Tief in den Wäldern des Staates Washington liegt die Holzfällerstadt Commonwealth. Charles Worthy hat sich mit der Gründung der Stadt und ihren gesellschaftlichen Idealen fernab von Ausbeutung und Unterdrückung einen Lebenstraum erfüllt. Doch sein Traum ist in Gefahr: Gerade als sich der Erste Weltkrieg seinem Ende zuneigt, bricht die todbringende Spanische Grippe aus. Die Bewohner von Commonwealth sind entschlossen, sich mit strenger Quarantäne zu schützen. Zügig werden Grenzposten gesetzt, Warnschilder ausgehängt und an der einzigen Zugangsstraße bewaffnete Wachen aufgestellt. Als Philip Worthy, der Adoptivsohn des Stadtgründers, mitansehen muss, wie ein halb verhungerter Soldat erschossen wird, um ihn am Betreten der Stadt zu hindern, ist er tief erschüttert. Wenig später vor die gleiche Situation gestellt, trifft er eine andere Entscheidung – und neben der Angst vor der Außenwelt wächst bald schon die Furcht vor dem Feind im Innern.

Thomas Mullen erzählt in seinem hellsichtigen und mitreißenden Roman von Moral in Zeiten der Krise, von einer Gesellschaft, der die Solidarität abhanden zu kommen droht – aber auch von Hilfsbereitschaft, Hoffnung und Mitgefühl.

 

© Jeff Roffman

Thomas Mullen wurde 1974 in Rhode Island geboren. 2006 erschien sein Debütroman ›Die Stadt am Ende der Welt‹, der von der Zeitschrift USA Today als »Bester Debütroman des Jahres« und von der Zeitung Chicago Tribune als eines ihrer »Books of the Year« benannt wurde. Bei DuMont erscheint außerdem seine von Publikum und Presse gefeierte ›Darktown‹-Trilogie, die nach ›Darktown‹ (2018) und ›Weißes Feuer‹ (2019) mit ›Lange Nacht‹ (2020) ihren Abschluss findet. Thomas Mullen lebt mit seiner Familie in Atlanta.

THOMAS MULLEN

DIE STADT
AM ENDE DER WELT

Roman

Aus dem Englischen von
Gerlinde Schermer-Rauwolf und
Robert A. Weiß

 

 

FÜR JENNY

 

Eine bewährte Art, eine Stadt kennenzulernen, besteht darin herauszufinden, wie ihre Bewohner arbeiten, wie sie lieben und wie sie sterben.

Albert Camus, DIE PEST

Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle.

Slogan der Industrial Workers of the World

PROLOG

Kurz lugte die Sonne hervor, wie zum Beweis für die Existenz eines Universums über ihnen, von Wächtern hoch oben – Planeten, Sterne und riesige Galaxien unendlichen Wissens –, und ebenso plötzlich hatten sich wieder Wolken davorgeschoben.

Während der fünfzehnminütigen Fahrt kamen dem Arzt lediglich zwei andere Automobile und ein einziger einsamer Fußgänger entgegen, obwohl es Sonntagmittag war; um diese Zeit kehrten die Menschen normalerweise von der Kirche nach Hause zurück oder besuchten Freunde und Angehörige. Seit etwa drei Wochen, so schätzte der Arzt, grassierte in Timber Falls die Grippe, und mittlerweile waren die Straßen so gut wie ausgestorben. Die Kranken mussten zu Hause bleiben, und die Gesunden wagten sich nicht nach draußen.

»In dieser Straße war noch niemand?«, erkundigte er sich bei seinen Begleiterinnen, zwei Krankenschwestern, deren Ehemänner in Frankreich kämpften. Er selbst war ein älterer Mann von hagerer Statur und trug eine Brille, die vom feuchten Husten seiner unzähligen Patienten ganz fleckig war.

»Nein«, antwortete eine der beiden Schwestern. Wegen der rapide steigenden Zahl an Kranken und Sterbenden hatten sie es noch nicht so weit in die Randbezirke der Stadt hinaus geschafft, in diese abgeschiedene Straße, in der die Ärmsten der Armen und die Neueinwanderer wohnten.

Nachbarn hatten von beunruhigenden Geräuschen aus einem der Häuser berichtet. Doch niemand wollte dort hineingehen und nach der Familie sehen.

Neben dem zweistöckigen Haus, das am Fuß eines sanft ansteigenden Hügels lag, stellte der Arzt den Wagen ab. Der Erdboden war nichts als Schlamm, die Räder sanken etliche Zentimeter tief ein. Offenbar sackte sogar das Haus ab, sein Dach neigte sich nach rechts. Es war das letzte von fünf schmalen Gebäuden, die sich kummervoll aneinander zu schmiegen schienen.

Ehe die Besucher ausstiegen, setzten sie sich Gazemasken auf, die Nase und Mund bedeckten, und streiften sich dünne Gummihandschuhe über.

Der Arzt klopfte an die Tür. Als niemand darauf reagierte, versuchte er es noch einmal, diesmal lauter, und gab sich als Arzt zu erkennen.

»Sehen Sie«, sagte eine der Schwestern. Am Fenster links von der Tür spähte jemand durch den dünnen Vorhang, ein Mädchen von höchstens vier Jahren, das mit seinen übergroßen Augen wie ein Gespenst wirkte. Vor den maskierten Fremden schien sie sich weder zu fürchten, noch zeigte sie sonderliches Interesse. Die Krankenschwester hob eine Hand und winkte, doch das Kind erwiderte die Geste nicht. Auch als der Arzt noch einmal klopfte und dem Mädchen bedeutete, die Tür zu öffnen, rührte es sich nicht vom Fleck.

Schließlich drehte er den Türknauf und trat ein. Sofort fiel ihm der Geruch auf. Sämtliche Fenster waren geschlossen, die Tür hatte offenbar seit Tagen niemand geöffnet.

Das kleine Mädchen am Fenster drehte sich zu den Fremden um. Sie trug das Flanellhemd eines Erwachsenen über ihrem schmutzigen Nachthemd, ihr dichtes blondes Haar war ungekämmt. Und sie sah erschreckend mager aus.

Im Wohnzimmer herrschte Chaos, überall waren Kleider, Spielzeug und Bücher verstreut. Ein Schaukelstuhl war umgekippt, eine Lampe lag zerbrochen auf dem Boden. Als die Besucher näher kamen, tauchten aus dem Durcheinander zwei weitere Mädchen auf, eines jünger, das andere ein bisschen älter als das Kind am Fenster. Auch sie waren merkwürdig angezogen und schmuddelig und hatten etwas Geisterhaftes.

Gerade als der Arzt fragen wollte, wo ihre Eltern waren, hörte er ein trockenes, heiseres Husten. Er und eine der Krankenschwestern folgten dem Geräusch, das aus einem Schlafzimmer hinter dem kurzen Flur drang.

