Buch

Hamburg im Zweiten Weltkrieg: Das Heulen der Sirenen liegt über der Stadt, Hamburger Juden werden scharenweise deportiert und Abiturienten möglichst schnell an die Front geschickt. Wo gerade noch anschaulicher, lebendiger Unterricht gehalten wurde, ist wieder Zucht und Ordnung eingekehrt. Die einstigen Bildungsideale scheinen verloren. Doch während sich Emil und Anneliese dem NS-Regime andienen, bleibt Felicitas ihren Werten unverrückbar verbunden. Als sie ehemaligen Schülern wiederbegegnet, aus denen mittlerweile Studenten geworden sind, kommt ihr ein Flugblatt aus München in die Hände, das neue Hoffnung macht. Und eine radikale Entscheidung verlangt …

Autorin

Die große Leidenschaft von Julia Kröhn ist nicht nur das Erzählen von Geschichten, sondern auch die Beschäftigung mit Geschichte: Die studierte Historikerin veröffentlichte – teils unter Pseudonym – bereits zahlreiche Romane. Nach ihrem großen Erfolg, »Das Modehaus«, ein Top-20-SPIEGEL-Bestseller, und ihrem hochgelobten Riviera-Zweiteiler folgt nun die nächste opulente Saga vor schillernder Kulisse. Darin lässt die Tochter zweier Lehrer, die selbst auch Lehramt studiert hat, viele ihrer eigenen Schulerfahrungen mit einfließen.

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JULIA Kröhn

Roman

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Copyright © 2021 by Julia Kröhn

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

© 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Margit von Cossart

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Everett Collection; portumen; peter jesche; Valentin Agapov) und Richard Jenkins Photography
Flugblätter Nr.3 und 6 der Weißen Rose: BArch, R 3018/18431

Mit freundlicher Genehmigung des Bundesarchivs

KW · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26393-5
V001

www.blanvalet.de

Was bisher geschah

Als Dr. Felicitas Marquardt 1930 als junge Studienrätin für Latein und Geschichte an der Hamburger Alsterschule ihren Dienst antritt, befindet sich nicht nur die Welt im Umbruch – auch die Gestaltung des Unterrichts. Bis kurz zuvor hat dieser vor allem einem Zweck gedient: Tugenden wie Gehorsam, Opferbereitschaft und Selbstüberwindung notfalls mit dem Rohrstock einzubläuen. Doch die Stimmen, die sich der »schwarzen Pädagogik« entgegensetzen, werden immer lauter, und Felicitas ist glühende Verfechterin der sogenannten Reformpädagogik, die mit Namen wie Montessori, Pestalozzi und Steiner verbunden ist. Hier steht das Wohl des Kindes im Mittelpunkt, das mit all seinen Neigungen und Begabungen gefördert werden soll und sich frei entfalten darf. Prügelstrafe und Sitzenbleiben werden abgeschafft, Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet.

Einen Bruder im Geiste findet Felicitas in ihrem Kollegen Levi Cohn, den seine gute Beobachtungsgabe und die große Liebe zur Literatur auszeichnen und der für jede Situation das passende Zitat parat hat. Und auch Emil, der an der Alsterschule Turnen und Englisch unterrichtet, scheint ein Verbündeter zu sein. Die selbstbewusste Felicitas hat es ihm schon in Berliner Studienzeiten angetan, offen bekennen konnte er seine Gefühle dennoch nicht. Bei einem ausgelassenen Tanzabend kommen sich die beiden erstmals näher, doch das, was Emil instinktiv anzieht, ist zugleich das, was ihn, beherrscht wie er ist, zutiefst verschreckt – Felicitas’ unkonventionelle Art. Während er ein bürgerliches Leben anstrebt, ist für sie, die ihre Freiheit und Unabhängigkeit nicht riskieren will, eine Ehe undenkbar. Männer spielen in ihrem Leben nur als unverbindliche Affären eine Rolle. Felicitas kann sich vorstellen, auch mit Emil eine Affäre zu beginnen, aber der ist schockiert von ihrem Lebenswandel und ihrer freizügigen Sichtweise auf die Sexualität und wendet sich von ihr ab.

Als Emil wenig später Anneliese kennenlernt, Felicitas’ Freundin aus Kindertagen, die nach Hamburg kommt, um dort eine Stelle als Hauswirtschaftslehrerin anzutreten, scheint er eine Frau ganz nach seinem Geschmack zu finden – sanft, weiblich, anpassungsfähig. Doch auch in den folgenden Jahren kann er sich der Faszination, die von Felicitas ausgeht, nie ganz entziehen, selbst wenn er das hinter vermeintlicher Gleichgültigkeit und Verachtung gut zu verbergen weiß.

Anneliese und Felicitas sind einander sehr verbunden. Allerdings treiben sowohl Annelieses Beziehung zu Emil als auch ihr unterschiedliches Weltbild einen Keil in ihre Freundschaft. Für Anneliese ist der Lehrberuf nur eine vorübergehende Station, eigentlich hofft sie auf Heirat und Kinder, und sie wartet ungeduldig auf Emils Antrag.

Felicitas kann das nicht verstehen, sie empfindet Annelieses Verhalten als Verrat an der Sache der Frau. Die Entfremdung von Anneliese führt dazu, dass sich Felicitas noch enger Levi anschließt. Da sie ihn nie als potenziellen Liebhaber, nur als Vertrauten betrachtet, dem sie alles über ihr wildes Leben berichtet, entsteht eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen. Außerdem findet sie Erfüllung in ihrem Beruf: Dank ihrer fortschrittlichen Unterrichtsmethoden fliegen ihr die Herzen der Schüler zu, insbesondere jenes von Paul Löwenhagen, einem besonders aufrührerischen Jungen.

Das freie Leben endet abrupt, als die Nazis 1933 die Macht ergreifen und nicht nur die Welt, auch das Schulsystem auf den Kopf stellen. Auf dem Schulhof weht nun die Hakenkreuzfahne, regimekritische und jüdische Lehrer werden entlassen. Während der Konferenzen dürfen sich Lehrerinnen und Lehrer nicht länger zu Wort melden, stattdessen halten Gauleiter stundenlange Vorträge. Klassensprecher, Elternvertreter und Koedukation werden abgeschafft, die Prügelstrafe wird wieder eingeführt. Jüdische Schüler müssen mit schlechten Noten bedacht werden, eine HJ-Mitgliedschaft bewahrt vor dem Sitzenbleiben.

Und nicht nur der Schulalltag ändert sich – auch die Unterrichtsinhalte werden zensiert. Etliche Schriftsteller, die im Fach Deutsch behandelt werden, stehen auf dem Index, in Geschichte gilt es den Fokus auf den »Freiheitskampf der Germanen« zu legen, in Physik ist Albert Einsteins Relativitätstheorie von nun an verpönt, stattdessen wird Rassenlehre ein wichtiges Fach.

