Über das Buch

Kann eine alles erschütternde Katastrophe die Menschen einen? Der neue große Roman des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk

Als im Jahre 1901 auf Minger die Pest ausbricht, beschuldigen sich Muslime und Christen gegenseitig. Ob nun die Pilger aus Mekka den Erreger eingeschleppt haben oder die Händler aus Alexandrien, auf der Insel herrschen chaotische Zustände. Als schließlich der Sultan Abdülhamit II. sowie England und Frankreich die Insel mit Kriegsschiffen blockieren lassen, um die weitere Ausbreitung der Pest zu verhindern, sind die Menschen auf Minger auf sich allein gestellt. Orhan Pamuks neues Buch ist einzigartiger Abgesang auf das von Nationalismus und Aberglaube gefährdete Osmanische Reich sowie ein großer historischer Roman in dem sich Phantasie und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West raffiniert verbinden.

Orhan
Pamuk

Die Nächte der Pest

Roman

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Hanser

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Beim Nahen einer Gefahr sprechen immer zwei Stimmen gleich stark in der Seele des Menschen: die eine sagt ganz vernünftig, der Mensch solle die Art der Gefahr und die Mittel zur Rettung davor genau bedenken; die andere sagt noch vernünftiger, es sei viel zu schwer und quälend, über die Gefahr nachzudenken, wo es doch nicht in des Menschen Macht steht, alles vorauszusehen und sich vom allgemeinen Gang der Dinge zu retten, und deshalb sei es besser, sich von all dem Schweren abzuwenden, solange es nicht eingetroffen ist, und an Angenehmes zu denken.

Lew Tolstoi, Krieg und Frieden

Kein Autor späterer Zeiten hat sich vorgenommen, diese Berichte zu prüfen und zu vergleichen, um aus ihnen eine zusammenhängende Reihe von Ereignissen zu gewinnen und eine Geschichte jener Pest zu schreiben.

Alessandro Manzoni, Die Brautleute

Aufmerksamen Leserinnen und Lesern wird nicht entgehen, dass auf dem Umschlag die Stadt Arkaz vom Regierungsplatz aus abgebildet ist, jedoch im Hintergrund Burg und Stadt erneut zu sehen sind. Ich danke sowohl dem Maler Ahmet Işıkçı, der mich mit seiner anhaltenden Faszination für die Fernansicht der Burg Arkaz zu diesem optischen Widerspruch bewog, als auch meinem Freund, dem Historiker Edhem Eldem, der mich in der Endphase des Romans mit Vorschlägen und Korrekturen begleitet hat. O. Pamuk

EINLEITUNG

Das Vorliegende ist sowohl ein historischer Roman als auch ein Geschichtsbuch in Romanform. Eingebettet in einen historischen Rahmen werden die erschütterndsten sechs Monate geschildert, die meine geliebte Heimat, die Insel Minger, die Perle des östlichen Mittelmeers, je erlebt hat.

Bei der Untersuchung der Ereignisse während des Pestausbruchs auf der Insel im Jahr 1901 kam ich zu der Auffassung, dass die Geschichtswissenschaft nicht ausreiche, um zu begreifen, wie die Handelnden in dieser kurzen, dramatischen Zeitspanne zu ihren Entscheidungen gelangten, sodass ich auch die Kunst des Romans zu Hilfe zog und versuchte, die beiden Ansätze zu verquicken.

Die Leserinnen und Leser mögen daher nicht davon ausgehen, zu Beginn meines Unterfangens hätten hochliterarische Überlegungen gestanden. Es war vielmehr so, dass mir zuerst jene Briefe in die Hände fielen, deren ganzen Reichtum ich in diesem Buch wiederzugeben suche. Ich war gebeten worden, die 113 Briefe, die Pakize Sultan, die dritte Tochter des 33. osmanischen Sultans Murat V., zwischen 1901 und 1913 an ihre Schwester Hatice Sultan geschrieben hatte, in einer kommentierten Ausgabe zu veröffentlichen. Der Anfang dieses Buches war ursprünglich nur als »Vorwort der Herausgeberin« gedacht.

Das Vorwort weitete sich immer mehr aus, wurde durch eigene Forschungen angereichert, und so entstand schließlich dieser Band. Von Anfang an faszinierten mich Stil und Klugheit der hochempfindsamen, charmanten Pakize Sultan. Sie verfügte über eine Erzählerleidenschaft, eine Detailfreude und eine Beschreibungskraft, wie sie nur wenigen Historikern oder auch Schriftstellern gegeben sind. Ich hatte Jahre damit verbracht, in britischen und französischen Archiven von Diplomaten verfasste Berichte über die Küstenstädte des Osmanischen Reichs zu studieren, und mit akademischen Arbeiten darüber habe ich auch promoviert. Nie hat ein Konsul mit solcher Anschaulichkeit ähnliche Fälle von Cholera- oder Pestausbrüchen geschildert, und aus jenen Berichten ist auch nie herauszuspüren, wie es in einer solchen Küstenstadt duftet, wie auf dem Markt die Farben leuchten und wie es sich anhört, wenn die Möwen schreien und über das Pflaster ein Pferdewagen holpert. Die Inspiration, ein Vorwort in einen ganzen Roman zu verwandeln, mag ich aus der unheimlich lebendigen, sensiblen Art bezogen haben, in der Pakize Sultan an die Menschen, die Dinge und die Ereignisse heranging.

