Buch
Was tut ein US-Präsident, wenn er wissen will, wie es um sein Land steht? Er liest. Während seiner achtjährigen Amtszeit gingen täglich Zehntausende Briefe im Oval Office ein. Jeden Abend las Barack Obama ausgewählte Schreiben, einige beantwortete er gleich persönlich. Ein lebhafter Dialog mit Menschen aus den Vereinigten Staaten. Zu Wort kommen Obama-Anhänger ebenso wie politische Gegner, vom Schulkind bis zum Kriegsveteranen. Was sie bewegt: die Folgen der Finanzkrise, die geplante Gesundheitsreform, soziale Gerechtigkeit, Bildungschancen und Start-up-Ideen, das Schicksal der Soldaten im Auslandseinsatz oder schlicht Schulaufgaben. »Briefe an Obama« spiegelt die Lage der Nation in einer Zeit großen Wandels.
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Jeanne Marie Laskas
Briefe an Obama
Das Porträt einer Nation
Aus dem amerikanischen Englisch von
Nathalie Lemmens und Thorsten Schmidt
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »To Obama«
bei Random House, einem Imprint der Verlagsgruppe
Penguin Random House LLC, New York.
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1. Auflage
Copyright © 2018 der Originalausgabe
by Jeanne Marie Laskas
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Originalverlag: Random House, New York
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
nach einer Gestaltung von Anna Bauer Carr
(based on the original design by David Mann)
Foto: Callie Shell/Aurora Photos
Redaktion: Antje Steinhäuser
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22420-2
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für Anna und Sasha
Briefauswahl 2008–2009
KAPITEL 1: Die Briefe
Kapitel 2: Bobby Ingram, Oxford, Mississippi
Briefauswahl 2009–2010
Kapitel 3: Der Lektüreraum
Kapitel 4: Thomas und JoAnn Meehan, New Jersey
Kapitel 5: Die Idee
Briefauswahl 2010–2012
Kapitel 6: Bill Oliver, Geheimer Ort
Kapitel 7: Fionas Auswahl der 10LADs
Kapitel 8: Marnie Hazelton, Freeport, New York
Briefauswahl 2013–2014
Kapitel 9: Barack Obama Weißes Haus
Kapitel 10: Marjorie McKinney, Boone, North Carolina
Kapitel 11: Die Roten Punkte
Briefauswahl 2015
Kapitel 12: Die Freunde der Briefe
Kapitel 13: Shane Darby, Alabama
Briefauswahl 2015–2016
Kapitel 14: Das Schreibteam
Kapitel 15: Donna Coltharp und Billy Ennis, El Paso, Texas
Kapitel 16: Wahltag
Briefauswahl 2016
Kapitel 17: Vicki Shearer, Washington
Kapitel 18: Obama in Jeans
Briefauswahl 2016–2017
ANHANG
Nachwort
Danksagung
Briefnachweis
Über die Autorin
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Gold Hill, ORxxxxxx
10. November 2008
An den designierten Präsidenten Barack Obama
Senat der Vereinigten Staaten von Amerika
713 Hart Senate Office Building
Washington DC 20510
Sehr geehrter Herr designierter Präsident,
mein Name ist Benjamin Durrett. Ich bin achtzehn Jahre alt. Ich habe dieses Jahr zum ersten Mal gewählt, und glauben Sie mir, das war keine angenehme Erfahrung. Ich habe mich mit meinem Vater so sehr über diese Wahl gestritten, dass ich den Stimmzettel erst am Morgen des Wahltags ausgefüllt habe. Und erst als sich abends abzeichnete, dass die Demokraten sechzig Senatssitze erobern könnten, wurde mir so manches klar von dem, was mein Vater die ganze Zeit gesagt hatte. Er erklärte mir, dass die Demokratische Partei nun die Mehrheit in allen Zweigen der Regierung innehat. Er ging sogar so weit zu behaupten, dass es 2012 womöglich gar keine Wahlen mehr geben würde. Nachdem er seine Tirade beendet hatte, sah er mich an und sagte: »Ich bete, dass du recht hast und ich nicht.« Bei dieser Wahl für Sie zu stimmen war das Erste, was ich je in meinem Leben wirklich gegen den Willen meines Vaters getan habe. Ich glaube, das war ein wichtiger Schritt in meiner Entwicklung hin zu dem Menschen, der ich einmal werden soll. Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie derjenige sind, der dieses Land, unsere Heimat, wieder groß machen kann. Und wenn wir untergehen sollen, dann ist es eben so. Dann werde ich vor all meinen Freunden wie ein Idiot dastehen, und mein Vater wird zu mir sagen, dass es schon okay sei und ich das niemals hätte voraussehen können. Ich weiß nicht, was Sie tun müssen, um dieses Land, in dem wir leben, wieder in Ordnung zu bringen. Ich weiß nicht einmal, ob Sie dazu überhaupt in der Lage sind. Das Einzige, worum ich Sie bitte, ist, sich mit aller Kraft dafür einzusetzen. Wenn Sie das tun, werde ich wissen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.
Mit freundlichen Grüßen
Benjamin Durrett
38/AUSWAHL · MK
3. Juni 2009
Sehr geehrter Herr Präsident Obama,
ich habe einen Bericht gesehen, demzufolge Sie jeden Tag zehn zufällig ausgewählte Briefe lesen und diese dann auch beantworten. Ich hoffe, meiner gehört dazu, denn ich brauche dringend eine Antwort von Ihnen.
Das Land, das ich gekannt und von ganzem Herzen geliebt habe, verschwindet immer mehr. Das Kapital, das ich und Generationen vor mir angesammelt haben, wird verschleudert. Ich habe mich immer an die Regeln gehalten und dachte, meine Familie und ich brauchten uns keine Sorgen zu machen. Ich dachte, unsere Altersvorsorge wäre sicher in einem Land, das auch weiterhin Werte wie Integrität (man steht zu seinem Wort), Fairness (jeder erntet, was er sät), Eigenverantwortung und Disziplin (Verzicht auf kurzfristige Gewinne zugunsten von langfristigem Ertrag) hochhält. Doch all das geht verloren. Diese Entwicklung hat schon vor Ihrem Amtsantritt begonnen, aber unter Ihrer Regierung beschleunigt sie sich. Und das macht mich traurig.