Felicitas muss nicht nur all das fassungslos hinnehmen, sondern auch, dass Levi, er ist Halbjude, entlassen wird und künftig nur an der jüdischen Talmud-Tora-Schule unterrichten darf. Umso mehr empört es sie, dass sich Emil als Opportunist erweist und Oscar Freese, den sozialdemokratischen Schulleiter der Alsterschule, ablöst. Dass ihr einstiger Kommilitone sein Amt letztlich nutzt, um sie, die aufgrund ihrer hartnäckigen Weigerung, der NSDAP beizutreten, immer wieder kurz vor ihrer Entlassung steht, zu schützen, macht das nicht wieder gut. Nicht minder setzt es ihr zu, dass Anneliese an nichts anderes denkt als an ihre baldige Eheschließung. Emil hat ihr endlich den ersehnten Antrag gemacht – allerdings nicht aus Liebe zu ihr, sondern um sich Felicitas endgültig aus dem Kopf zu schlagen.

Nach Emils und Annelieses Hochzeit meidet Felicitas die Freundin für lange Zeit. Erst 1935 kommt es zu einer Wiederannäherung der beiden, wenn auch aus traurigem Anlass. Oscar Freese wird verhaftet, nachdem er sich in der Hilfsschule, wo er mittlerweile unterrichtet, geweigert hat, dem neuen Gesetz zur Erbgesundheit Folge zu leisten und vermeintlich erbkranke Kinder anzuzeigen. Im KZ Fuhlsbüttel verliert er unter dubiosen Umständen sein Leben, seine Frau versinkt daraufhin in eine Depression, die gemeinsame Tochter Elly braucht dringend Fürsorge. Obwohl die Kleine Vierteljüdin ist, sind Anneliese und Emil bereit, sie bei sich aufzunehmen – Emil, weil er Felicitas diesen Gefallen nicht verweigern kann, Anneliese, weil sie seit Jahren unter ihrer ungewollten Kinderlosigkeit leidet.

Anneliese bekommt endlich, was sie sich so sehr gewünscht hat – eine kleine Familie –, und ist so glücklich wie nie zuvor, Felicitas dagegen fühlt sich schrecklich einsam. Schon lange zieht sie keinen Trost mehr aus ihren Affären, und auch ihre Freundschaft mit Levi droht zu zerbrechen, weil dieser nach der Verkündigung der Nürnberger Gesetze auf Distanz zu ihr geht, um sie vor dem Verdacht der Rassenschande zu schützen.

Für kurze Zeit findet Felicitas Ablenkung, als sie sich gemeinsam mit ihrem ehemaligen Schüler Paul Löwenhagen, der seit Langem für sie schwärmt, den Swing Kids anschließt – tanzhungrigen Jugendlichen, die das Verbot von amerikanischer Musik nicht hinnehmen. Doch auch diese haben unter immer stärkeren Repressionen zu leiden, und ein Tanzabend findet ein abruptes Ende, als die HJ mit der Gestapo auftaucht. Paul wird verhaftet, nach einem mehrwöchigen Aufenthalt im Konzentrationslager Fuhlsbüttel scheint er gebrochen.

Felicitas ergibt sich ganz der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit – doch Pauls Schwester Helene vermag ihr einen Weg aus der Dunkelheit zu weisen. Erna Stahl, eine den Nazis offen kritisch gegenüberstehende Lehrerin, lädt nach ihrer Entlassung von der Hamburger Lichtwarkschule, einem Zentrum der Reformpädagogik, regelmäßig eine Gruppe Schüler zu einem Lesekreis in ihre Wohnung ein, wo sie die humanistischen Bildungsideale hochhält und den jungen Leuten vermeintlich entartete Kunst und von den Nazis verbotene Bücher näherbringt. In dieser Runde erfährt auch Felicitas Rückhalt und Geborgenheit. Vor allem spürt sie, dass hier ein Geist der Freiheit weht und dass ihr die Nazis zwar viel, aber nicht alles genommen haben: nämlich nicht die tiefe Überzeugung, dass Bildung der Weg ist, der Diktatur zu trotzen.

Aufgrund der neu gewonnenen Stärke kann sie auf Levi zugehen, seine Ängste, ihr zu schaden, ausräumen, und ihn sogar dazu überreden, in ihre Wohnung zu ziehen, nachdem sein Vermieter ihm gekündigt hat. Auch diese ist nun ein Ort, wo der Liebe zur deutschen Literatur gefrönt und die immer düsterere Welt nach draußen verbannt wird.

Der Friede währt allerdings nicht lange. Als im Oktober 1938 alle polnischen Juden aus Hamburg deportiert werden, verstecken Felicitas und Levi ein Kind – die zehnjährige Charlotte. Emil deckt Felicitas, Anneliese dagegen wird massiv von ihrer Freundin Carin Grotjahn, einer glühenden Nationalsozialistin und Gattin des Schulsenators Dr. Waldemar Grotjahn, unter Druck gesetzt. Sie stellt einen Ariernachweis für Elly, die Anneliese wie eine eigene Tochter ans Herz gewachsen ist, in Aussicht – doch dafür muss Anneliese ihre Gesinnungstreue beweisen.

Felicitas ahnt nichts davon. Über die gemeinsame Rettungsaktion von Charlotte erkennt sie allerdings, dass Levi nicht einfach nur ein guter Freund ist, sondern ihr Seelenverwandter, den sie seit Langem liebt. Leider können sie ihr Glück nur wenige Tage genießen. Sie verbringen eine Liebesnacht, als sich am 9. November 1938 die SA zusammenrottet und die Hamburger Synagogen und Kaufhäuser zu zerstören beginnt …

Bald stehen die braunen Horden auch vor ihrer Tür und bezichtigen Levi der Rassenschande. In letzter Sekunde kann er aus dem Fenster fliehen, und obwohl Felicitas eisern an ihrer Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft festhält, fühlt sie doch, dass dies ein Abschied für lange Zeit, wenn nicht sogar für immer ist …

»Um eines bitte ich: Ihr, die Ihr diese Zeit überlebt, vergesst nicht. Vergesst die Guten nicht und nicht die Schlechten. Sammelt geduldig die Zeugnisse über die Gefallenen. Eines Tages wird das Heute Vergangenheit sein, wird man von der großen Zeit und von den namenlosen Helden sprechen, die Geschichte gemacht haben.