Beim Lesen der Briefe fragte ich mich, ob Pakize Sultans Schilderungen wohl deshalb bunter und detailfreudiger waren als die der Historiker und Diplomaten, weil sie nun mal eine Frau war? Wir dürfen nicht vergessen, dass sie ihr Zimmer im Gästehaus des Regierungsgebäudes während des Seuchenausbruchs so gut wie nie verließ und von den Geschehnissen in der Stadt nur erfuhr, was ihr Mann, der Arzt, ihr davon erzählte! Sie beschrieb, was in der Männerwelt aus Politikern, Bürokraten und Ärzten vorging, indem sie sich erfolgreich in sie hineinversetzte. Ich wiederum habe mich bemüht, in meinem historischen Roman jene Welt auf meine Weise zum Leben zu erwecken. Wobei es natürlich schwer ist, so anschaulich, so brillant und so lebendig zu sein wie Pakize Sultan.

Die Briefe, die in einer Gesamtausgabe mindestens 600 Seiten umfassen, faszinieren mich nicht zuletzt deshalb, weil ich selbst von Minger stamme. Ob in Schulbüchern, in Zeitungsartikeln oder vor allem in den einheimischen Kinderzeitschriften (Wir und unsere Insel, Unsere Geschichte) stieß ich schon als Kind immer wieder auf Pakize Sultan und hatte viel für sie übrig. So wie die Insel Minger für viele ein legendärer, ja märchenhafter Ort ist, war Pakize Sultan für mich eine Märchenfigur. Durch diese Briefe auf einmal mit ihren Alltagssorgen, ihren wahren Gefühlen und vor allen Dingen mit ihrer starken Persönlichkeit und ihrem aufrichtigen Wesen in Berührung zu kommen, verzauberte mich geradezu. Der geduldige Leser wird am Schluss des Buches von meiner persönlichen Begegnung mit ihr erfahren.

Über die geschichtlichen Tatsachen wusste ich aus Archiven in Istanbul, auf Minger, in Großbritannien und Frankreich sowie aus zahlreichen Memoirenschriften Bescheid, doch beim Verfassen des Romans konnte ich nicht anders, als mich immer wieder mit Pakize Sultan zu identifizieren, als schriebe ich meine eigene Geschichte nieder.

Die Kunst des Romans liegt ja in der Fähigkeit, unser eigenes Leben so zu erzählen, als wäre es die Geschichte einer fremden Person, und die Geschichten Fremder so, als hätten wir sie selbst erlebt. Mich beim Schreiben wie die Tochter eines Sultans zu fühlen, erscheint mir daher durchaus einer Schriftstellerin würdig. Viel schwerer fiel mir, mich in die an der Macht stehenden Männer hineinzuversetzen, die Paschas und Ärzte, die den schweren Kampf gegen die Pest führten.

Damit ein Roman von Charakter und Form her nicht so sehr eine persönliche Geschichte, sondern Geschichte an sich darstellt, ist es bestimmt von Vorteil, wenn er aus mehreren Perspektiven erzählt wird. Dennoch teile ich die Auffassung des großen Henry James, des femininsten aller männlichen Autoren, laut dem es für die Glaubwürdigkeit eines Romans am besten sei, alle Details würden aus der Perspektive einer einzigen Figur geschildert.

Da es sich hier aber auch um ein Geschichtsbuch handelt, habe ich mich an die Regel der einzigen Perspektive nicht immer gehalten. An den innigsten Stellen habe ich den Leser mit Fakten und Zahlen versorgt oder die Geschichte einer Institution erzählt. Oder bin ohne Scheu von den intimsten Gefühlsschilderungen einer Figur zu den Gedanken einer anderen Figur übergegangen, von denen die erste nichts wissen konnte. Und obwohl ich der festen Überzeugung bin, dass Sultan Abdülaziz nach seiner Entmachtung ermordet wurde, habe ich erwähnt, dass manche seinen Tod für einen Selbstmord halten. Aus der in Pakize Sultans Briefen geschilderten bunten Welt habe ich weitere Zeitzeugen auftreten lassen, um dem Buch etwas mehr historische Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Seit Jahren werde ich gefragt, wie ich an die Briefe gelangt bin, wie ernst ich die Kriminalgeschichte darin nehme oder warum ich die Briefe nicht schon früher veröffentlich habe, und zwei dieser Fragen möchte ich hier beantworten. Unterstützung für die Romanidee bekam ich aus akademischen Kreisen, denen ich von den Verbrechen, die in den Briefen erwähnt werden, und von Abdülhamits Faible für Romane und insbesondere Krimis berichtet hatte. Auch war ich von dem Interesse angespornt, das ein angesehenes Verlagshaus wie Cambrigde University Press sowohl dem Kriminalistischen als auch der Geschichte der kleinen Insel Minger entgegenbrachte. Dass ich jahrelang unermüdlich den Geheimnissen dieser Wunderwelt und ihrem Sinn auf der Spur war, ist selbstverständlich von tieferer Bedeutung als die bloße Frage nach dem Mörder. Dessen Identität kann höchstens als ein Zeichen gedeutet werden. Angefangen mit dieser Einleitung und dem Zitat Tolstois, des großartigsten Autors historischer Romane, soll durch die Neugierde am kriminellen Geschehen dieses Buch zu einem Meer an Indizien werden.

Mir ist vorgeworfen worden, ich hätte mich mit einigen namhaften Historikern (deren Namen allerdings nichts zur Sache tun) allzu sehr angelegt. Das mag durchaus stimmen, doch waren die Auseinandersetzungen nötig, da ich populärwissenschaftliche Geschichtsbücher nun mal ernst nehme.

Im Vorwort zu Büchern über die Geschichte des Orients und der Levante bzw. des östlichen Mittelmeers wird oft auf Fragen der Transliteration eingegangen, also darauf, wie andere Schriften ins lateinische Alphabet übertragen werden sollen. Ich bin jedoch froh, nicht auch so ein langweiliges Buch geschrieben zu haben. Ohnehin sind Sprache und Alphabet von Minger unvergleichlich! Ortsnamen habe ich teils buchstabengetreu wiedergegeben, teils so, wie sie eigentlich ausgesprochen werden. Dass es in Georgien eine Stadt gibt, deren Name so ähnlich geschrieben wird, ist purer Zufall. Nicht Zufall, sondern Absicht ist dagegen, dass in meinem Buch den Leserinnen und Lesern so manches vertraut vorkommen wird wie eine allmählich verblassende Erinnerung.