Lassen Sie mich Ihnen erklären, warum ich das so sehe. Genau wie Sie wurde ich von einer alleinerziehenden Mutter in sehr bescheidenen finanziellen Verhältnissen aufgezogen. Mein Vater starb bei einem Flugzeugabsturz, als ich elf war. Meine Mutter hatte genug gespart, um mir die erste Zeit auf dem College zu finanzieren. Den größten Teil davon habe ich jedoch selbst bezahlt, genau wie mein gesamtes MBA-Studium, das ich abschloss, nachdem ich als Offizier in der US Army gedient hatte. Ich habe achtundzwanzig Jahre bei AT&T/Lucent gearbeitet, mit viel Disziplin (siehe Definition oben) das Bachelorstudium zweier Töchter finanziert und sie auch bei ihrem Master in Sozialer Arbeit unterstützt. Ich bin seit vierzig Jahren verheiratet. Ich habe keine Schulden, abgesehen von einer Hypothek. Ich habe ein Amt in unserer Kirchengemeinde bekleidet, war Vorsitzender meiner nationalen Studentenverbindung und bin jetzt Tutor, ich führe ein Unternehmen, berate als SCORE-Mentor unentgeltlich Kleinunternehmer und sitze im Vorstand einer gemeinnützigen Organisation. Kurzum, ich habe meine Pflicht als patriotischer Amerikaner erfüllt und gleichzeitig für mein Alter vorgesorgt, ohne meinen Landsleuten zur Last zu fallen. All das ohne jede Unterstützung durch den Staat, abgesehen von dem Wenigen, was mir nach meinem Ausscheiden aus der Army für eine Übergangszeit zustand.
Leider stellt sich jetzt heraus, dass ich ein Trottel gewesen bin. Ich könnte staatliche Beihilfen beziehen, weil ich verantwortungslos war, d.h. zu hohe Kredite aufgenommen hätte, um mir luxuriöse Annehmlichkeiten und extravagante Urlaube zu leisten, oder weil ich schwache Menschen dahingehend manipuliert hätte, dass sie Verpflichtungen eingehen, die ihre Möglichkeiten übersteigen. Ich hätte mich vor der Army drücken können. Ich hätte das College-Geld meiner Kinder für mich selbst ausgeben können. Stattdessen belohne ich solches Verhalten heute durch meine Steuergelder und Ihre Entscheidungen. Darüber hinaus glaube ich, dass der Dollar durch Ihre verschwenderische Ausgabenpolitik und die Transferzahlungen an die unproduktivsten Mitglieder unserer Gesellschaft einbrechen wird. Meine Ersparnisse werden wertlos sein. Meine ganzen Mühen und Opfer waren umsonst. Das gesamte über Generationen aufgebaute (moralische und finanzielle) amerikanische Kapital wird aufgezehrt.
Und das Schlimmste ist, dass Sie all diese Entscheidungen in dem Wissen treffen, dass Sie selbst und Ihre Familie niemals davon betroffen sein werden. Sie werden Schutz genießen, wenn soziale Unruhen und Niedergang uns andere in den Abgrund reißen.
Hier meine Bitte an Sie: Belohnen Sie Integrität (Menschen, die zu ihrem Wort stehen), lassen Sie jeden ernten, was er gesät hat (sowohl das Gute als auch das Schmerzliche), erkennen Sie an, wenn Bürger sich eigenverantwortlich verhalten haben, und bewahren Sie das System, das ihnen dies ermöglicht hat, beweisen Sie Disziplin und verlangen Sie diese auch von anderen.
Und zuletzt noch ein persönlicher Rat: Hüten Sie sich vor Hybris. Mensch zu sein bedeutet, anfällig zu sein für diesen Wesenszug. In Brian Williams’ Reportage über das Weiße Haus und Ihrer Entscheidung, von meinen Steuergeldern einen privaten Ausflug nach New York zu machen, erkenne ich Anzeichen dafür, dass Sie bereits von ihr erfasst wurden. Ich halte Sie für einen anständigen Menschen, aber sogar Sie können durch Hybris zerstört werden.
Ich verbleibe als loyaler Amerikaner, der zumindest einen Brief geschrieben hat.
Beantworten
ARCHIVKOPIE
THE WHITE HOUSE
WASHINGTON
Lieber Richard,
vielen Dank für Ihren Brief und Ihren Dienst an unserem Land. Ich zolle Ihrem verantwortungsvollen Leben höchste Anerkennung, aber ich bin offen gestanden verwirrt darüber, dass Sie glauben, ich würde diese Werte nicht teilen. Die einzigen Transferzahlungen, die wir eingeführt haben, gingen an Bundesstaaten, um Massenentlassungen von Lehrern, Polizisten, Feuerwehrleuten usw. infolge der Finanzkrise zu vermeiden. Darüber hinaus haben wir kurzfristige Maßnahmen ergriffen, um den Zusammenbruch des Banken- und Automobilsektors zu verhindern. Sie mögen mit einigen dieser Entscheidungen nicht einverstanden sein, aber seien Sie versichert, dass ich nichts anderes möchte, als die harte Arbeit von Menschen wie Ihnen belohnt zu sehen.
Noch einmal vielen Dank für Ihren wohldurchdachten Brief.
22. JUN 2009
Richard A. Dexter
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Dover, New Hampshire xxxxx
5. November 2008
Beantworten
An den designierten Präsidenten Barack Obama
John C. Kluczynski Federal Building
230 South Dearborn St.
Suite 3900 (39. Etage)
Chicago, Illinois 60604
Sehr geehrter Herr designierter Präsident Obama,
ich weiß nicht genau, wieso ich Ihnen schreibe, aber irgendwie habe ich das Gefühl, ich müsste es tun – also los! Ich bin eine »waschechte« Republikanerin. Ich habe Sie nicht gewählt, und ich war aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass Sie diese Wahl verlieren sollten (nicht gerade der beste Einstieg für einen Brief – grins).
ABER mein Land war anderer Meinung, und darum werden Sie der 44. Präsident … mein Präsident dieser großartigen Vereinigten Staaten sein. Seit gestern Nacht um zwölf Uhr haben sich meine Gefühle geändert. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich Ihnen, obwohl ich nicht für Sie gestimmt habe, Respekt zolle für den Wahlkampf, den Sie geführt haben, dass ich mich von heute an zu Ihnen bekenne und dass ich jeden einzelnen Tag für Sie und Ihre Präsidentschaft beten werde.
