Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart
Ch. Links Verlag, Berlin
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, Mai 2019
entspricht der 1. Druckauflage von Mai 2019
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: Ch. Links Verlag unter Verwendung
einer Grafik von Shutterstock (Nr. 1155634402)
Lektorat: Philipp Kaufmann, Ch. Links Verlag
Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag
ISBN 978-3-96289-036-0
eISBN 978-3-86284-450-0
Einleitung: Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart
Vom Parlamentarischen Rat zur frühen Asylpraxis
(1948–1956)
Asyl in der frühen Bundesrepublik
(1956–1970)
Die Fluchtbewegung aus Ungarn und die Folgen (1956/7)
Der Weg zum neuen Ausländergesetz von 1965
Das bundesdeutsche Asyl in einer sich wandelnden Welt: Neue Konflikte und alte Antworten in den 1970er Jahren
Chilenische Exilanten in der Bundesrepublik
Europäisches Steuerungsbemühen und bundesdeutsche Innenpolitik
Von »Boatpeople« zu »Das Boot ist voll« (Späte 1970er Jahre bis 1990)
»Ausländerproblem« und »Asylfrage« in den frühen 1980er Jahren
Die Situation der türkischen Einwanderer
Zuspitzung der politischen Auseinandersetzungen bis zur Deutschen Einheit 1990
Asyl im Ausreiseland DDR (1949–1990)
Griechische Polit-Emigranten in der DDR
Die Veteranen des Spanischen Bürgerkriegs
Algerische Flüchtlinge in der DDR
Teure Genossen: Die chilenischen Polit-Emigranten in der DDR
Von der Deutschen Einheit zum sogenannten Asylkompromiss (1990–1993)
Artikel 16a des Grundgesetzes und seine Folgen (1993 bis heute)
Persönliches Nachwort
Anhang
Anmerkungen
Archivquellen
Weiterführende Literatur
Der Autor
Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
Quelle:
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, in: Bundesgesetzblatt Teil I, 1949, Nr. 1 vom 23. 5. 1949, Seite 3.
(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.
(3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.
(4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.
(5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.
Quelle:
Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 16 und 18)
vom 28. Juni 1993, in: Bundesgesetzblatt Teil I, 1993, Nr. 31
vom 29. 6. 1993, Seite 1002.
Am 28. Juni 1993 wurde mit einer Grundgesetzänderung der sogenannte »Asylparagraph« Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 reformiert und der neuformulierte Artikel 16a trat in Kraft. Diesem Ereignis waren vier Jahrzehnte andauernde hitzige, öffentliche Debatten vorausgegangen. Dieses Buch ist eine zeithistorische Darstellung der Vorgeschichte, des Verlaufs und der Folgen der Verfassungsreform des Asylrechts in Deutschland und behandelt Entwicklungen von den Nachkriegsjahren bis in die Gegenwart. Es wird gefragt, warum ausgerechnet der knappe Satz »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« zu einem so großen Verfassungskonflikt im vereinten Deutschland geführt hat. Und wieso prägt der gefundene politische Kompromiss die politische Kultur der Berliner Republik, des vereinten Deutschlands, bis in die Gegenwart? In der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik hatte es bis zum Inkrafttreten des neuformulierten Asylrechts bereits 38 andere Grundgesetzänderungen gegeben. Allerdings haben nur wenige Verfassungskonflikte, etwa die Wiederbewaffnung und die Notstandsgesetzgebung, zu einer vergleichbaren, bis in die Gegenwart anhaltenden politischen Mobilisierung und polarisierten Auseinandersetzung geführt wie der sogenannte Asylkompromiss von 1993.