Mîna Mingerli, Istanbul, 2017

KAPITEL 1

Wenn 1901 ein in Istanbul ablegendes Dampfschiff vier Tage lang schwarze Kohlenschwaden hinter sich lassend Kurs auf Süden nahm und in den gefährlichen, stürmischen Gewässern hinter Rhodos noch einen halben Tag in Richtung Alexandria weiterfuhr, konnten die Passagiere die eleganten Türme der Burg Arkaz auf Minger sehen. Da die Insel auf der Schiffslinie Istanbul-Alexandria lag, kamen recht viele Reisende in den Genuss, auf die geheimnisumwitterte, umschattete Silhouette neugierige, bewundernde Blicke zu werfen. Sobald der erhabene Bau — von Homer in der Ilias als »grüner Diamant aus rosafarbenem Stein« gewürdigt — am Horizont sichtbar wurde, lud so mancher feinfühlige Kapitän seine Passagiere an Deck, damit sie sich an dem überwältigenden Anblick erfreuen konnten, und in den Orient ziehende Maler bildeten die romantische Szenerie eifrig ab und reicherten sie mit dunklen Gewitterwolken an.

Nur wenige Schiffe legten auf Minger an, denn es gab damals nur drei Dampfer, die regelmäßig einmal in der Woche die Insel ansteuerten: zwei von der Schifffahrtsgesellschaft Messageries Maritimes, nämlich die Saghalien, die jedermann in Arkaz an ihrer grellen Sirene erkannte, die Equateur mit ihrem tieferen Ton und die nur selten und sehr kurz pfeifende, elegante Zeus der griechischen Reederei Pantaleon. Dass am 22. April 1901, an dem unsere Geschichte beginnt, zwei Stunden vor Mitternacht ein außerfahrplanmäßiges Schiff auf die Insel Minger zufuhr, ließ demnach auf ein besonderes Ereignis schließen.

Bei dem Dampfer, der sich still und leise wie ein Spionageschiff näherte, handelte es sich um die unter osmanischer Flagge fahrende Aziziye mit ihrem schmalen weißen Schornstein und dem spitzen Bug. Auf Anordnung von Sultan Abdülhamit II. war sie in besonderer Mission unterwegs, um eine hochkarätige osmanische Delegation nach China zu befördern. Zu den siebzehn Fes, Turban oder Hut tragenden Militärs, religiösen Würdenträgern, Dolmetschern und Bürokraten waren im letzten Moment noch Abdülhamits Nichte Pakize Sultan und ihr Gatte Damat Doktor Nuri Bey dazubeordert worden. Das jungvermählte Paar war glücklich und sehr aufgeregt, wunderte sich aber, was es als Teil der China-Delegation eigentlich sollte.

Pakize Sultan konnte genau wie ihre Schwestern ihren Onkel Abdülhamit nicht ausstehen und war sich gewiss, jener habe sie und ihren Gatten aus reiner Bosheit mitgeschickt, nur wusste sie nicht, worin genau diese Bosheit bestand. Bei Hof kursierte damals das Gerücht, der Sultan habe das junge Paar aus Istanbul entfernen lassen, auf dass es irgendwo in Asien an Gelbfieber oder in der Wüste Arabiens an Cholera zugrunde gehe, während andere darauf verwiesen, beim Sultan wisse man immer erst im Nachhinein, was seine finstere Absicht gewesen sei. Damat Doktor Nuri Bey — den Titel »Damat«, »Schwiegersohn«, trug er seit seiner Hochzeit mit einem Mitglied des Herrscherhauses — war etwas zuversichtlicher. Er war ein achtunddreißigjähriger, enorm fleißiger und erfolgreicher Quarantänearzt und hatte das Osmanische Reich bereits auf mehreren internationalen Hygienekongressen vertreten. Dadurch hatte er die Aufmerksamkeit Abdülhamits auf sich gezogen, diesen persönlich kennengelernt und festgestellt, was viele Quarantäneärzte schon wussten, nämlich dass der Sultan sich ebenso sehr für die Fortschritte der westlichen Medizin interessierte wie — das war allgemein bekannt — für Kriminalromane. Er ließ sich über Entwicklungen im Bereich Bakterienforschung, Labors und Impfstoffe informieren und wollte jeweils die letzten medizintechnischen Errungenschaften nach Istanbul und in die osmanischen Gebiete holen. Desgleichen war er im Bilde darüber, welche Seuchengefahr Europa aus Asien und China drohte, und ließ gegenüber Doktor Nuri durchblicken, wie sehr er darüber in Sorge war.

Da im östlichen Mittelmehr Windstille herrschte, kam die Aziziye, des Sultans Promenadenschiff, schneller voran als erwartet. Sie ging auch in Izmir vor Anker, obgleich die Stadt nicht auf ihrer Route lag. Als sie in deren nebelverhangenen Hafen einlief, erfuhren die Delegationsteilnehmer, die ab und an die schmale Treppe zur Kommandobrücke hinaufstiegen, um beim Kapitän Erläuterungen einzuholen, dass in Izmir ein geheimnisvoller Passagier an Bord gehen werde. Der russische Kapitän versicherte, selbst er wisse nicht, um wen es sich dabei handle.

