Stadler, Juliane Krone des Himmels

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In Liebe gewidmet meinen Jungs, die mein Leben zu einem wilden, bunten Abenteuer machen.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Lektorat: Julian Haefs

Karten: Peter Palm, Berlin

Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

 

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KarteEuropa

 

KarteAkkon

 

Prolog

Heiliges Land, Hörner von Hattin, 4. Juli 1187

Godric schob den kleinen Kiesel mit der Zunge von einer Backe in die andere, in der Hoffnung, wenigstens ein bisschen Feuchtigkeit aus seinem ausgedörrten Gaumen zu pressen. Doch Rauch und Staub füllten seinen Mund lediglich mit einer klebrigen Masse. Sonne, Feuer, Tausende schwitzender Leiber von Mensch und Tier verursachten eine unerträgliche Hitze um ihn, einen beißenden Brodem, der nach Asche und Angst stank. Schlimmer konnte selbst das Fegefeuer nicht sein.

Godrics Vorstellung von Glück schrumpfte auf einen Krug kühlen Wassers. Der Gedanke, wie es frisch und belebend seine Kehle hinunter rann, brachte ihn beinahe um den Verstand. Doch daraus wurde nichts. Zwischen dem verheißungsvoll glitzernden See in der Ebene und dem christlichen Heer standen Abertausende bis an die Zähne bewaffnete sarazenische Krieger.

Godrics Nebenmann lag auf den Knien und hielt ein Holzkreuz so fest umklammert, dass die Fingerknöchel weiß aus seiner staubpanierten Haut hervortraten. Wieder und wieder intonierte er das Pater noster, während ihm Tränen unter den zusammengekniffenen Augenlidern hervorquollen und schmutzige Spuren über seine Wangen zogen.

»Spar dir deinen Atem und die Spucke lieber, wirst sie noch brauchen«, krächzte Godric, doch der Mann gab vor, ihn nicht zu hören.

Meinetwegen. Godric schnaubte und wandte sich wieder dem Szenario zu, das sich ihnen im Tal bot. Graf Raimund hatte recht behalten, sie hätten die fruchtbare und wasserreiche Ebene von Saphorie nie verlassen dürfen. Es hieß, Templergroßmeister De Ridefort, der alte Teufel, habe den König solange bedrängt, bis dieser das Heer auf den beschwerlichen Weg schickte – viele Tausend Fußsoldaten, leichte Reiter und Hilfstruppen, dazu zwölfhundert Ritter, die größte Armee, die das Königreich Jerusalem je hervorgebracht hatte.

Gott allein wusste, ob er damit nicht ihr aller Todesurteil gefällt hatte.

Der lange Marsch über wasserlose Hänge und Hügel hatte Mensch und Tier ausgetrocknet und ihre Kräfte aufgezehrt, Pferde waren verendet, Männer hatten sich in den Staub fallen lassen, um nie wieder aufzustehen, andere ihre Rüstungen und Waffen von sich geschleudert. Die unaufhörlichen Angriffe sarazenischer Bogenschützen und die Feuer, die ihre Feinde legten, um ihnen beißenden Rauch entgegenzutreiben, taten ein Übriges.

Frisch und ausgeruht, den See Genezareth im Rücken, musste das sarazenische Heer eigentlich nur abwarten. Wie eine Galgenschlinge zogen die Heiden ihre Reihen enger und enger um die Gegner. Sie hatten alle Zeit der Welt.

Den Christen dagegen kochte nach einer unruhigen Nacht ohne Wasser bereits die Morgensonne den letzten Rest Flüssigkeit aus den Knochen.

»Sieht nicht gut aus«, murmelte Godric und spie seinen Stein in den Staub, wo er mit einem dumpfen Geräusch aufschlug.

»Hör auf, so zu reden!«, fauchte sein Nebenmann und kam mühsam auf die Beine. »Noch nie hat ein christliches Heer eine Schlacht verloren, wenn ihm das Wahre Kreuz vorangetragen wurde.«

»Meinetwegen«, brummte Godric und blickte zum Bischof von Akkon und dem prachtvollen Kreuz, dessen Goldbeschläge in der Sonne gleißten. »Trotzdem sind dabei jedes Mal Männer draufgegangen. Und glaub mir, heute werden’s mehr sein als je zuvor.«

Schluchzend sackte sein Nachbar zurück in die Knie und betete mit ineinandergekrallten Händen, als traue er seinen eigenen Worten nicht.