Ich wähle seit meinem achtzehnten Lebensjahr (die letzten acht Wahlen), und in all den Jahren habe ich nie so etwas versprochen oder gar einen Brief an einen Präsidenten geschrieben, aber – wie gesagt – irgendwie habe ich diesmal das Gefühl, ich müsste es tun. Die Rede, die Sie nach Ihrem Wahlsieg gehalten haben, war großherzig und zeigt, dass Sie das Zeug zu einem wahren Anführer haben. Ich bin wie so viele andere Teil dieses Landes, und als solche werden Sie mich vertreten. Ich bin jeden einzelnen Tag stolz darauf, Amerikanerin zu sein, und ich bin stolz darauf, dass wir ein ordentliches Verfahren haben, das unmissverständlich deutlich gemacht hat, dass Amerika Senator Barack Obama als unseren neuen Präsidenten haben will.
Mir ist klar, dass Sie diesen Brief vielleicht nie bekommen werden, aber ich hoffe es trotzdem. Ich hoffe, Sie wissen, dass es Wähler gibt, die, wie Sie letzte Nacht sagten, »nicht für Sie gestimmt haben – aber Sie werden auch unser Präsident sein«. Ich habe keine Millionen für Ihren Wahlkampf gespendet, ich habe Sie vorher nicht unterstützt, aber von heute an verpflichte ich mich, Ihnen als Bürgerin zu dienen und jeden Tag für Sie zu beten. Ich kann nur hoffen, dass es Millionen andere gibt wie mich – die Ihnen dieses Versprechen geben.
Danke für Ihren ehrlichen Wahlkampf, und wie Sie gestern Nacht sagten: Gott schütze die Vereinigten Staaten von Amerika.
Mit freundlichen Grüßen
Jeri L. Harris
ARCHIVKOPIE
THE WHITE HOUSE
WASHINGTON
Liebe Jeri,
vielen Dank für Ihren wunderbaren Brief. Er ist überaus großherzig, und bitte beten Sie auch weiterhin für mich, meine Familie und vor allem für unser Land!
02. FEB 2009
Jeri L. Harris
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Alger, Michigan xxxxxx
MK
6. April 2009
Peggy
Spring, TX
Sehr geehrter Herr Präsident,
ich bin eine ganz normale Amerikanerin. Ich bin fünfundfünfzig Jahre alt, Ehefrau, Mutter und Großmutter von zwei hübschen kleinen Mädchen von sieben und elf Jahren. Ich liebe meine Heimat (die Vereinigten Staaten von Amerika) und das, wofür sie steht.
Mein Mann und ich arbeiten beide sehr hart für unseren Lebensunterhalt. Jeden Monat bezahlen wir unsere Hypothekenraten, Rechnungen, STEUERN, kaufen unser Essen und kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten. Wir sind gesegnet, denn darüber hinaus sind wir auch noch in der Lage, unsere örtliche Kirche und verschiedene andere Organisationen zu unterstützen, die die Hungrigen speisen, den Dürstenden zu trinken geben und die Nackten kleiden (jene einfachen Dinge, die Gott von uns erwartet). Bitte machen Sie uns das nicht schwerer, indem Sie unsere Steuerabzüge erhöhen.
Sie sollen wissen, dass das Leben für mich nicht immer so einfach war. Ich war einige Jahre alleinerziehend. In dieser Zeit war es oft schwer, aber Gott hat für mich gesorgt, sodass ich immer hatte, was ich brauchte, und der Staat mir nie »aus der Klemme helfen« musste.
Herr Präsident, Sie sollen die Menschen dieses Landes vertreten. Und ich kann aus tiefstem Herzen sagen, dass ich mich von Ihnen NICHT vertreten fühle. Ich bin so enttäuscht und wütend darüber, dass Sie und viele der aktuellen Mitglieder des Repräsentantenhauses versuchen, unsere Nation in den Sozialismus zu treiben. Das Beispiel anderer Länder mit sozialistischen Regierungen sollte Ihnen gezeigt haben, dass das nicht funktioniert und in den Vereinigten Staaten nicht funktionieren wird.
Als Teil des »WIR« in »WIR, DAS VOLK« sage ich Ihnen: HÖREN SIE AUF mit diesen entsetzlichen Schulden, die wir Ihnen zufolge anhäufen sollen. Das ist nicht die Zukunft, die ich meinen Kindern und Enkeln hinterlassen möchte.
Herr Präsident, als ganz normale Bürgerin der Vereinigten Staaten von Amerika fordere ich Sie auf, UNVERZÜGLICH AUFZUHÖREN mit dem, was Sie tun. Gestehen Sie ein, dass Sie auf dem falschen Weg sind, und regieren Sie unser Land von nun an in seinem ursprünglichen Sinn und auf gottgefällige Weise.
Ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sind, Sir, aber wenn Sie seit Längerem nicht mehr dazu gekommen sind, sollten Sie noch einmal die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika und die ersten zehn Zusatzartikel lesen, wie mir scheint. Bitte vergessen Sie nicht, dass dies eine Regierung für das Volk und durch das Volk sein soll.
Danke, dass Sie meinen Brief gelesen haben.
Mit freundlichen Grüßen
Beantworten
Mögen wir nie vergessen, welchen Preis es gekostet hat – welche Opfer erbracht wurden, um Freiheit für unser Land zu erlangen!!
ARCHIVKOPIE
THE WHITE HOUSE
WASHINGTON
Liebe Peggy,
vielen Dank für Ihren Brief. Ich möchte Ihnen gerne kurz darauf antworten. Erstens: Niemand rückt das Land in Richtung Sozialismus. Ich habe versucht, einer beispiellosen ökonomischen Krise entgegenzuwirken, indem ich die staatlichen Investitionen in Straßen, Brücken, Schulen und sonstige Infrastruktur erhöht habe, um die Schaffung neuer Arbeitsplätze anzukurbeln, bis die Unternehmen im privaten Sektor sich wieder gefangen haben.
Zweitens: Statt die Steuern zu erhöhen, wie Sie sagen, habe ich in Wirklichkeit für 95 Prozent der arbeitenden Familien die Steuern gesenkt.