Nun, es war der namhafte Chemiker und Apotheker Bonkowski Pascha, der Generalinspektor für das Gesundheitswesen des Osmanischen Reiches. Der mit seinen sechzig Jahren etwas müde gewordene, aber immer noch sehr aktive Mann war der Chefchemiker des Sultans und der Begründer der modernen osmanischen Pharmazie. Früher war er auch als mittelmäßig erfolgreicher Unternehmer und Besitzer diverser Firmen in Erscheinung getreten, die Rosenwasser und andere Düfte herstellten, Mineralwasser abfüllten und Arzneimittel produzierten. Seit zehn Jahren übte er nur noch das Amt des Generalinspektors aus, verfasste an den Sultan Berichte über Cholera- und Pestfälle und war von Seuche zu Seuche unterwegs, von Hafen zu Hafen, von Stadt zu Stadt, um dort jeweils im Namen des Sultans die Hygiene- und Quarantänemaßnahmen zu prüfen.

Bonkowski Pascha, der ebenfalls auf internationalen Kongressen auftrat, hatte vier Jahre zuvor ein Konzept darüber erstellt, was im Falle einer aus Asien drohenden Pestseuche im Osmanischen Reich für Vorkehrungen getroffen werden sollten. Als nun in den Vierteln der Griechen von Izmir die Pest ausgebrochen war, hatte man ihn sofort dorthin entsandt. Nach einigen Choleraausbrüchen war also der neue Pestbazillus, dessen Gefährlichkeit, also »Virulenz«, wie Fachleute das nannten, mal höher, mal niedriger lag, nunmehr auch ins Osmanische Reich gelangt!

In Izmir, der größten osmanischen Hafenstadt im östlichen Mittelmeer, hatte es Bonkowski Pascha innerhalb von sechs Wochen geschafft, die Pestepidemie zu besiegen. Gelungen war das dadurch, dass die Bevölkerung die Ausgangssperren und anderen Beschränkungen willig hinnahm und sich zusammen mit Polizei und Stadtverwaltung an der Jagd auf Ratten beteiligte. Unter eifriger Beteiligung der Volksfeuerwehr wurden in der ganzen Stadt Desinfektionsmittel versprüht. Nicht nur Izmirer Zeitungen wie Ahenk und Amaltheia oder Istanbuler Gazetten wie Tercüman-ı Hakikat oder İkdam, sondern auch französische und englische Blätter, in denen die Ausbreitung der Pest von Hafen zu Hafen aufmerksam verfolgt wurde, berichteten ausführlich über die Erfolge der osmanischen Quarantäneorganisation. Der polnischstämmige, aber in Istanbul geborene Bonkowski Pascha galt dort als Europäer und stand in hohem Ansehen. Beim Pestausbruch in Izmir waren lediglich siebzehn Menschen gestorben, und inzwischen waren sowohl der Hafen als auch der Zoll, die Läden und Märkte sowie die Schulen wieder geöffnet.

Als die erlesenen Passagiere der Aziziye aus ihren Kabinenfenstern oder von Deck aus beobachteten, wie Bonkowski und sein Assistent an Bord gingen, waren sie über den Erfolg der Quarantänepolitik schon informiert. Der Ehrentitel Pascha war Bonkowski fünf Jahre zuvor von Sultan Abdülhamit verliehen worden. Beim Besteigen des Schiffes trug Stanislaw Bonkowski einen Ölmantel, dessen Farbe im Dunkel nicht auszumachen war, ein Jackett, das seinen langen Hals und seinen leichten Buckel noch mehr zur Geltung brachte, und in der Hand die bleigraue Tasche, die er so beständig bei sich führte, dass sie seinen Studenten seit dreißig Jahren ein Begriff war. Sein Assistent Doktor Ilias wiederum schleppte den Laborkoffer, mithilfe dessen sein Chef jedenorts Cholera- oder Pestbazillen untersuchte, Trinkwasser von verunreinigtem Wasser unterschied und so in den Genuss kam, im gesamten osmanischen Reich das Wasser zu probieren. Ohne ihre Reisegefährten auf der Aziziye zu grüßen, zogen Bonkowski und sein Assistent sich auf ihre Kabinen zurück.

Mit diesem distanzierten Verhalten zogen die beiden neuen Mitreisenden erst recht die Neugier der Delegierten auf sich. Was verbarg sich hinter dieser Heimlichtuerei? Warum sandte Seine Hoheit mit demselben Schiff gleich zwei der bedeutendsten Pest- und Seuchenspezialisten des Osmanischen Reichs nach China? Bald aber erfuhren die Männer, dass Bonkowski Pascha und sein Assistent gar nicht nach China unterwegs waren, sondern auf der Insel Minger von Bord gehen würden, und sie wandten sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu. Sie hatten noch drei Wochen Zeit, um darüber zu beratschlagen, wie sie den chinesischen Muslimen ihre Auffassung vom Islam nahelegen sollten.

Dass Bonkowski Pascha an Bord war, erfuhr Damat Doktor Nuri Pascha von seiner Frau. Die beiden hatten den Mann unabhängig voneinander kennengelernt und mochten ihn. Zuletzt hatte Doktor Nuri mit dem über zwanzig Jahre älteren Bonkowski gemeinsam an einem Hygienekongress in Venedig teilgenommen. Außerdem war Bonkowski an der medizinischen Fakultät in der früheren Demirkapı-Kaserne in Sirkeci Nuris Chemieprofessor gewesen. Wie die meisten Studenten hatte Nuri den in Paris ausgebildeten Bonkowski Bey bewundert und an seinen Laborkursen sowie seinen Vorlesungen in organischer und anorganischer Chemie teilgenommen. Bonkowski scherzte im Unterricht viel, hatte wie ein Renaissance-Mensch weitgefächerte Interessen, und neben seinem umgangssprachlichen Türkisch beherrschte er drei europäische Sprachen wie ein Muttersprachler, was ihm bei den Studenten viel Achtung eintrug. Geboren war er in Istanbul als Sohn eines polnischen Offiziers, der nach der Niederlage gegen die Russen ins Exil gegangen war und sich der osmanischen Armee angeschlossen hatte.