Ja, flenn nur, wenn’s dir hilft!, dachte Godric und rieb sich mit der Faust über die brennenden Augen. Er selbst übte sein brutales Handwerk schon zu lange aus, um sich irgendwelchen Trugvorstellungen hinzugeben. Allein deshalb war er noch am Leben. Godric war sicher: Noch bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, würde das Blut vieler guter Männer die trockene Erde tränken, und nur Gott allein wusste, wer von ihnen das Ende des Tages erlebte.

Irgendwo begann ein Maultier lautstark zu blöken und einen kleinen Tumult auszulösen. In einer der hinteren Schlachtreihen entdeckte Godric das bockende Vieh, das sich aufbäumte und Bündel von Lanzen und Pfeilen abzuschütteln versuchte. Zahlreiche Hände griffen nach ihm, doch keiner wagte sich durch die wirbelnden Hufe nahe genug heran, um das Halfter zu fassen. Schließlich riss sich das Tier endgültig los, sprengte die Reihen der Soldaten und preschte den Hügel hinab, den Feinden und dem verheißungsvollen Wasser entgegen. Selbst seine natürliche Scheu vor Rauch und Feuer schien vergessen, so wahnsinnig war es vor Durst. Wer konnte es ihm verdenken?

Godric fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen und ertappte sich bei dem Wunsch, es dem Tier nachzutun. Was machte es schon, wenn ihn die Sarazenenteufel mit Pfeilen spickten? So wäre es wenigstens schnell vorüber. Denn wenn es etwas Schlimmeres gab als die tobende, schreiende, blutige Hölle der Schlacht, dann das Warten darauf.

Und das Alleinsein mit den eigenen Gedanken.

Es war der Befehl von Clement de Gise, der ihm eine Entscheidung ersparte. Sie würden also einen Ausfall versuchen. Was blieb ihnen auch übrig?

»Macht euch bereit, Männer!«, brüllte er, während er sein müdes Reittier in den Trab zwang. »Deus lo vult! Gott will es!«

Godric versuchte auszuspeien, bekam aber nicht genug Spucke zusammen. Stattdessen packte er seinen Speer fester und schlug das Kreuzzeichen vor der Brust. Er entschied sich für einen anderen Schlachtruf: »Gott steh uns allen bei!«

Buch I

Was das Wort nicht heilt, heilt das Kraut.

Was das Kraut nicht heilt, heilt das Messer.

Was das Messer nicht heilt, heilt der Tod.

Hippokrates (~ 460–370 v. Chr.)

Kapitel 1

Grafschaft Tonnerre, Rittergut Arembour, Juni 1189

Der Pfeil bohrte sich zitternd in die strohgeflochtene Scheibe, kaum eine Handbreit vom Mittelpunkt entfernt. Mit überlegenem Grinsen senkte Gérard seinen Bogen und machte einen Schritt zur Seite. »Dein Schuss, Brüderchen.«

Étienne trat vor, nahm Maß und suchte sich einen festen Stand, indem er die Stiefel tief in den aufgeweichten Untergrund des Hofs grub. Er verlagerte sein Gewicht auf den gesunden Fuß und legte einen Pfeil auf. Während er ausatmete, visierte er das Ziel an, spannte die Sehne, bis er sie knarren hörte – und schoss. Der Pfeil jagte davon und bohrte sich mit einem dumpfen Laut geradewegs ins Zentrum der Scheibe.

Gérards Grinsen gefror auf seinen Lippen und wich einem ungläubigen, beinahe komischen Staunen.

»Tja, Gérard, ich fürchte, das Messer gehört jetzt mir.« Étienne versuchte, möglichst gelassen zu klingen, wenngleich ihm nach Jubeln zumute war. »Vielleicht kannst du es beim nächsten Mal ja wieder zurückgewinnen.«

»Dreimal verfluchter Krüppel!«

»In der Tat, besiegt von einem Krüppel. Das muss bitter sein, für einen großen Krieger wie dich«, stimmte Étienne ihm gut gelaunt zu.

Gérards Faust ballte sich um den Bogen, und seine Gesichtszüge verzerrten sich zu einer wütenden Grimasse. Er war so leicht zu provozieren. So leicht, dass es beinahe langweilig war. Doch Étienne hatte nicht oft Gelegenheit, sich in der Rolle des Überlegenen zu finden, im Gegenteil.

Als er zu einer weiteren Spitze ansetzen wollte, wanderte Gérards Blick an ihm vorbei und ein boshaftes Lächeln hob seine Mundwinkel.