Ich habe vorgeschlagen, die Steuern auf Einkommen über 250000 $ pro Jahr zu erhöhen, um so die Steuererleichterungen für alle anderen zu finanzieren, aber diese Erhöhungen treten erst 2010 in Kraft, und selbst dann werden die Steuersätze immer noch niedriger sein als unter Ronald Reagan.
Langfristig müssen wir die Staatsausgaben unter Kontrolle bekommen, und ich habe alle meine Mitarbeiter angewiesen herauszufinden, wo wir Verschwendung, Betrug und Missbrauch abstellen können. Und bitte seien Sie versichert, dass ich meinen Eid, die Verfassung zu schützen, ernst nehme.
Mit freundlichen Grüßen
28. APR 2009
KAPITEL 1
Die Briefe
Es klang beinahe wie ein Geheimnis, als Shailagh mir von den Briefen erzählte. Ich sollte begreifen, wie wichtig sie waren, und sie wirkte frustriert oder vielleicht auch nur erschöpft, wie ein Soldat, der in einem letzten Akt der Kapitulation die Schlüssel zum Königreich wegwirft, kurz bevor das Dorf in die Luft fliegt.
Das war im Oktober 2016. Der Hurrikan Matthew war gerade wieder aufs Meer hinausgezogen, Samsung-Handys fingen unversehens Feuer, der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump twitterte – »Mit keiner dieser Frauen ist je etwas gewesen. Alles Unsinn, der erfunden wurde, um uns die Wahl zu stehlen. Niemand respektiert Frauen mehr als ich!« –, und ich vermute, Shailagh war ebenso wehmütig gestimmt wie alle anderen, die sich mehr und mehr des radikalen kulturellen Wandels in den Vereinigten Staaten bewusst wurden.
Seit sechs Jahren arbeitete sie für die Regierung Obama, in den beiden letzten Jahren als hochrangige Beraterin, und wir saßen in ihrem Büro im Westflügel des Weißen Hauses. Sie griff in ein Regal, das mit dicken Aktenordnern gefüllt war. Diese Ordner enthielten Briefe an Obama, von denen die ersten noch aus den Anfängen seiner Regierungszeit stammten. Die Absender waren Wähler. Ganz gewöhnliche Amerikaner, die ihrem Präsidenten schrieben. »Mit der Zeit sind sie hier zu einer Art Leben spendender Kraft geworden«, sagte Shailagh. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und sich einen Wollpullover um die Schultern gelegt, und mit ihrer rauen Stimme und ihrer bodenständigen irischen Art würde man diese Frau eher hinter der Theke eines Dubliner Pubs erwarten als in einem bequemen Büro gleich gegenüber dem Oval Office.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Hillary Clinton in den landesweiten Umfragen noch einen zweistelligen Vorsprung vor ihrem Konkurrenten, und das Undenkbare war nach wie vor undenkbar. Doch während Clintons Wahlkampfmitarbeiter sich für einen Posten in der sich abzeichnenden neuen Regierung in Stellung brachten, hegte Shailagh keinerlei Absicht, ein Teil davon zu werden – zwei Amtszeiten im Weißen Haus waren genug. Ihre Aufgabe in der Kommunikationsstrategie der Regierung bestand darin, als Türwächterin zwischen Obama und den Journalisten zu fungieren, die über ihn schrieben, und diese Arbeit schien ihren Tribut gefordert zu haben. »Ich werde die Jungs nicht vermissen«, sagte sie. Wenige Monate vor dem Ende von Obamas zweiter Amtszeit kannte die Dreistigkeit der Reporter keine Grenzen mehr. Sie wollten Abschiedsinterviews, sie wollten sie jetzt, jeder wollte der Erste, der Größte, der Lauteste sein. Shailagh war diese aufgeblasenen Egos leid, die immer gleichen Fragen, die Fantasielosigkeit. Und Trump twitterte, und es schien, als drehte die Welt allmählich durch.
Die Briefe böten ihr eine Atempause in dem ganzen Trubel, sagte sie und fragte, ob ich ein paar davon lesen wolle. Sie entschied sich für einen marineblauen Ordner, zog ihn aus dem Regal, öffnete ihn und blätterte in den Briefen. Manche davon waren in Schreibschrift auf persönlichem Briefpapier geschrieben, andere in Blockbuchstaben auf Notizzetteln und mit Stickern verziert; es gab Geschäftsbriefe, E-Mails, Faxe und Schnappschüsse von Familien, Soldaten und Haustieren. »Die Leute haben keine Ahnung von diesem Dialog, den er mit dem Land führt, weißt du«, sagte sie und meinte damit Obamas acht Jahre währende Gewohnheit, per Brief mit der amerikanischen Öffentlichkeit zu kommunizieren. »Zusammengenommen ergeben diese Briefe praktisch ein Gesamtbild der amerikanischen Gesellschaft.«
Bei seinem Amtsantritt hatte Obama sich vorgenommen, jeden Tag zehn Briefe zu lesen, wodurch er zum ersten Präsidenten wurde, der sich derart bewusst mit den Briefen seiner Wähler auseinandersetzte. Jeden Nachmittag wurde gegen siebzehn Uhr eine Auswahl aus dem Lektüreraum ins Oval Office geschickt. Die »10LADs«, wie sie mit der Zeit genannt wurden – für ten letters a day oder »zehn Briefe pro Tag« –, machten unter hochrangigen Mitarbeitern die Runde, bis der Stapel schließlich hinten in die Briefing-Mappe gelegt wurde, die der Präsident jeden Abend mit in seine Privaträume nahm. Einige der Briefe beantwortete er handschriftlich selbst, auf andere notierte er Anweisungen für das Schreibteam, das sie beantworten sollte, und auf manche kritzelte er »AUFBEWAHREN«.
Alle leitenden Mitarbeiter des Präsidenten wussten um die Bedeutung der Briefe, aber Shailagh interessierte sich vor allem für das große Panorama, für das, was sie in ihrer Gesamtheit über das Land und ihren Chef aussagten. Manchmal, erzählte sie mir, lege sie einfach die Füße hoch und vertiefe sich in die Briefe, als seien sie Teil eines Geschichtsprojekts und sie eine Studentin, die sich einen Überblick über das Thema verschaffen wollte.