Ungeachtet dieser Tatsache hat die Thematik Asylpolitik und Flüchtlingsaufnahme in der bundesdeutschen Zeitgeschichte – und durchaus im Unterschied zu den gegenwartsbezogenen Sozial- und Kulturwissenschaften1 – bisher keine ausführliche Betrachtung gefunden. Gleiches gilt für die seit der Jahrtausendwende erschienenen großformatigen Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte, die eine interessierte Leserschaft außerhalb des Fachpublikums der Geschichtswissenschaft suchen. Mit bemerkenswerter Übereinstimmung wird in den darin enthaltenen Bänden oder Kapiteln zur Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg davon ausgegangen, dass die Aufnahme von politisch Verfolgten erst ab den späten 1970er Jahren beziehungsweise mit der Ankunft einer vermeintlich unkontrollierbaren Masse von Asylbewerbern zu einem Problem der bundesdeutschen Rechts- und Innenpolitik wurde und diese Problemlage nach der Deutschen Einheit die oben erwähnte Lösung fand.2
Im Gegensatz zu dieser weitverbreiteten Auffassung gehe ich in meiner Darstellung davon aus, dass sich die außerordentliche Mobilisierung der politischen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik beim Thema Asyl nicht allein aus den oft genug tragischen Schicksalen der vielen ausländischen Flüchtlinge erklären lässt. Auch die mit der Aufnahme verbundenen tatsächlichen oder vermeintlichen Herausforderungen für den bundesrepublikanischen Sozialstaat beziehungsweise die bundesdeutsche Gesellschaft liefern dafür keine hinreichende Erklärung. Der Komplex Flüchtlings- und Asylpolitik war vielmehr von Beginn an mit fundamentalen Fragen nach den politisch-moralischen Grundlagen der deutschen Gesellschaft verbunden. Für die einen stellte eine offene Flüchtlings- und Asylpolitik die Garantie für eine grundsätzliche Abkehr von der rassistisch geprägten Vergangenheit und insbesondere vom Nationalsozialismus dar. Für die anderen war eine solche Position undenkbar, weil sie einen Bruch mit dem Paradigma des »Nichteinwanderungslandes« bedeutete und als Aufgabe der historischen, kulturellen und ethnischen Identität der Deutschen verstanden wurde. Diese konfliktträchtige Konstellation existierte seit dem Beginn der politischen Debatten um das Asylrecht im Grundgesetz und prägt diese bis in die Gegenwart. In diesem Sinne argumentiere ich in dem vorliegenden Buch, dass die Auseinandersetzung um Flucht und Asyl als zentraler Aspekt der Geschichte der politischen Kultur des geteilten Nachkriegsdeutschlands betrachtet werden sollte, und dass der »Asylkompromiss« dementsprechend ein emblematischer Bestandteil des schwierigen deutschen Vereinigungsprozesses war. Zugespitzt formuliert gehe ich davon aus, dass die Revision von Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 zu Artikel 16a im Juni 1993 ein weiterer Gründungsakt der Berliner Republik war. Der daraus entstandene gesellschaftliche Konsens, dass in der Bundesrepublik weiterhin ein grundsätzlich liberales Asylrecht Verfassungsrang besitzt, das indes nur innerhalb restriktiver Begrenzungen angewendet wird, zerbrach allerdings unter dem Eindruck der Europa und die Bundesrepublik erreichenden Fluchtbewegungen der Jahre 2014 und 2015.
Der Schwerpunkt dieser weitgehend chronologischen Darstellung von Asylpolitik und Asylpraxis in Deutschland liegt auf der Entwicklung in der alten Bundesrepublik bis zur deutschen Einheit. Dazukommend wird die Asylgewährung in der DDR in einem eigenen Kapitel dargestellt, da mir dies für eine plausible Erklärung der Verhältnisse im vereinten Deutschland nach 1989 unbedingt erforderlich erscheint. Daran schließen sich eine knappe Darstellung der von den Sozialwissenschaften gut untersuchten Entwicklung hin zur Verfassungsänderung von 1992/93 und ein Ausblick auf die folgenden Entwicklungen bis ins Jahr 2018 an.
Da es sich bei diesem Buch um eine Überblicksdarstellung handelt, habe ich jene Fälle beziehungsweise Gruppen von im Nachkriegsdeutschland Asylsuchenden ausgewählt, deren Aufnahme in der alten Bundesrepublik wie auch der DDR eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit erhielt oder denen von den politisch Verantwortlichen eine besondere politische Bedeutung beigemessen wurde. Das Buch liefert somit einen Beitrag zur Fortentwicklung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft abseits der weithin gepflegten Aufstiegs- und Erfolgsnarrative der (west-)deutschen Nachkriegsgeschichte.3 Gegenüber solchen beruht diese Arbeit auf einem alternativen Verständnis von Zeitgeschichte, das den Wandel von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis hin zur Deutschen Einheit als eine dynamische Konfliktgeschichte betrachtet. Allerdings erschöpft sich diese Darstellung nicht allein im Herausarbeiten struktureller Konfliktpotenziale und konkreter Konfliktfälle in der deutschen Nachkriegsgeschichte von Flucht und Asyl. Vielmehr geht es darum, zu zeigen, wie es im wiedererstehenden Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland – und dies durchaus im Kontrast zur diktatorisch regierten DDR – gelang, die aus kultureller oder sozialer Differenz resultierenden Konflikte um die Aufnahme ausländischer Flüchtlinge und Asylsuchender unter den Bedingungen des Kalten Krieges schrittweise einzuhegen beziehungsweise zu entschärfen. Daran anschließend stelle ich dar, unter welchen inneren und äußeren Bedingungen sich dieser Trend zur Liberalisierung letztlich umkehrte und zum Asylkompromiss von 1993 führte, wieso die Konflikte um Flucht und Asyl in der Berliner Republik, dem vereinten Deutschland, virulent blieben und schließlich zur humanitären und politischen Krise des Jahres 2015 führten.