Ich möchte, dass man weiß, dass es keine namenlosen Helden gegeben hat, dass es Menschen waren, die ihren Namen, ihr Gesicht, ihre Sehnsucht und ihre Hoffnungen hatten, und dass deshalb der Schmerz auch des Letzten unter ihnen nicht kleiner war als der Schmerz des Ersten, dessen Name erhalten bleibt. Ich möchte, dass sie Euch alle immer nahe bleiben, wie Bekannte, wie Verwandte, wie Ihr selbst.«

Julius Fučík, tschechischer Widerstandskämpfer

1938

November

Ich bin Deutschlehrer, ich habe kein Unrecht getan.«

Seit seiner Verhaftung hatte Levi diese Worte ständig wiederholt, immer war er auf taube Ohren gestoßen. Diesmal ignorierte ihn sein Gegenüber nicht, doch in dem Blick, der sich auf ihn richtete, stand Verachtung.

»Ein Deutschlehrer willst du sein? Ein Saujude, das bist du!« Levi wollte einwenden, dass das eine das andere nicht ausschloss, aber dazu kam er nicht. »Los!«, brüllte der SA-Mann ihn an, der Stahlhelm und Gewehr trug. »Du gibst alles ab, was du bei dir hast: Uhr, Geld, persönliche Gegenstände!«

»Ich habe keine Uhr … kein Geld … ich habe nur …«

Sein Buch! Er hatte doch ein Buch bei sich getragen, als er vor der wütenden SA-Truppe geflohen war, als man ihn schließlich gestellt und verhaftet hatte. Doch als er erklären wollte, dass er das unmöglich abgeben könne, prasselten Hiebe auf ihn ein.

Ein Schlag traf seine Nase, einer sein Kinn. Er rieb es benommen, während fremde Hände ihn betasteten, ihm nicht nur das Buch abnahmen, auch seinen Bleistift. Hilflos streckte er seine Hände danach aus, doch was der SA-Mann in diese drückte, war nicht sein Eigentum.

»Los, lies!« Er hielt einen Zettel. Schwarze Punkte tanzten darauf, die Punkte waren offenbar … Buchstaben. »Los, lies!«, brüllte der Mann wieder.

Levi konnte nicht lesen, obwohl man ihm die Brille gelassen hatte. Buchstabe fügte sich an Buchstabe. Aber es wurden keine Worte daraus, keine, die Sinn machten.

Schutzhaftbefehl.

Rassenschande.

Die Buchstaben wurden größer, das Gesicht in seinen Erinnerungen wurde größer. Er lächelte das Gesicht an. Das, was Felicitas und ich haben, ist doch keine Rassenschande. Was wir haben, ist etwas Besonderes … etwas Einzigartiges … etwas …

Jemand riss ihm den Schutzhaftbefehl aus der Hand und das Lächeln aus dem Gesicht.

Bis jetzt hatten ihn Faustschläge getroffen, doch dabei blieb es nicht. Levi hatte kaum hochgeblickt, als ein Schulterriemen, der Teil der SA-Uniform war, in sein Gesicht schnalzte. Er spürte, wie seine Unterlippe platzte, hatte auch das Gefühl, sein Auge würde platzen. Der dritte Schlag wurde ihm auf die Stirn versetzt, der vierte auf den Hinterkopf. Aus dem roten Bild wurde ein schwarzes. Nicht nur er versank in der Schwärze, auch Felicitas’ Gesicht.

Die Welt lag in Scherben, aber irgendwann konnte er Konturen sehen, von Bettgestellen, etwa einem Dutzend, von Garderobenhaken, Bänken, einer Toilette. Und da war ein Wasserhahn, aus dem es tropfte. Plitsch, platsch. Erst als er sich aufrichtete, bemerkte er, dass er auf einer stinkenden Matratze lag. Blut tropfte auch. Plitsch, platsch.

Wie von weither nahm er einen schrillen Ton wahr, dem endlosen Echo einer Trillerpfeife gleichend. Nach einer Weile wurden Stimmen daraus. Auch seine Stimme war zu hören.

»Deutschlehrer …«

Es blieb das einzige Wort, mehr brachten seine verkümmerten Gedanken nicht zustande. Ehe er ihm eine Bedeutung geben konnte, wurde es zerrissen – von Schmerzen, die von seinem Kopf in den ganzen Leib jagten, von Erinnerungsblitzen.

Die schreckliche Nacht vom 9. auf den 10. November, als das jüdische Hamburg in Scherben zerfallen war … die Tage danach, als er auf der Flucht gewesen war … der Moment, als man ihn verhaftet hatte …

Auf dem Polizeiwachtlokal in der Humboldtstraße hatte er zum ersten Mal beteuert, dass er nichts Unrechtes getan hatte. Im Alten Stadthaus, dem Präsidium der Hamburger Polizei, hatte er es wiederholt. Er war nicht der Einzige, den man dorthin gebracht hatte, so viele Männer mit verstörten Blicken, Schrammen und blauen Flecken hatten auf ihr Verhör gewartet. Levi hatte nicht verstanden, warum der Strom der Inhaftierten nicht abriss, man offenbar alle Juden der Stadt eines Verbrechens anklagte.

Die Frage schwebte immer noch über ihm, doch die Antwort war unerreichbar. Er sah nach oben, wo ein Lichtpunkt hin und her schaukelte. Seit wann bebt die Sonne?, fragte er sich. Allerdings: Wie sollte die Sonne auch über dem neuen Deutschland scheinen, ohne zu beben?

Er presste die Augen ganz fest zusammen, versuchte, sie wieder zu öffnen. Es war nicht die Sonne, sondern eine Glühbirne, die über ihm schaukelte, vor allem, wenn sich die Tür öffnete und weitere Gefangene in das Verlies gestoßen wurden.

Einer von ihnen trug nur einen Schlafanzug, man hatte ihn wohl aus dem Bett heraus verhaftet.

Als er begann, die Menschen zu zählen, schien die Glühbirne auf seinen Kopf zu fallen, dort zu zerspringen. Etwas stieg ihm säuerlich die Kehle hoch, trat über seine Lippen, brannte. Nur das Wort, das er ausstieß, brannte nicht, es war die einzige Labsal.

»Deutschlehrer …«

Schemenhaft wie die Glühbirne war das Gesicht, das sich vor seines schob. Er nahm den Geruch von Angst wahr.