Unterdessen blieb die andere Schwester bei den Kindern im Wohnzimmer. Sie kniete sich hin und nahm ein paar Scheiben Roggenbrot aus ihrer Tasche. Sofort stürzten die Mädchen mit ausgestreckten Armen auf sie zu, ihre Fingernägel gruben sich in das Brot. Binnen Sekunden hatten sie es vertilgt, und sogleich blickten drei Augenpaare die Schwester erneut erwartungsvoll an.

Im Schlafzimmer waren die dunklen Vorhänge zugezogen. Der Arzt sah, dass in beiden Betten Menschen lagen. Die Gestalt im rechten Bett musste immer wieder husten. Der Kopf ruhte auf einem mit dunkelroten Flecken übersäten Kissen. Ohrläppchen, Nasenlöcher und Oberlippe waren schwarz von getrocknetem Blut, die geschlossenen Augenlider wie auch die Haut ringsum von dunklem Blau. Eine Hand lag auf dem Laken, die Finger hatten die Farbe feuchter Tinte. Auf dem Tischchen neben dem Bett waren Blutspuren zu sehen, ebenso auf der darauf liegenden Bibel.

Als der Mann abermals hustete, öffnete er ganz kurz die Augen, doch sein Blick glitt nur ziellos durchs Zimmer, ehe die Pupillen wieder hinter den blauen Lidern verschwanden. Die Schwester kniete sich neben ihn, um das Wenige zu tun, wozu sie ausgebildet war, wenngleich sie wusste, dass es nichts mehr helfen würde. Immerhin war es besser, als den Menschen in dem anderen Bett ansehen zu müssen.

Die Mutter der Kinder lag auf der Seite, dem Mann zugewandt, die erstarrten Lippen von Schmerz verzerrt. Die dünnen blonden Haare lagen fächerförmig auf dem Kissen, einige Strähnen hingen aus dem Bett, andere klebten ihr blutverkrustet im Gesicht. Wie lange sie schon tot war, ließ sich unmöglich sagen, denn die Leichen der an der Spanischen Grippe Verstorbenen glichen in nichts jenen, die der Arzt sonst zu Gesicht bekam. Die Haut der Frau hatte sich überall bläulich verfärbt, wie dies ansatzweise auch schon bei ihrem Mann zu erkennen war. Infolgedessen ließ sich ihr Alter nicht schätzen, ja nicht einmal ihre Hautfarbe bestimmen. Sie erinnerte den Arzt an die verkohlten Leichen, die er vor Jahren nach einem schrecklichen Brand in einem Sägewerk gesehen hatte.

Trotzdem vermutete er, dass sie ungefähr so alt wie seine Krankenschwestern war, denn die Grippe schien hauptsächlich diejenigen dahinzuraffen, die in der Blüte ihres Lebens standen. Möglicherweise hatten die Kinder sie bereits überwunden, doch die Eltern waren ihr zum Opfer gefallen. Es war genau entgegengesetzt wie bei den meisten anderen Grippetypen.

Aus einem anderen Zimmer drang ebenfalls Husten. Erstaunt wechselten der Arzt und die Schwester einen Blick, dann gingen sie dem Geräusch nach, zu einem Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Hier hingen keine Vorhänge vor dem Fenster, und so sahen sie schon beim Hereinkommen die beiden jungen Leute auf dem großen Bett liegen, beide hustend, die Laken in Kopfhöhe blutig. Es hörte sich genau nach dem an, was es war: Zwei Menschen starben langsam den Erstickungstod.

Plötzlich rührte sich dort etwas, winzige Händchen regten sich zwischen den Körpern: Ein höchstens drei Jahre altes Kind mit rabenschwarzem Haar hatte zwischen seinen sterbenden Eltern geschlafen. Einen Moment lang schien das Mädchen ganz ruhig, doch kaum hatte es seine braunen Augen aufgeschlagen, begann es zu schreien. Ob aus Angst vor den Fremden mit der Maske oder wegen seiner beinahe reglosen Eltern, wusste die Schwester nicht zu sagen. Und das Mädchen schrie und schrie, als hätten auch die drei schweigenden Kinder im anderen Zimmer durch das Entsetzen dieses einen Kindes eine Stimme bekommen.

Inzwischen war der Arzt ins Wohnzimmer zurückgekehrt und telefonierte mit einem der überlasteten Leichenbestatter, auch wenn er wusste, dass dieser erst nach Stunden eintreffen würde. Viele Frauen von der Vermittlung waren ebenfalls krank, und eine Ewigkeit schien zu vergehen, als er so dastand, in den stummen Hörer lauschte und darauf wartete, dass ihm eine Stimme antwortete, er würde verbunden. Die Totenstille zog sich hin, wurde länger und länger wie die Arme der hungernden kleinen Mädchen mit ihren flehenden Blicken.

TEIL I

COMMONWEALTH

KAPITEL 1

Die Straße nach Commonwealth war lang und wenig einladend, hinter Timber Falls zog sie sich etliche Kilometer durch den Nadelwald, in dem die Bäume höher und höher wuchsen, als versuchten sie die Sonne zu erreichen, die sie mit ihren spärlichen Strahlen zu necken schien. Über der steinigen Straße ragten Douglasien auf wie feindliche Armeen, die einander, durch einen Abgrund getrennt, gegenüberstanden. Sogar Reisende, die um ihre eigene Bedeutungslosigkeit wussten, fühlten sich auf diesem unnatürlich düsteren Abschnitt der Straße besonders demütig und klein.

Nach ein paar Kilometern durch den Wald machte die Straße eine Rechtskrümmung, und die Bäume wichen ein wenig zurück. Braune Erde und gelegentliche Baumstümpfe deuteten darauf hin, dass hier erst vor kurzem mühevoll eine Lichtung in den Wald geschlagen worden war. Sie erstreckte sich über sanft ansteigendes Gelände, und am Fuß der Anhöhe blockierte ein frisch gefällter Baum die Straße. Auf dessen dicke Borke hatte man ein Schild genagelt: eine Warnung für nicht existierende Reisende, ein stummer Schrei in die taube Wildnis.

Auf dem kahlen Hügel frischte der Wind auf und trug den Geruch von Millionen Douglasien und Kiefern heran. Philip sog scharf die Luft ein.

»Kalt?«, fragte Graham.

»Geht schon.«

Graham machte eine Geste in Richtung Stadt. »Du brauchst eine wärmere Jacke, hol dir eine.«

»Ich bleibe hier.«

»Wie du willst«, meinte Graham mit einem verhaltenen Lächeln. Dass Philip fror, war unverkennbar, was bei der dünnen Jacke und den Khakihosen – typische Bürohengst-Klamotten – auch kein Wunder war. Graham hingegen trug seinen üblichen blauen Overall und einen dicken Wollmantel.

»Glaubst du, dass es schneit?« Philip Worthy war sechzehn und groß, wobei er kleiner wirkte, weil er hinkte. Auch besaß er keine so kräftige Statur wie die meisten Männer in dieser Stadt, in der vor allem Holzfäller und Sägewerksarbeiter lebten.