In Anlehnung an die Arbeiten des französischen Historikers Gérard Noiriel geht es mir darum, den Wandel der politischen Kultur in der alten Bundesrepublik auf dem Feld der Asylpolitik und anhand der Asylgewährung zu erklären. Noiriel hat in den 1980er und 1990er Jahren beispielhaft dargelegt, wie Einwanderung den französischen Nationalstaat dazu zwang, Kriterien zur Exklusion und Inklusion zu entwickeln. Dabei wurden vielfältige Regulierungsmechanismen geschaffen, die die Handlungsoptionen sowohl von Einwanderern als auch von Einheimischen prägten. Dieser Forschungsansatz ist für meine Arbeit so bedeutsam, weil sich damit die gesellschaftlichen Wirkungen politisch-administrativen Handelns auf dem Feld der Migrationspolitik untersuchen lassen.4 Indem Noiriel den Prozess der Nationsbildung und die zentralstaatlichen Kontrollmechanismen aus der Perspektive der Migrationsgeschichte – also von den Grenzen her – beschreibt, gelingt es ihm, eine sozial- und politikgeschichtliche Verbindung zur jüngeren Nationalismusforschung herzustellen und auf diese Weise die Migrationsgeschichte aus der Position einer Minderheitengeschichte herauszulösen. Die Bedeutung sowohl des sozialen Phänomens als auch des politischen Themas Migration erschöpft sich keineswegs im vermeintlichen Abschluss des Nationsbildungsprozesses am Ende des 19. Jahrhunderts.5 Anhand der Geschichte von Flucht und Asyl im Nachkriegsdeutschland kann meines Erachtens deshalb auch verständlich gemacht werden, dass sich der von Noiriel offengelegte Prozess der Nationalisierung von Staaten bis in die jüngste Zeitgeschichte, der Geschichte der beiden deutschen Staaten und des vereinten Deutschlands, fortsetzt – und dies bis in die Gegenwart.
Da mit der Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen und der Gewährung von Asyl immer zugleich die Herausforderung verbunden war und ist, neu zu bestimmen, was als Gesellschaft und als Gesellschaftsziel des modernen Staates verstanden werden soll, wird in diesem Buch der Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in der Flüchtlings- und Asylpolitik in beiden Staaten Nachkriegsdeutschlands nachgegangen. Angeregt wurde ich dazu auch durch die vergleichende Untersuchung von Christiane Harzig über Einwanderung und Politik in Schweden, den Niederlanden und Kanada.6 In ihrer Untersuchung stützt sich Harzig auf das Konzept der politischen Kultur, welche anknüpfend an Karl Rohe in politische Sozial- und Deutungskultur unterschieden wird.7 Unter Sozialkultur wird dabei die nicht diskutierbare Selbstverständlichkeit in der Gesellschaft verstanden, die auf den historischen Erfahrungen und Deutungsangeboten von Mobilität, interkulturellen Kontakten und kultureller Differenz in der Entstehung und Entwicklung der Gesellschaften und Staaten basiert. Dieser zumindest zeitweise statische Teil der politischen Kultur stehe in Interaktion mit dem prozessualen Teil, der Deutungskultur. Im Prozess der politischen Gestaltung von Migration würden dabei die Handelnden auf die Sozialkultur in politischen wie intellektuellen Diskursen Bezug nehmen und diese teils bestätigen, teils infrage stellen. In ihrer Arbeit zeigt Christiane Harzig eindrucksvoll, wie sehr unterschiedliche Gesellschaften den keineswegs konfliktfreien Weg zu einer aktiven Einwanderungspolitik beschreiten konnten. Diese Arbeit wird von mir implizit als Kontrast zur deutschen Geschichte von Migration im Allgemeinen und Flucht und Asyl während der Teilung Deutschlands und nach der deutschen Einheit im Besonderen betrachtet. Es ist mein Ziel, durch meine Darstellungen die langfristigen, aber auch die unmittelbaren Unterschiede zu diesen Entwicklungen verständlich zu machen.
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den kontroversen Verhandlungen des Parlamentarischen Rates 1949 zu Artikel 16 Absatz 2 Satz 2, den ersten öffentlichen Debatten um die Asylgewährung für politisch Verfolgte. Es wird auf die Entstehung der Asylverordnung von 1953 eingegangen und auf die sich daraus ableitende Aufnahmepraxis ausländischer Flüchtlinge in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft.
Das zweite Kapitel untersucht die Asylgewährung in der Bundesrepublik zur Zeit des Kalten Krieges, wobei der Schwerpunkt auf den Kampagnen zur Aufnahme ungarischer Flüchtlinge 1956 und von Flüchtlingen aus der ČSSR 1968 liegt. Im Zusammenhang damit werden auch die Tendenz zur Liberalisierung des allgemeinen Ausländerrechtes und die Neugestaltung des Asylverfahrens betrachtet. Dies wird kontrastiert mit der Aufnahme von außereuropäischen Flüchtlingen, Auseinandersetzungen um die politische Betätigung von Ausländern in Westdeutschland und frühen Verfahrensproblemen im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf beziehungsweise im dort angesiedelten Erstaufnahmelager.