»Sag das nicht zu laut. Auf die Intelligenten haben sie es besonders abgesehen. Wer eine Brille trägt, wird nicht nur mit Schlägen malträtiert, auch mit Peitsche, Stock und Rundschläger. Einen haben sie drei Tage lang in einen Spind gesperrt, gerade mal einen Meter breit, weil er ein Gesetzesbuch dabeihatte und daraus zitierte.«

Levi fühlte sich auch wie in einem Spind gefangen. »Sie können doch nicht allen Hamburger Juden Rassenschande vorwerfen.«

»Sie müssen uns gar nichts vorwerfen. Schon seit Jahren wird Schutzhaft ohne richterliche Mitwirkung verhängt. Es genügt, dass sie uns hassen, und nach dem Attentat tun sie das noch mehr als früher.«

Richtig, das Attentat. Ein polnischer Jude hatte es auf einen deutschen Botschaftsmitarbeiter verübt, hatte sich rächen wollen für die Vertreibung der polnischen Juden aus Deutschland. Die Deutschen hatten es nicht nur ihm heimgezahlt, hatten Synagogen und jüdische Geschäfte verwüstet und alles kurz und klein geschlagen … Menschen.

Wieder schaukelte die Glühbirne.

»Wo sind wir hier eigentlich?«

»Im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel.«

»Und was passiert mit uns?«

Der Mann gab ihm keine Antwort, nur noch mehr Ratschläge.

»Verhalte dich unauffällig, sieh ihnen nicht ins Gesicht, befolge jeden Befehl, auch den lächerlichsten. Wenn sie uns Essen bringen, iss es so schnell wie möglich, leck den Napf blitzblank, vor allem den Löffelstiel, wenn wir Glück haben, gibt es nicht nur Brot, manchmal auch Salzhering und Eier.«

Levi konnte sich nicht vorstellen, dass er Salziges noch schmecken konnte. Und um satt zu werden, wirklich satt, brauchte er etwas anderes als Salzhering und Eier.

Er sah das Gesicht des Mannes, der zu ihm gesprochen hatte, nun etwas deutlicher.

»Schreiben …«, brachte er mühsam hervor, »dürfen wir schreiben?«

»Einmal haben sie uns vermeintlich erlaubt, Briefe zu verfassen. Aber hinterher haben sie sie zerrissen und erklärt, sie hätten keine Lust, Judenschweine zu zensieren.«

Levi richtete sich ein wenig auf, und inmitten von all dem Grauen nahm er plötzlich etwas Weißes wahr – ein Stück Toilettenpapier, auf dem ein Häftling die schwarzen Linien eines Damespiels gezeichnet hatte. Kleine Steine aus der Mauer dienten als Spielsteine und Würfel.

»Womit … womit hast du diese Linien eingezeichnet?«

Der Häftling holte hinter seinem Ohr einen Bleistiftstummel hervor. Sein Lächeln war triumphierend, das von Levi auch. Mit diesem Bleistift konnte man nicht mehr viele Linien malen, erst recht nicht viele Worte aufschreiben, aber einige wenige doch. Sie würden für einen Satz reichen, den Satz, den er auf die Rückseite des Toilettenpapiers zu schreiben gedachte.

»›Darin besteht die Liebe: dass sich zwei Einsame beschützen und berühren und miteinander reden‹«, murmelte er.

Der andere starrte ihn stirnrunzelnd an. »Vielleicht kann man einen Brief hinausschmuggeln, ein paar der Aufseher sind bestechlich, aber willst du nicht lieber schreiben, was dir widerfahren ist?«

Levi schüttelte den Kopf. Wenn es eine Chance gäbe, Felicitas eine Nachricht zukommen zu lassen, hatte er nichts hinzuzufügen.

Sie hatten das, was sie füreinander waren, immer mit den Worten von Rilke ausgedrückt. Alles, was sie wissen musste, war, dass er noch immer Deutschlehrer war. Und ein Liebender.

Felicitas ging mit gesenktem Kopf durch das Grindelviertel. Knapp drei Wochen waren seit jener Nacht vergangen, in der die mageren Reste eines weltoffenen, liberalen Deutschland zertrümmert worden waren oder sich in Rauch aufgelöst hatten. Es tat immer noch weh, die Spuren der Verwüstungen zu sehen, zerstörte Geschäfte und Wohnungen, mit Hakenkreuzen beschmierte Bürgersteige. Es tat immer noch weh, dass die gegrölten Lieder in ihr widerhallten. Halli, die Synagoge brennt, das Judenvolk, es flieht und rennt. Es tat immer noch weh, an den Orten vorbeizukommen, wo sie sich einst mit Levi aufgehalten hatte, schon damals oft in Sorge um die Zukunft, aber zumindest mit ihm vereint.

Ein Hupen ließ sie zusammenschrecken, Abgase drangen ihr in Kehle und Nase. Wurde das Automobil, das eben von seinem Stellplatz im Innenhof an ihr vorbei auf die Straße fuhr, noch von seinem rechtmäßigen Besitzer gelenkt? Oder gehörte es eigentlich einem Juden, dem man es geraubt hatte? Erst am Tag zuvor hatte sie erfahren, dass nicht nur deren Führerscheine sämtlich für ungültig erklärt worden waren, sondern man ihre Kraftfahrzeuge eingezogen hatte.

Und das war nicht einmal der größte Diebstahl. Als Entschädigungssumme für den Mord an Eduard vom Rath war insgesamt eine Milliarde Reichsmark angesetzt worden. Jeder einzelne Jude hatte das, was er an Edelmetallen, Juwelen und Kunstwerten besaß, zu verkaufen und den Erlös auf ein Sperrkonto einzuzahlen.

Wer hatte sich wohl diese Milliarde ausgedacht? Jene monströse Zahl mit den unzähligen Nullen ließ sie an den Mob denken, auch Nullen, die nur an Wert gewonnen hatten, weil sie sich an eine Eins hefteten.

Gut, dass ich nicht reich bin, hätte Levi gescherzt, und gut, dass ich nie einen Führerschein gemacht habe und kein Auto besitze. Aber es hätte ihn getroffen, dass Juden nun auch der Besuch von Theatern und Konzerten verboten worden war – und auch der Anblick der Synagoge am Bornplatz hätte ihm zugesetzt oder das, was von ihr geblieben war: verkohlte Wände, die nicht stolz gen Himmel wuchsen, sondern sich unter den grauen Wolken duckten. Die Talmud-Tora-Schule gleich gegenüber hatte man zwar nicht angezündet, aber Felicitas sah, dass fast sämtliche Fenster eingeschlagen worden waren. Auch im Inneren erwartete sie der Gestank von Rauch – und Stimmen, vor allem Kinderstimmen.

Als Felicitas wenige Tage zuvor die Schule betreten hatte, hatte sie noch gähnende Leere empfangen, jetzt tummelten sich im Eingangsbereich nicht nur Knaben, auch Mädchen, obwohl diese die Talmud-Tora-Schule bislang nicht besucht hatten.

Das erste Kind, das sie fragte, was sie hier machten, gab ihr keine Antwort. Das zweite bekundete knapp, dass der Unterricht wieder aufgenommen worden sei.