Noch bevor Étienne sich umdrehen konnte, packte ihn eine behandschuhte Hand bei der Schulter und zerrte ihn herum.

»Was tust du hier?«, presste sein Vater zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Étienne konnte nicht anders – die Freude über seinen kleinen Triumph machte ihn trunken und übermütig. »Schätze, ich bin dabei, Euren Erstgeborenen im Bogenschießen zu demütigen.« Er grinste.

Basile d’Arembour packte Étienne so hart am Kragen, dass ihm der Lederriemen mit dem Silberkreuz seiner verstorbenen Mutter die Luft abzuschnüren drohte.

»Du weißt genau, was ich meine, Kerl. Wieso bist du nicht in deiner Kammer? Geoffroi wird jeden Augenblick mit unseren Gästen eintreffen.«

Étienne nickte müde. Der Triumph verflog wie Rauch im Wind und wich einem dumpfen Zorn. »Verzeiht, Vater, wie konnte ich es vergessen, die Missgeburt muss verschwinden, damit sie Euch vor den werten Herrschaften nicht in Verlegenheit bringt.« Das war nur die halbe Wahrheit. Auch wenn keine Gäste auf Arembour weilten, mied Basile seinen Drittgeborenen wie einen Aussätzigen.

»Pass auf, was du sagst, Bürschchen!« Beinahe angewidert stieß er Étienne von sich, woraufhin dieser rückwärts in den Dreck stolperte.

Mühsam kam er wieder auf die Füße und sah seinem Vater herausfordernd in die Augen. »Ihr bedauert, dass Ihr mich nach der Geburt nicht ersäuft habt wie einen verkrüppelten Welpen, hab ich recht?«

Basile funkelte ihn wütend an und spuckte aus. »Scher dich in deine Kammer!« Seine Stimme klang gefährlich leise.

Étienne wusste nicht, welcher Dämon ihn trieb, die nächsten Worte auszusprechen. »Ihr wart zu feige, ist es nicht so?«

Mit ungehemmter Kraft traf ihn Basiles Faust zwischen Wange und Unterkiefer und schickte ihn zurück auf den Boden. Er schmeckte Blut auf der Zunge, und sein Schädel dröhnte wie eine Glocke.

»Geh mir aus den Augen, undankbarer Wicht, bevor ich nachhole, was ich damals versäumt habe«, zischte sein Vater. »Und mit dem Bogenschießen ist ein für alle Mal Schluss!«

Ein dumpfes Bersten erklang, als Basile Étiennes auf der Erde liegenden Bogen mit einem Schwertstreich in zwei Hälften teilte.

Étienne schluckte hart und blieb liegen, bis sein Vater sich entfernte. Sein Blick hing an der zersplitterten Waffe. Ein wenig fühlte es sich an, als wäre nicht nur der Bogen in zwei Teile gegangen.

 

Étienne saß auf seinem Bett und blickte aus dem kleinen Fenster. Unbeeindruckt von seiner düsteren Stimmung blinzelte die Sonne durch die Wolken, und Schwalben jagten mit schrillem Zwitschern über den Hof. Im Schmutz suchten Schweine und Hühner nach Fressbarem, während eine Magd vor der Küche eine Gans rupfte – ein Braten für die abendliche Gasttafel. Er würde davon freilich nichts abbekommen.

Étienne ließ sich auf sein Lager zurücksinken und starrte an die Decke. Seine Wange fühlte sich geschwollen an, und im Kiefer pochte es unablässig. Doch mehr als alles andere schmerzte die Erkenntnis, dass sein Vater ihn verabscheute – weiß Gott keine neue Erkenntnis, doch darum nicht weniger bitter. Er hob den nackten linken Fuß, der den Namen nicht verdiente, und betrachtete ihn angewidert. Abscheuliches Ding! Verworfen und nach innen verdreht wie ein Stück Treibholz, machte er es Étienne unmöglich, normal zu laufen. Durch die angeborene Missbildung war sein Bein verkürzt, sodass sich sein Oberkörper immer ein wenig zur linken Seite neigte und er die rechte Schulter etwas höher trug. Nicht einmal als Hinken ließ sich sein Gang bezeichnen, vielmehr wankte er vorwärts wie ein Tanzbär.