Pakize Sultan erinnerte sich, wie sie ihn kennengelernt hatte. In den Frauengemächern des Palasts, in dem sie eingesperrt lebte, hatten im Sommer vor elf Jahren ihre Mutter und andere Frauen mit Fieber daniedergelegen. Abdülhamit war zu dem Schluss gekommen, es müsse da eine Bakterie am Werk sein, und hatte seinen obersten Chemiker angewiesen, er solle sich eine Probe davon besorgen. Ein andermal war Bonkowski beauftragt worden, das Trinkwasser Pakize Sultans und ihrer Familie im Çırağan-Palast zu untersuchen. Abdülhamit hielt Murat V. dort zwar gefangen und ließ ihn überwachen, doch im Falle einer Krankheit schickte er ihm die besten Ärzte. Als Kind hatte sie im Palast oft den Leibarzt von Sultan Abdülaziz, den schwarzbärtigen Griechen Marko Pascha, und Abdülhamits eigenen Leibarzt Mavroyeni Pascha gesehen.

»Und in den Yıldız-Palast kam dann wieder Bonkowski Pascha«, sagte sie. »Er analysierte das Wasser und schrieb einen neuen Bericht. Meinen Schwestern und mir lächelte er aber nur noch aus der Ferne zu und scherzte nicht mehr mit uns wie damals, als wir Kinder waren.«

Damat Doktor Nuri Paschas Begegnungen mit Bonkowski waren offiziellerer Natur gewesen. Auf dem Kongress in Venedig, auf dem sie gemeinsam das Osmanische Reich vertreten hatten, war Nuri dem Professor durch seinen Fleiß und seine Erfahrung aufgefallen, und Nuri vermutete, vor allem von Bonkowski sei er anfangs als Quarantänearzt weiterempfohlen worden. Auch später hätten sich ihre Wege noch mehrfach gekreuzt; so hätten sie etwa auf Anweisung von Bürgermeister Blacque Bey hin die Hygienezustände der Schlachthöfe überprüft, die in Istanbul mitten auf der Straße betrieben wurden. Ein andermal habe Bonkowski Pascha einen Bericht über die topografischen und geologischen Eigenschaften des Terkos-Sees und seine Trinkwasserqualität verfasst und dabei die Studenten und jungen Ärzte in seiner Begleitung durch seine Intelligenz, seinen Arbeitseifer und seine Disziplin beeindruckt. So freute sich das junge Paar nun, Bonkowski Pascha wiederzubegegnen.

KAPITEL 2

Damat Doktor Nuri ließ Bonkowski über einen Steward eine Nachricht zukommen, und der Kapitän lud die beiden Ärzte in den sogenannten »Gästesalon« zu einem Abendessen, bei dem allerdings kein Alkohol serviert wurde. Daran nahm auch Pakize Sultan teil, die ansonsten ihre Mahlzeiten in ihrer Kabine aß und sich vor allen Dingen den mitreisenden Mollas nie zeigte. Vergessen wir nicht, dass zu jener Zeit eine Frau, und sei sie eine Prinzessin, nur äußerst selten mit Männern zusammensaß. Sie nahm an einem Tischende Platz, und was sie danach sah und hörte, darüber wissen wir heute Bescheid, da sie hinterher alles ihrer Schwester schrieb.

Bonkowski Pascha hatte ein bleiches Gesicht, eine kleine Nase und riesige Augen, die man nicht leicht vergaß. Sobald er seinen früheren Studenten erblickte, umarmte er ihn. Vor Pakize Sultan verneigte er sich ehrerbietig, als hätte er es mit einer Edeldame in einem europäischen Schloss zu tun, doch ergriff er nicht ihre Hand, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen.

Er hatte etwas für europäische Umgangsformen und Etikette übrig und trug am Revers den Sankt-Stanislaus-Orden zweiter Klasse, den er erst kürzlich vom Zaren erhalten hatte, und daneben den goldenen Osmanischen Verdienstorden, den er gern zur Schau stellte.

Damat Doktor Nuri sagte: »Verehrter Professor, darf ich Ihnen meine Bewunderung für Ihren Erfolg in Izmir aussprechen.«

Seit in den Zeitungen darüber berichtet wurde, dass die Pest in Izmir im Abklingen begriffen war, nahm Bonkowski Pascha huldvoll lächelnd Gratulationen entgegen. »Ich darf aber auch Sie beglückwünschen!«, entgegnete er und sah dabei Doktor Nuri tief in die Augen. Der lächelte, ahnte er doch, dass die Gratulation sich nicht auf seine Tätigkeit in den Quarantänestationen im Hedschas oder als Vertreter des Osmanischen Reichs bezog, sondern vielmehr darauf, dass er eine Prinzessin aus dem osmanischen Herrscherhaus, die Tochter eines Sultans, geheiratet hatte. Abdülhamit hatte ihn zwar deshalb mit seiner Nichte verheiratet, weil er ein brillanter, erfolgreicher Arzt war, doch seither war kaum mehr davon die Rede, sondern nur noch von seiner Eigenschaft als »Damat«.

Daran hatte er sich aber schon gewöhnt. Mit seiner Frau war er viel zu glücklich, um in jener Hinsicht empfindlich zu sein. Vor seinem Professor, der stets mit Disziplin und Methodik vorging (die beiden in der türkischen Sprache aus dem Französischen stammenden Begriffe erfreuten sich unter osmanischen Intellektuellen gerade großer Beliebtheit), hatte er außerdem Hochachtung und wollte ihm schmeicheln.