Als sie unter der Kinderschar eine junge Frau entdeckte, konnte sie sich vage daran erinnern, dass Levi diese einmal als seine Kollegin Rahel vorgestellt hatte.

»Ist es wahr?«, fragte Felicitas.

Die Lehrerin hielt eine Liste in der Hand. Eine Weile rief sie die Namen von Kindern auf und notierte sie, ehe sie hochblickte. Die Erleichterung, die Felicitas kurz gefühlt hatte, schwand unter ihrem düsteren Blick.

»Ja«, sagte sie traurig, »die Schule hat so viele Schüler verloren, etliche haben Deutschland fluchtartig verlassen. Deshalb ist geplant, die Israelitische Töchterschule aufzulösen und die verbliebenen Schülerinnen künftig in der Talmud-Tora-Schule zu unterrichten.« Sie unterdrückte ein Seufzen. »Da zugleich sämtliche jüdischen Schüler aus den allgemeinen und höheren Schulen ausgeschlossen wurden, müssen wir nun etwas Ordnung ins Chaos bringen.«

Wieder wandte sie sich an die Kinder, ließ sich Namen und Alter nennen.

»Aber dass der Unterricht wieder aufgenommen wurde, bedeutet doch, dass ein Großteil des verhafteten Lehrerkollegiums freigelassen wurde«, rief Felicitas.

Diesmal verharrte Rahels Blick etwas länger auf ihr, sie nickte zögerlich. »Die meisten, das stimmt … aber nicht Levi. Er wurde ja auch nicht hier an der Schule verhaftet.«

»Ich weiß«, sagte Felicitas knapp und kaute auf ihrer Unterlippe.

Ob Rahel wusste, dass man Levi verhaftet hatte, weil man ihn der Rassenschande bezichtigte?

Schon richtete sich die Lehrerin wieder an die Kinder, und Felicitas musste allein mit ihren Erinnerungen fertigwerden.

Nach jener schrecklichen Nacht hatte es tagelang gedauert, bis sie einen von Levis Vettern, Friedrich Pohlmann, ausfindig gemacht hatte. Er war der Sohn eines Bruders von Levis nichtjüdischer Mutter, der – wie alle seine Angehörigen – schon seit Jahren vermieden hatte, Kontakt zu Levi zu halten. Die jüdische Verwandtschaft war ihm peinlich. Nicht peinlich war es dem Vetter dagegen, vor Felicitas zuzugeben, dass Levi tatsächlich versucht hatte, bei ihm Unterschlupf zu finden, er ihn aber der Gestapo ausgeliefert hatte. Der deutschen Volksgemeinschaft fühle sich ein aufrechter Deutscher nun mal mehr verpflichtet als einem Vetter, den es nicht geben würde, hätte sich dessen Mutter nicht aus reiner Geldgier von einem buckligen Juden verführen lassen.

Levis Vater war ein angesehener Kaufmann!, hatte Felicitas ihm ins Gesicht schreien wollen. Wie konnten Sie einen feinen Mann wie Levi verraten?

Aber die Worte waren wie Scherben. Sie würde sich den Mund daran blutig schneiden, während sie eine stumpfe Waffe blieben, wenn sie sie gegen diesen selbstgefälligen Mann richtete.

»Auch wenn Levi bislang noch nicht entlassen wurde«, wandte sie sich jetzt an Rahel, »hat denn irgendjemand vom Kollegium etwas von ihm gehört?«

Rahel zuckte mit den Schultern. »Ich … ich weiß es nicht, fragen Sie am besten Direktor Spier.«

Felicitas stieg die Treppe hoch zu den Verwaltungsräumen.

Als sie Arthur Spier einige Jahre zuvor kennengelernt hatte, hatte sie einige Ähnlichkeiten mit Levi festgestellt. Auch er trug eine runde Brille, in seinem Blick stand ebenso viel Wachheit wie Klugheit. Sein dunkles Haar war allerdings viel strenger zurückgekämmt gewesen und von grauen Strähnen durchzogen. Als sie ihn jetzt hinter seinem Schreibtisch sitzen sah, hätte sie ihn fast nicht wiedererkannt. Sein Haar war nicht nur gänzlich grau, es stand ihm regelrecht zu Berge, das Gesicht war zerschunden, und er hielt sich die Hand schützend vor die Augen, als gälte es, sie vor dem grellen Licht einer Verhörlampe zu schützen. Nur seine Stimme war noch die alte. Er sprach unaufhörlich in einen Telefonhörer, allerdings nicht auf Deutsch, sondern auf Englisch. Felicitas beherrschte diese Sprache nicht gut genug, um viel zu verstehen, doch sie musste keine Vokabeln kennen, um zu spüren, dass er sein Anliegen ebenso verzweifelt wie hilflos hervorbrachte.

Irgendwann ließ er den Telefonhörer sinken. Sie stand schon vor seinem Tisch, als er endlich ihrer gewahr wurde, kaum merklich zusammenzuckte.

»Ich habe mit dem Movement for the Care of Children from Germany telefoniert«, murmelte er. »Sie … sie nehmen Kinder auf, aber … aber viel zu wenige.« Felicitas starrte ihn verständnislos an. »Eine Londoner Organisation«, erklärte er, »sie sorgt dafür, dass jüdische Kinder aus Deutschland nach England reisen können und dort bei Pflegefamilien unterkommen.«

»Ohne ihre Eltern?«, rief Felicitas entsetzt.

Er nickte. »Aber mit der Hoffnung auf ein normales Leben … auf Bildung … auf eine Zukunft.« Seiner Stimme war der Zweifel anzuhören, wie man eine solch unmenschliche Entscheidung treffen konnte, ohne daran zu zerbrechen. »Entschuldigen Sie«, sagte Arthur Spier, »Sie denken gewiss, ich hätte keinerlei Manieren, eigentlich müsste ich aufstehen, aber …«

Die nächsten Worte, die er murmelte, waren kaum hörbar. »Polizeigefängnis … Treppe … gestolpert … Bein nicht belasten.«

Felicitas vermutete, dass er nicht gestolpert, sondern gestoßen worden war. Sie vermutete auch, dass er nicht darüber sprechen würde. Viele Inhaftierte wurden erst entlassen, wenn sie eine Erklärung unterschrieben, über alles, was ihnen widerfahren war, zu schweigen.

»Ich bin Felicitas Marquardt, Levi Cohn hat uns vor einiger Zeit einander vorgestellt. Haben Sie irgendetwas von ihm gehört? Ist ein anderer Ihrer Lehrer ihm jüngst begegnet? Er ist einfach … verschwunden.«

»Ich weiß, wer Sie sind. Sie versorgen unsere Schule seit Jahren mit Büchern und Unterrichtsmaterialien.«

Verletztes Bein hin oder her, plötzlich stützte er sich mit beiden Händen am Schreibtisch ab, kämpfte sich hoch.