Im Laufe seiner neunzehn Lebensjahre hatte er gelernt, damit umzugehen. Mit dem Eifer eines Kindes, das seinem Vater gefallen will, hatte er sich auf die Beine gekämpft, Reiten gelernt und sich zu einem passablen Bogenschützen gemausert. Für das Kriegshandwerk war und blieb er freilich ungeeignet, stattdessen hatte er sich dem Studium der lateinischen und griechischen Sprache gewidmet und konnte gut mit Zahlen umgehen.

Aber wozu? Nichts davon hatte ihm das Wohlwollen oder gar die Achtung seines Vaters eingebracht. Im Gegenteil, Basile mied den Anblick und die Gegenwart seines verkrüppelten Sohnes, wann immer möglich.

Die Kammertür knarrte, und ein Blondschopf spähte durch die Öffnung.

»Komm herein, Phil.« Étienne winkte den Knaben zu sich.

Philippe grinste und schlüpfte ins Zimmer. Er zog eine getrocknete Blutwurst und Brot unter seinem Hemd hervor und hielt beides triumphierend in die Höhe.

»Brüderchen, dich schickt der Himmel!«, seufzte Étienne. »Setz dich!«

»Mit besten Grüßen von Margot«, erklärte der Knabe und hüpfte schwungvoll neben ihm aufs Bett.

Étienne nahm den Leckerbissen entgegen und nagte vorsichtig daran herum, um seinen malträtierten Kiefer zu schonen.

»Margot hat mir auch das hier gegeben.« Philippe holte einen Tiegel aus seiner Kitteltasche. »Sie sagte, du könntest es gebrauchen. Wer war das?« Er deutete auf Étiennes geschwollene Backe. »Gérard?«

»Vater.«

»Verstehe.« Der Jüngere öffnete das Gefäß mit der Salbe aus Wundkraut, mit der die Köchin Margot kleinere und größere Blessuren zu versorgen pflegte. Seit dem Tod der Mutter hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, die beiden jüngeren Söhne Arembours zu beglucken und ihnen ein wenig Wärme und Fürsorge angedeihen zu lassen.

Philippe nahm einen Finger voll von dem Balsam und begann geschickt, Étiennes linke Gesichtshälfte damit zu betupfen.

»Morgen wird es blau sein und sicher höllisch wehtun«, prophezeite er. »War es das wert?«

»Himmel, ja! Du hättest Gérards dummes Gesicht sehen sollen! Besiegt von einem Krüppel, was für eine Schmach!« Étienne tauschte ein Lausbubengrinsen mit seinem Bruder. Doch Philippe wurde gleich wieder ernst. »Wenn Vater dich so sehr hasst, warum schickt er dich nicht ins Kloster?«

»An deiner Stelle?«, erkundigte sich Étienne schmunzelnd.

Philippe zog eine Grimasse. »So schlimm finde ich die Vorstellung nicht, bald Novize zu sein. Mit Waffen kann ich nicht umgehen, und Pferde haben es auf mich abgesehen. Außerdem haben wir mit Gérard und Geoffroi schon zwei Schwertschwinger in der Familie. Unsere Schwester ist verheiratet und weit weg, Mutter ist tot. Ich glaube nicht, dass mich hier jemand vermissen wird – ausgenommen du vielleicht.« Er lächelte schief.

Étienne musterte seinen kleinen Bruder von der Seite. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass er selbst nicht der Einzige war, der unter den Umständen litt.

»Ich hab mich das schon öfter gefragt. Warum hat Vater dich nicht Gott versprochen, wenn er dich ohnehin den ganzen Tag wegzusperren versucht?«

Étienne schnaubte freudlos. »Er wollte ja, aber Pater Boniface hat ihm eindringlich davon abgeraten.«

»Wieso das denn?«

»Weil mir die Aufgabe zufällt, Vaters wandelndes – Verzeihung – hinkendes schlechtes Gewissen zu sein.«

»Versteh ich nicht«, gab Philippe zu und runzelte die Stirn.

Wie auch? Étienne hatte es lange selbst nicht begriffen. Es war absurd. Er war mit dem verkrüppelten Fuß geboren worden, in eine Welt, in der Missbildung in aller Augen als Zeichen von Schuld betrachtet wurde. Aber wie hätte ein Neugeborenes sich versündigen können? Man hatte ihn auf den Namen des Heiligen Étienne, dem auch die Kirche in Épineuil geweiht war, taufen lassen, um den Makel abzumildern. Und auch wenn sich zumindest seine Mutter, Bedienstete und Hörige bemühten, ihn zu behandeln wie die übrigen Familienmitglieder, hatte er seine Andersartigkeit immer gespürt – und sich dafür geschämt.

