fundamentalen Frame, der wahrscheinlich durch den letzten großen Klimawandel und damit zu Beginn der menschlichen Zivilisationen vor rund 12000 Jahren entstanden ist. Dieser Rahmen prägt und steuert das menschliche Denken – über Kulturen hinweg – bis heute. Wir können uns diesen Rahmen, dieses mentale Paradigma vorstellen wie einen inneren Kompass, der uns immer wieder gleich ausrichtet, selbst dann, wenn uns diese Ausrichtung längst in die Irre führt. Es stammt aus einer anderen Zeit, ist für andere Lebensbedingungen gemacht und kann unter den heutigen Umständen nur immer größeren Schaden anrichten. Vielen scheint es, als ob die Zeit aus den Fugen geraten sei, doch in Wirklichkeit ist das menschliche Denken aus der Zeit gefallen. Wir orientieren uns mental an einem Paradigma, das uns unsere Gegenwart weder verstehen noch bewältigen lässt.

Wir brauchen einen neu verstandenen Humanismus

Das Panorama, das ich in diesem Buch entfalte, ist naturgemäß kein kleines. Es ist sogar, zugegeben, sehr ambitioniert. Doch ich meine, es ist Zeit, ein denkerisches Wagnis einzugehen, denn niemals zuvor stand so viel auf dem Spiel wie heute. Niemals haben wir als Einzelne und im kollektiven Maßstab so sehr an der Wirklichkeit vorbeigelebt wie heute. Nach dem technischen brauchen wir deshalb den menschlichen Fortschritt. Wir brauchen einen humanistic turn, eine Wende zum Menschen hin und über ihn hinaus. Wir müssen uns der Frage zuwenden, was Menschen heute und in Zukunft brauchen, um erfüllte und konstruktive Lebewesen zu sein, die eine sehr herausfordernde und komplexe Rolle in einer sehr komplexen und aus dem Lot geratenen Welt innehaben. Alles, was wir denken, tun und erschaffen, auch unsere Technologien, sollte sich dieser Frage stellen: Wie kann es uns gelingen, uns zu einer individuell wie kollektiv erfüllten, konstruktiven Spezies zu wandeln? Wie können wir uns und die Welt verändern? Wir brauchen Visionen davon, wie sich Leben im 21. Jahrhundert entfalten kann, eine pragmatische Utopie, wie wir desaströse Denk-, Fühl- und Verhaltenscodierungen der bisherigen menschlichen Zivilisation des Holozäns endgültig hinter uns lassen können und neue Formen des Lebens und Zusammenlebens auf der Erde finden.

Ein Denken neuer Qualität

Was wir heute also brauchen, sind keine neuen, gut gemeinten Banalitäten und einfachen Erklärungsmuster. Wir brauchen ein Denken neuer Qualität. Eine von Grund auf offene, fluide und lebensfreundliche Denkweise, die die unerhört neuen Bedingungen unserer Zeit, nämlich konstanten Wandel und die Explosion von Komplexität, abbilden und flexibel auf sie reagieren kann, ohne einen ganz bestimmten roten Faden, eine Art Rückgrat elementarer und höchst wirksamer Werte jemals zu verlieren. Einfach gesagt geht es für uns darum, schneller und wirksamer zu werden als die Veränderung selbst und dazu dem menschlichen Denken ein neues Paradigma zugrunde zu legen, das sich vom alten diametral unterscheidet.

Das würde uns erlauben, kulturübergreifend in einer sich beschleunigenden Komplexität zu navigieren, ohne die Orientierung zu verlieren. Wir könnten menschliche Werte stärken, statt sie immer mehr zu verlieren. Wir müssen uns in die Lage versetzen, unsere Kräfte so effektiv zu bündeln wie niemals zuvor, und eine vollkommen neue Qualität des Zusammenlebens und -arbeitens ermöglichen. Wir brauchen dazu einen gemeinsamen ethischen Nenner, der niemandem mehr erlaubt, sich hinter kulturell begründeten Befindlichkeiten zu verschanzen, wo es doch in Wirklichkeit längst darum geht, erstmals in der Geschichte der Menschheit eine gemeinsame humane Sprache zu finden, die den wahren Verhältnissen und ihrer ungeheuren Dynamik auf unserem kleinen Planeten entspricht. Was wir ebenso wenig zulassen dürfen, ist, dass die Interessen von Extremisten jeder Couleur, auch nicht jener aus den digitalen Zentren, diktieren, was in diesem Jahrhundert auf diesem Planeten passiert.

Wir kommen nicht darum herum, uns weiterzuentwickeln. Wir müssen von gestörten zu entstörten Menschen werden. Ich glaube, es ist an uns heute Lebenden, uns aus den Fesseln der Unreife zu befreien und zu voll ausgereiften psychoemotional stabilen erwachsenen Menschen zu werden. Erwachsenen, die sich ernsthaft auf Augenhöhe begegnen und sich mehr Offenheit und Kooperationsfähigkeit abverlangen als alle Generationen vor uns. Es gibt nichts Wichtigeres, als uns selbst und die nächsten Generationen mitzunehmen in den menschlichen Fortschritt. Wir müssen stark sein und offen. Stärker und offener als jemals zuvor. Denn es geht heute um nicht weniger als das Glück des Menschen, die Zukunft unserer Spezies und das Leben der gesamten Biosphäre.

Ich bin überzeugt davon: Mit einem neuen Denken haben wir die Kraft dazu. Die Kraft und die Fähigkeit zu weitaus besseren Ideen. Wie diese gebaut sein müssen, um den großen Fragen unseres Jahrhunderts standzuhalten und dieses wieder zu gestalten, statt sich von ihm hin und her werfen zu lassen, darum geht es in diesem Buch.

Vom Closed Mind zum Open Mind

Was ich zu sagen habe, wird manchem ungewöhnlich und im besten Sinne des Wortes fragwürdig erscheinen, weil es tatsächlich neu ist. Es muss aufstören, verwirren oder sogar Widerstand erzeugen, denn wenn es das nicht täte, wäre es nicht neu. Wenn es aber nicht neu wäre, könnte es uns keine Antworten auf die absolut neuen und ebenso drängenden Fragen unserer so fremdartig neuen Zeit geben. Zu neuen Denkweisen gehören auch Begriffe, die neu sind oder mit neuem Sinn belegt werden. Das beginnt in diesem Buch mit den Begriffen der Störung bzw. der Entstörung, die weder psychopathologisch noch technisch gemeint sind, obwohl die Prinzipien und Muster, die ich darin ausmache, auch in psychopathologischen oder technischen Phänomenen zu finden sind.

Ich schlage vor, menschliches Denken und Verhalten danach zu beurteilen, ob es Entfaltung auf individueller und kollektiver Ebene ermöglicht oder blockiert, ob es störend oder entstörend wirkt. Es bedeutet konkret die Frage, ob wir einem Open Mind oder einem Closed Mind folgen und wie genau diese Alternativen aussehen. Entstörtes Denken ermöglicht ein kooperatives und im konstruktiven Sinne kreatives Denken. Gestörtes Denken verschließt die menschliche Denkweise für Veränderungen und nutzt sein kreatives Potenzial vor allem dazu, von Grund auf ungerechte Pseudostabilitäten zu erzeugen, menschliche Freiheit und Entfaltungskraft zu zerstören und alles Leben auf der Erde auszubeuten, statt sich entfalten zu lassen. All diese Überlegungen sind verbunden mit der Frage nach einem neuen Menschenbild, für das es aus meiner Sicht höchste Zeit ist.