Das dritte Kapitel widmet sich der Entwicklung in den 1970er bis zu den frühen 1980er Jahren. Ausgangspunkt ist die Auseinandersetzung um die Aufnahme politisch Verfolgter aus Chile, darunter auch Linksradikale. Die damit verbundene menschenrechtliche Universalisierung der Anerkennungsgründe und die einhergehende Rechtsprechung von Bundesgerichten ließen zugleich den aus der Hochzeit des Kalten Krieges stammenden antikommunistischen Konsens der Bundesparteien bei der Aufnahme von politisch Verfolgten zerbrechen. Mit dem Wandel des Migrationsregimes in Europa wurde in diesem Zeitraum die Asylgewährung zu einem zentralen Punkt der innenpolitischen Auseinandersetzung zwischen sozialliberaler Regierung und christdemokratischer Opposition.
Das vierte Kapitel behandelt die Auseinandersetzung um die Asylpolitik als Gegenstand der bundesdeutschen Innenpolitik nach der Regierungsübernahme durch die Regierung Kohl im Jahr 1982 bis zur deutschen Einheit 1990. Im Fokus der öffentlichen Auseinandersetzung stand in dieser Zeit unter anderem die Aufnahme von Asylsuchenden aus der Türkei, weil dies zugleich auch die größte und am schnellsten wachsende Gruppe von in der alten Bundesrepublik lebenden Ausländern war. Somit wurde die sogenannte Asylfrage zum Kern der Debatte um die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland sei oder nicht.
Das fünfte Kapitel beruht auf der Überlegung, dass die Gewichtsverlagerung in der Asylpolitik seit der deutschen Einheit allein mit Blick auf die alte Bundesrepublik nicht zu erklären ist und widmet sich daher einem ausführlichen Überblick zur Asylpolitik und Asylgewährung in der DDR. Die letztlich willkürliche Aufnahme von politischen Flüchtlingen in der DDR folgte ganz der Logik eines traditionellen Gesinnungsasyls, das von der ostdeutschen Bevölkerung wie auch von den sogenannten Polit-Emigranten völlig mit der kommunistischen Diktatur verbunden wurde.
Das sechste Kapitel zeichnet den Weg nach, der von der Bundestagswahl 1990 zum Asylkompromiss im Juni 1993 führte. Im Mittelpunkt stehen dabei die politischen und medialen Auseinandersetzungen um die Grundgesetzänderung sowie die Frage, welche Auswirkungen die virulenten Konflikte schon zu dieser Zeit auf das Asylverfahren und für die Asylsuchenden hatten.
Das abschließende siebente Kapitel widmet sich den praktischen und politischen Konsequenzen, die sich aus dem Asylkompromiss von 1993 für das Anerkennungsverfahren, die Flüchtlingsaufnahme und die europäische Migrationspolitik in den Folgejahren bis in die Gegenwart ergaben.
Der vom Parlamentarischen Rat verabschiedete und von 1949 bis zur Verfassungsänderung von 1993 geltende Passus »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« beeindruckt durch seine Prägnanz und Schlichtheit. Dieses Recht schützte die Asyl begehrenden ausländischen Staatsbürger oder Staatenlose vor Zurückweisung an der Grenze, vor Ausweisung und Auslieferung. Damit erhielt das bundesdeutsche Asylrecht eine Doppelnatur: Einerseits gewährte die Bundesrepublik auf der Basis ihrer Souveränität dem politisch Verfolgten auf dem eigenen Territorium Schutz vor dem verlassenen Verfolgerstaat; andererseits erlangten politisch Verfolgte das subjektive und durch das Grundgesetz gesicherte Recht auf Schutzgewährung im Zufluchtsland Bundesrepublik. Hinzu kommt, dass Asylberechtigte – also die im Anerkennungsverfahren für politisch Verfolgte erfolgreichen ausländischen Staatsbürger oder Staatenlose – auf vielen Feldern, wie etwa im Arbeits-, Sozial- und Familienrecht, einen Status erhielten, der als eine weitgehende Gleichbehandlung gegenüber Inländern anzusehen war. Der umfassende Schutz des Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 stellte eine sowohl in der deutschen Verfassungstradition als auch in der Praxis der Aufnahme von Flüchtlingen außergewöhnliche Neuerung dar. Immerhin waren vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die deutschen Staaten beziehungsweise das Deutsche Reich eher Ausgangs- und nicht Zufluchtsort für politisch Verfolgte in Europa gewesen. Selbst nach dem Ende der preußisch-deutschen Monarchie und unter dem Eindruck der bolschewistischen Revolution in Russland war es in der Weimarer Republik nicht möglich, den nach Westen wandernden osteuropäischen Flüchtlingen einen gesicherten Aufenthaltsstatus per Verfassung oder Gesetz zu gewähren. In noch viel stärkerem Maße wurde Deutschland Ausgangspunkt für Fluchtbewegungen, als unter der nationalsozialistischen Diktatur Menschen aufgrund ihrer politischen Anschauungen, ihrer Glaubenszugehörigkeit und ihrer ethnischen Herkunft verfolgt wurden.1 Deshalb ist es für das Verständnis der Flüchtlingspolitik und Asylpraxis in der alten Bundesrepublik unumgänglich, die Entstehungsgeschichte der Asylnorm im Grundgesetz zu betrachten.