Erst nach und nach hatte sich alles zu einem Bild gefügt. Auch wenn das die Scham kaum linderte. Er war unschuldig schuldig geworden, wie eine Figur aus den griechischen Tragödien, die Pater Boniface ihn immer hatte übersetzen lassen.

»Man könnte sagen, ich bin die Ausgeburt von Vaters Sünden«, erklärte er dem Jüngeren schließlich.

»Du meinst, die Sache mit deinem Fuß soll eine Strafe dafür sein, dass Vater gesündigt hat? Dass er sich … fremde Weiber ins Bett geholt hat und all das?«

»Was weißt du davon?«

Der Knabe zuckte mit den Schultern. »Margot hat’s erzählt.«

»Die gute Margot hat ein loses Mundwerk«, tadelte Étienne, unterdrückte aber ein Grinsen. »Und überaus feine Ohren noch dazu.« Als er weitererzählte, wurde er wieder ernst. »Zuerst hat Vater unserer Mutter die Schuld zugeschoben und behauptet, ich sei ein Bastard.«

»Wer sollte das glauben?«, fragte Philippe entrüstet. »Du bist sein Ebenbild.«

Étienne brummte unwillig. »Ich fürchte, das lässt sich nicht abstreiten.« Das kastanienfarbene Haar, die Bernsteinaugen, das Grübchen im Kinn – ihre Verwandtschaft war schon im Kindesalter für jedermann unübersehbar gewesen.

»Mach dir nichts draus«, sein Bruder knuffte ihn aufmunternd in die Seite, »dafür teilst du Mutters gutes Herz!«

Und ihre Verzagtheit, ergänzte Étienne in Gedanken, lächelte aber. »Jedenfalls hat die Ähnlichkeit Vater zu der Einsicht gebracht, dass meine … Missbildung tatsächlich Gottes Strafe für die eigene Unzucht sein muss. Und Pater Boniface hat ihn überzeugt, dass der Allmächtige ihm den verkrüppelten Sohn als ständige Mahnung zu einem gottesfürchtigen und bußfertigen Lebenswandel geschickt hat und er ihn keinesfalls in ein Kloster stecken kann, ohne weiteren Zorn auf sich zu ziehen.« Étienne atmete tief durch. »Jedes Mal, wenn Vater mich sieht, erinnert ihn das an die eigenen Sünden und Verfehlungen. Du kannst dir vorstellen, dass das nicht gerade seine Zuneigung für mich weckt und er auf meine Gesellschaft lieber verzichtet.«

»Aber das ist himmelschreiend ungerecht!«, empörte sich Philippe. »Warum sollst du für Vaters Sünden büßen? Und das gleich mehrfach.«

Das hatte sich Étienne so oft gefragt – und keine befriedigende Antwort gefunden. »Weil es Gottes Wille ist?«

Philippe schnaubte. »Der verkrüppelte Fuß, meinetwegen. Aber dass Vater dich behandelt wie einen Aussätzigen, damit hat Gott nichts zu schaffen!«

Étienne ließ sich mit dem Rücken gegen die kühle Wand sinken. »Mag sein, dass du recht hast, Brüderchen. Aber es ändert nichts. Ich bin und bleibe der Sündenbock, und damit der Prügelknabe unseres Vaters.«

»Dann musst du eben von hier fliehen!«, forderte ihn Philippe mit der Unerschütterlichkeit eines Zehnjährigen auf.

Étienne lachte leise und verstrubbelte dem Knaben das Haar. »Brüderchen, Brüderchen, so ein kleiner Kopf und schon voll mit rebellischen Gedanken. Die Mönche werden ihre helle Freude an dir haben.«

Brüsk schob Philippe seine Hand beiseite. »Ich meine es ernst, Étienne. Wenn es stimmt, was du sagst, schlägt Vater dich vielleicht eines Tages tot oder lässt dich verhungern oder wer weiß was. Besser, du verschwindest.«

»Nett, dass du dich um mich sorgst, Philippe. Aber wie stellst du dir das vor? Ich bin in meinem Leben nie über Auxerre hinausgelangt. Davon abgesehen würde ich hiermit«, er wies auf seinen Fuß, »kaum weit kommen.«

»Schon mal was von Reiten gehört? Himmel, Étienne, fast könnte man meinen, du suchst einen Vorwand.«

»Ich hab mir nicht ausgesucht, ein Krüppel zu sein«, entgegnete er kühl.

