Uta Eisenhardt
Am Dienstag habe ich meinen Vater zersägt
Die härtesten Fälle einer Gerichtsreporterin
Fischer e-books
Uta Eisenhardt ist studierte Soziologin und seit Jahren als Journalistin tätig. Seit 2003 arbeitet sie als Gerichtsreporterin in Berlin. In der stern.de-Kolumne »Icke muss vor Jericht« berichtete sie jede Woche aus dem Berliner Amtsgericht, dem größten Deutschlands. Ihr erstes Buch "Es juckt so fürchterlich, Herr Richter!" erschien im September 2011 im Fischer Taschenbuch Verlag.
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Covergestaltung: R.M.E., Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer
Coverabbilding: Ansgar Pudenz
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401773-0
»Warum?« Wo immer in Deutschland ein Verbrechen geschieht, liest man diese fünf Buchstaben und ein Fragezeichen. Man sieht sie auf Titelseiten und auf Zetteln, die an Tatorten abgelegt sowie vor Gerichtsgebäuden in die Kameras gehalten werden. Es ist eine sehr wichtige Frage.
In Strafprozessen nimmt man sich für deren Beantwortung Zeit. Bevor nämlich das Gericht einen Täter verurteilen kann, muss es dessen individuelle Schuld bestimmen. Darum befragen Richter, Schöffen, Staatsanwälte, Nebenkläger und Verteidiger meist viele, viele Zeugen – stundenlang, tagelang – manche Prozesse dauern sogar Jahre. Anschließend lässt sich fast immer das »Warum« beantworten. Außenstehende können sich mit Hilfe der Gerichtsreportage informieren, doch was man dort liest, ist oft sehr unbefriedigend: Denn obwohl viele Menschen gern etwas über Strafprozesse wissen wollen, wird dieses Genre in vielen Medien stiefmütterlich behandelt. Kein Platz, kein Geld, zu viel Aufwand oder noch besser: »An diesem Tag haben wir schon einen anderen Fall, das reicht.« Das sind alles Gründe, um über Prozesse nicht zu berichten.
Wenn doch darüber geschrieben wird, dann oft über den ersten und den letzten Verhandlungstag, also über die Anklage, bestenfalls noch über die Erklärung des Angeklagten, und über das Urteil. Was dazwischen passiert, findet entweder gar keine Erwähnung oder wird in wenigen Zeilen abgehandelt, wobei die Hälfte dieses Textes dann aus einer grundsätzlichen Beschreibung des Falles besteht, damit der bislang nicht informierte Leser die andere Hälfte auch einordnen kann.
Dabei beschäftigt sich das Gericht in diesem Zwischenstadium mit dem, was zwischen Schwarz und Weiß, also zwischen Tatvorwurf und Urteil steht. Geduldig erkundet es die Lebensumstände von Tätern und Opfern, all das, was zu der Tragödie geführt hat. Am Ende des Prozesses wird dann eine Zahl verkündet, welche die Höhe der verhängten Geldstrafe oder die der Jahre und Monate des Freiheitsentzuges bezeichnet.
Diese Zahl steht nun wiederum im Zentrum der Berichterstattung. Aber was sagt sie dem Außenstehenden über die Tat, die möglicherweise hätte verhindert werden können? Gerade Strafprozesse bieten eine Chance, sich tiefgründig mit Konflikten zu beschäftigen, über Grundsätzliches nachzudenken. Und weil das Geschehene in der Vergangenheit liegt und sich die Beteiligten vom ersten Schock erholt haben, könnte man das sogar in Ruhe und ohne Aktionismus tun. Viele Medien bieten dafür zu wenig Raum.
Dieses Buch berichtet von Strafprozessen, die mich besonders berührt haben. Hier schreibe ich ausführlich über das, was ich im Gericht erlebt und erfahren habe; dadurch wird deutlicher, was den Opfern widerfuhr, aber auch das, was den Täter zu seinem Handeln trieb. Diese Ausführlichkeit ist in der Tagespresse nicht unproblematisch. So habe ich mir etwa bei dem Fall, der in diesem Buch unter der Überschrift »Mein Sohn, mein Sexobjekt« zu lesen ist, das Argument anhören müssen, dass der Leser mit so etwas Unappetitlichem beim Frühstück nicht konfrontiert werden möchte. – Dabei ist gerade der Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern ein so erschreckend häufiger, dass ich es geradezu grotesk finde, davor die Augen zu verschließen: Die Öffentlichkeit wird geschont, die Kinder wurden es nicht.
Aus kurzen Zeitungsmeldungen erfährt man auch nicht, was beispielsweise passiert, wenn eine Lehrerin Erstklässler schlägt. So konnten viele Leser nicht die gravierenden Folgen für die Betroffenen verstehen und äußerten in ihren Zuschriften, man solle der Lehrerin doch »noch die paar Jahre bis zur Rente lassen«.
Manchmal werde ich gefragt, wie ich es verkrafte, jede Woche so detailliert von Tragödien zu erfahren, von Mord und Totschlag, von Körperverletzung und Brandstiftung, von Entführung und Freiheitsberaubung, von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch. Darauf gibt es nicht nur eine Antwort.
Grundsätzlich darf man als Gerichtsreporterin nicht zart besaitet sein. Blutige und intime Details gehören zu meinem Berufsalltag. Ich muss sie zur Kenntnis nehmen – sie sind für mich der Anlass, mich mit einem Menschen zu beschäftigen, sein Handeln verstehen zu wollen. Gelingt es mir, mich in einen Täter hineinzuversetzen, kann es geschehen, dass seine Tat für mich etwas von ihrem Schrecken verliert.
Schreiben ist Sich-Mitteilen, und natürlich teile ich durch das gedachte Zwiegespräch die Last meines schrecklichen Wissens mit meinen Lesern. Auch ein gewisser Galgenhumor gehört zur Verarbeitung – so dringt nicht alles ins Innerste meiner Seele.