»Dass Sie die Seuche in Izmir so schnell besiegt haben, beweist doch, wie gut das osmanische Quarantäneprogramm funktioniert«, sagte er. »Damit haben Sie all jenen, die vom ›kranken Mann am Bosporus‹ faseln, die gehörige Antwort versetzt. Die Cholera haben wir zwar noch nicht ausrotten können, doch einen ernsthaften Pestausbruch hat es in den osmanischen Ländern seit achtzig Jahren nicht gegeben. Früher hieß es, die zivilisatorische Scheidelinie, die seit zweihundert Jahren Europa vom Osmanischen Reich trenne, sei nicht die Donau, sondern die Pest. Ihnen ist zu verdanken, dass in Medizin und Seuchenbekämpfung diese Linie nicht mehr existiert.«

»Leider ist die Pest aber nun auf Minger aufgetreten«, erwiderte Bonkowski Pascha etwas betreten, als würde er seinen Studenten nur ungern auf einen Fehler hinweisen. »Und die Virulenz ist außergewöhnlich hoch.«

»Tatsächlich?«

»Die Seuche ist in den muslimischen Vierteln ausgebrochen, Damat Pascha. Dass Sie über den Hochzeitsvorbereitungen davon nichts mitbekommen haben, ist nicht weiter verwunderlich, denn die Sache wird verheimlicht. Ihrer Hochzeitseinladung konnte ich übrigens deshalb nicht Folge leisten, weil ich in Izmir war.«

»Ich habe bisher verfolgt, was die Seuche in Hongkong und Bombay angerichtet hat.«

»Die Berichte darüber kommen nicht an die Wirklichkeit heran«, sagte Bonkowski Pascha entschieden. »Für Tausende von Toten in Indien und China ist ein und derselbe Bazillus verantwortlich, ein und dieselbe Seuche. So wie auch in Izmir.«

»Aber in Indien gehen die Menschen zugrunde, Sie jedoch haben in Izmir die Seuche besiegt!«

»Weil ich dort Bevölkerung und Presse auf meiner Seite hatte«, entgegnete Bonkowski Pascha, und nach einer Kunstpause sagte er: »In Izmir ist die Krankheit im Griechenviertel ausgebrochen, und die Leute dort sind aufgeklärt und zivilisiert. Auf Minger sind eher Muslime von der Pest betroffen, und es sind jetzt schon fünfzehn Menschen daran gestorben. Wir werden es dort nicht so leicht haben.«

Aus Erfahrung wusste Doktor Nuri, dass Christen sich eher an Quarantäneregeln hielten als Muslime, doch hatte er genug davon, dass christliche Spezialisten wie Bonkowski Pascha das immer wieder aufs Tapet brachten. Er ging also nicht darauf ein. Als sich ein verlegenes Schweigen breitmachte, fühlte Pakize sich bemüßigt, dem Kapitän eine Erklärung abzuliefern: »Ein ewiges Thema!«

»Sie kennen doch die Geschichte mit dem armen Doktor Jean-Pierre!«, sagte Bonkowski Pascha mit einem lehrerhaften Schmunzeln. »Sowohl vom Palast als auch von Gouverneur Sami Pascha bin ich mehrmals darauf hingewiesen worden, dass Seine Hoheit die Nachricht vom Pestausbruch auf Minger für politisch motiviert hält und ich daher den Grund meines Besuchs dort verheimlichen soll. Den Gouverneur kenne ich ja noch aus der Zeit, als er Landrat und später Provinzstatthalter war.«

»Fünfzehn Tote, das ist viel für so eine kleine Insel«, sagte Doktor Nuri.

»Nicht mal mit Ihnen darf ich darüber sprechen, Pascha!«, rief Bonkowski und tat eine spöttische Handbewegung in Richtung Pakize Sultan, als wollte er andeuten, dass dort eine Spionin säße. Dann verfiel er wieder in den onkelhaften Gestus, mit dem er den verwestlichten Prinzessinnen in ihrer Kindheit begegnet war, bei einer Theatervorstellung im Yıldız-Palast etwa oder beim Staatsbesuch von Kaiser Wilhelm.

»Dass eine Sultanstochter Istanbul verlassen darf, erlebe ich zum ersten Mal!«, rief er mit übertriebener Verwunderung aus. »Das Osmanische Reich gestattet den Frauen mehr Freiheit und tut mal wieder einen Schritt in Richtung Westen!«

Aus den Briefen, die noch veröffentlicht werden sollen, wird zu ersehen sein, dass Pakize Sultan durchaus nicht entging, wie viel Ironie und gar Spott hinter diesen Worten steckten. Sie war ebenso intelligent und empfindsam wie ihr Vater Murat V. »Statt nach China würde ich ja lieber nach Venedig fahren«, sagte sie und lenkte damit das Gespräch auf die Stadt, die die beiden Männer von dem Kongress her kannten. »Stimmt es, dass man dort wie auf dem Bosporus mit dem Boot von Villa zu Villa und fast bis ins Haus hinein fährt?« Dann unterhielten sie sich darüber, wie schnell die Aziziye fuhr, wie viel Leistung sie brachte und wie bequem man es in den Kabinen hatte. Anders als sein Neffe Abdülhamit war dessen Vorvorgänger Sultan Abdülaziz (von dem das Schiff seinen Namen hatte) dreißig Jahre zuvor eine hohe Staatsverschuldung eingegangen, um die osmanische Marine auszubauen, und hatte sich dabei auch jenes prächtige Schiff anfertigen lassen. Die mahagonivertäfelte, mit Goldrahmen und Spiegeln reichlich verzierte Sultanskabine hatte ein Pendant auf der Panzerfregatte Mahmudiye. Der Kapitän erläuterte, das Schiff fasse 150 Passagiere und könne bis zu vierzehn Knoten schnell fahren, doch leider bringe Seine Hoheit nicht einmal die Zeit auf, damit eine Bosporus-Tour zu unternehmen. Alle am Tisch wussten, dass der Sultan sich aus Furcht vor einem Anschlag auf keinerlei Schiff traute, doch vorsichtshalber wurde darüber geschwiegen.