»Der hier ist vom 23. Januar 2009, gleich nach Obamas Amtsantritt«, sagte sie, wobei sie aufs Geratewohl einen Brief aus dem Ordner nahm. »Ich bin dreiundsiebzig Jahre alt und Inhaberin eines Fabrikationsbetriebes. Mein Mann und ich haben mit nichts angefangen … jeden Cent wieder in das Geschäft gesteckt. Seit drei Monaten hatten wir keine Bestellungen oder Anfragen mehr … immer noch nicht wieder ganz auf den Beinen nach einer Operation am offenen Herzen … Wir haben ein Haus. Die Kreditrate beträgt neunhundertneunundsiebzig Dollar und einundsiebzig Cent. Wir haben immer noch einhundertzwanzigtausend Dollar Schulden. Was sollen wir tun? … Das meine ich«, fuhr sie fort. »Diese ersten Anzeichen. Denn damals war es ja noch nicht so offensichtlich. Der Abbau von Arbeitsplätzen hatte noch nicht in dem Maße eingesetzt. In diesen Briefen findest du unzählige Menschen, die ihrem Ärger über die Großbanken Luft machen. Und das ist der andere Aspekt, weißt du? Du siehst die Wut. Die Angst. Die Verwundbarkeit dieser Menschen, die weit über das hinausging, was die allgemeine Stimmung zu jener Zeit erkennen ließ. Und so hörte Obama gleich nach seinem Einzug ins Weiße Haus schon alle möglichen Stimmen – er hörte Leute wie Larry Summers zum Beispiel, den Vorsitzenden seines Nationalen Wirtschaftsrats, und dann, weißt du, hörte er direkt im Anschluss Francis und seine Frau Collette aus Idaho. Es ist so eine Art ununterbrochener Dialog mit dem amerikanischen Volk, weißt du?«
»Weißt du?« Shailagh sagte es beinahe beschwörend, als wollte sie, dass ich wirklich begriff, was sie meinte.
Ja, das täte ich, antwortete ich, zumindest versuchte ich es.
»Habe ich dir schon von diesem Brief von dem Mann aus Mississippi erzählt?«, fragte sie.
Nein, hatte sie nicht.
»O mein Gott …«
Sie stand auf, ging zurück an das Bücherregal und nahm einen anderen Ordner heraus. »Warte, bis du den gelesen hast.«
Im Lauf der Jahre haben die verschiedenen Präsidenten ihren jeweils eigenen Umgang mit der Wählerpost entwickelt. Anfangs war alles noch recht einfach: George Washington öffnete seine Briefe und beantwortete sie. Damals wurde die Post noch zu Fuß, auf dem Pferderücken oder per Postkutsche befördert, und er erhielt etwa fünf Briefe pro Tag – nicht gerade gewaltige Mengen. Dann kamen die Dampfschiffe, danach die Eisenbahn und ein modernisiertes Postsystem, und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts schließlich sah sich Präsident William McKinley außerstande, der Flut noch Herr zu werden. Einhundert Briefe pro Tag? Er stellte jemanden ein, der ihm dabei helfen sollte, diesen Ansturm zu bewältigen, und das war der Ursprung des Office of Presidential Correspondence, der Korrespondenzabteilung des Präsidenten. Doch erst während der großen Depression lief die Sache wirklich aus dem Ruder. Mit seinen Radioansprachen, den sogenannten »Kamingesprächen«, begründete Franklin D. Roosevelt die Tradition, sich direkt an die Bevölkerung zu wenden, und er forderte die Menschen auf, ihm zu schreiben und ihm von ihren Problemen zu berichten. Innerhalb einer Woche trafen etwa eine halbe Million Briefe ein, und in der Poststelle des Weißen Hauses herrschte akute Brandgefahr. Seit jener Zeit schwoll der Umfang der Wählerpost kontinuierlich an, und jeder Präsident pflegte eine andere Beziehung dazu. Nixon beispielsweise weigerte sich am Ende seiner Präsidentschaft, irgendetwas Negatives über sich zu lesen. Reagan beantwortete an den Wochenenden Dutzende Schreiben, schaute hin und wieder in der Poststelle vorbei und las gern die Briefe von Kindern. Clinton ließ sich alle paar Wochen eine repräsentative Auswahl zeigen. Und George W. Bush legte man gelegentlich einen Stapel mit zehn bereits beantworteten Schreiben vor. Doch das sind bloß Anekdoten, Erinnerungen von ehemaligen Mitarbeitern des Weißen Hauses. Es gibt kaum belastbare Informationen über den Umgang früherer Regierungen mit der Wählerpost. Historiker interessieren sich nicht dafür, Präsidentenbibliotheken sammeln sie nicht, und der weitaus größte Teil davon wurde längst vernichtet.
Obama war der erste Präsident, der systematisch zehn Briefe pro Tag lesen wollte. Wann immer er zu Hause im Weißen Haus war, las er Wählerbriefe (auf Reisen sah er keine Post durch), jeder wusste das, und es wurden Mechanismen geschaffen, um sicherzustellen, dass sie ihn tatsächlich erreichten. Die Briefe zirkulierten unter den Mitarbeitern. Einige nannten sie »das konspirative Briefnetzwerk«. Ab 2010 wurden alle per Post eingegangenen Schreiben eingescannt und gespeichert. Ab 2011 floss jedes Wort aus jeder E-Mail in die Erstellung einer täglichen Schlagwort-Wolke ein, die anschließend im Weißen Haus verteilt wurde, sodass politische Entscheider und Mitarbeiter anhand dieser Darstellung eine Vorstellung davon bekamen, welche Themen und Gedanken die Bürger bewegten.
2009 schrieb Natoma Canfield aus Medina, Ohio, die eine Krebserkrankung überstanden hatte, von ihren schwindelerregenden Krankenversicherungsprämien. Obama ließ ihren Brief einrahmen und in einem Flur zwischen seinem privaten Arbeitszimmer und dem Oval Office aufhängen: »Ich brauche Ihre Gesundheitsreform so dringend!!! Ich kann mir meine Gesundheitsversorgung nicht mehr länger leisten!!« Dieser Brief stand beispielhaft für Zehntausende weitere, die ihn allein zum Thema Gesundheitsversorgung erreichten. Nach einschneidenden Ereignissen wie den Amokläufen in Newton, Connecticut, und Charleston, South Carolina, den Terroranschlägen in Paris, dem government shutdown oder dem Anschlag auf das amerikanische Konsulat in Bengasi kamen überdurchschnittlich viele Briefe zu bestimmten Themen. Solche Ausschläge nach oben waren auch aus den Schlagwort-Wolken abzulesen. Eine Zeitlang nahmen darin beispielsweise Begriffe wie »Arbeitsplätze«, »Syrien« oder »Trayvon« immer größere Dimensionen an oder auch Muster wie »Familie-Kinder-Angst«, »Arbeit-Studium-Kredit« oder »ISIS-Geld-Krieg«. Und all das gruppierte sich um ein riesiges »HILFE« – jenes Wort, das in sämtlichen Briefen am häufigsten vorkam. Nachdem ein Schütze 2016 in Dallas das Feuer auf Polizeibeamte eröffnet hatte, schwoll das Wort »Polizei« an, umringt von »Gott-Waffen-Schwarzes Amerika«, dazu ein winziges »Frieden« und ein noch winzigeres »Kongress«.