»Aber dein Selbstmitleid schon.«

Étienne schnaubte. »Ha, muss ich mich jetzt von einem Knaben belehren lassen?«

»Wenn der Knabe klüger ist als du.« Philippe sprang vom Bett. »Überleg’s dir. Ich werde dir helfen, wenn ich kann.« Ohne ein weiteres Wort schlüpfte er aus der Kammer und schloss die Tür hinter sich.

Stumm blickte Étienne ihm nach. Gut möglich, dass Philippe mit seiner Annahme richtiglag. Diese Erkenntnis beschämte ihn.

Er wandte sich wieder dem Fenster zu. Die Wolken hatten sich vollständig verzogen und einem kornblumenblauen Himmel Platz gemacht. Sein Blick folgte den Schwalben, die immer noch kreuz und quer über den Hof und die Mauern schossen – und darüber hinweg, dem Horizont entgegen.

Er zählte gerade einmal neunzehn Sommer. So Gott wollte, lagen noch viele Jahre vor ihm. Was für eine Zukunft würde ihn in diesen Mauern erwarten? Auf ein Erbe brauchte er nicht zu hoffen, selbst wenn er all seine Geschwister überleben sollte. Als geborener Krüppel blieb ihm jeder Anspruch auf einen Erbteil schon von Gesetz wegen verwehrt. Er würde immer auf die Barmherzigkeit anderer angewiesen sein, auf die Barmherzigkeit von Menschen, die ihn verachteten. Sollte seine Bestimmung tatsächlich darin liegen, als Spiegel für seines Vaters Schuld zu dienen? Konnte das alles sein, was er vom Leben zu erwarten hatte?

 

Wie Tinte in einer Wasserschale breiteten sich purpurne Schlieren über den Himmel aus und kündigten die heraufziehende Nacht an.

Étienne stand fröstelnd vor der schweren Eichentür, die in den Palas führte. Aus der großen Halle dahinter klangen Stimmen und das glockenhelle Lachen einer Frau an sein Ohr. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und nur mit Mühe konnte er den Drang niederkämpfen, auf der Stelle kehrtzumachen. Fest umfasste er den Kreuzanhänger an seinem Hals, bis sich das Schmuckstück in seine Handfläche bohrte.

Ich habe ein Recht, hier zu sein. Ich bin ein Arembour, genau wie meine Brüder. Wie mein Vater. Ob es ihm passt oder nicht.

Es war an der Zeit, diesen Platz einzufordern, nein, es war lange überfällig – das hatte ihm das Gespräch mit Philippe bewusst gemacht. Étienne holte tief Luft und schloss kurz die Augen. Dann stieß er die Eichentür auf.

Die Gespräche an der Tafel verstummten. Blicke hefteten sich auf ihn.

Neben seinem Vater saßen zwei Ritter aus Épineuil mit ihren Gattinnen, die ihn fragend musterten. Außerdem sein Bruder Gérard mit seinem blutjungen Weib Isabelle, Geoffroi und schließlich Philippe, dessen Blick zwischen Étienne und dem Vater hin und her flog und dem das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand – vermutlich nicht allein wegen des Affronts, den Étienne gerade zu begehen im Begriff war, sondern der Konsequenzen wegen, die seinen Bruder erwarteten. Denn dass diese Missachtung seiner Anweisungen nicht folgenlos bleiben würde, daran ließ Basile d’Arembours Gesichtsausdruck nicht den geringsten Zweifel. Es lagen eine Kälte und Feindseligkeit darin, die Étienne schaudern machten. Er schluckte, spürte dann aber den altbekannten dumpfen Zorn und eine gute Portion Trotz in sich aufsteigen. Er hielt sich so aufrecht wie möglich, bemühte sich jedoch nicht, sein scheußliches Hinken zu verbergen. Sollte es ruhig jeder sehen. Ein anderer trug die Schuld an diesem Makel.

»Basile«, wandte einer der Ritter sich mit irritiertem Lächeln an Étiennes Vater, »wer ist das? Willst du uns den jungen Mann nicht vorstellen?« Ihm konnte die Ähnlichkeit zwischen Étienne und seinem Gastgeber nicht entgangen sein.

»Ich bin Étienne d’Arembour, sein Sohn«, stieß Étienne hervor, ehe sein Vater antworten konnte.