Es gibt aber auch Fälle, bei denen einem jegliches Lachen vergeht, bei denen man seine Grenzen spürt. Das wohl Unerträglichste, was ich in den vergangenen neun Jahren in deutschen Gerichtssälen gehört habe, war das Geständnis eines psychisch kranken Doppelmörders, der eine Vierzehnjährige tötete und sich anschließend an deren Blut und Fleisch ergötzte. Fünf Tage später fiel ihm ein zierlicher Dreizehnjähriger in die Hände, den er irrtümlich für ein Mädchen gehalten hatte. Sein Geständnis war als Brief an das Landgericht verfasst, ein neunzehnseitiges, vor Abscheulichkeiten strotzendes Dokument, das am ersten Prozesstag verlesen wurde. Am Ende dieser Lesung verließ ich kreidebleich den Sitzungssaal, froh, dass ich mich während der Verhandlung nicht vor Ekel und Entsetzen habe übergeben müssen, und mit der Frage im Hinterkopf, wie ich dies dem Leser bloß schildern soll.
So gibt es etliche Tragödien, die man nie vergessen wird. Immer wieder denkt man an deren Protagonisten, etwa an die ermordeten Kinder und deren Eltern. Auch die sympathische junge Frau geht mir nicht aus dem Kopf, die scheinbar grundlos ihr Gehör verlor, weil sie aufgrund ihrer Schönheit und Natürlichkeit das Opfer eines Verbrechens wurde. Ich erinnere mich an einen hochintelligenten Wissenschaftler, der – weil es ihn erregte – seine Sexpartnerin erwürgte. Ohne nennenswerte Aussicht auf Entlassung sitzt dieser krankhafte Sadist in der geschlossenen Psychiatrie. Und bei Nachrichten über »Die Zeugen Jehovas« grüble ich über den jungen Studenten, der auf der Suche nach sich selbst einen beinahe perfekten Mord begangen hatte. Ich rechne, wie lange er oder andere Verurteilte noch in Haft sitzen und wann sie entlassen werden. Und ich frage mich, was sie danach tun werden.
Die Gedanken an all die Tragödien, von denen ich in diesem Buch berichte, bieten aber auch etwas Tröstliches: Im Vergleich zu ihnen erscheinen die eigenen Probleme klein und lächerlich.
Vielleicht geht es Ihnen ähnlich, wenn Sie dieses Buch lesen.
Uta Eisenhardt
P.S.: Ich habe zwar keine der Geschichten erfunden, aber mir viel Mühe gegeben, die Menschen, deren Schicksal ich schildere, zu anonymisieren. Ich gab ihnen andere Namen und Spitznamen, verzichtete weitgehend auf Orts- und Zeitungsangaben sowie Berufsbezeichnungen. Sollten sich dennoch Parallelen zu lebenden Personen ergeben, sind diese selbstverständlich nicht beabsichtigt.
Plötzlich waren sie weg – die täglichen Geräusche vom Grundstück der Familie M. Die Schuppentür klapperte nicht mehr, die Straße wurde nicht gefegt, das Auto nicht bewegt. Mit den Geräuschen fehlte auch das Ehepaar selbst. Nicht, dass man Manuela und Manfred M. besonders gemocht hätte. Fast alle Nachbarn hatten den Kontakt zu dem Paar, das gern mal die Polizei holte, auf ein Minimum beschränkt. Aber diese wochenlange Abwesenheit von zwei Menschen, die nie verreisten – da konnte etwas nicht stimmen.
Die Nachbarn behielten recht: Als sie die Polizei alarmierten, waren die sechzigjährige Frau und der siebenundsechzigjährige Mann bereits seit fünf Wochen tot; erstochen und erschlagen vom eigenen Sohn. Als der blasse, hochaufgeschossene Mann vor seine Richter tritt, sind seine Hosen zu kurz, sein beigefarbenes T-Shirt zu weit.
Im Gefängnis hat Marco M. sich die einst welligen und brav gescheitelten Haare abschneiden lassen. Eine lange Nase und ein breiter Mund dominieren sein Gesicht. Trotz der militärischen Frisur wirkt es weich und unsicher.
»Meine Familie gestaltet sich jetzt übersichtlich«, sagt der Achtundzwanzigjährige. Das klingt zynisch, doch es ist ein typischer Marco-Satz: emotionslos und sachlich, ausschließlich an den Fakten orientiert. Sich selbst beschreibt er als verschlossen, ohne besten Freund, ohne Freundin. »Ich bin nicht der übliche Partygänger«, ergänzt er mit leiser Stimme und ernster Miene. Dann schaut er schweigend zum Vorsitzenden Richter, bis der ihm wieder eine Frage stellt.
So arbeiten sich Gericht und Angeklagter durch eine Familiengeschichte, die in den achtziger Jahren in einer ostdeutschen Kleinstadt begann. Mutter Manuela hatte an einer Fachschule studiert und arbeitete in einem nahe gelegenen Werk, genau wie sein Vater, der dort die Anlagen wartete. Dort hätten sich die Eltern kennengelernt, erzählt der Sohn dem Gericht. Die Nachbarn dagegen berichten, schon der Vater sei ein Einzelgänger gewesen, den Mutter und Oma vom Leben fernhielten. Die Mütter der dominanten Manuela und des introvertierten Manfred waren Kolleginnen und hätten die Beziehung arrangiert.
Marco M. wurde am neununddreißigsten Geburtstag seines Vaters geboren. Seine Mutter war damals »zweiunddreißigeinhalb«, so der Angeklagte. Das Baby hatte missgebildete Füße und wurde in den folgenden Jahren oft operiert – mit mäßigem Erfolg.
Seine ehrgeizige Mutter muss sich an diesem Manko schuldig gefühlt haben, vermutet der psychiatrische Gutachter, den das Gericht bestellt hatte, um die Schuldfähigkeit des Angeklagten zu beurteilen. Manuela M. wollte damals alles tun, um die Ungerechtigkeit der Natur auszugleichen, und nahm die Kindererziehung selbst in die Hand. Von einer Freundin besorgte sie sich ein Fachbuch und blieb mit ihrem Sohn bis zu dessen Einschulung zu Hause. Später dann, als Marco die fünfte Klasse besuchte und sein Notendurchschnitt von 1,2 auf 1,5 abrutschte, gab es zu Hause »Schule nach der Schule«. Intensiv habe seine Mutter alle Arbeiten kontrolliert, bis die »Schwächephase« überwunden war, so der Angeklagte.