Irgendwann während meines Besuchs in Shailaghs Büro an jenem Tag hörten wir draußen im Flur einen Tumult, und ich folgte ihr zur Bürotür, um zu sehen, was los war.
»Hallo! Wie geht’s?«
»Hey, Junge!«
»Jetzt schaut euch den an! Wie läuft’s denn so?«
»Da sind Sie ja! Wie geht es Ihnen?«
Es war Biden. Flankiert von ernst dreinblickenden Männern in schwarzen Anzügen, rauschte der Vizepräsident durch den Westflügel des Weißen Hauses auf uns zu. »Hey, wie geht es Ihnen?«, begrüßte er mich auf seine typische Joe-Biden-Art. Er schüttelte mir die Hand auf seine typische Joe-Biden-Art, die jedes Mal so wirkt, als sei man ein Nachbar, der gerade ein wichtiges Bowling-Turnier gewonnen habe, und er freue sich ja so unglaublich darüber. Er umarmte Shailagh kurz und rauschte weiter.
»Ja, ich weiß«, sagte Shailagh, als wir wieder in ihrem Büro waren. Keine von uns brauchte es auszusprechen. Biden mochte sich zwar verhalten haben wie … Biden, aber er sah nicht mehr aus wie der Mann, den wir kannten. Er wirkte abgemagert. Zerbrechlich. Blass und müde. Ich fragte mich, ob dieses Aussehen vielleicht normal war für einen Dreiundsiebzigjährigen, der beschlossen hatte, seinen großen Traum vom Präsidentenamt endgültig zu begraben.
»Ich würde sagen, es ist komplizierter«, entgegnete Shailagh, und für einen Moment versanken wir beide in Erinnerungen.
Biden war der Anlass dafür gewesen, dass Shailagh und ich uns angefreundet hatten. Als ich 2013 für ein Magazin ein Porträt über ihn schrieb, war sie seine Kommunikationsleiterin und stellvertretende Stabschefin. Sie lud mich ein, ihn an Bord der Air Force Two zum Amtsantritt des Papstes nach Rom zu begleiten, wo sie, ich und eine Schar geduldiger Reporter Biden dabei zusahen, wie er, seine verspiegelte Pilotenbrille auf der Nase, mit den Mächtigen der Welt plauderte. Ich war dankbar für diese Gelegenheit, aber im Nachhinein erzählte ich Shailagh, dass ich eigentlich nichts anderes darüber zu schreiben hätte als: So fühlt es sich an, inmitten einer Schar geduldiger Reporter Biden dabei zuzusehen, wie er, seine Pilotenbrille auf der Nase, mit den Mächtigen der Welt plaudert. Denn so funktionieren diese Pressereisen. Ein Seil trennt die Mächtigen auf der einen von den Neugierigen auf der anderen Seite, und alle lächeln und winken. Man gewinnt keinen Zugang zu ihren Gedanken, erfährt nicht, was ihnen Albträume bereitet, welche privaten Momente sie schätzen, auf welche sie besonderen Wert legen. Man kommt ihnen nicht nahe.
Shailagh dachte darüber nach. »Wir sollten nach Wilmington fahren«, sagte sie schließlich. »Ich frage den Vizepräsidenten.«
Und genau das taten wir dann: Zu dritt streiften wir fröhlich durch Bidens Heimatstadt in Delaware, wo er in Kindheitserinnerungen schwelgte. »Ziemlich matschig hier draußen«, sagte er, als er auf der Suche nach dem Teich, in dem er früher immer schwimmen war, durch den Wald stapfte, während sich die Männer vom Secret Service bemühten, mit uns Schritt zu halten. »Shailagh, das glaubst du nicht.« – »Shailagh, komm her. Davon habe ich dir doch erzählt, oder?« Er zeigte uns, wo seine erste Freundin gewohnt hatte, wo seine zweite Freundin gewohnt hatte, wo seine Lieblingsfreundin gewohnt hatte, wir machten halt in seiner alten Highschool und an seinem geliebten Sandwichladen, und wir saßen nebeneinander auf dem Bordstein, wo er sich als Kind Steine in den Mund gesteckt hatte, um sein lästiges Stottern zu kurieren. Wir besuchten den Friedhof, auf dem seine erste Frau Neilia und ihr Baby Naomi lagen – an das Grab wollte er nicht zu nah heran –, und wir spähten durch das Vorderfenster des Hauses, in dem er aufgewachsen war, um einen Blick auf das Esszimmerbuffet zu werfen, in dem sich seine Schwester Valerie immer versteckt hatte. »Siehst du, was ich meine, Shailagh? Schade, dass die Leute nicht zu Hause sind, sonst könnte ich euch mein Zimmer zeigen.« Den ganzen Tag über lachten und kabbelten sich die beiden wie Vater und Tochter, es war ein Privileg, Zeuge dieses liebevollen Umgangs miteinander zu werden und eine erste Ahnung davon zu bekommen, dass ein Weißes Haus beinahe wie eine Familie funktionieren konnte. Zumindest dieser Teil jenes Weißen Hauses.
Ich weiß noch, wie ich Shailagh damals fragte, ob sich Biden womöglich 2016 als Präsidentschaftskandidat bewerben würde. »Oh, er würde sich Hillary niemals in den Weg stellen«, entgegnete sie, und damit war alles gesagt. Die Sache war erledigt. Ich fand es irgendwie traurig, dass dieser Mann, der sein ganzes Leben darauf hingearbeitet hatte, Präsident zu werden, sich jetzt, so kurz vor dem Ziel, der Pflicht beugte und sich zurücknahm, um dem Land nicht die Chance zu nehmen, zum ersten Mal in seiner Geschichte von einer Frau regiert zu werden.