»Um Himmels willen!«, entfuhr es Felicitas. »Sie sollten sich nicht so anstrengen!«

Ein schmerzliches Lächeln verzog seinen Mund. Er ließ sich zwar wieder auf den Stuhl fallen, erklärte dennoch entschlossen: »Ohne Anstrengung wird es aber nicht möglich sein, die Kinder aus Deutschland herauszubringen. Und ohne Anstrengung wird es nicht möglich sein, die Hoffnung zu bewahren, dass sie bald wieder zurückkehren werden.«

Sie kannte diesen Kampf um die Hoffnung. Auch das Gefühl, diese unaufhörlich schrumpfen zu sehen.

Direktor Spier seufzte. »Die meisten Lehrer der Talmud-Tora-Schule, die verhaftet wurden, auch die älteren Schüler, wurden ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel gebracht. Ich vermute, Levi Cohn befindet sich ebenfalls dort. Die Frage ist nur, wie lange noch …«

»Sie denken, er wird bald freigelassen?«, rief Felicitas.

Der Schulleiter nahm die Hände von der Tischplatte, faltete sie auf seinem Schoß. »Es gibt verschiedene Gerüchte. Die Juden, denen man nichts anderes vorwirft, als dass sie Juden sind, hat man bald wieder entlassen. Aber die, denen man obendrein eine falsche politische Gesinnung vorwirft oder gar ein Verbrechen, bringt man in Konzentrationslager – sei es Oranienburg, Neuengamme oder Sachsenhausen. Dort sollen sie für diverse Arbeitskommandos eingesetzt werden. Ich vermute, es ist weitaus schwerer, von dort jemanden freizubekommen als von Fuhlsbüttel. Aber wie gesagt, das sind nur Gerüchte. Und ich weiß nicht, ob dieses Schicksal auch Levi Cohn droht.«

»Ich verstehe«, murmelte Felicitas wie betäubt, obwohl sie nichts verstand. Wie war es möglich, jahrelang nicht zu bemerken, dass Levi mehr war als ein Freund, als ein Vertrauter? Wie war es möglich, dass sie ausgerechnet, als sie endlich zueinandergefunden hatten, auseinandergerissen worden waren wie in einem düsteren Märchen, wo Flüsse oder gar Ozeane und meistens sieben Jahre zwischen Prinz und Prinzessin standen?

Nun, Levi war kein Prinz, Levi war ein Deutschlehrer.

Plötzlich griff auch sie nach der Tischplatte, plötzlich klammerte auch sie sich daran, weil sie sonst gewankt wäre. Sie hatte keine Hand frei, um ihr Gesicht zu verbergen, als ihr Tränen in die Augen schossen.

Arthur Spier kämpfte sich wieder hoch. So schwer es ihm fiel, er schaffte es nicht nur, stehen zu bleiben, sondern sogar, ein paar humpelnde Schritte zu machen. Felicitas sah, dass sein rechter Fuß unnatürlich nach außen verdreht war.

»Ich … ich brauche kein Taschentuch«, beeilte sie sich zu sagen, weil sie vermutete, dass er ihr eins anbieten würde.

Doch was er ihr im nächsten Augenblick in die Hände drückte, war kein Taschentuch, sondern ein Notizbüchlein. Sie erkannte die Schrift sofort. Die eleganten Buchstaben waren sehr klein, schmal, als dürften sie einander nicht zu viel Platz wegnehmen, zugleich gestochen scharf.

»Das … das hat sich bei den Unterlagen von Levi Cohn befunden«, murmelte er. »Sie können es gern haben.«

Sie blätterte es durch. Zitate bedeckten die Seiten, so viele Zitate. Die meisten von ihnen kannte Levi auswendig, aber er musste sie aufgeschrieben haben, weil sie ihm so gut gefielen.

»Darin besteht die Liebe: dass sich zwei Einsame beschützen und berühren und miteinander reden«, stand auf der letzten Seite.

Sie hatte diese Worte von Rilke oft aus seinem Mund gehört, und sie sagten mehr als jedes »Ich liebe dich«, drückten sie ihre Geschichte doch perfekt aus – die Geschichte von zwei einsamen, verlorenen Menschen, die sich übers Reden gefunden hatten.

Sie schloss das Büchlein, drückte es an sich. »Danke …«

»Nichts zu danken.« Der Schulleiter ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. »Besser, Sie kommen künftig nicht mehr her. Ich weiß nicht, wie lange unsere Schule überhaupt noch bestehen wird.«

»Solange es sie gibt, werde ich weiter Bücher bringen, Papier, Stifte, was immer Sie brauchen. Ich kann nicht nichts tun. Viel zwar auch nicht, aber immerhin ein bisschen. Levi wollte nie etwas anderes als ein Deutschlehrer sein. Und wenn er schon nicht unterrichten kann, will ich dafür sorgen, dass die Kinder auf andere Weise Zugang zum Stoff erhalten. Sie können mich nicht davon abhalten. Sie müssen mich auch nicht zur Tür geleiten. Schonen Sie Ihr Bein.«

Der Schweißfilm auf Spiers Stirn verriet, wie viel es ihn gekostet hatte aufzustehen.

»Wenn ich etwas von Levi höre …«, setzte er an.

»Ich werde alles tun, um ihn freizubekommen, ehe er in einem dieser Lager landet.« Ihr entging der Zweifel in seinem Blick nicht, und entschlossen fügte sie hinzu: »Es ist schließlich nicht so, dass ich keine Beziehungen habe!«

Nach einem knappen Abschiedsgruß verließ sie das Bureau. Die Gänge waren leerer, Rahel war verschwunden. Felicitas umklammerte das Büchlein. Sie ging zumindest nicht mit leeren Händen.

Dezember

Es schneite unaufhörlich. Der Schnee rieselte von den dürren Ästen der Ulme, die gleich vor der Alsterschule stand, blieb auf dem Dach der Turnhalle und auf dem Schulhof liegen, verfing sich in den Haaren der Schüler, die dort ihre Kreise zogen, halb nackten Schülern – nur ihre Unterwäsche hatten sie anbehalten dürfen.

Emil hatte das Fenster geöffnet, um in der frischen Luft ein paar Turnübungen durchzuführen. Nun konnte er seinen Blick nicht von dieser Klasse lösen und erst recht nicht von Walther Domnitz, seinem jungen Kollegen, der den heutigen Turnunterricht ins Freie verlegt hatte. Wie er es nur schaffte, seinen Schülern diese Disziplin abzuringen! Früher waren sie schon nach wenigen Laufrunden im Turnsaal außer Atem geraten, nun marschierten sie durch den Schnee. Aber vierzehn-, fünfzehnjährige Burschen, die vertrugen schon was. Immer schneller mussten sie laufen, dann rennen, eine Runde folgte der nächsten, und sie wurden nicht mit aufmunternden Worten angespornt, sondern mit Warnungen.