Er und seine Eltern blieben meist unter sich. Mit den Nachbarn hatte man sich weitgehend zerstritten, genauso mit den wenigen Verwandten. Das Familienleben spielte sich in einer verschlossenen Doppelhaushälfte ab, die auf einem von Pflanzen überwucherten Grundstück stand. Mit Gleichaltrigen kam der Junge kaum in Berührung, er besuchte keinen Kindergarten und später auch keinen Schulhort. Selbst die Unterrichtspausen verbrachte er allein. An Hänseleien kann er sich nicht erinnern. Möglicherweise war er für seine Mitschüler einfach nur Luft. Nach der Schule wurde er immer vom Fahrdienst abgeholt. Verspätete der sich mal um Minuten, hätten sich die besorgten Eltern bereits erkundigt, berichtet eine Zeugin.
Mit dem Untergang der DDR verloren Manuela und Manfred M. ihre Arbeit. Spartanisch lebten sie nun von staatlicher Unterstützung. »Die Eltern wirkten wie Senioren, die das Arbeitsleben hinter sich gelassen haben, wie die Großeltern ihres Sohnes, sehr gesetzt«, so empfand es ein Zeuge, der das Ehepaar zehn Jahre vor dessen Ermordung einmal gesehen hatte.
Die M.’s waren von der neuen Gesellschaftsordnung enttäuscht. Permanent schimpften sie darüber und schotteten sich noch mehr von der als bedrohlich empfundenen Außenwelt ab. Auch untereinander bestimmten Vorwürfe das Familienklima. Als seine Mutter an Brustkrebs erkrankte, machte sie ihren Mann dafür verantwortlich, erinnert sich der Sohn, der damals dreizehn Jahre alt war. »Danach hat sie sich immer mehr zurückgezogen.« Dennoch hatte sie das Sagen in der Familie. »Dann kam der Sohn, dann eine Weile nichts, dann erst kam der Manfred«, erinnert sich ein früherer Kamerad des Vaters. Streit habe man von den M.’s nicht mitbekommen. »Wie auch?«, meint der Angeklagte, »Streit heißt ja, wenn beide etwas sagen.« Man habe nur wenig miteinander gesprochen, eher als Wohngemeinschaft nebeneinanderher gelebt.
Bizarr wirken die Beobachtungen der wenigen Zeugen, welche die Familie etwas näher kannten. Für sich allein genommen sind sie wenig bedeutsam – erst in der Summe erschrecken sie. Da war der Kinderwagen, der unter einem Pflaumenbaum stand. »Die Mütter der Umgebung sind fast ausgerastet, als der Marco darin lag und stundenlang schrie«, sagt ein Nachbar aus. Da war das sommerliche Grillen, bei dem der Vater das Fleisch im Garten briet. War es fertig, verspeiste man es nicht etwa im Freien, sondern im Haus, in dem sich die Familie förmlich verschanzte. Da waren die irrsinnigen Vorräte, welche die Familie im Keller ihres Hauses hortete: »Man hätte jahrelang leben können, ohne zu verhungern«, meint ein Polizeibeamter. Da war das tägliche Ritual an der Gartenpforte, die der Vater morgens und abends für seinen Sohn aufsperrte und hinter ihm wieder verschloss. Minuten, bevor der Junior von der Uni nach Hause kommen musste, hielt der Senior am Gartenzaun nach ihm Ausschau, beschreibt ein Nachbar die Szene. »Der Vater schloss das Tor auf. Der Sohn schaute ihn beim Hereinlassen gar nicht an. Wortlos ging er an ihm vorbei.«
Der Hausarzt der Familie wunderte sich, wie selbstverständlich die Mutter den jährlichen Besuchen des mittlerweile erwachsenen Sohnes beiwohnte, ohne dass dieser protestierte. »Was hätten Sie erwartet, wenn Sie die Frau herausgeschickt hätten?«, erkundigt sich der psychiatrische Gutachter. Der Befragte glaubt: »Das wäre schwierig gewesen, das hätte sie nicht akzeptiert.« Isoliert, bevormundet und quasi eingesperrt lebte Marco M. zeit seines jungen Lebens, so empfanden es fast alle Zeugen.
Nach dem Abitur, das er nach eigener Aussage mit einem Durchschnitt »unter Zwei, mit Schwächen in Musik und Kunst« bestand, wollte er gern Chirurg werden: »Aber man war der Meinung, dass mich das Stehen körperlich überfordern würde«, erklärt der Angeklagte. »Man«, damit ist »Mutti« gemeint. Sie hätte dann Jura »als Ersatzkandidaten ins Spiel gebracht«. Die arbeitslose, als zänkisch verschriene Frau, die gerichtliche Auseinandersetzungen mit ihren Mitmenschen nicht scheute, wünschte sich für ihren Sohn eine Tätigkeit als Anwalt.
Schon bald aber zweifelte der Student an der Wahl seiner Fachrichtung. »Für mich ist ›eins und eins gleich zwei‹ und nicht ›vielleicht zwei‹ oder ›von bis zwei‹«, erklärt er dem Richter seine Probleme mit Fachgebieten, deren Ergebnisse diskutabel sind. »Das kriege ich einfach nicht zusammen.«
Beinahe scheiterte sein Studium an einer Zwischenprüfung, wäre bei der Nachprüfung nicht ausgerechnet das drangekommen, was er gelernt hatte. Sonst hätte sich das Problem von selbst erledigt und der Student nicht unter solchem Druck gestanden. Vielleicht würden seine Eltern dann noch leben.
So aber machte er tapfer weiter, getreu dem Familien-Motto: »Was man einmal begonnen hat, muss man auch beenden.« Einem Händler, der dem Hobbyinformatiker zehn Jahre lang Computerzubehör verkaufte, fiel auf, wie bedrückt Marco M. in dieser Zeit war. »Er kam immer mit einem schweren Rucksack zu mir. Wenn er den abnahm, hatte man das Gefühl, er hat den immer noch auf.« Nur als sein Kunde im siebten Semester einen LKW-Führerschein gemacht hatte und kurzzeitig für eine Spedition arbeitete, veränderte er sich: »Er wirkte offener, hatte strahlendere Augen, einen festen Händedruck, wuschelige Haare und war besser gekleidet. Bald aber wirkte er wieder so bedrückt wie vor dem Lastwagenfahren.« Da hatte Manuela M. ihrem Sohn geraten, sich wieder mehr auf seine universitäre Ausbildung zu konzentrieren.