Auf Initiative der drei westlichen Besatzungsmächte und durch Beschluss der westdeutschen Ministerpräsidentenkonferenz wurde der Parlamentarische Rat als verfassungsgebende Versammlung für den zu gründenden westdeutschen Bundesstaat aus Abgeordneten der zwölf Länderparlamente der britischen, amerikanischen und französischen Besatzungszone gebildet. Diese 4 Frauen und 61 Männer vertraten die politischen Parteien entsprechend der Sitzverteilung in den Ländern, so dass jeweils 27 Abgeordnete der CDU und der SPD, fünf Abgeordnete der FDP/LDP/DVP und je zwei der KPD, der Deutschen Partei und des Zentrums stimmberechtigt waren. Hinzu kamen noch drei Abgeordnete der SPD und je ein Abgeordneter der CDU und der FDP aus West-Berlin, die jedoch über kein Stimmrecht verfügten. Der Parlamentarische Rat nahm seine Arbeit am 1. September 1948 offiziell auf.2 Vorbereitet wurde die Arbeit des verfassungsgebenden Gremiums durch einen sogenannten »Ausschuss von Sachverständigen für Verfassungsfragen«, der vom 10. bis 23. August 1948 auf Schloss Herrenchiemsee konferierte und eine Vorlage des Grundgesetzes für den Parlamentarischen Rat erstellte. Dieser Sachverständigenausschuss aus Ministerialbeamten der Länder und einschlägigen Rechtsexperten beschloss folgende Fassung zur Beratung im Parlamentarischen Rat, die an die Formulierung einiger westdeutscher Landesverfassungen erinnerte.3
»Wer unter Nichtbeachtung der in der Verfassung niedergelegten Grundrechte von einer Stelle außerhalb des Bundes verfolgt wird, wird nicht ausgeliefert.«4
Diese Formulierung stellt gegenüber der schließlich verabschiedeten Fassung der Asylnorm im Grundgesetz ein deutlich eingeschränkteres Recht auf Asyl dar und knüpft damit eher an jene Rechtsauffassung an, die am Ende der Weimarer Republik Gesetzeskraft erhielt, aber nie rechtswirksam wurde.5 Aus der vielfältigen Literatur zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes lässt sich klar entnehmen, dass die 1948 abgestimmte Form der Asylgewährung sicherlich den persönlichen Erfahrungen der Mitglieder des Parlamentarischen Rates mit der NS-Diktatur geschuldet war und sich deshalb die Mütter und Väter der Verfassung für eine bewusst großzügige Regelung des Asyls entschieden.6 In der historisch interessierten Politikwissenschaft wird von manchen Autoren auch davon ausgegangen, dass es sich vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft um die gezielte Bezugnahme auf die allgemeinen Bürger- und Menschenrechte handelte.7 Ebenso zutreffend ist allerdings, dass in diesem Gremium bereits unmissverständliche Einwände gegen ein uneingeschränktes Asylrecht offen zur Sprache kamen. Der CDU-Abgeordnete Hermann Fecht äußerte sich am 4. Dezember 1948 wie folgt:
»Durch Absatz 2 ›Politisch Verfolgte genießen Asylrecht‹ könnten wir genötigt werden, Faschisten, die in Italien politisch verfolgt werden, bei uns in unbegrenzter Zahl aufzunehmen. Dies ließe sich auch auf andere Verhältnisse übertragen, wo es sich um Leute handelt, die nach ihren Grundsätzen undemokratisch sind. Wir wären unter Umständen genötigt, in Massen Leute aufzunehmen, die mit unserer Auffassung und mit unserem Gesetz vollständig in Widerspruch stehen.«8
Darauf entgegnete der sozialdemokratische Abgeordnete Carlo Schmid, dass Asylgewährung immer eine Frage der Generosität sei, die auch Risiken in sich berge – ein Argument, dem Fecht in dieser Sitzung nicht widersprach. Allerdings brachte Heinrich von Brentano (CDU) in der Zweiten Lesung des Asylrechts einen Änderungsvorschlag für die Asylbestimmung im Grundgesetz ein, die den von Fecht geäußerten Bedenken Rechnung trug und überdies verfolgte Deutsche im Ausland miteinbezog. Dieser Einwand Brentanos fand schon deshalb keine Aufnahme in den Verfassungstext, weil für deutsche Staatsangehörige laut Entwurf des Grundgesetzes ohnehin ein Auslieferungsverbot bestand, also ein Asylbegehren in der Bundesrepublik für Deutsche keinen Sinn gemacht hätte. Zugleich wurde deutlich, dass man die von Brentano vorgeschlagene inhaltliche Beschränkung des Asylrechts auf Verfolgte wegen des »Eintretens für Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit oder Weltfrieden« als eine Einschränkung ansah, die der Vorstellung eines umfassenden Flüchtlingsschutzes widersprach. Trotz weiterer Interventionen fanden diese Einwände gegen ein uneingeschränktes Asylrecht für jegliche politisch Verfolgte im Parlamentarischen Rat schließlich keinen Eingang in die Formulierung des Artikel 16 Absatz 2 Satz 2.9 Dass dies so möglich wurde, ist darauf zurückzuführen, dass allen Beteiligten im Parlamentarischen Rat daran gelegen war, mit der im Grundgesetz formulierten Asylnorm im Besonderen, wie auch mit dem Katalog der dort verankerten Grundrechte im Allgemeinen, einen deutlichen Schritt in Richtung Neugestaltung des deutschen Verfassungsrechtes und der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu gehen.10
Dennoch war die in diesen Einsprüchen erkennbare latente Spannung zwischen der universellen Gültigkeit von politischen Freiheiten auf der einen Seite und der exklusiven Souveränität des Nationalstaates auf der anderen Seite mit der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht aufgehoben. Vielmehr sollte diese Spannung von nun an bis hin zur Verfassungsänderung von 1993 die Auseinandersetzungen um Inhalt und Reichweite des bundesdeutschen Asylrechts begleiten.