Der Ritter kniff die Augen zusammen und musterte ihn genauer. »Ich … ich wusste nicht, dass du noch einen weiteren Sohn …« Er verstummte. Die Angelegenheit war ihm sichtlich unangenehm.

»Nur ein Bastard«, erklärte Basile schneidend. Seine Oberlippe bebte in mühsam unterdrückter Wut. »Und als solcher hat er an dieser Tafel nichts zu suchen.«

»Aber …« Étiennes Mund klappte auf, doch der eisige Blick seines Vaters ließ ihm jedes Wort auf der Zunge erfrieren. Aus dem Augenwinkel erkannte er Philippe, der empört aufgesprungen war, aber von Gérard sogleich auf seinen Stuhl zurückgezwungen wurde.

Étienne holte tief Luft und hob trotzig das Kinn. »Das ist nicht wahr, ich bin sein rechtmäßiger Sohn. Es steht mir zu …«

Basile schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Was dir zusteht, bestimme in diesem Haus immer noch ich! Hier!«

Etwas landete vor ihm auf dem Boden. Durch einen Schleier aus Tränen sah Étienne ein fetttriefendes gebratenes Hühnerbein vor sich in den Binsen liegen. »Bediene dich und dann verschwinde!«

Étienne konnte sich nicht bewegen. Scham ließ ihn vollständig erstarren. Einer der Hunde erhob sich und kam schnüffelnd näher. Vorsichtig zu ihm hochschielend schnappte er nach der Keule zu Étiennes Füßen, um anschließend damit unter dem Tisch zu verschwinden und den Brocken geräuschvoll zu zerkauen.

»Jeder in diesem Haushalt muss wissen, wo sein Platz ist«, setzte Basile nach. Sein Gesichtsausdruck war voller Abscheu. »Gérard, bring ihn zurück in seine Kammer.« Étienne konnte dem Blick, den Vater und Bruder tauschten, entnehmen, dass es nicht dabei bleiben würde. Aber es war ihm seltsam egal. Keine Tracht Prügel konnte demütigender oder erniedrigender sein als das scheußliche Schauspiel, dessen Hauptdarsteller er gerade war.

Sein Vater würde ihm niemals einen Platz einräumen. Nicht an seiner Tafel, nicht in seinem Leben und schon gar nicht in seinem Herzen. Womöglich hatte es dieser hässlichen Szene bedurft, um ihm das ein für alle Mal klarzumachen. Étienne kam sich unglaublich dumm vor.

Kapitel 2

Oberlothringen, Juni 1189

Mit zitternden Händen bog Aveline die Zweige des Buschs auseinander, um den Lagerplatz in Augenschein zu nehmen.

Ihre Finger waren dünn wie die Holunderzweige, dünn und kraftlos. Genau wie ihre Beine, die sie kaum noch trugen. Zurück konnte sie nicht, das würde Fragen aufwerfen. Doch wo sollte sie hin?

Gott hat mich verlassen. Kein Wunder, nach allem, was ich getan habe.

Beim Gedanken daran setzte wieder dieses dumpfe Dröhnen ein, das ihren Schädel zu sprengen drohte. Aveline kniff die Augen zusammen und würgte.

Dafür warten Höllenfeuer und ewige Verdammnis auf mich. Aber noch nicht. Noch nicht.

Wenn nur der bohrende Hunger nicht wäre. Vorsichtig spähte sie zwischen den Ästen hindurch. Die sterbende Glut des Lagerfeuers ließ die Gesichter der schlafenden Männer und Frauen wie Messing schimmern. Etwas abseits döste ein angepflockter Esel mit hängendem Kopf, neben ihm zwei verschlossene Sattelkörbe.

Du sollst nicht stehlen, sagten die Priester.

Verglichen mit dem fünften Gebot, das sie auf so schreckliche Weise gebrochen hatte, kam ihr das geradezu lächerlich vor. Was gab es noch zu verlieren, wo sie ihr Seelenheil bereits verspielt hatte?

Sie wartete noch einige Herzschläge, bis sie sicher war, dass sich auf der Lichtung nichts rührte.

Als sie den Schnürriemen öffnete und die Lederklappe des Sattelkorbs beiseiteschlug, stieg ihr der kräftige Duft von gepökeltem Schweinefleisch in die Nase, von Zwiebeln und Käse. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Rastlos riss sie den Beutel weiter auf, tastete nach dem Inhalt, spürte die herrliche Kruste von Brot unter den Fingern.