»Nein, es wird nicht schneien.«

Der fünfundzwanzigjährige Graham verkörperte in vielerlei Hinsicht das, was Philip werden wollte: stark, auf eine stille Art klug, Herr in seinem Haus. Während Philip das Gefühl hatte, höflich und unterhaltsam sein zu müssen, damit er bei anderen beliebt war, schien Graham stets nur das Nötigste zu sagen und wurde trotzdem respektiert. Mittlerweile kannte Philip ihn zwei Jahre, aber er hatte noch immer nicht herausgefunden, wie er das zuwege brachte.

»Ist kälter, als ich dachte«, sagte Philip. »Das kann bedeuten, dass es bald schneit.«

Graham verstand die Angst seines Kameraden vor Schnee. Er schüttelte den Kopf. »Es ist zwar kalt, aber zu früh für Schnee. Wir haben ja erst Oktober.«

Fröstelnd zog Philip die Schultern hoch und nickte.

Graham legte sein Gewehr auf den Boden und zog seinen Mantel aus. »Komm, zieh den an.«

»Nein, wirklich, mir geht’s gut. Ich möchte nicht, dass du …«

»Zieh schon den verdammten Mantel an«, beharrte Graham grinsend. »Ich hab sowieso mehr Fleisch auf den Rippen als du.«

»Danke.« Auch Philip legte sein Gewehr hin und achtete dabei darauf, dass die Mündung von Graham weg zeigte. Der Mantel war ihm zu groß, seine Hände verschwanden fast in den Ärmeln. Mochte er darin auch ein bisschen komisch aussehen, sparte er sich so doch die Handschuhe. Ein Gewehr würde er damit nicht halten können, aber das schien ihm kein Problem zu sein, weil er es vermutlich ohnehin nicht brauchen würde.

»Was meinst du, wer das in diesem T-Modell am Sonntag war?«, fragte Philip.

»Keine Ahnung.« Keiner der beiden hatte am Sonntag Wachdienst gehabt, als zwei andere Posten gesehen hatten, wie ein funkelnagelneuer Ford unmittelbar bis vor den querliegenden Baumstamm fuhr. Der Wachposten war zu weit weg gewesen, um den Fahrer näher in Augenschein zu nehmen, der nicht aus seinem Automobil ausstieg. Dem Filzhut nach zu schließen handelte es sich um einen Mann, aber das war der einzige Anhaltspunkt. Anscheinend hatte der Unbekannte das Schild gelesen und war, ohne lange zu überlegen, umgekehrt und wieder davongefahren. Seit sich die Stadt von der Außenwelt isoliert hatte, war dies der erste Fremde gewesen, der hier aufgetaucht war.

Commonwealth lag etwa achtzig Kilometer nordöstlich von Seattle, vielleicht auch hundert oder noch mehr – das schien niemand so genau zu wissen außer Charles Worthy, dem Gründer der Stadt, und denen, die das hier geschlagene Holz abtransportierten. Im Osten ragten die zerklüfteten Gipfel der Kaskaden auf, die an klaren Tagen deutlich zu sehen waren, doch oft verschwanden sie hinter schweren, tief hängenden Wolken. An solchen Tagen schien der Ort vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein. In westlicher Richtung waren es ein paar Kilometer bis zum Meer, mit dem Puget-Sund im Süden, der Georgia-Meerenge im Norden und der Juan-De-Fuca-Meerenge im Westen, die sich hier vereinten und mit ihren kalten Gewässern die San-Juan-Inseln umschlossen. Aber wegen der dichten Wälder dazwischen war das Meer so unerreichbar fern, als wäre es gar nicht da.

Commonwealth war keine Stadt im herkömmlichen Sinn, was zum Teil erklärte, weshalb es auf keiner Landkarte erwähnt wurde, als habe sich der Rest der zivilisierten Welt entschieden, von seiner Existenz einfach keine Kenntnis zu nehmen. Es gab weder einen Bürgermeister noch einen Postvorsteher oder einen Sheriff. Hier fand man auch kein Gefängnis und keine Steuerbehörde, weder Bahnhof noch Schienen, keine Kirche, kein Telefon, kein Krankenhaus. Ebenso wenig einen Saloon oder ein Lichtspielhaus. Commonwealth bestand praktisch nur aus einer Sägemühle, Wohnhäusern für die Arbeiter, einer Menge Land mit noch mehr Bäumen zum Fällen und dem notwendigen Drumherum wie einem Gemischtwarenladen und einer Arztpraxis. Wer etwas einkaufen wollte, was es im Laden nicht gab, sich einen Film ansehen oder an einem Gottesdienst in einer Kirche teilnehmen wollte, reiste in das fünfundzwanzig Kilometer südwestlich gelegene Timber Falls. Aber inzwischen durfte niemand mehr in die Stadt hinein oder aus ihr heraus.

»Meinst du, der Fahrer kreuzt hier noch mal auf?«, fragte Philip, während ihm der Wind das braune Haar in die Stirn wehte.

Mit ausdrucksloser Miene, den Blick der blaugrünen Augen unbeirrt auf den Fuß des Hügels gerichtet, dachte Graham einen Moment nach. »Nein, nicht nachdem er das Schild gesehen hat. Wenn er wirklich hätte reinkommen wollen, dann hätte er es gleich versucht. War wahrscheinlich bloß ein Holzhändler, der nichts von der Quarantäne gewusst hat.«

Philip nickte, dankbar für Grahams Gewissheit.

Philip war ohne Vater und Geschwister aufgewachsen und hatte seine ständig umherreisende Mutter durch den ganzen Westen begleitet, bis er nach dem Unfall in die Obhut der Worthys gekommen war. Als seine neue Familie vor zwei Jahren nach Commonwealth gezogen war, um sich auf dieses kühne Experiment einzulassen, hatte er sich rasch mit Graham angefreundet. Und diesem wurde erst, als er Philip kennenlernte, bewusst, wie sehr ihm seine jüngeren Brüder fehlten.

Wie viele Sägewerksarbeiter war auch Graham in allzu jungen Jahren von zu Hause weggelaufen, nachdem er wieder einmal eine handgreifliche Auseinandersetzung mit seinem betrunkenen Vater gehabt hatte und vor die Tür gesetzt worden war. Als er sein Elternhaus in Kansas verlassen hatte, war er etwa in Philips Alter gewesen, und wenn er Philip heute ansah, wunderte er sich manchmal, wie er, Graham, damals so halsstarrig und närrisch hatte sein können, sich in einem solchen Alter in die Welt hinauszuwagen. Aber irgendwie hatte er überlebt, trotz blutiger Streiks, Gefängnisstrafen und Schlägereien mit Polizisten, und es nun zum Vorarbeiter eines angesehenen Sägewerks gebracht. Zwar hatte er jetzt eine eigene Familie, um die er sich kümmern musste, aber es machte ihm Spaß, Philip all die Sachen beizubringen, die er selbst von seinem älteren Bruder gelernt hatte, wie sein erstes Wild zu erlegen, seinen ersten Fisch zu angeln und sich auf den Pfaden, die durch die endlosen Wälder führten, zurechtzufinden.