Nach dreizehn Semestern wollte er das Studium endgültig abbrechen. Vorsichtig sagte er seiner Mutter, Jura spräche ihn nicht richtig an: »Daraufhin sagte Mutti, es gibt immer mal Phasen, da muss man durch.«
Im fünfzehnten Semester erfand der Sohn ein erstes Staatsexamen, das er mit »befriedigend« bestanden hätte. Die Eltern freuten sich sehr. Er solle noch promovieren, schlug ihm seine Mutter vor. Er lehnte ab, das Studium habe doch schon so lange gedauert, außerdem, so log er, müsse er noch eine Forschungsarbeit beenden. Tage später sprach ihn die Mutter wieder auf die Promotion an. Seine erneute Ablehnung strafte sie mit Nichtbeachtung. »Sie sprach mit mir nur das Allernötigste«, erinnert sich der Angeklagte. Kurz danach erlitt Manfred M. einen Schlaganfall. Dieser Umstand verpasste den Lügen etwas längere Beine – für eine Weile stand Vaters Gesundheit im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Das änderte sich, als die Mutter ein knappes Jahr nach dem angeblichen Jura-Abschluss ihren sechzigsten Geburtstag feierte und Marco von den einzigen Freunden der Eltern nach seiner Abschluss-Urkunde gefragt wurde. Er log: »Das dauert an der Uni etwas länger.« Dann wusste er keinen anderen Ausweg, als sich in einen stillen Winkel der Juristischen Fakultät zurückzuziehen und sich die Pulsadern aufzuschneiden.
»Werte Eltern«, schrieb er in seinem Abschiedsbrief. »Ihr habt nichts falsch gemacht.« Aber wenn man ihn gefragt hätte, ob er geboren werden wollte, hätte er dankend abgelehnt. Stattdessen sei er zum Leben verurteilt worden. Ein Leben, das er als Endlosschleife aus Aufstehen, Essen und Schlafen empfand: »Deshalb drücke ich jetzt Stopp.«
Es klappte nicht. Dreimal hatte er sich ins linke Handgelenk geschnitten, plötzlich hörte die Blutung auf. Mit der verletzten Hand konnte er das Messer nicht mehr halten, um sich die Adern des rechten Handgelenks zu öffnen. Nach einer Viertelstunde rief er die Feuerwehr.
In der Psychiatrie sagte er seinen Eltern die Wahrheit: »Ich habe das erste Mal geweint.« Das Abschlussgespräch mit dem Arzt führte seine Mutter, eine anschließende Psychotherapie redete sie ihrem Sohn aus. Statt sich auszusprechen, verfiel die Familie in eine Art »Schockstarre«. »Ich war für sie der Versager vom Dienst«, so bezeichnet es der Angeklagte. Die Eltern überwachten ihn von nun an ständig. Ansonsten schwiegen sie.
»Mutti achtete darauf, dass es nicht Thema war«, so Marco M. Nach außen erklärte sie, der Sohn hätte einen Unfall in der Bahn gehabt. Nach innen verweigerte sie sich sämtlichen Festen: Weihnachten, Geburtstag, Ostern – »sie fanden nicht statt«, sagt der Angeklagte. Die Mutter hielt ihm vor, dass man so etwas nicht mache. Der Vater kommentierte: »Opa hat sich im Krieg wenigstens richtig erschossen! Bei dir hat ja noch nicht einmal das geklappt!« »So erfuhr ich vom Tod meines Großvaters«, sagt Marco M.
Er dachte über seine Zukunft nach. Ob er Lehrer werden sollte? Ein Universitäts-Psychologe riet ihm ab: Er werde mit den Schülern nicht klarkommen – im Vergleich zu ihm sei Valium ein Aufputschmittel. Nun erwog er eine Ausbildung zum Diplom-Verwaltungswirt. Zahlen, so stellte er sich vor, seien wenigstens konkret.
Die Eltern waren entsetzt: Ihr Sohn ein Beamter, Diener eines Staates, den sie ablehnten! Sie wollten von seinem neuen Berufswunsch und dem als zweitklassig empfundenen Fachhochschulstudium nichts wissen. Dennoch bewarb sich der Studienabbrecher in mehreren Bundesländern. Er habe für seine Ausbildung sein Elternhaus verlassen wollen. »Wenn ein Neuanfang, dann richtig«, sagt er. Seine Bemühungen blieben erfolglos; in einer Steuerverwaltung lehnte man ihn gleich ab, in einer anderen erst nach den schriftlichen und mündlichen Tests.
Nur eine norddeutsche Steuerverwaltung war noch im Rennen, als der junge Mann an jenem Mittwoch um sieben Uhr aufstand. Auch diese Bewerbung sollte scheitern: Er habe in der Gruppendiskussion zu ruhig gewirkt und im Einzelgespräch nicht überzeugend darlegen können, warum er diesen Beruf ergreifen wolle, erklärte ihm später der Verantwortliche für das Bewerbungsverfahren. Bemerkenswert fand dieser Zeuge, dass »Herr M. keine Selbsteinschätzung abzugeben vermochte. Wir fragen unsere Bewerber dann: ›Was sagen Ihre Freunde über Sie?‹«
Am Morgen aber war der junge Mann noch voller Zuversicht. Sein Vater wollte ihn zum Bahnhof fahren. Als beide in den Keller gingen – der Ältere, um Kartoffeln, der Jüngere, um eine Kühltasche für seine umfangreiche Verpflegung zu holen – kam es zur Auseinandersetzung. Es war das erste Mal, dass sich der introvertierte Senior gegenüber seinem Sohn aus der Deckung wagte. »Wenn Mutter dabei war, hat er sich nicht getraut«, sagt der Angeklagte. Der Vater beschwerte sich, nur wegen ihm so früh aufgestanden zu sein. Überhaupt sei die Fahrt doch sinnlos. »Da lief bei mir etwas über«, beschreibt Marco M. diesen Schicksalsmoment. »Es machte ›Klick‹: Irgendwie ist mir eine Sicherung durchgebrannt.«
Er nahm das Messer, das Manfred M. zum Zerschneiden des Kartoffelsacks mitgenommen hatte, und sagte: »Nun sei mal ruhig!« Vielleicht, überlegt er vor Gericht, habe er dies auch nur gedacht. Dann stach er zu – in die Seite und in den Rücken des Mannes, der sich gerade über die Kühltruhe gebeugt hatte, um seinem Sohn Kühlakkus herauszusuchen. Einmal, zweimal, vielleicht zehnmal. Er stach sogar zu, als der Alte bäuchlings zwischen Kästen und Regalen lag. Mit Schmutzwäsche bedeckte er das Gesicht des Toten. Verschwitzt begab er sich ins Bad, er habe sich innerlich leer gefühlt. Trotzdem wollte er immer noch zum Bewerbungsgespräch fahren: Seine Mutter würde den Vater zwar sicherlich vermissen, aber wegen ihrer Angst vor Mäusen niemals in den Keller gehen.