Die Konflikte um den Schutz politisch Verfolgter und die Gewährung von Asyl finden sich in der Geschichte vieler europäischer Nationalstaaten. Bereits in der Französischen Revolution, in der sich die Exklusivität des neuzeitlichen Nationalismus mit der proklamierten Universalität der Menschenrechte verband, wurde dieser Komplex im Zusammenhang mit der Gestaltung eines säkularen Asylrechts in der damaligen republikanischen Verfassung verhandelt.11 Bevor jedoch Frankreich und Paris zu Zufluchtszentren für politisch Verfolgte aus ganz Europa wurden, hatte paradoxerweise die Französische Revolution selbst eine Emigrationsbewegung ausgelöst, weil zunächst zentrale Repräsentanten und zahlreiche Anhänger des Ancien Régime das Land verließen, um den Gefahren des revolutionären Umsturzes zu entgehen.12 Bemerkenswert daran war, dass insbesondere die französischen Revolutionsflüchtlinge im Königreich Großbritannien dessen Regierung dazu zwangen, eine gesetzliche Regelung – den Alien Act von 1793 – zu entwickeln, die sowohl dem Sicherheitsinteresse des britischen Staates als auch der liberalen Asylrechtstradition Großbritanniens entsprach. Auch wenn diese Flüchtlinge noch nicht dem Typus des politisch Verfolgten aus der Zeit nach dem Wiener Kongress oder den europäischen Revolutionen von 1848/49 entsprachen13, bleibt doch festzuhalten, dass die Anwesenheit jener Flüchtlinge den sich formierenden Nationalstaat dazu herausforderte, seine eigenen Rechtsnormen zu prüfen und gegebenenfalls neu zu bestimmen.14
In letzter Konsequenz traf dies auch auf den historisch besonderen Fall des bundesdeutschen Asylrechts zu. Zwar war es das unbestreitbare Ergebnis der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, dass dem Wort nach ein in jeder Hinsicht offenes Asylrecht in den Verfassungstext des Grundgesetzes eingebracht wurde.15 Dennoch definierte er den Kreis der Asylberechtigten darin lediglich mit zwei Worten – nämlich als »politisch Verfolgte« – und verzichtete somit willentlich auf eine formale oder inhaltliche Abgrenzung dieses Personenkreises. Das wiederum zeitigte die Konsequenz, dass die Normen zur rechtswirksamen Bestimmung, was ein politisch Verfolgter sei und welche Verfolgungstatbestände zum Genuss von Asyl berechtigten, der exekutiven Praxis überlassen blieben, die ihrerseits nun einem permanenten Prozess höchstrichterlicher Überprüfungen unterzogen war.16 Damit kam (und kommt) nach dem Grundgesetz der Ausgestaltung des Anerkennungsverfahrens für politisch Verfolgte zur Gewährung von Asyl eine zentrale Bedeutung zu, was dieses Verfahren – unabhängig von der Anzahl der Asylsuchenden – von Beginn an zu einem bemerkenswerten Konfliktfeld innerhalb der (damals noch nicht als solche bezeichneten) Migrationspolitik der frühen Bundesrepublik machte.