In Wirklichkeit war sich Graham gar nicht so sicher, ob der Mann in dem Automobil nicht doch zurückkehren würde, aber er empfand allein schon den Klang der eigenen Stimme als tröstlich. Aus diesem Grund, das erkannte er jetzt, sehnte er sich nach jüngeren Brüdern: Man fühlte sich dann beinahe so stark, wie man es in ihren Augen war.

Als Philip und Graham vor vier Tagen das erste Mal Wache schoben, hatte es keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Zehn lange Stunden hatten sie schweigend dagestanden, bis die Langeweile unerträglich wurde und sie zu plaudern anfingen. Sie dachten laut darüber nach, wie lange die Grippeepidemie noch anhalten würde, und tauschten Geschichten über frühere Krankheiten und Verletzungen aus. Philip schlug sogar vor, eine kleine Wette abzuschließen, wie lange die Quarantäne dauern würde, wofür Graham ihn tadelte, als wäre dies etwas Unanständiges. Sogleich bereute Philip seine Idee und kam sich wie ein dummer kleiner Junge vor. Doch abgesehen davon war die Zeit ziemlich langsam vergangen, der Himmel verdunkelte sich allmählich, und aus den gestaltlosen Wolken über ihnen senkte sich Nebel herab, sodass sich die beiden Männer klamm und müde fühlten und in ihre warmen Stuben wünschten, wo sie mit ihren Familien am Esstisch über die Kleinigkeiten des Alltags reden würden.

»Was macht die Lehre?«, nahm Graham, Minuten oder Stunden später, das Gespräch wieder auf.

»Ich komme prima voran. Über Zinsrechnung kannst du mich alles fragen.«

»Darüber will ich aber gar nichts wissen, vielen Dank auch.«

Philip war jetzt Charles Worthys Lehrling und wurde in den kaufmännischen Belangen des Sägewerkbetriebs unterrichtet, um eines Tages dieselbe Arbeit zu tun wie früher Charles in der Sägemühle seines Vaters, dem er vor zwei Jahren angewidert den Rücken gekehrt hatte.

»Macht dir das wirklich Spaß, den ganzen Tag rumzuhocken?«

»Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.«

Philip fragte sich, ob Graham ihn wegen seiner Bürotätigkeit geringschätzte. Wegen seiner Behinderung war er für körperlich anstrengende Arbeiten denkbar ungeeignet. Während Philip einen beiläufigen Blick auf Grahams Hand warf, an der seit einem Unfall im Sägewerk vor ein paar Jahren ein Finger fehlte, dachte er sich, dass er mit seinem Los eigentlich ganz zufrieden sein konnte.

Erst neulich hatte Philip an der Kalkulation mitgearbeitet, um zu ermitteln, was das Werk sparen würde, wenn es von Gattersägemaschinen auf Bandsägemaschinen umstieg, bei denen wegen der dünneren Blätter weniger Sägemehl anfiel, was einen geringeren Verlust an Holz bedeutete. Das war eine anspruchsvolle Aufgabe gewesen, und als er damit fertig war, hatte er das Gefühl, einen wertvollen Beitrag für das Werk geleistet zu haben. Das leise Kompliment seines Vaters zu seiner Arbeit klang ihm noch immer in den Ohren.

»Wie geht’s deiner Kleinen?«, fragte Philip.

»Gut«, erwiderte Graham, und ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Krabbelt neuerdings im ganzen Haus herum. Amelia muss sie jetzt ständig im Auge behalten.«

»Wann fängt sie zu sprechen an?«

»Frühestens in ein paar Monaten.«

»Und wann wird sie Bäume fällen wie ihr Papa?«

»Wohl nie.«

»Ich weiß nicht«, sagte Philip, »sie sieht mir sehr nach einer geborenen Holzfällerin aus.«

»So? Woran erkennst du das denn?«

Philip zuckte die Achseln. »Sie sabbert ziemlich viel. Und rülpst. Und riecht manchmal.«

Graham grinste und nickte.

»Kommst du denn auch mal zum Schlafen, oder hält sie euch die ganze Nacht wach?«

»Ich nutze jede Gelegenheit zum Schlafen.«

»Zum Beispiel wenn du hier draußen Wache stehst?«

»Ich hab beim letzten Mal nicht geschlafen. Ich habe nur meine Augen ausgeruht und nicht auf dich geachtet. Das ist eine wichtige Fähigkeit, die man entwickelt, wenn man Frau und Kind hat. Das kannst du mir glauben.«

»Apropos«, fuhr Graham nach einer kurzen Pause fort und musterte Philip aus den Augenwinkeln. »In letzter Zeit sieht man dich öfter zusammen mit diesem Mädchen von den Metzgers.«

Philip zuckte wenig überzeugend mit den Achseln. »Sie ist mit meiner Schwester befreundet.«

»Und warum sehe ich dann immer dich mit ihr, und zwar ohne deine Schwester?«

Es dauerte einen Augenblick zu lang, bevor Philip eine Antwort parat hatte. »Wieso, man wird doch mal mit einem Mädchen reden dürfen?«

Graham lächelte. »Junge, ich hoffe, du lässt dich von ihr nicht so leicht durchschauen wie von mir.«

Ein paar Minuten verstrichen in Schweigen, ehe sie unten am Hügel jemanden bemerkten.

Zuerst sahen sie ihn nur durch die Baumstämme, alle paar Sekunden blitzte etwas Hellbraunes und Ockerfarbenes zwischen dem Borkengewirr auf. Beide erstarrten und warteten mit angehaltenem Atem darauf, ob dort tatsächlich jemand auftauchte oder ob sie sich das eingebildet hatten, es vielleicht nur eine Lichtspiegelung gewesen war.

Da kam die Gestalt um die Kurve, blickte den Hügel hinauf, sah die Stadt. Zwischen dem Mann und der Stadt standen Philip und Graham, doch er schien die beiden nicht zu bemerken.

»Siehst du, was ich sehe?«, fragte Philip.

»Allerdings.«

Die Gestalt setzte sich in ihre Richtung in Bewegung.

»Lesen Sie, was auf dem Schild steht«, befahl Graham dem Fremden in ruhigem Ton. »Lesen Sie das Schild.«

Und tatsächlich blieb der Mann stehen, als er nach ein paar Schritten den gefällten Baum mit dem Schild erreicht hatte. Er verharrte ungewöhnlich lange, als könnte er nur schlecht lesen und als stünden dort zu viele schwierige Wörter. Dann sah er zu ihnen hinauf. Graham sorgte dafür, dass sein Gewehr gut zu sehen war, das er aufrecht neben sich hielt, die Hand am Lauf, die Mündung von sich weg gerichtet.

Obwohl Philip seit Tagen das Schild nicht weiter beachtet hatte, kannte er den Wortlaut auswendig.

QUARANTÄNE

ZUTRITT STRIKT UNTERSAGT!

Aufgrund der GRIPPEEPIDEMIE steht diese Stadt unter strenger QUARANTÄNE.

Dieser Bezirk wird ständig von BEWAFFNETEN Wachen kontrolliert.

Der Zutritt ist NIEMANDEM gestattet.

Gott schütze Sie.