Er stieg ins Obergeschoss, um seine Sachen zu holen. Da erwachte Manuela M. Vom Bett aus erklärte sie ihrem Sohn, er könne sich die Reise sparen, das sei nur Geldverschwendung. Der Angesprochene wandte sich ab. Da rief sie, er könne nicht immer weglaufen. »Wieder machte es ›Klick‹«, sagt Marco M. »Ich wollte meine Ruhe haben.«
Sein Blick fiel auf einen Werkzeugkasten neben der Tür zum elterlichen Schlafzimmer. Er nahm einen Hammer und schlug der Mutter auf den Kopf. Einmal, zweimal, dreimal. Auf der Wäschetruhe lag ein Bademantel. Damit bedeckte er ihr Gesicht und schlug weiter zu.
»Warum?«, will der Richter wissen. Es sei derselbe Grund wie beim Vater gewesen, antwortet der Angeklagte. »Mein Versuch, aus meinem Abi und dem abgebrochenen Studium etwas zu machen, wurde madig gemacht.« Er habe die »Stopp-Taste« drücken wollen »wie bei einem Kassettenrekorder«. Auch seinen Selbstmordversuch beschrieb er einst als »Druck auf die Stopp-Taste«.
Die Toten wickelte er in Maler-Folien. Dann brachte er die Wohnung notdürftig in Ordnung und setzte sich in den nächsten Zug. Die euphorische Hoffnung auf einen Ausbildungsplatz verdrängte die Gedanken an seine Eltern. Die spätere Absage empfand er als »Schlag«.
Die nächsten Tage und Wochen verbrachte er mit der Beseitigung der Leichen. Er besorgte Schutzanzüge, Handschuhe, Masken, Planen, Eimer und Fässer. Auch Duftkerzen standen auf den Rechnungen, welche die Ermittler später auswerteten. Und ein neuer Flachbild-Fernseher – wegen der Fußball-Weltmeisterschaft. Am Donnerstag und Freitag reinigte der Mörder Keller und Schlafzimmer, Samstag und Sonntag pausierte er. Montag und Dienstag besorgte er Werkzeuge, unter anderem eine elektrische Kettensäge.
»Dienstagabend habe ich mir den Vati vorgenommen«, sagt der Angeklagte. Das ist wieder ein typischer Marco-Satz. Er habe den Keller abgeplant und den Toten mitsamt Hosenträgern und Armbanduhr in zwanzig Zentimeter lange Stücke gesägt: »Das war unangenehm, aber die Atemmaske hat geholfen.« Auch hier habe er an das Familien-Motto gedacht: »Was man anfängt, muss man zu Ende bringen.«
Die Innereien des Vaters schnitt er klein und spülte sie in der Toilette herunter. Die übrigen Leichenteile habe er in Kartons verpackt und in den Ofen gelegt, wo er sie nächtens verbrennen wollte. Auf einem Holzfeuer funktionierte das nicht. Im Internet informierte er sich über die Funktionsweise von Krematorien und verfiel darauf, es mit einer Lötlampe zu versuchen. Eine mühselige Prozedur, deren Ergebnis die rechtsmedizinische Gutachterin erstaunte: Bislang sei es noch keinem Täter gelungen, sein Opfer vollständig zu verbrennen. Tagelang habe er dann auch die Mutter zersägt – in insgesamt 22 Teile. Die Sachverständige kann sich ein Lachen nicht verkneifen: »Der Körper war leicht zu rekonstruieren. Er hat sehr systematisch gearbeitet, nicht wie andere Täter, die wild drauflosschneiden.«
Marco M. sagt, er habe die Mutter nicht verbrannt, weil er fürchtete, die Nachbarn könnten sich über den in der hochsommerlichen Hitze rauchenden Schornstein wundern oder den Leichengeruch bemerken. Darum versteckte er ihr Fleisch in zwei großen Fässern. Diese wuchtete er in den Schuppen.
Wochen habe diese Arbeit in Anspruch genommen. »Ich hatte kein Zeitgefühl, die Tage sind ineinandergeflossen.« An manchen konnte er vor lauter Ekel nicht länger als eine halbe Stunde arbeiten. »Mir ging es elend, aber irgendwie funktioniert man da«, sagt der Angeklagte. Besonders irritiert habe ihn die Ruhe: »Es war ungewohnt, dass nie jemand etwas sagte.« Und, dass man an der Toilette nicht mehr anstehen musste. Um sich abzulenken, schaute er Fußball.
Obwohl keiner der Nachbarn etwas gerochen hatte, wurden sie dennoch misstrauisch. Die M.’s waren noch nie verreist und schon gar nicht ohne ihren Jungen. »Vielleicht wollten sie, dass Marco selbstständig wird«, überlegten die Siedlungsbewohner zunächst. »Oder waren sie zur Kur gefahren?« Auf ihre Nachfrage log der Mörder, die Eltern würden eine Studienkollegin der Mutter besuchen. Sie hätten ihr Handy vergessen, darum könne er sie nicht erreichen. Wenn den Senioren nun etwas passiert sei, orakelte eine besorgte Nachbarin. Sie wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Marco M. versprach, dies selbst zu übernehmen.