»Der Letzte wird ein Bad in der Alster nehmen!« Graue Wolken stiegen vor den geröteten Gesichtern hoch. »Kein Schwächeln!«, brüllte Kollege Domnitz. »So ist die Natur. Jedes erwachsene Leben ringt um sein Bestehen, und niemand hilft ihm dabei. Das ganze Leben ist ein Kampf.«

Emil erlebte nicht zum ersten Mal, wie Kollege Domnitz, der auch Biologie unterrichtete, die Turnstunde nutzte, um Inhalte seines anderen Faches zu veranschaulichen. Kuh und Ziege tragen ihre Hörner nicht zum Vergnügen. Werden sie belästigt und beim Fressen gestört, setzen sie sich zur Wehr. Die Pflanzen müssen Erde zum Wachsen haben, ebenso Licht, und sie rauben es sich gegenseitig. Damit das Dasein eines Volkes möglich wird, braucht es ebenfalls Erde und Licht, und es muss jene zurückdrängen, die es knapphalten wollen. Das gelingt wiederum nur, wenn die Gemeinschaft zusammenhält. Die Familie der Wiesenblumen rückt auch zusammen, um das Austrocknen des Bodens zu verhindern.

Was Emil dort unten auf dem Schulhof sah, war allerdings keine Familie, keine Gemeinschaft. Bemerkte Domnitz nicht, wie sich die entkräfteten, durchgefrorenen Schüler gegenseitig ein Bein stellten? Keiner wollte der Letzte sein.

Es entging dem jungen Kollegen jedenfalls nicht, dass einer der Schüler stolperte und hinfiel. So dick die Schneeflocken auch fielen, auf dem Boden war nur Matsch, und der Junge schrammte sich am nassen Asphalt die Knie blutig. Das Blut war von so kräftigem Rot, die übrige Welt schien in bläulich-gräulichen Schlieren zu zerlaufen.

Domnitz trat zu seinem Schüler, ließ seine Faust auf dessen Nacken sausen.

Er drosch nicht zum ersten Mal zu, einmal hatte Emil erlebt, wie er einem Schüler fast die Nase gebrochen hätte, und ihn daraufhin zur Rede gestellt. Natürlich, er sei sich im Klaren darüber, dass der Turnunterricht einem übergeordneten Zweck diene, dass die Methodik darauf abziele, die Jugend zum Wagnis zu erziehen, dass man kleine Unfälle, Blessuren und Schmerzen zu akzeptieren habe. Aber es gälten doch gewisse Regeln. Auf einen wehrlosen Jungen schlage man nicht ein. Domnitz hatte seinem Blick getrotzt und erwidert: »Nimmt der Feind etwa Rücksicht auf den wehrlosen Soldaten, der vor ihm auf dem Boden liegt?«

Emil hatte nichts dagegen zu sagen gewusst. Der geschundene Schüler hatte gleichfalls nichts zu sagen, brauchte alle Kraft, um sich aufzurappeln, hinkend weiterzulaufen, während Domnitz ihm und den anderen nachbrüllte: »Durch die moderne Medizin konnten sich leider auch Minderwertige und Kranke fortpflanzen. Umso wichtiger sind die Prinzipien des Auslesens und Ausmerzens. Wer nicht mitkommt, hat es nicht verdient, auf diesem Boden zu stehen, auf deutschem Boden. Wer nicht Sinnbild deutscher Kraft ist wie die Eiche oder die Edelkastanie, hat das Schicksal von Maulbeere und Weinstock zu teilen – beides Fremdlinge, die samt ihren kläglichen Wurzeln ausgerissen werden müssen.«

Emil gab sich einen Ruck und zwang sich wegzusehen. Domnitz war der Turnlehrer, er wusste schon, was zu tun war. Er selbst wiederum war Schulleiter, er wusste auch, was zu tun war. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch, betrachtete die Liste, die er erst am Morgen mit seiner Sekretärin zusammengestellt hatte, glich sie mit der vom vergangenen Jahr ab. Die Liste erfasste alle nichtarischen Schüler, und die diesjährige war zwar deutlich übersichtlicher, aber immer noch nicht leer. Bis jetzt hatten die Kinder von jüdischen Frontkämpfern im großen Krieg noch die Alsterschule besuchen dürfen, doch nun war die Anweisung erfolgt, sämtliche verbliebenen jüdischen Schüler mit sofortiger Wirkung vom Unterricht an den deutschen Schulen auszuschließen.

Er war gerade dabei, die Liste ein letztes Mal zu überprüfen – er durfte keinen einzigen Namen übersehen –, als es klopfte. Entgegen seiner Erwartung stürmte nicht die Sekretärin herein, sondern seine Frau Anneliese.

Jedes Mal, wenn sie sich an seinem Arbeitsplatz begegneten, musste er sich wieder mühsam in Erinnerung rufen, dass sie seit einiger Zeit an der Alsterschule als Hauswirtschaftslehrerin arbeitete. Da sich die Mädchenklassen – ebenso wie das Lehrerinnenzimmer – in einem gesonderten Trakt befanden, liefen sie sich nicht oft über den Weg, und Anneliese hatte von Anfang an erklärt, dass sie keine Begünstigungen erwarte und von ihm wie ihre Kolleginnen behandelt werden wolle.

Ihre Kolleginnen würden es allerdings nicht wagen, mit gehetztem Blick auf ihn zuzustürzen und ihn am Oberarm zu packen.

»Wir müssen sofort nach Hause gehen!«

»Was ist denn los?«

»Bitte …«, ihr Blick war nun ebenso panisch wie flehentlich, »wir müssen sofort nach Hause gehen.«

»Ist etwas passiert? Mit Elly?«

Sie senkte den Blick. »Es hat tatsächlich mit Elly zu tun, aber … aber ich kann das nicht hier erklären.«

Als sie versuchte, ihn hochzuzerren, versteifte er sich kurz, befremdet von einer Nähe, die sie seit langer Zeit nicht mehr eingefordert hatte. Dann spürte er, wie dringlich ihr Anliegen war, löste sich energisch aus ihrem Griff, langte dennoch hastig nach Mantel und Hut und beschied die Sekretärin, die Briefe an die Eltern der jüdischen Schüler, die auf der Liste standen, zu verschicken.