Nachdem er dies gelesen hatte, wurde der Mann kurz von einer Art Krampf geschüttelt und fasste sich mit einer Hand ins Gesicht. Dann stapfte er auf den gefällten Baum zu und begann, darüberzuklettern. Es war ein ziemlich mächtiger Baum, deshalb brauchte er einen Moment, bis er den dicken Stamm bezwungen hatte, ohne dabei zu stolpern, und kam danach auf die beiden zu.

»Er geht immer noch weiter«, stellte Philip fest und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Hastig krempelte er die Ärmel von Grahams Mantel hoch und griff nach seinem Gewehr. Er fragte sich, warum er so nervös wurde, während Graham noch ruhiger als sonst zu sein schien.

Der Mann hinkte ein wenig und verzog immer das Gesicht, wenn er das rechte Bein bewegte, was sein Vorankommen zwar verlangsamte, es aber irgendwie endgültiger erscheinen ließ. Er trug eine Art Uniform. Tatsächlich, da waren auch Streifen auf einer Schulter, und als der Fremde näher kam, erkannten Philip und Graham über seiner rechten Schulter den Kolben eines Gewehrs.

Ein Soldat, dachte Philip verdutzt.

Fast die Hälfte des Weges zu ihnen hatte er schon zurückgelegt und war nur noch etwa siebzig Meter entfernt.

»Sofort stehen bleiben!«, rief Graham. »Diese Stadt steht unter Quarantäne. Kommen Sie nicht näher!«

Der Mann gehorchte. Er hatte dunkles, ungekämmtes Haar, das für einen Soldaten ein bisschen lang zu sein schien. Offenbar hatte er sich seit mehreren Tagen nicht rasiert. Um den rechten Oberschenkel hatte er einen Stofffetzen gebunden, der dunkel verfärbt war, möglicherweise von getrocknetem Blut. Seine Uniform war an den Beinen über und über verdreckt und auch die Brust stellenweise schmutzverschmiert.

Da nieste der Soldat.

»Bitte!« Er musste die Stimme heben, um sich über die Distanz verständlich zu machen, doch die Anstrengung schien beinahe seine Kräfte zu übersteigen. »Ich bin am Verhungern. Ich brauche nur ein bisschen was zu essen …«

Was macht denn ein Soldat hier draußen?, ging es Philip durch den Kopf, aber er behielt den Gedanken für sich.

»Du kannst nicht hier raufkommen, Kumpel«, entgegnete Graham. »Auf dem Schild steht doch, dass wir unter Quarantäne stehen. Wir dürfen niemanden hereinlassen.«

»Es ist mir egal, ob ich krank werde«, sagte der Mann kopfschüttelnd. Er war jung – eher in Philips als in Grahams Alter – und sprach mit einem Akzent, der aber nicht ausländisch klang, sondern eher, als käme er aus einem anderen Teil des Landes. Aus Neuengland oder vielleicht New York?, rätselte Philip. Der Mann hatte ein mageres, knochiges Gesicht mit einem kantigen Kinn – ein Gesicht, dem man nicht trauen könne, wie Philips Mutter immer gesagt hatte, wenngleich Philip den Grund dafür nie erfuhr.

»Ich verhungere – ich brauche was zu essen. Seit zwei Tagen schlage ich mich schon durch die Wälder. Es gab einen Unfall …«

»Ob du gesund bleibst oder nicht, kümmert uns weniger.« Grahams Stimme klang nach wie vor kräftig, beinahe schon herrisch. »Aber wir sind die einzige Stadt hier in der Gegend, in der noch niemand erkrankt ist, und so soll es auch bleiben. Jetzt verschwinde und geh die Straße zurück, auf der du gekommen bist.«

Der Soldat warf einen flüchtigen Blick zurück und fasste dann wieder Graham ins Auge. »Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?«

»Ungefähr zwanzig Kilometer«, erwiderte Graham. Commonwealth lag nicht auf dem Weg zu oder von einem anderen Ort – die Straße endete hier. Was hatte den Soldaten nur hierher verschlagen?

»Zwanzig Kilometer? Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen. Und in ein paar Stunden ist es dunkel.«

Er hustete. Laut und rasselnd. Über welche Entfernung kann man sich durch Tröpfchen infizieren?, überlegte Philip.

Da humpelte der Soldat weiter auf sie zu.

Eine ungekannte Mischung aus Angst, Mitleid und Pflichtgefühl – er wusste, dass er eine Aufgabe zu erfüllen hatte – ließ Philip erstarren. Noch vor ein paar Stunden war es für ihn völlig klar und einsichtig gewesen, wie er handeln sollte, doch jetzt wurde ihm bewusst, dass er eigentlich nicht die geringste Ahnung hatte.

Graham ließ nichts von einer solchen Verunsicherung erkennen: Er nahm sein Gewehr in beide Hände und hielt es schussbereit.

Zögernd folgte Philip seinem Beispiel.

»Stopp!«, befahl Graham. »Keinen Schritt weiter!«

Erst später an diesem Abend, als er einzuschlafen versuchte, fiel Philip ein, dass er hätte vorschlagen können, Essen aus der Stadt zu holen und dem Soldaten hinunterzuwerfen. Bestimmt hätte es eine Möglichkeit gegeben, dem Mann zu helfen, ohne ihn noch näher herankommen zu lassen.

Wieder blieb der Mann stehen, in etwa dreißig oder vierzig Meter Entfernung.

»Ich hab keine Grippe«, beteuerte er mit erneutem Kopfschütteln. »Ich bin gesund, habt ihr verstanden? Ich werde niemanden anstecken. Bitte lasst mich einfach nur in einem Stall oder sonstwo schlafen.«

»Für jemand, der gesund ist, niest und hustest du ziemlich viel«, bemerkte Graham.

Der Mann machte einen weiteren Schritt, während er zu einer Erwiderung ansetzte, erstarrte aber sogleich, als Graham sein Gewehr ein wenig höher hob.

»Ich sagte, keinen Schritt weiter!«

Flehentlich sah der Soldat Philip an.

»Das Husten und Niesen kommt daher, dass mein Schiff gekentert ist und ich seit zwei Tagen durch die Wälder irre.« Er klang beinahe wütend, aber eben nur beinahe – offenbar war er klug genug, sich nicht mit zwei Bewaffneten anzulegen. Aus seinem Ton sprachen eher Überdruss und Erschöpfung. »Glaubt mir, ich habe keine Grippe. Ich werde niemanden anstecken.«

»Das liegt nicht in deiner Hand. Wenn es so wäre, würde ich dir glauben, aber darauf hast du keinen Einfluss. Also gebe ich nichts auf dein Wort.«

»Himmel noch mal, ich bin ein amerikanischer Soldat.« Er richtete seinen anklagenden Blick auf Graham. »Ich bitte euch um Hilfe.«

»Und ich sage dir, dass ich dir helfen würde, wenn ich könnte, aber es geht nicht.«

Der Soldat ließ den Kopf hängen. Dann hustete er wieder. Es klang zäh und schleimig, als hätte er in der Bucht etwas verschluckt, was er jetzt nicht mehr loswurde.