Nachdem wir Biden an jenem Tag den Flur hatten entlangrauschen sehen, erzählte mir Shailagh in ihrem Büro, wie schmerzvoll Beau Bidens Hirntumor für sie alle gewesen sei. Der Sohn des Vizepräsidenten hatte den Kampf gegen den Krebs verloren und war am 30. Mai 2015 im Alter von sechsundvierzig Jahren gestorben. Das sei der Grund, warum Biden so aussehe, sagte Shailagh, und sie fügte hinzu, dass diejenigen, die ihn während seiner Trauerphase gedrängt hatten, sich als Präsidentschaftskandidat zu bewerben – manche sogar noch während der gesamten Vorwahlen 2016 –, ihn entweder nicht kannten oder nicht liebten.
Sie ließ es dabei bewenden, so, wie man es auch tun würde, wenn es sich um das Leid des eigenen Vaters handelte.
»Gott, diese frühen Sachen«, sagte sie, sich wieder den Briefen zuwendend. Sie blätterte durch einen roten Ordner. »O ja, an diese Frau kann ich mich noch erinnern. Wir haben sie schließlich zu einer seiner Reden eingeladen.«
Ich vermute, Nostalgie war der Hauptgrund, warum Shailagh mir an jenem Tag einige der Briefe zeigen wollte. Obamas Regierungszeit endete, seine Mitarbeiter bereiteten sich darauf vor, ihre Sachen zu packen und das Weiße Haus zu verlassen, und all diese Briefe blieben zurück. Was würde mit ihnen geschehen? Geschichte ist … umfassend. Geschichte hat das große Ganze im Blick. Sie richtet ihr Augenmerk auf folgenschwere Ereignisse, nicht auf die kleinen, scheinbar unbedeutenden Dinge.
»Das hier sind die Stimmen im Kopf des Präsidenten«, sagte Shailagh. Und das traf wohl den Kern der Sache. »Er verinnerlicht diese Worte, diese Themen. Manche Briefe trägt er mit sich herum und grübelt darüber nach. Vor allem bei den kritischen. Das ist ein privater Rückzugsraum, den er sich bewahren konnte. Und das genießt er, weißt du?«
Mich beschlich das Gefühl, dass diese Briefe gleichsam Obamas Wilmington sein könnten. Eine Möglichkeit, ihn besser zu verstehen. Eine sich öffnende Hintertür. Hier bot sich die Gelegenheit, Obama auf eine Weise kennenzulernen, wie sie den meisten Menschen bisher verborgen geblieben war. Die winzigen Geschichten, die in seinem Gedächtnis haften blieben. Die rufenden Stimmen. Die Schreie und das Gebrüll jenes Volkes, dem zu dienen er geschworen hatte. Hier war das Rohmaterial der Ideen, die seine Gedanken bevölkerten, während er seine Tage mit Kabinettssitzungen, bilateralen Gipfeln, Spendenveranstaltungen oder im Lagezentrum des Weißen Hauses zubrachte, bis er sie abends mit ins Bett nahm.
»Zwangsvollstreckung, Zwangsvollstreckung, Zwangsvollstreckung«, kommentierte Shailagh, während sie durch einige der frühen Briefe blätterte. »Hier kann man den Ausbruch der Immobilienkrise geradezu in Echtzeit nachvollziehen. Die Menschen sahen sich plötzlich mit den gewaltigen Schlussraten von Ballonhypotheken konfrontiert, von denen sie nicht einmal wussten, dass sie sie abgeschlossen hatten. Man sieht das Zusammentreffen von Wirtschaftskrise und Gesundheitskrise. Den allgemeinen Vertrauensverlust der Menschen. Die Banken brechen zusammen, die Katholische Kirche wankt. Sie haben das Gefühl, all diese Institutionen ließen sie im Stich. Und dann ist da dieser neue Präsident, der von seinen Wählern das Mandat erhalten hat, einen Wandel herbeizuführen. Das hat eine Verbindung zu ihnen geschaffen.«
Einige der Absender erlangten regelrechten Heldenstatus unter den Mitarbeitern, erzählte mir Shailagh, ihre Geschichten wurden zum Dreh- und Angelpunkt von Ansprachen und Reden zur Lage der Nation. »Im Lauf der Zeit luden wir häufig die Verfasser solcher Briefe zu Veranstaltungen ein, oft sprachen sie ein paar Worte, um den Präsidenten einzuführen. Wenn er bei seinen Reisen durch das Land in ihre Stadt kam, traf er sich mit Briefschreibern zum Mittagessen. Ich meine, wir wollten keine billige Show daraus machen. Es war … wir versuchten, diese Begegnungen respektvoll zu handhaben. Denn im Grunde war es ja eine private Beziehung, die er zu diesen Menschen hatte. Und ich glaube, das ist auch der Grund, warum sie eine so nachhaltige Wirkung auf ihn ausübten. Der private Charakter, die Verletzlichkeit dieser Menschen.«
Mit einem Ruck nahm sie ihre Brille ab, steckte sie sich ins Haar und stand auf, um einen weiteren Ordner zu holen. »Den Brief von diesem Mann aus Mississippi muss ich dir unbedingt zeigen«, sagte sie. »Er schrieb über die Schwielen an seinen Händen. Wie die Entwicklung seiner Hände eigentlich die ganze Entwicklung des Landes zu jener Zeit widerspiegelt. Warte, ich habe ihn gleich … Diese Briefe sind frei von dem üblichen Zynismus, weißt du? Von diesem dystopischen Blick auf die Regierung, an den wir uns so gewöhnt haben. Sie wirken beinahe wie aus der Zeit gefallen, wie Unterhaltungen aus einer früheren Epoche, in der die Menschen sich nicht an die Regierung und ihre Anführer wandten, weil sie irgendwas von ihnen erwarteten oder bloß ihrem Ärger Luft machen wollten, sondern weil sie wollten, dass der Präsident ihre Probleme tatsächlich verstand. Weil sie wollten, dass er tatsächlich begriff, wie ihr Leben aussah. Und darum sind sie so … Weißt du, bei dieser ganzen Polarisierung, diesem Zynismus, all dem Negativen und dem heftigen Gegenwind, dem wir im Weißen Haus Tag für Tag ausgesetzt sind, erinnern uns die Briefe immer wieder daran, dass manche Menschen die Regierung im Wesentlichen doch als eine positive Kraft sehen. Oder zumindest wollen, dass sie eine positive Kraft ist, dass sie besser wird in dem, was sie tut. Sie wollen, dass sie sich besser um die Veteranen kümmert, dass sie eine bessere Gesundheitsvorsorge liefert. Das war für uns geradezu spirituell erhebend. Wirklich. Vor allem vor dem Hintergrund dieses, du weißt schon, dieses brutalen täglichen Kampfs.«
Ich fragte sie, ob sie glaube, dass die Briefe für Obama einen vergleichbaren Zweck erfüllten.