In der Öffentlichkeit und Politik der frühen Bundesrepublik wurden ausländische Flüchtlinge häufig keineswegs als Chance zur symbolischen Abgrenzung gegenüber der NS-Diktatur angesehen, sondern eher als Belastung oder als Gefahr für den inneren Frieden des noch jungen westdeutschen Staates. Beispielhaft dafür steht die Reaktion auf eine missliebige Äußerung des ehemaligen Ministers der ersten Nachkriegsregierung in der ČSR, Bohumil Laušman, gegenüber der Nachrichtenagentur DPA. Laušman war nach der kommunistischen Machtübernahme über Jugoslawien ins besetzte Österreich geflohen, und wollte sich in Bayern um Asyl bemühen. In einem Interview am 9. Januar 1950 hatte er jedoch erklärt, dass für ihn die Deutschen während der Besatzung genauso schlimm gewesen seien wie die Kommunisten, und dass die aus der Tschechoslowakei ausgewiesenen ethnischen Deutschen keine Chance hätten, jemals wieder in ihre alte böhmische Heimat zurückzukehren. Die am selben Tag in der fränkischen Regionalzeitung Main-Post veröffentlichte Stellungnahme des emigrierten Vorsitzenden der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei, der bereits vor den Nationalsozialisten ins Exil hatte fliehen müssen, erboste regionale Vertreter der Sudetendeutschen Landsmannschaft dermaßen, dass sie vom gänzlich unzuständigen Bundespräsidenten Theodor Heuss die unverzügliche Ausweisung des Exilpolitikers verlangten. Dass diese öffentlich wiederholte Forderung den Prinzipien des Abschiebeverbots für politisch Verfolgte im Grundgesetz und der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) widersprach, erregte allerdings kein weiteres Aufsehen. Vielmehr hatte die freimütige Äußerung Laušmans so offenkundig den Nachkriegsmythos der westdeutschen Gesellschaft – wonach die Deutschen selbst Opfer des Kriegsgeschehens gewesen seien – angegriffen, dass sich sogar Bundeskanzler Konrad Adenauer in dieser Sache mit ähnlicher Intention wie die sudetendeutschen Vertriebenenfunktionäre an den damals noch zuständigen Hohen Kommissar der Vereinigten Staaten in Deutschland, General John J. McCloy, wandte. Die Konfliktlagen der unmittelbaren Nachkriegssituation dominierten in den ersten Jahren der Bundesrepublik die Gesellschaft derartig, dass selbst antikommunistische Exilpolitiker wie Bohumil Laušman in Westdeutschland nicht per se als »natürliche« Verbündete anerkannt beziehungsweise willkommen geheißen werden konnten.17 Bohumil Laušman entschied sich schließlich, doch in Wien zu bleiben. Dort wurde er dann 1953 vom tschechoslowakischen Geheimdienst gekidnappt und nach Prag verschleppt. Dort wurde ihm der Prozess gemacht und er verstarb zehn Jahre später im Gefängnis.18
Die sich in diesem Vorgang offenbarende Abwehrhaltung gegenüber ausländischen Flüchtlingen fand ihre Entsprechung in einer Erklärung bundesdeutscher Diplomaten gegenüber der internationalen Öffentlichkeit, wonach die Bundesrepublik im Interesse eines außenpolitischen Prestigegewinns zu den ersten Staaten gehörte, die die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hatten. 1952 gab der Vertreter des Auswärtigen Amtes in Genf bekannt, man sei aufgrund der kriegs- beziehungsweise nachkriegsbedingten Flüchtlingssituation in Westdeutschland außerstande, in der nächsten Zeit ausländische Flüchtlinge aufzunehmen. Bemerkenswert an dieser am Genfer Sitz der Vereinten Nationen vorgelegten unmissverständlichen Stellungnahme ist, dass die Bundesregierung keinen substanziellen Unterschied zwischen den Belastungen machte, die der Bundesrepublik aus der Integration von Vertriebenen, SBZ/DDR-Flüchtlingen und ehemaligen Displaced Persons (DPs) beziehungsweise »Heimatlosen Ausländern« entstanden waren. In der daraus abgeleiteten empirischen Begründung der westdeutschen Abwehrposition gegenüber neuen Aufnahmebegehren von Seiten der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR verlor der Unterschied zwischen deutschen und nichtdeutschen Migrantengruppen seine argumentative Relevanz. Zugleich vertraten Beamte des Auswärtigen Amtes unverblümt die Auffassung, dass eine zusätzliche Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen in der deutschen Bevölkerung auf geringes Verständnis stoßen und die innenpolitische Lage der jungen Bundesrepublik gefährden würde.19
Demgegenüber gab es in der bundesdeutschen Justiz und in Teilen der Öffentlichkeit dieser Zeit durchaus auch Verständnis für Asylbegehren von geflüchteten Ausländern. So etwa im Fall der sieben ehemaligen niederländischen Mitglieder der Waffen-SS, die von niederländischen Gerichten zu mehrjährigen bis lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden waren und im Zuchthaus Breda einsaßen. In einer offenkundig von außen unterstützten Aktion waren sie am 26. Dezember 1952 gemeinsam aus der Haftstätte ausgebrochen, hatten unbemerkt die Bundesgrenze überschritten und bemühten sich nach ihrer Inhaftierung in Nordrhein-Westfalen um Asyl. Anders als in ähnlichen Fällen an der bayerisch-tschechischen Grenze hatte der illegale Grenzübertritt dieser Personen nicht zur sofortigen Abschiebung geführt. Die Flüchtigen waren von einem Amtsrichter in Kleve wegen illegalen Grenzübertritts zu einer Geldstrafe von zehn Mark verurteilt und anschließend aus der Haft entlassen worden. In der niederländischen Öffentlichkeit erregte der Vorfall umgehend politisches Aufsehen, und die niederländische Regierung verlangte von der Bundesregierung die Auslieferung der entflohenen Häftlinge, wofür insbesondere Adenauer anfänglich persönlich Bereitschaft zeigte. Jedoch offenbarte die deutsche Polizei deutliche Zurückhaltung bei der Verfolgung der niederländischen Häftlinge.20