»Hatten Sie daran gedacht, sich zu stellen?«, will der Staatsanwalt vom Angeklagten wissen. »Ja«, bekommt er zur Antwort. »Aber ich habe das beiseitegeschoben. Wie soll man das erklären?«
Nach fünf Wochen rief ein Nachbar die Polizei. Die trafen auf Marco M., der einen völlig verwahrlosten Eindruck machte. »Er war in einem schlimmen Zustand«, sagt eine Beamtin. Im Haus sah es nicht besser aus. »Oben im Schlafzimmer ist mir Leichengeruch in die Nase gestiegen«, erinnert sich einer der Polizisten vor Gericht. Er begehrte damals auch den Schuppen zu sehen. Kienäpfel seien in den Fässern, erklärte der Hausherr. Der Beamte bezweifelte das: »Sie erschienen mir zu schwer.« Als er dann eines öffnete, habe der Mörder gesagt: »Sie brauchen nicht weiter zu suchen. Die sind tot.«
Bei der Polizei gab er zu Protokoll: »Ja, ich habe meinen Vater erstochen und meine Mutti erschlagen.« Auch vor Gericht wiederholt er sein Geständnis. Doch wie soll man einen bestrafen, der in einer Familie aufwachsen musste, deren Atmosphäre der Psychiater als »wirklich schlimm« und »eiskalt« beschreibt? Einen, der mit seiner Tat anscheinend der lebenslangen Gefangenschaft aus einer paranoid-schizoiden Familie vom »Typ Festung« entfliehen wollte? Einen, der selbst an einer schizoid-zwanghaften Persönlichkeitsstörung leidet? Einen, der laut Gutachter zumindest während der Tötung des Vaters in seiner Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt war?
»Mit neun Jahren Haft«, schlägt sein Verteidiger vor. Er bewertet das Geschehen als zweifachen Totschlag im minderschweren Fall. Der Staatsanwalt dagegen plädiert auf Mord und lebenslange Freiheitsstrafe.
Stundenlang diskutiert die Kammer hinter verschlossenen Türen, bis der Vorsitzende mit ungewohnt matter Stimme den Schuldspruch über Marco M. verkündet. »Im Namen des Volkes« wird er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. »Man muss das nicht als zufriedenstellend bezeichnen«, sagt der Vorsitzende. Schließlich sei es menschlich durchaus nachvollziehbar, »dass dem Angeklagten da die Hutschnur geplatzt ist«. Außerdem habe man die beiden Taten nur aufgrund des Geständnisses als heimtückisch bewerten können: »Wenn er nicht rückhaltlos alles gesagt hätte, wäre keine Verurteilung wegen Mordes in Betracht gekommen«, so der Richter.
Die Ermordung des Vaters, den Marco M. im Affekt tötete, zieht eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren nach sich. Für die Ermordung der Mutter aber konnte der Psychiater keine verminderte Schuldfähigkeit erkennen: Im Badezimmer sei der Sohn wieder zu Sinnen gekommen. Außerdem rastete er nicht gleich bei ihren ersten Worten aus, hatte vor der Tat sogar noch das Schlafzimmer verlassen.
Abweichungen von diesem Schuldspruch gebe es im Strafrecht nur selten, erklärt der Vorsitzende. Der klassische Fall sei der heimtückische Mord am Haustyrannen, den die malträtierte Ehefrau im Schlaf töte. Doch war der junge Mann keinem Martyrium ausgesetzt. »Er hätte ausbrechen können. Er hat in einer anderen Stadt studiert, den LKW-Führerschein gemacht und sich mit Computern beschäftigt. Der war nicht lebensunfähig.« Allerdings empfiehlt das Gericht in seinem schriftlichen Urteil, den Gefangenen nach 15 Jahren Haft zu entlassen.
Der Verurteilte nimmt diese Worte mit der ihm eigenen Reglosigkeit auf. »Er will sich in der Haft um eine Therapie bemühen«, sagt sein Anwalt. Möglicherweise werde er sogar ein Studium absolvieren: Ganz sicher nicht Jura, auch nicht Medizin, denn Blut, so Marco M., könne er seitdem weder sehen noch riechen.
Jürgen J. ist ein Musterbeispiel geglückter Integration: Mit elf Jahren zog er von der ehemaligen Sowjetunion nach Westdeutschland. Er besuchte die Hauptschule, dann die Handelsschule. Später ergriff er einen handwerklichen Beruf, in dem er dreizehn Jahre arbeitete, bis er eine Firma übernahm. »Ich habe gutes Geld verdient«, sagt er dem Gericht. Er konnte seiner siebenköpfigen Familie ein Haus bauen, mit eigenen Händen hat er es errichtet. Als ihn die Wirtschaftskrise erwischte und sich die Auftragslage dramatisch verschlechterte, warf ihn das nicht aus der Bahn. Rechtzeitig wickelte der bis dato erfolgreiche Unternehmer seine Firma ab und überlegte, in die USA auszuwandern. »Ich wollte schauen, was der Markt hergibt, ob man dort Fuß fassen kann«, sagt Jürgen J. Sicher wäre dem Selfmademan auch das gelungen. Doch eines Abends erhielt er einen anonymen Anruf. Eine Frau berichtete ihm von einem Verhältnis seiner damals siebzehnjährigen Tochter Jacqueline zu dem achtundfünfzigjährigen Anton A., dem Großvater von Jacquelines Schulfreundin Anna. »Ich war sprachlos«, erklärt Jürgen J. Er habe die Minderjährige befragt. Die bestätigte den Sex mit dem einundvierzig Jahre Älteren, mehr wollte sie nicht sagen. »Ich bin in Tränen ausgebrochen, ich war verzweifelt. Ein fast sechzigjähriger Großvater hat Sex mit meiner Tochter?!«
Fünf Tage später erreichte ein Notruf die Polizeileitstelle. Der Beamte von der Spätschicht hatte gerade seinen Computer heruntergefahren. Es war der letzte Anruf, den er an diesem Abend entgegennahm.
»Guten Abend. Mein Name ist Jürgen J. Ich will mich selbst anzeigen. Ich habe jemanden kastriert.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Sie haben richtig gehört. Ich habe ihm die Eier abgeschnitten.«
Fünf Monate Haft liegen hinter dem sportlichen Achtundvierzigjährigen, als ihm der Prozess gemacht wird. Er sieht jünger aus, lediglich sein altmodischer Ponyfransen-Kurzhaarschnitt verweist auf eine Jugend Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Manchmal huscht ein Lächeln über sein jungenhaftes Gesicht. Die Augenringe aber, die von Sitzungstag zu Sitzungstag immer dunkler werden, zeugen von großer Anspannung.