»Ich nehme an, es gibt keinen Sheriff in eurer Stadt, mit dem ich reden könnte?«

»Nein.«

»Was ist das eigentlich für eine Stadt?«

»Stiehl uns nicht die Zeit, Kumpel. Mach dich wieder auf den Weg. Tut mir leid, ehrlich, aber ich kann dir nur raten, auf dieser Straße zurückzumarschieren, und wenn du’s bis zur nächsten Stadt schaffst, pass gut auf dich auf. Dort sind nämlich alle krank.«

Nach einem neuerlichen Hustenanfall machte der Soldat kehrt – endlich. Erleichtert schloss Philip einen Moment lang die Augen. Im Geiste sah er schon vor sich, wie er diese Geschichte seiner Familie und seinen Freunden erzählte.

Doch da drehte sich der Soldat um und wandte sich wieder ihnen zu. Philip spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, als er im Blick des Soldaten eine Entschlossenheit bemerkte, die verriet, dass etwas in ihm vorging. Philip fasste sein Gewehr etwas fester.

»Schätze, du bist nicht zum Militär eingezogen worden«, sagte der Soldat bitter zu Graham. Seit er sich wieder zu ihnen umgedreht hatte, schienen sich seine Augen zu Schlitzen verengt zu haben.

»Richtig geschätzt«, erwiderte Graham.

Der Soldat nickte. »Glück gehabt.«

»Schon möglich.«

Und dann humpelte er wieder auf sie zu.

Mit weit aufgerissenen Augen sah Philip Graham an.

»Komm nicht näher!«, brüllte Graham und zielte mit dem Gewehr direkt auf die Brust des Mannes. »Stehen bleiben!«

Der Soldat schüttelte wieder den Kopf, doch auf linkische Weise, als hätte er einen steifen Hals. »Ich werde nicht hier im Wald sterben.«

Auch Philip richtete nun seine Waffe auf den Mann. Auf einen Menschen hatte er noch nie gezielt, und es erschien ihm gänzlich unnatürlich, wie etwas Verbotenes. Er hoffte inständig, der Soldat würde kehrtmachen.

»Ich bluffe nicht!«, schrie Graham. Seine Stimme klang anders als zuvor – panischer.

Der Soldat ging unbeirrt weiter. Philip glaubte, den Gestank des Mannes zu riechen, die vom Schlafen auf moosigen Ästen, nassen Zweigen und Schnecken modrig gewordenen Kleider.

Abermals schüttelte der Mann den Kopf, die Augen feucht und gerötet. Zentimeterweise schob er sich näher an die beiden Wachposten heran, an Nahrung, an ein warmes Plätzchen, um die müden Knochen auszuruhen, an seine Rettung.

»Zwing mich nicht dazu!«, rief Graham.

Ein weiterer Schritt. Der Soldat öffnete den Mund und brachte ein kaum vernehmliches »Bitte« hervor.

Graham schoss. Der gewaltige Lärm des Schusses ließ Philip zusammenzucken, sodass er beinahe ebenfalls abgedrückt und eine unnötige Salve abgegeben hätte. Er sah, wie der Brustkorb des Soldaten aufgerissen wurde, Kleiderfetzen und etwas, das die Farbe frisch gewaschenen Fells hatte, flogen umher. Der Soldat taumelte rückwärts und sank auf das linke Knie.

Dann geschah zweierlei: Die Stelle, wo die Brust des Mannes zerfetzt worden war und die anfangs leicht schwarz verfärbt aussah, nahm ein dunkles Rot an. Gleichzeitig griff der Soldat mit der Rechten nach dem Gewehr, das er sich über die Schulter gehängt hatte. In seinen Albträumen würde Philip die seltsam mechanische Bewegung dieses Arms wieder sehen, als ob ein entseelter Körper noch einen letzten Befehl ausführte.

Graham schoss erneut, und diesmal wurde der Mann auf den Rücken geschleudert. Ein Bein war etwas verdreht, ansonsten lag er vollkommen flach auf dem Boden und blickte in einen so nichtssagend grauen Himmel, dass er im letzten Moment seines Lebens dort alles Vorstellbare gesehen haben mochte: seinen Gott, seine Mutter, eine verlorene Geliebte, die Augen des Mannes, der ihn getötet hatte. Das Grau war alles und nichts.

Philip wusste nicht, wie lange er den Mann angestarrt und das Gewehr weiterhin auf die Stelle gerichtet hatte, wo der Mann gestanden hatte. Nach ein paar Sekunden gelang es ihm schließlich, den Kopf zu Graham zu drehen. Grahams Augen waren weit aufgerissen vor Erregung.

Philip merkte, dass sie beide schwer atmeten, vor allem aber Graham. Er sog die Luft stoßweise ein, mit jedem Atemzug tiefer und geräuschvoller. Schließlich ließ Philip das Gewehr sinken und überlegte, ob er seinem Freund die Hand auf die Schulter legen oder sonst irgendetwas tun sollte.

»O Gott«, stöhnte Graham. »O Gott.«

Philip wusste nicht, ob Graham schon einmal einen Menschen erschossen hatte. Zwar hatte er davon gehört, was Graham beim Everett-Massaker 1916 widerfahren war, aber er wusste nicht genau, ob Graham nur Opfer oder auch Täter gewesen war.

»O Gott.«

Graham schnappte lauter und lauter nach Luft, und gerade als Philip ihn fragen wollte, ob er in Ordnung sei, hielt Graham einen Moment lang den Atem an und schluckte den letzten Rest Luft, als wolle er das Bild, das sich ihm bot, die Tat, die er soeben begangen hatte, in voller Gänze verarbeiten. Als er danach weiteratmete, klang es beinahe normal.

Ein paar Sekunden verstrichen.

»Wir müssen mit Doc Banes sprechen«, sagte Graham. Plötzlich klang sein Ton gefasst und nüchtern, ganz anders als zuvor. Er hätte ebenso gut über den Zustand einer Maschine im Sägewerk berichten können.

»Ich … ich glaube, er ist tot«, sagte Philip mit brüchiger Stimme.

»Natürlich ist er tot!«, fauchte Graham ihn an und wandte ihm dabei zum ersten Mal das Gesicht zu. Seine Augen funkelten vor Zorn, und Philip wich einen Schritt zurück. Dann wanderte Grahams Blick zu der Leiche zurück, und er seufzte und schluckte.

»Wir sollten herausfinden, wie lange wir uns von der Leiche fernhalten müssen, bevor wir sie beerdigen können«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob Leichen noch ansteckend sind. Und wenn ja, wie lange. Das müssen wir Doc Banes fragen.«

Bedächtig nickte Philip. Trotz des Windes fühlte sich das Gewehr in seinen feuchten Händen nicht mehr kalt an.

KAPITEL 2

Eine Woche war es nun her, seit die Einwohner von Commonwealth die Straße blockiert und das Schild aufgestellt hatten. Dem vorangegangen war eine Bürgerversammlung, mit Philip Worthy als jüngstem Teilnehmer.