Als sie ins Freie traten, hatte das Schneetreiben etwas nachgelassen. Die Flocken waren kleiner, schienen auf der Haut nicht zu schmelzen, sondern zu platzen. Auf halbem Weg nach Hause hörte es ganz auf zu schneien, doch für Anneliese war das kein Grund, den Kopf zu heben. Sie hatte ein Tuch über die dunklen Zöpfe gezogen, umklammerte es mit vor Kälte roten Fingern, hielt den Blick beharrlich auf den Bürgersteig gerichtet. Erst war sie zügig vorangegangen, nun überließ sie ihm die Führung. Nicht nur er drehte sich mehrmals um – auch sie blickte immerzu hinter sich, als hätte sie Angst, dass jemand sie verfolgen könnte.

Emil war das Gefühl, dass jeder seiner Schritte überwacht wurde, nicht fremd – nicht seit jener unruhigen Novembernacht, als die SA plündernd und zerstörend durch die Straßen gezogen war. Kurz nach Mitternacht hatte damals plötzlich Schulsenator Dr. Grotjahn vor seiner Wohnungstür gestanden, sein Förderer, mehr noch, sein väterlicher Freund. In diesem Augenblick war er allerdings eher der strenge Lehrer von früher gewesen, der ihn am Gymnasium in Deutsch unterrichtet hatte und der keinen Fehler hatte durchgehen lassen. Mit schneidender Stimme hatte er ihn dafür zur Rede gestellt, gemeinsam mit Felicitas Marquardt ein polnisches Judenkind an seiner Schule versteckt zu haben, hatte mit einer Untersuchungskommission gedroht, schlimmer noch, mit seiner Entlassung.

Bis eben hatte Emil vermutet, dass Anneliese nichts davon mitbekommen hatte, doch als ihm nun aufging, dass sie ihm seit Wochen nicht mehr richtig in die Augen sah, war er plötzlich sicher, dass sie das Gespräch belauscht, auch seine Lügen vernommen hatte: Nein, nein, er habe keine Ahnung von der Abstammung dieses Kindes gehabt und Felicitas Marquardt ebenso wenig.

Grotjahn hatte diese Worte nicht angezweifelt, jedoch auch nicht bekundet, dass er ihm glaubte. Und erst recht hatte er nicht versprochen, die Sache aus der Welt zu schaffen, Emil vielmehr mit dem Gefühl zurückgelassen, dass von nun an ein Damoklesschwert über ihm schwebte.

Als sie eben die Bieberstraße erreichten, fühlte er einmal mehr dessen kalten Hauch.

»Sag mir endlich, was los ist!«

Anneliese drängte sich schweigend an ihm vorbei, nahm die Stufen in den zweiten Stock im Laufschritt. Auch nachdem sie die Wohnung betreten hatten, wollte sie ihr Tuch nicht loslassen.

»Sie kommen jetzt schon nach Hause?«

Frau Anke betrachtete sie verwirrt, doch auch ihr gegenüber brachte Anneliese kein Wort hervor. Emil beschied die Haushälterin knapp, dass sie gehen könne, und ignorierte die Fragen in ihrem Blick. Frau Anke wunderte sich ja über so vieles – vor allem darüber, dass Anneliese der kleinen Elly fast alles durchgehen ließ, sogar mit ihrer Puppe unter dem Esszimmertisch zu spielen, weswegen man dann dort nicht kehren konnte.

Anneliese stürzte zum Esszimmertisch, nachdem Frau Anke gegangen war, und als Elly von dort hervorgekrochen kam, ließ sie endlich das Tuch los, um das Kind zu umarmen.

Das Tuch flatterte auf den Boden. Anneliese sank auf die Knie und zog das Mädchen an sich, als hätte sie es monatelang nicht gesehen.

»Kannst du mir jetzt endlich erklären …«, begann Emil.

Eine Weile hielt Anneliese Elly an sich gedrückt, forderte sie dann jedoch auf, in ihr Zimmer zu gehen und etwas zu häkeln.

»Und später holen wir gemeinsam den Weihnachtsschmuck aus dem Keller, ja?«

Elly fügte sich, in Emil erwachte Ungeduld. »Was soll das alles?«, fuhr er sie an.

Anneliese atmete schwer. Ihre Hände verkrampften sich ineinander, die Fingerknöchel färbten sich nunmehr weiß.

»Ich … ich musste Elly erst sehen, bevor ich es dir sagen kann.«

»Was sagen?«

»Felicitas glaubt mittlerweile zu wissen, wo Levi steckt. Offenbar wurde er ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel gebracht. Viele Lehrer der Talmud-Tora-Schule kamen dorthin, aber man hat sie wieder entlassen. Nur ihn nicht, und …«

»Was haben denn Levi und Felicitas mit Elly zu tun? Wenn wieder einmal das Gerücht aufkommt, die beiden wären ein Paar, musst du das bestreiten, es als gemeine Verleumdung abtun und …«

Er biss sich auf die Lippen, bereute es augenblicklich, so viel Eifer in die Stimme gelegt und solcherart verraten zu haben, dass es ihm nie nur darum ging, den eigenen Ruf zu schützen, auch den Felicitas’.

Aber Anneliese hatte gar nicht richtig zugehört, begann nun unruhig, Kreise im Wohnzimmer zu ziehen. »Felicitas hat mich vorhin um Hilfe angefleht. Es könnte sein, dass Levi von Fuhlsbüttel in ein Konzentrationslager verlegt wird. Die Zeit drängt, ihn freizubekommen. Sie selbst kann natürlich nichts erreichen, du kannst es vielleicht schon. Du könntest dich bei Grotjahn für ihn starkmachen, als Schulsenator hat er durchaus Beziehungen, und diese Beziehungen könnte er nutzen, um …«

Sie brach ab, rang hilflos die Hände.

Emil begriff, weshalb die Sache so dringlich war, nicht dass sie ausschließlich in der eigenen Wohnung darüber reden konnte.

»Wenn du willst, suche ich Grotjahn sofort auf.«

Er hatte Hut und Mantel noch nicht abgelegt, wandte sich zum Gehen. Doch Anneliese stellte sich ihm in den Weg, und ihre Hände krallten sich jäh an seinen Mantelkragen. Als wollte sie sich daran festhalten. Nein, als wollte sie ihn festhalten.

»Ich will es aber nicht.«

»Anneliese …«

»Weißt du, warum ich es dir nur hier sagen konnte? Warum ich erst Elly sehen musste? Ich wäre mir sonst so schäbig vorgekommen, weil ich … weil ich …«

»Weil du was?«

»Weil ich dich anflehen werde, nichts zu tun. Rein gar nichts. Weil ich dich bitten werde, Levi seinem Schicksal zu überlassen.«

Mit jedem Wort wurde ihre Stimme leiser. Nur ihr Blick schrie ihn an. Er las Schuldgefühle darin, auch Angst.