Von seinem Verteidiger lässt er die dramatischen Tage und Stunden schildern, nachdem er vom Geschlechtsverkehr erfuhr, der zwischen seiner Tochter und dem Großvater ihrer Schulfreundin stattgefunden hatte. Gleich nach dem Anruf wandte er sich an das Jugendamt, die schickten ihn zur Polizei. Dort wollte er Anton A. anzeigen. Eine Beamtin habe ihm aber erklärt, solange kein Zwang angewendet und kein Geld gezahlt werde, dürfe ein Erwachsener Sex mit einer Jugendlichen ab 16 Jahren haben. Dennoch versprach sie, mit Jacqueline zu sprechen. Eine Woche später sollte das Mädchen zu ihr kommen, eine quälend lange Woche später. »Ich hatte das Gefühl, die Polizei betrachtet das als Lappalie«, meint der Angeklagte. »Meine Tochter wurde missbraucht, und ich bekomme nicht die erforderliche Hilfe, um das zu klären.«
Wieder hätten er und seine Frau versucht, das Mädchen auszufragen. Nun habe Jacqueline berichtet, sie sei zum Sex genötigt worden. So war sie einmal mit Annas Familie im Auto unterwegs. Nachdem ihre Schulfreundin und deren Mutter ausgestiegen waren, fuhr Anton A. mit ihr in den Baumarkt und später in einen Waldweg. Dort habe er die Türen von innen verriegelt und angefangen, sie zu befummeln. Sie sei überrumpelt gewesen. Erst als Spaziergänger vorbeikamen, habe er von ihr abgelassen. Auch den Geschlechtsverkehr habe sie nicht gewollt, sich aber nicht gewehrt. Anton A. habe Druck ausgeübt: Er werde ihren Eltern sonst alles erzählen.
Als der Vater das erfuhr, hätten er, seine Frau und seine Tochter »nur noch geweint«. Für ihn war klar: Der Ältere hatte seine unerfahrene Tochter zum Sex genötigt – seine Kleine, fast sechzehn Jahre lang das einzige Mädchen und Nesthäkchen der Familie, bis die J.’s noch eine Tochter bekamen. »Der Gedanke daran hat mich fast verrückt werden lassen. Ich konnte nicht essen, nicht schlafen, ich hatte das Gefühl, innerlich zu explodieren.«
Er wandte sich an Annas Eltern, von denen sei er sehr enttäuscht gewesen. »Ich habe meine Tochter vertrauensvoll in diese Familie gegeben und die haben nicht genug darauf geachtet, dass nichts passiert«, so der Angeklagte. Er sprach mit Annas sehr religiösem Vater und warf dabei mit biblischen Zitaten á la »Wie du mir, so ich dir« und »Auge um Auge, Zahn um Zahn« um sich. Sein Gegenüber erklärte ihm, er habe erst vor zwei Monaten von dem Verhältnis erfahren und den Alten bereits aus dem Haus geworfen. »Sie können mit meinem Schwiegervater machen, was Sie wollen!« – Mit diesen Worten habe das Gespräch der beiden Männer geendet.
»Dieser Satz ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken«, lässt Jürgen J. vortragen. Das Maß sei voll gewesen, als er Jacqueline von der Schule abholen musste, weil es ihr nicht gutging. Daran konnte nur Anton A. schuld sein! Er wusste nicht, dass seine Tochter Kummer hatte, weil sie vor wenigen Tagen die Beziehung zu ihrem Liebhaber beendet hatte, beenden musste.
»Es kam dann zur Tat.« Nur fünf Worte verwendet der Angeklagte für das dramatische Geschehen, welches sein Leben und das seines Opfers völlig veränderte. Es scheint ihm unangenehm zu sein, darüber zu sprechen. Das muss dann Anton A. im Zeugenstand übernehmen.
Kurz nach acht Uhr hätte es bei ihm geklingelt, sagt der kleine, runde Mann. Sein Haar scheint dunkel gefärbt, am Oberkopf hat es ihn bereits verlassen. Ein großer Kopf ruht auf einem kurzen Hals. Man meint, die Züge des ehemaligen sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew in seinem Gesicht zu erkennen. Auch Anton A. wurde in der ehemaligen Sowjetunion geboren. In seiner Heimat hatte er über dreißig Jahre lang als Handwerker gearbeitet, in Deutschland verdiente er sich als Hilfskraft etwas Geld.
»Ich hab gespürt, er kommt«, sagt der Nebenkläger mit starkem Akzent. Drei Männer hätten vor ihm gestanden. Allen voran Jürgen J., dahinter zwei Jüngere, deren Augen denen des Älteren glichen. »Bist du Anton A.?«, fragte der Anführer. »Ja«, sagte der Wohnungsinhaber. »Ich streckte die Hand aus, ich dachte, wir sprechen.« Stattdessen drehte ihm der Eindringling die Arme auf den Rücken und warf ihn zu Boden. Er wurde entkleidet, seine Beine gefesselt. Die Hände fixierte Jürgen J. mit Handschellen auf dem Rücken, den Mund verschloss er mit Klebeband. »Ich war total erschrocken«, erinnert sich Anton A. »Er sagte, jetzt mache ich mit dir das, was du mit meiner Tochter getan hast: Ich schneide dir die Eier ab!«
Der Täter setzte einen Schnitt und entfernt seinem Opfer die Hoden. Die verletzten Blutgefäße verschnürte er mit Nylonfäden. So mache man das auch bei Pferden, erklärte er später bei der Polizei. Auf dem Rücken liegend jammerte Anton A.: »Bitte befreie mich von den Handschellen!« Der Blutstau in den gefesselten Händen, auf denen sein massiger Körper ruhte, habe ihn mehr geschmerzt als die Amputation. Er hörte noch die Worte: »Gleich kommt ein Krankenwagen!« Dann verließ das Trio die Wohnung. Mit ihm verschwanden auch die Hoden.
Zehn Minuten später klingelte es tatsächlich bei dem Gefesselten – die Frau von Jürgen J. hatte die Rettung zu »einem Mann mit abgeschnittenen Genitalien« gerufen. Dem war es gelungen, das Klebeband zu lösen. Er schrie um Hilfe und dass er die Tür leider nicht selbst öffnen könne. Kurzerhand traten die Sanitäter die Tür ein. Zum Glück, denn die Nylonfäden hatten sich gelöst und das Blut des Verletzten floss, so erinnert er sich, »wie aus dem Schlauch«.