Als der Kapitän verkündete, sie hätten nur noch sechs Stunden Fahrzeit vor sich, fragte Bonkowski Pascha Doktor Nuri, ob er denn schon mal auf Minger gewesen sei.

»Nein, denn bisher ist dort nie eine Seuche ausgebrochen, weder Cholera noch Gelbfieber.«

»Ich war leider auch noch nie dort. Dennoch habe ich über Minger Erkundigungen eingezogen. Plinius der Ältere geht in seiner Naturalis Historia ausführlich auf die einzigartige Flora der Insel ein, auf die Bäume, die Blumen, den steilen Vulkanberg und die Felsbuchten im Norden. Obwohl ich also selbst noch nicht dort war, habe ich vor Jahren Seiner Hoheit einen Bericht über die Möglichkeit einer Rosenzucht auf der Insel verfasst.«

»Und was ist daraufhin geschehen, Pascha?«, fragte Pakize Sultan.

Bonkowski Pascha begnügte sich mit einem nachdenklichen Lächeln. Pakize Sultan schloss daraus, dass selbst der Pascha das furchtsam strafende Gehabe des argwöhnischen Sultans schon hatte zu spüren bekommen, und schweifte lieber auf das Thema ab, über das sie sich mit ihrem Mann schon unterhalten hatte, nämlich ob es Zufall sein könne, dass die beiden renommiertesten Quarantänespezialisten des Osmanischen Reichs eines Mitternachts vor der Küste Kretas auf dem Privatschiff des Sultans aufeinandertrafen?

»Ich kann Ihnen versichern, dass es Zufall ist«, erwiderte Bonkowski Pascha. »Dass ausgerechnet die Aziziye der Insel gerade am nächsten ist, weiß nämlich nicht einmal der Gouverneur von Izmir, Kıbrıslı Kâmil Pascha. Natürlich würde ich gerne mit Ihnen fahren und den chinesischen Muslimen vorpredigen, wie essentiell es ist, sich den Vorgaben der modernen Medizin und der Quarantäne zu fügen. Wer die Quarantäne akzeptiert, nimmt damit ein Stück Verwestlichung in Kauf, und je weiter man in den Orient gelangt, umso schwerer fällt den Menschen das. Seien Sie aber nicht betrübt, denn ich kann Ihnen versichern, dass es auch in China Kanäle wie in Venedig und in Istanbul gibt, und zwar noch viel breitere und längere, und auf sehr eleganten Booten kann man darauf bis in die Häuser und Villen hineinfahren.«

Das junge Paar konnte sich nur wundern, wie viel Bonkowski Pascha auch über China wusste, obwohl er dort genauso wenig gewesen war wie auf Minger. Nach dem Abendessen gingen die beiden in ihre Kabine zurück, die mit ihren aus Frankreich und Italien importierten Tischchen, Uhren, Spiegeln und Lampen wie ein Saal in einem Palast wirkte.

»Etwas betrübt Sie«, sagte Pakize Sultan, »das lese ich Ihnen vom Gesicht ab.«

Doktor Nuri hatte es als Nadelstiche empfunden, dass Bonkowski ihn immer mit »Pascha« angeredet hatte. Den Titel hatte ihm Abdülhamit sofort verliehen, weil dies nach der Hochzeit mit einer Prinzessin nun mal so üblich war, doch Doktor Nuri hatte ihn bisher noch nie verwendet, da es auch nicht nötig gewesen war. Dass nun auch hochrangige, angesehene Militärs, die jenen Titel aus gutem Grund trugen, ihn ebenso damit ansprachen, ließ in ihm das Gefühl aufkommen, er habe ihn nicht wirklich verdient. Doch kamen sie gemeinsam zu dem Schluss, dass bei Bonkowski Pascha dahinter keine böse Absicht stecke.

Seit dreißig Tagen waren sie nunmehr verheiratet. Beide hatten lang davon geträumt, einen angemessenen Ehepartner zu finden, aber die Hoffnung darauf schon fast aufgegeben. Dann hatte Abdülhamit aus einer Eingebung heraus die beiden einander vorgestellt und sie innerhalb von zwei Monaten miteinander verheiratet, und dass sie nun so glücklich waren, lag offensichtlich daran, dass sie am Liebesspiel mehr Gefallen fanden, als sie sich je hätten denken können. Seit sie abgereist waren, hatten sie die meiste Zeit im Bett ihrer Kabine verbracht, und nichts erschien ihnen natürlicher.

Als gegen Morgen das Schiff eine Art Wimmern von sich gab, erwachten sie. Draußen war es noch stockdunkel. An den hohen Eldost-Bergen vorbei, deren spitze Zacken sich von Norden nach Süden erstreckten, fuhr die Aziziye auf Arkaz zu, die größte Stadt und das Verwaltungszentrum von Minger. Sobald mit bloßem Auge der blasse Lichtschein des Arabischen Leuchtturms zu sehen war, hatte der Kapitän das Steuerrad nach Westen gedreht, in Richtung auf den Hafen. Da am Himmel ein riesiger Vollmond stand und das Meer in silbriges Licht getaucht war, konnten die Passagiere aus ihren Kabinen gleich hinter der Burg von Arkaz den wie ein Gespenst aus dem Dunkel emporragenden Weißen Berg sehen, den geheimnisvollsten Vulkan des Mittelmeerraums.