»Ich glaube, Briefe passen einfach zu ihm«, sagte sie. »Ich meine, in dieser Hinsicht sind die Obamas den Reagans und den Bushs sehr ähnlich. Sie sind, wie soll ich sagen, von Natur aus konservative, normale, traditionsbewusste Menschen, nicht wahr? Sie füllen dieses Amt aus. Sie sind genauso groß wie das Amt. Sie passen hinein. Verstehst du, was ich meine? Wie ein Anzug, der passt.«
Und dazu passen auch die Briefe. Wie Mottenkugeln, eine gerade Haltung, gepflegte Tischmanieren und eine ordentliche Ausdrucksweise, ohne zu fluchen. »Diese Briefe haben so etwas Weltfernes an sich, sie scheinen nicht in unsere Zeit zu gehören«, sagte sie, »obwohl das, was diese Menschen schreiben, absolut aktuell ist. Aber das Format kommt mir so entrückt vor. So altmodisch … Es hatte für mich immer etwas von Evelyn Waugh.«
Wie der Brief von diesem Mann aus Mississippi, nach dem sie immer noch suchte. Mittlerweile blätterte sie in einem grünen Ordner herum. »Ich weiß, dass er hier irgendwo ist … Er war so gut geschrieben. Wie eine Seite aus einem Roman. Es ist faszinierend, dass sich die Leute überhaupt die Zeit dafür nehmen. Was hat ihn dazu bewogen, diesen Brief zu schreiben, diese eine perfekt formulierte Seite?«
Dieselbe Frage stellte ich mir auch. Wer schreibt dem Präsidenten? Seit ich nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte, wäre mir so etwas nie in den Sinn gekommen. Wer waren diese Menschen? Was hatten sie davon? Darüber hinaus hatte der Vorgang an sich meine Neugier geweckt. Wessen Idee war es gewesen, dass Obama zehn Briefe pro Tag lesen solle? Ich fragte mich, welche Bedeutung diese Briefe für ihn hatten und ob – und wenn ja, auf welche Weise – sie seine Präsidentschaft beeinflusst hatten.
Mein ursprünglicher Gedanke war, einige der Absender zu treffen und ihre Geschichten aus erster Hand zu hören. Und das tat ich auch, doch womit ich nicht gerechnet hatte, war die Reise in den Lektüreraum selbst. Zu den Menschen, die die Maschine am Laufen hielten. Ich konnte von den einen nicht ohne die anderen erzählen, erst im Zusammenspiel ihrer Geschichten entfaltete sich das Panorama der Obama-Regierung aus der Sicht der Menschen, die ihm schrieben.
Shailagh fand den Brief, nach dem sie suchte, an jenem Tag nicht mehr. Doch sie versprach, ihn mir später zu zeigen. Millionen Schreiben erreichten das Weiße Haus, und die Ordner in ihrem Büro enthielten nur eine winzige Auswahl davon, ein paar Tausend ihrer Lieblingsbriefe, die sie ab und zu gerne wieder las. »Um die ganze Wirkung zu spüren, solltest du in den Lektüreraum gehen«, riet sie mir. »Setz dich einfach hin und lies. Dann verstehst du, was ich meine.«
Ich fragte sie, wo der Lektüreraum sei. Sie lehnte sich zurück und dachte eine Weile nach. »Es gibt da eine Frau, die die Abteilung leitet. Ihr Name ist Fiona. An der musst du vorbei.«
Ich fragte, ob sie mich ihr vielleicht vorstellen könne. Sie nickte, wenn auch nicht sonderlich überzeugend, eher so, als schmiedete sie in Gedanken einen Plan.
Wenn sie es geschafft hatte, mir einen Platz an Bord der Air Force Two zu verschaffen, um mit dem Vizepräsidenten zum Amtsantritt des Papstes nach Rom zu fliegen, argumentierte ich, dann dürfte es doch sicher kein Problem sein, einen Besuch im Lektüreraum zu arrangieren.
»Du kennst Fiona nicht«, entgegnete sie.
RMB / Notlage / Auswahl · 12.7.09 / MK |
Beantworten |
Bobby Ingram
Oxford, MS.
16. April 2009
Sehr geehrter Mister Obama, mein Präsident,
2007 war ich stolz auf meine Hände. Wo meine Handflächen auf die Finger trafen, hatten sich Schwielen gebildet. Schnitte und Kratzer waren nie schlimm, Splitter und Blasen störten mich kaum. Meine Hände konnten zupacken wie ein Schraubstock, sie waren agil und gegen Hitze und Kälte gefeit. Geschickt bewegten sie sich beim Schnitzen oder Schärfen einer Axt. Meine Handfläche frottierte wie eine Massagebürste, wenn meiner Frau der Rücken juckte oder der Kater einen Buckel machte, um gestreichelt zu werden. Meine Nägel waren meist schmutzig nach getaner Arbeit, sie waren stärker als heute, hatten keine Risse, waren selten manikürt. Meine Hände definierten meine Arbeit, meine Leidenschaften, mein Leben.
Dreiundzwanzig Jahre habe ich als Landvermesser gearbeitet, seit fast zwei Jahren bin ich nun arbeitslos. Ich vermisse meine frühere Arbeit und meine früheren Hände. Nächtelang liege ich auf den Knien, falte neue Hände und bete darum, dass wir alle wiederfinden mögen, was verloren scheint. Möge Gott Ihre Hände leiten, dass sie unsere Zukunft gestalten.
Ich danke Ihnen dafür, dass Sie dem Bürger zuhören
und verbleibe