Er hatte an diesem Abend neben seinen Eltern in der ersten Reihe der noch nach Tannenholz riechenden Gemeindehalle gesessen. Seit seiner Erbauung vor zwei Jahren diente das Gebäude vielerlei Zwecken – als Kirche am Sonntagnachmittag, als Tanzsaal an jedem ersten Freitag im Monat, als Basar, auf dem die Damen der Stadt mehrmals im Jahr Stepp- und Webdecken und anderes Kunsthandwerk feilboten oder kauften, sowie als Behelfsschule, bis die wachsende Zahl von Kindern in Commonwealth den Bau eines richtigen Schulhauses erforderlich gemacht hatte, das nebenan errichtet worden war. Philip wippte nervös mit dem rechten Bein, während mehr und mehr Männer und Frauen ins Gebäude strömten. Bei ihrer Ankunft in der frühabendlichen Dunkelheit war es kalt gewesen, doch während die zunehmend größer werdende Menschenmenge Gerüchte und Kümmernisse austauschte, mit den Füßen scharrte oder unruhig zuckte, hatte sich das Gebäude durch die warme Atemluft aufgeheizt.

Philip fühlte sich unwohl bei dieser Versammlung von Erwachsenen, fast als hätte er sich unrechtmäßig hier hereingeschummelt. Doch Charles hatte auf seiner Anwesenheit bestanden, als »ein Mann vom Sägewerk« sei es seine Pflicht, bei einer so wichtigen Angelegenheit seine Meinung kundzutun. Philip schaute sich in der vollen Halle nach Graham um, aber in dem Meer von Gesichtern konnte er seinen Freund nicht ausfindig machen.

Zwar fühlte Philip sich geehrt, mit Charles im Büro des Sägewerks arbeiten zu dürfen, doch hegte er den Verdacht, dass die Holzfäller und Sägewerksarbeiter ihm seinen schnellen Aufstieg übel nahmen und auf ihn herabsahen, weil er hinkte und einen Holzklotz im linken Stiefel trug. Er vermutete, in ihren Augen als ungeeignet für die schwere Arbeit zu gelten, die diese Stadt am Laufen hielt, die sie alle ernährte und ihnen inmitten der Wildnis eine Existenz ermöglichte.

Als seine Adoptivmutter Rebecca zu ihm herübersah und ihm flüchtig zulächelte, wurde ihm bewusst, dass man ihm seine Nervosität offenbar anmerkte. Sogleich setzte er sich etwas aufrechter und hörte auf, mit dem Knie zu wackeln. Rebecca drückte ihm kurz die Hand und ließ sie dann wieder los. Ihr Lächeln wirkte gezwungen. Der Blick aus ihren hellblauen Augen kündete wie immer von stiller Aufmerksamkeit.

»Was meinst du, wie die Leute reagieren werden?«, fragte Philip sie leise.

Sie schüttelte den Kopf, und ein paar graue Strähnen lösten sich aus ihrem hastig festgesteckten Haarknoten.

Philip wusste, dass Rebecca an unzähligen Veranstaltungen zum Wahlrecht und zu politischen Fragen teilgenommen hatte, nicht nur in Commonwealth, sondern auch in Timber Falls, Seattle und einem Dutzend anderer größerer und kleinerer Städte an der Küste. Mit solchen Versammlungen war sie praktisch aufgewachsen, als Anhängsel ihres Vaters Jay Woodson, eines sehr produktiven Intellektuellen und Verfassers von dicken Wälzern, die in provokanter Weise den bevorstehenden wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes beschworen und von kaum jemandem außer linksextremistischen Intellektuellen gelesen wurden. Rebeccas Vater war gestorben, bevor sie Charles heiratete, aber sie hatte ihren Teil dazu beigetragen, das Vermächtnis ihres Vaters fortzuführen, indem sie zur treibenden Kraft von Suffragettengruppen, Antikriegsorganisationen und nun von dieser Stadt Commonwealth geworden war – einer neuartigen Mischung aus sozialistischem Zufluchtsort und kapitalistischem Unternehmen. Bei der heutigen Zusammenkunft ging es indes weniger um Politik als ums Überleben.

»Ich weiß es nicht«, gestand sie Philip. »Wir werden es sehen.«

Ein paar Reihen hinter den Worthys saß Graham, der erst wenige Minuten vor Beginn der Versammlung eingetroffen war. Amelia war mit dem Baby zu Hause geblieben und müder als sonst, denn sie war im zweiten Monat schwanger, was das Paar aber noch keinem seiner Freunde eröffnet hatte. Graham rieb sich den Nacken. In dem zum Bersten vollen Saal war die Luft stickig. Männer und Frauen zwängten sich in die aufgestellten Bankreihen, und sogar an den Wänden lehnten überall Leute und traten von einem Fuß auf den anderen.

Schließlich flüsterte Rebecca ihrem Mann zu, er solle anfangen. Manchmal, dachte sie bei sich, schien sich Charles in seiner Rolle als Leiter des Sägewerks und praktisch der ganzen Stadt noch immer etwas unwohl zu fühlen. All die Jahre, in denen er als stiller Buchhalter im familieneigenen Sägewerk im Schatten seiner redseligen älteren Brüder und des despotischen Familienoberhauptes gestanden hatte, wirkten noch nach. Doch er hatte gelernt, sich von den geringen Erwartungen der anderen nicht einschüchtern zu lassen, war ein begnadeter Redner geworden und lenkte die Geschicke einer Stadt, auch wenn er dazu manchmal einen kleinen Schubs von seiner Frau brauchte. Ohne sie anzusehen, nickte Charles und stand auf.

Sein Haar und sein Bart waren in den letzten Jahren schlohweiß geworden, nur die Augenbrauen hatten noch etwas von ihrer ursprünglichen Farbe. Aus seinen Augen sprach Güte und Milde. Obwohl er sein Leben lang am Schreibtisch gesessen hatte, war er groß und breitschultrig wie ein Holzfäller. Allerdings verriet ein Blick auf seine Hände, dass sie für einen Holzfäller zu makellos waren und zu wenig Schwielen hatten. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren zählte er zu den ältesten Einwohnern dieser Arbeiterstadt, und sein Hemd mit dem weißen Kragen und die graue Flanellhose waren an manchen Stellen ein wenig verschlissen, was er jedoch entweder nicht bemerkt hatte oder worum er sich nicht weiter scherte.

Ihm folgte Dr. Martin Banes aufs Podium, der einzige Arzt im Ort, und als die beiden älteren Männer ihre Blicke durch den vollen Saal wandern ließen, verstummten alle, ohne dass sie auch nur die Hand heben oder sich räuspern mussten. Als Charles zum Sprechen ansetzte, ging ihm durch den Sinn, dass er noch nie so viele Erwachsene so leise erlebt hatte. Er verharrte noch ein oder zwei Sekunden in dieser Stille, ehe sich die erste Silbe auf seinen Lippen formte.