Schließlich änderte sich die Situation, als nach höchstrichterlichem Urteil die sieben ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS durch ihren Eintritt in diese verbrecherische Organisation deutsche Staatsangehörige geworden waren. Damit konnten sie gemäß Artikel 16 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes ohnehin nicht ausgeliefert werden. Im Einklang mit dieser Entscheidung bemühten sich Teile der nordrhein-westfälischen FDP, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, jegliche Auslieferung flüchtiger »Kriegsgefangener« sei unrecht. Dass schließlich einer der sieben Flüchtigen im November 1953 den niederländischen Behörden übergeben wurde, war allein einer Intervention der britischen Besatzungsmacht zuzuschreiben – ein Vorgang, den Adenauer als offene Brüskierung der Bundesregierung betrachtete.21 Diese Sichtweise wurde auch in der westdeutschen Presse geteilt. Die zum Springer-Verlag gehörende Düsseldorfer Tageszeitung Der Mittag kommentierte das Verfahren wie folgt:
»Formal juristisch ist dagegen nicht viel zu sagen, und ein Gericht sollte sich der politischen Rücksichtnahme enthalten.«22
Auch wenn das anfängliche Asylbegehren der Breda-Flüchtlinge nicht zum Tragen kam, da sie schließlich unter das im Grundgesetz verankerte Auslieferungsverbot für deutsche Staatsangehörige fielen, kann von einem Bruch mit der NS-Vergangenheit in diesem Fall nicht die Rede sein. Auch hatte der in dieser Zeit unzweifelhaft vorhandene Antikommunismus in der deutschen Politik nicht etwa eine wohlwollende Anerkennung und Aufnahme von Flüchtlingen aus dem kommunistischen Machtbereich zur Folge. Der Untergang der NS-Herrschaft und die damit verbundene Niederlage im Zweiten Weltkrieg sowie die strukturellen und normativen Vorgaben der westlichen Besatzungsmächte waren zwar notwendige Voraussetzungen für einen Neubeginn in der Flüchtlings- und Asylpolitik, trotzdem dominierten in den ersten Jahren der Bundesrepublik in Politik und Öffentlichkeit nationale Selbstgenügsamkeit und kollektives Selbstmitleid.23 Wer dem vorherrschenden Selbstbild der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft nicht entsprach, dem konnte öffentlich mit Abschiebung gedroht werden, und diese Drohungen fanden keinen vernehmbaren Widerspruch. Wer aber auch ein vermeintliches Opfer der Kriegsniederlage der »Deutschen« war, galt öffentlich wie auch juristisch als politisch Verfolgter und war in der Bundesrepublik willkommen.24
Die eigentlichen Verfahrensregeln für das bundesdeutsche Asylrecht wurden mit der Asylverordnung vom 6. Januar 1953 wirksam, also rund dreieinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes selbst.25 Die Initiative für die rechtsverbindliche Regelung des Asylverfahrens durch die Bundesregierung ging von den alliierten Besatzungsbehörden aus.26 In einem Memorandum vom 14. Juli 1950 forderte die Alliierte Hohe Kommission die Bundesregierung, der bereits am 2. Dezember 1949 die Verantwortung über die Zulassung deutscher Flüchtlinge übertragen worden war, auf, von nun an »gewisse zusätzliche Aufgaben in Bezug auf nichtdeutsche rassisch, religiös und politisch Verfolgte, die das Gebiet der Bundesrepublik betreten, zu übernehmen«.27
Unter direkter Bezugnahme auf die Asylbestimmung des Grundgesetzes forderte die Alliierte Hohe Kommission, dass alle ausländischen Flüchtlinge in der Bundesrepublik aufzunehmen seien, die an deren Grenzen um Asyl baten. Die Asylsuchenden sollten nicht in den Lagern für deutsche Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht, sondern bei ihrer Ankunft auf ein oder mehrere separate Lager je Besatzungszone verteilt werden. Die ausländischen Flüchtlinge sollten von den deutschen Behörden angehört werden, um die Rechtmäßigkeit ihres Begehrens zu prüfen und um ihnen die Gelegenheit zu geben, mit den für Flüchtlingsfragen zuständigen Dienststellen der Vereinten Nationen Verbindung aufzunehmen. Allerdings behielten sich die Hochkommissare ein eigenes Verhörrecht vor und forderten, über fragliche Zulassungsansprüche informiert zu werden, wie sie auch das Recht der »Ausweisung unerwünschter Personen« zu diesem Zeitpunkt noch selbst auszuüben gedachten. Den davon nicht betroffenen ausländischen Flüchtlingen hatte der Bund Ausweispapiere auszustellen und sie auf die Länder zu verteilen. Im Übrigen wurde die Bundesregierung darum gebeten, sowohl für Unterkunft und Arbeit als auch für eine Gleichbehandlung vor deutschen Zivil- und Strafgerichten Sorge zu tragen.