Als Pakize Sultan die spitzen Türme der imposanten Burg ausmachte, gingen sie an Deck, um den Vollmond besser zu genießen. Die Luft war feucht und mild. Vom Meer stieg ein Duft nach Iod, Algen und Mandeln auf. Da wie so mancher osmanische Küstenort Arkaz nicht über eine größere Anlegestelle verfügte, wartete der Kapitän auf Höhe der Burg draußen ab.

Es kam eine tiefe, merkwürdige Stille auf. Die beiden Jungvermählten erschauderten unter dem Zauber der üppigen Landschaft. Von den mondbeschienenen Bergen und der geheimnisvollen Lautlosigkeit ging eine imponierende Tiefe aus. Es war, als ob es neben dem silbrigen Mondenschein noch eine Lichtquelle gäbe und sie entrückt danach suchten. Eine Weile genossen sie den herrlich schimmernden Anblick, als läge darin der eigentliche Grund für ihr Glück. Da sahen sie aus dem Dunkel eine Bootslaterne auftauchen, dann die weit ausholenden Ruderer. Auf dem Unterdeck standen am Fallreep Bonkowski Pascha und sein Assistent, fern wie in einem Traum. Als das vom Gouverneur gesandte Boot die Aziziye erreichte, hörten sie Gesprächsfetzen auf Griechisch und auf Mingerisch, dann Schritte. Das Boot nahm Bonkowski Pascha und seinen Assistenten an Bord und verschwand wieder in der Dunkelheit.

Wie auch andere Passagiere auf Kommandobrücke und Deck blickten die beiden noch eine Weile auf die Burg und die wie aus einem Märchen emportauchenden prachtvollen Berge, die schon so manchen romantischen Reiseschriftsteller ins Schwärmen versetzt hatten. Hätten sie genauer auf das Fenster eines der südwestlichen Türme geachtet, wäre ihnen aufgefallen, dass dort eine Laterne brannte. Nach den Kreuzfahrern hatten Venezianer, Byzantiner, Araber und Osmanen die Burg mit diversen Anbauten angereichert, und ein Teil davon wurde seit Jahrhunderten als Kerker genutzt. Zwei Stockwerk unter dem Zimmer, in dem die Laterne brannte, lag in einer leeren Zelle eine wichtige Persönlichkeit dieses Kerkers, der Wärter Bayram Efendi, und rang mit dem Tode.

KAPITEL 3

Als Bayram Efendi fünf Tage zuvor die ersten Anzeichen der Krankheit verspürt hatte, wollte er sie nicht ernst nehmen. Er hatte Fieber, sein Herz pochte, und es überliefen ihn kalte Schauer. Musste er sich am Morgen eben in den windigen Türmen und Höfen erkältet haben! Am folgenden Nachmittag kamen zum Fieber Erschöpfung und Appetitlosigkeit hinzu, und einmal ließ er sich im Hof auf den Steinboden sinken, streckte sich aus, sah zum Himmel empor und meinte schon, er würde sterben. Als ob da jemand in seine Stirn Nägel einschlüge.

Seit fünfundzwanzig Jahren war er im Kerker der berühmten Burg von Arkaz als Wächter tätig. Er hatte miterlebt, wie angeschmiedete Gefangene in ihren Zellen vergessen worden waren, wie Festungshäftlinge im Hof ihre schweren Ketten geschleppt hatten und wie vor fünf Jahren Abdülhamit politische Häftlinge auf die Insel gesandt hatte. Da er den früheren, primitiven Zustand des Kerkers kannte (an dem sich eigentlich kaum was geändert hatte), glaubte er an die modernen Bestrebungen, den Kerker in ein Gefängnis oder gar eine Besserungsanstalt zu verwandeln, und unterstützte sie. Und obwohl er, wenn Istanbul kein Geld schickte, manchmal monatelang keinen Sold bekam, hatte er keine Ruhe, wenn er beim abendlichen Abzählen nicht anwesend war.

Als ihn am folgenden Tag in einem der engen Korridore wieder eine lähmende Schwäche überfiel und ihm das Herz schlug wie wild, ging er nicht nach Hause, sondern legte sich in einer leeren Zelle aufs Stroh und krümmte sich vor Schmerzen. Diesmal zitterte er auch und hatte entsetzliches Kopfweh, ganz besonders an der Stirn. Am liebsten hätte er geschrien, doch biss er die Zähne zusammen, da er glaubte, falls er sich still verhielt, würde der seltsame Schmerz von selbst verschwinden. Es war, als pressten Zwingen und Schraubstöcke seinen Kopf zusammen.

Er blieb in jener Nacht auf der Burg. Mit dem Pferdewagen waren es zehn Minuten bis zu ihm nach Hause, doch seine Frau und seine Tochter Zeynep waren es gewöhnt, dass er wegen Nachtwachen, Streitereien oder kleinen Aufständen manchmal nicht heimkam. Die Hochzeit seiner Tochter stand kurz bevor, und wegen der Vorbereitungen und Feilschereien gab es Abend für Abend Zank und Groll, und entweder Zeynep weinte oder seine Frau.

Als Bayram Efendi am Morgen in der Zelle wach wurde und seinen Körper abtastete, stieß er in der Schamgegend links oben über der Leiste auf eine weißliche Beule von der Größe eines kleinen Fingers. Wie ein Gürkchen sah sie aus. Als er mit seinem dicken Zeigefinger darauf drückte, tat es weh, als wäre Eiter darin, und sobald er den Finger wegnahm, war es wie zuvor. Solange man die Beule nicht anfasste, schmerzte sie also nicht. Irgendwie fühlte Bayram Efendi sich schuldig. Bei nüchterner Betrachtung musste die Beule etwas mit seiner Erschöpfung zu tun haben, mit dem Zittern, dem Delirium.

Aziziye