Charles war weder der Bürgermeister noch der Pfarrer dieser Stadt, denn in Commonwealth gab es keinen kommunalen Verwaltungschef und auch keinen religiösen Führer. Trotzdem war der Ort in vielerlei Hinsicht sein Werk, die Realisierung eines Traumes, den er und Rebecca vor vielen Jahren gemeinsam geträumt hatten, als sie den Everett-Generalstreik mit all seiner Gewalt und seinem Irrsinn miterleben mussten.

Charles war achtzehn gewesen, als sein Vater, angelockt von Geschichten über endlose Douglasienwälder, im Jahr 1890 mit seiner Familie aus dem heimatlichen Maine hierher gezogen war. Nicht einmal ein Jahr zuvor hatte die in jenem Winter grassierende Lungenentzündung Charles’ Mutter und seinen jüngeren Bruder dahingerafft, woraufhin Reginald Worthy beschloss, dass diese neue Herausforderung genau das sei, was er und seine noch verbliebenen Söhne brauchten. Ihr Ziel war Everett, eine erst vor kurzem nördlich von Seattle gegründete Stadt mit einem günstig gelegenen Hafen, der, so hieß es, den Ort bald zum Manhattan der Pazifikküste machen würde.

Die ersten Jahre waren eine Qual gewesen. Mit Wehmut dachte Charles an das geschäftige Treiben auf den Straßen von Portland zurück – ganz zu schweigen von den gut besuchten Läden und den zur Weihnachtszeit festlich geschmückten Parks von Boston –, wenn er die schlammigen Straßen entlangging, vorbei an neu gebauten Häusern, die aussahen, als würden sie beim ersten Windstoß einstürzen, und an Gasthäusern mit einer zentimeterdicken Sägemehlschicht auf dem Boden. Dazu all die üblen Gerüche: nach Kühen, die sich die Einwohner als Notnagel in ihren Höfen hielten; nach dem Schweiß der Sägewerksarbeiter, Holzfäller und Zimmerer und nach wenig geglückten Experimenten mit sanitären Einrichtungen. Dieser weit nach Westen vorgeschobene Außenposten Amerikas hinkte Jahrzehnte hinter dem Neuengland her, das Charles so sehr vermisste. Hier, in tiefster Finsternis, in einer Stadt ohne Straßenbeleuchtung, rackerten sie sich ab, und zuweilen kam es ihm vor, als seien sie in die Vergangenheit gereist und nicht ans andere Ende des Landes.

Umso mehr Grund hatte er, unermüdlich zu arbeiten; er suchte die Welt ringsum möglichst zu vergessen, indem er sich einzig auf das konzentrierte, was er nach dem Willen seines Vaters beherrschen sollte: Zahlen. Die Preise für Land, Holz und Schindeln, die Löhne der Sägewerksarbeiter. Während sein Vater und seine älteren Brüder Beziehungen pflegten und Kunden akquirierten, hockte Charles stets in seinem kleinen Büro, ungeachtet des Lärms des Sägewerks, bei dem sich ein weniger zielstrebiger Mann niemals hätte konzentrieren können.

Die Geschichte, wie seine Familie zu ihrem Schwindel erregenden Reichtum gekommen war, betrachtete Charles mit gemischten Gefühlen. Ihm war nie wohl dabei gewesen, dass seine Familie wie auch ihre Konkurrenten nach dem Erdbeben in San Francisco 1906 die Preise in die Höhe getrieben und so vom Leid und der Hilflosigkeit anderer profitiert hatten. Aber noch schlimmer war die darauf folgende Krise, weil die Sägewerke falsch kalkuliert und zu viel Holz gefällt hatten. Die Preise fielen in den Keller, Hunderte von Männern wurden auf die Straße gesetzt, und Buchhalter wie Charles suchten verzweifelt nach Mitteln und Wegen, die Verluste wieder wettzumachen. Schlechte Zeiten wie diese waren der Grund für die hemmungslose Habgier seines Vaters und seiner Brüder, ließ man Charles wissen; man müsse aus jedem Vorteil Kapital schlagen, um gegen spätere, nicht vorhersehbare Katastrophen abgesichert zu sein.

Für einen konservativen Menschen wie Charles klang dies in der Theorie zwar ganz vernünftig. Was er aber nicht einsah – insbesondere wenn die Geschäfte florierten –, war, dass Arbeiter gefeuert wurden, wenn sie mehr Lohn forderten, dass Maschinen erst repariert wurden, wenn sie bereits vierzig oder fünfzig Arbeiter verstümmelt hatten, und dass man in den betriebseigenen Gemischtwarenläden der Holzfällerlager Wucherpreise verlangte. Manche Dinge seien einfach Unrecht, beharrte Charles. Doch seine Brüder machten sich nur lustig über ihn. Das würde er besser verstehen, sobald er selbst eine Familie zu ernähren hätte, belehrten sie ihn. Schließlich bräuchten ihre Ehefrauen und Kinder Kleidung, Essen, Privatlehrer und Dienstmädchen. Als alleinstehender Mann mochte man es sich vielleicht leisten können, sich edle Gedanken über die Behandlung der Arbeiter zu machen, sie aber könnten das nicht.

Wie sich herausstellte, wurde Charles durch die Ehe jedoch keineswegs abgeklärter, zumal er Rebecca heiratete, eine Schullehrerin, die zu radikalen Ansichten neigte und mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hielt. Und die Geburt ihrer Tochter bestärkte ihn noch in seinem Vorsatz, sowohl im Sägewerk als auch zu Hause ein moralisch einwandfreies Leben zu führen. Doch erst 1916, nach einem Jahrzehnt voller Streitigkeiten und Eifersüchteleien, kam es in der Familie zum großen Knall – wie auch in der Stadt, in der sie lebten.

Es war das Jahr des Generalstreiks in Everett, das Jahr, in dem sich Sägewerksbesitzer und Arbeiter immer unversöhnlicher gegenüberstanden und die Trennlinie zwischen Richtig und Falsch verschwamm. Charles fand die Forderungen der Gewerkschaften nicht ganz unbegründet und erklärte das auch seinem Vater, woraufhin dieser drohte, seinen Sohn zu enterben, sollte er sich noch einmal zu derlei Äußerungen versteigen. Reginald und die anderen Sägewerksbesitzer waren empört über verschiedene hinterlistige Aktionen und Sabotageakte, ausgeheckt von den ruchlosen Wobblies – Mitgliedern der radikalen Gewerkschaft Industrial Workers of the World, die Everett als nächste Station auf ihrem Weg zur Revolution auserkoren hatten. Für Charles, den sein sozialistisches Weib offenbar einer Gehirnwäsche unterzogen hatte, brachten seine Brüder keinerlei Verständnis auf. Und Rebecca wollte diese Stadt möglichst bald verlassen, denn sie fand, es sei kein guter Ort für ihre zwölfjährige Tochter, um zur Frau heranzureifen.

Das sogenannte Everett-Massaker zerrüttete dann endgültig das ohnehin schon brüchige Verhältnis zwischen Charles und den anderen Männern der Familie Worthy. Natürlich behaupteten sein Vater und seine Brüder, es seien die Streikenden gewesen, die den ersten Schuss und auch die meisten der folgenden Salven abgegeben hätten