Er kam auf die Intensivstation und anschließend wegen seiner Ängste und Depressionen in eine psychiatrische Klinik. Aus Furcht vor seinem Peiniger und dessen Söhnen verließ er die Stadt. »Mein Leben ist vorbei«, klagt Anton A. »Ich lebe wie Zombie: kein Geld, keine Familie, keine Frau, nur Essen – wie Vieh, kann man sagen. So froh wie vorher kommt nie wieder. Welche Frau will schon Mann ohne Eier?«
Rückblickend schwärmt der Senior: »Zwischen Jacqueline und mir war die größte Liebe, die ich je gehabt. Nie etwas mit Gewalt.« Ein halbes Jahr dauerte sein Glück. Im Frühsommer kam er eines Tages von der Arbeit. Die junge Frau sei ihm entgegengelaufen und habe ihn umarmt. »Meine Knie waren so weich.« Sie seien beide erschrocken gewesen. »Der Teufel hat uns getroffen, uns beide, nicht mich allein«, erklärt Anton A.
Später habe er neben ihr gesessen. »Ich fragte: ›Darf ich dich küssen?‹ Da hat sie ›Ja‹ gesagt.«
Er kannte die Neuntklässlerin schon seit einigen Jahren, seitdem sich Jacqueline auf der Hauptschule mit seiner Enkelin angefreundet hatte und sie regelmäßig besuchte. Annas Familie mochte das zurückhaltende, hilfsbereite Mädchen. Und wie alle Familienmitglieder sagte sie »Opa A.« zu dem Mann, der mit seiner Frau in der Souterrain-Wohnung des Einfamilienhauses lebte.
»Ich habe nie gesehen, dass sie sich geküsst haben«, sagt Annas Mutter. »Aber ich habe gemerkt, dass etwas läuft. Vater sah so aufgefrischt aus, sogar jugendlicher. Ich habe gesehen, dass sie sich viel unterhielten.« Sie stellte Anton A. zur Rede. Er gab zu, dass es sich um eine sexuelle Beziehung handelt. »Er hatte sich total verliebt«, sagt die Zeugin.
Diese Liebe brachte die Familie A. in arge Bedrängnis: Annas Mutter war verzweifelt, sie sorgte sich wegen der Reaktionen ihrer Mitmenschen um ihre Tochter und ihre Mutter. Sie wollte, dass sich ihr Vater von der jungen Frau trennt. Nachdem der das abgelehnt hatte, meldete sie ihre Tochter an einer anderen Schule an und informierte ihren Mann. »Schwiegersohn liebt mich nicht«, meint Anton A. Widerstandslos ließ er sich damals aus dem gemeinsamen Haus werfen. So erfuhr auch seine Frau von dem Verhältnis. Ihre sechsunddreißig Jahre währende Ehe endete mit einem Nervenzusammenbruch. Obendrein mischte sich die Glaubensgemeinschaft, der die A.’s angehören, in den Konflikt: »Mann und Frau gehören zusammen«, erklärte der Gemeindediakon dem Ehebrecher und setzte ihm eine Frist von einer Woche. Als er sich danach immer noch nicht von der jungen Frau trennen wollte, verbannte man ihn aus der Gemeinschaft. »Alle waren gegen mich«, erinnert er sich. »Aber die Liebe war stärker als alles andere.«
Er suchte sich eine Wohnung. Dort besuchte ihn seine Freundin immer nach Schulschluss, wie Anna ihrer Mutter berichtete. Die überlegte damals: »Das macht Jacqueline doch nicht mit Zwang!«
Der Vorsitzende Richter gibt sich skeptisch. »Sie und ich«, sagt er zu Anton A., »sind für siebzehnjährige Mädchen Opas!« »Ich konnte mir das vor einem Jahr auch nicht vorstellen«, gibt der Senior zu. Er habe der jungen Frau, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Gleichaltrigen gemacht hatte, ebenfalls diese Frage gestellt: »Wieso bist du verliebt in mich? Ich bin doch so alt!« »Das spielt keine Rolle«, habe sie geantwortet.
Ganz langsam sei das Paar aufeinander zugegangen, wechselte die Anrede von »Opa A.« auf »Anton«. Schritt für Schritt tastete man sich zum ersten Kuss, zur ersten Umarmung, zum ersten Streicheln. »Jeden Abend hat sie mich angerufen, wollte meine Stimme hören«, sagt der Senior. Nach drei Monaten hätten sie das erste Mal miteinander schlafen wollen. Es klappte nicht. Unabhängig voneinander hätten er und die junge Frau Viagra besorgt. »Dann lief alles ganz normal.«
»Ich habe sie immer gefragt: ›Geht es dir gut?‹ Sie sagte: ›Komm, mach weiter!‹ Wir haben uns gefühlt wie Mann und Frau.« Jacqueline habe zu ihm ziehen wollen, sie hätten nach einem Brautkleid geschaut und sich Namen für ihre zukünftigen Kinder überlegt. »Ich habe gesagt, das geht doch nicht. Aber wenn es Vater erlaubt, dann natürlich«, sagt Anton A. Bald wäre seine Freundin achtzehn geworden, dann wollte er vor Jürgen J. auf die Knie fallen mit den Worten: »Ich will dein Sklave sein. Bitte, gib mir deine Tochter!«
Der Verteidiger will das nicht glauben: »Sind Sie mit Jacqueline ins Kino gegangen? Welche Fächer mochte sie? Welche Lehrer? Welche Musik?« »Sie hat gern gemalt«, kann sich Anton A. erinnern. Aber welche Musik? »Ich verstehe davon nichts, ich bin zu alt. Wir wollten keine Zeit verschwenden, wir wollten nur allein sein.«
»Was war zwischen Ihnen und Jacqueline?«, bohrt der Anwalt.
»Große Liebe.«
»Wie haben Sie darüber gesprochen, dass Sie Sex haben wollen?«
»Das war wie ein Kinderspiel: ›Komm jetzt trinken wir Tee!‹ hieß: ›Lass uns küssen!‹ und ›Wollen wir Schokolade essen?‹ bedeutete: ›Lass uns miteinander schlafen!‹«
»Sie haben nicht direkt darüber gesprochen? Woher wusste Jacqueline, was Sie meinen?«, wundert sich der Verteidiger.
»Soll ich sagen: Komm, heute machen wir Sex? Sie ist doch nicht zehnjähriges Kind! Sie wollen hören, dass ich sie gezwungen«, beschwert sich der Befragte.
Der Anwalt ereifert sich grundsätzlicher: »Wie kommen Sie auf die Idee, eine Beziehung mit einer Siebzehnjährigen zu führen?« Jetzt wird Anton A. sauer: »Sie sehen aus, als ob Sie noch nie geliebt hätten!«