Ein harter Schlag traf sie zwischen den Schulterblättern, schleuderte sie mit dem Gesicht gegen den Korb, dann in den Staub; der Geschmack von Blut und Erde zwischen den Lippen ließ sie spucken. Noch bevor Aveline sich auf die Knie stemmen konnte, wurde sie grob herumgerissen.

»Liederliches Weib! Diebesgesindel! Wie kannst du es wagen, Pilger zu bestehlen? Gott möge dich mit Pocken und Aussatz strafen, du verkommenes Luder!«

»Bruder Gilbert, was ist los?«

»Was ist passiert?«

Stimmen riefen durcheinander, Schritte näherten sich hastig.

Jemand hielt Aveline eine Fackel vors Gesicht, so nah, dass ihr der Gestank von Pech und verbranntem Haar in die Nase biss. Schützend legte sie den Unterarm vor die geblendeten Augen.

Als sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, blinzelte sie in das Gesicht eines hageren Mannes im Habit eines Benediktiners. Das schüttere Haar bildete einen Kranz um seinen Schädel, die Brauen waren grimmig zusammengezogen, die Augen hart wie Murmeln. Drohend schwebte sein Stock über ihr.

»Warte, Bruder!« Der Fackelträger, ein deutlich jüngerer Mönch mit rotblondem Haarkranz, fiel dem Mann in den Arm. »Seht doch, es ist nur ein Mädchen, halb verhungert.«

Weitere Personen drängten in den Lichtkreis, drei Männer und zwei Frauen, auch sie mit brennenden Kienspänen, Knüppeln oder Messern bewaffnet; ein Mann Ende zwanzig hielt einen Bogen mit aufgelegtem Pfeil.

Aveline versuchte, sich möglichst klein zu machen, und hob schützend einen Arm über ihren Kopf, während man sie abweisend und misstrauisch musterte.

»Das Weibsstück wollte unser Essen stehlen«, zischte der alte Mönch. »Eine schmutzige Diebin ist sie!«

Bitte, lasst mich gehen, wisperte Aveline. Oder vielleicht hatte sie es auch nur gedacht. Vielleicht war es Gottes Wille, dass sie hier und jetzt erschlagen wurde, als Strafe für ihre schreckliche Tat. Und im Vergleich zu dem, was sie nach dem Tod erwartete, waren ein paar Stockschläge nichts.

Ewige Verdammnis. Höllenqualen.

Aber noch nicht. Noch nicht.

»Bitte, lasst mich.« Diesmal kamen die Worte tatsächlich über ihre Lippen, wenn auch nur als heiseres Flüstern.

Der Mann mit dem Bogen ließ seine Waffe sinken und drängte sich nach vorne. Es mochte Zufall sein, doch er stand so, dass der Alte nicht mit dem Stock ausholen konnte.

»Vor diesem mageren Hühnchen müssen wir wohl keine Angst haben«, sagte der Schütze. Französisch war nicht seine Muttersprache. Es klang, als würde er die Worte mit einer Axt grob zurechthauen, rau und ungelenk. Doch es lag Wärme in seiner Stimme und den grünblauen Augen. Er kniete sich vor Aveline hin, umfasste mit einer Hand ihr Kinn und hob sanft ihr Gesicht an. Hastig entwand sie sich seinem Griff und kroch rückwärts, bis sie einen der Sattelkörbe im Rücken spürte.

»Du hast Schlimmes durchgemacht, Mädchen, nicht wahr?«, fragte er bedauernd. »Wärme dich an unserem Feuer und teile Brot mit uns. Hier bist du sicher.«

»Das kann nicht dein Ernst sein, Bennet!«, ereiferte sich der alte Mönch. »Wäre ich nicht eingeschritten, hätte das Luder unsere Vorräte gestohlen. Und zur Belohnung willst du sie an unser Feuer holen?« Er hielt seinen Stock weiter erhoben, ohne dass so recht klar war, wem die Drohung galt. »Du musstest in deinem Leben offensichtlich nie Hunger leiden, Angelsachse, da lässt sich leicht reden.« Er spuckte aus. »Mich hat man als Knaben ins Kloster gesteckt, weil meine Eltern nichts mehr zu beißen hatten. Wenn ihr mich fragt, sollten wir das Weibsstück zum Teufel jagen!«

»Dieser Frau ist offensichtlich Leid widerfahren. Und es ist unsere Christenpflicht, ihr wenigstens heute Nacht Schutz und Nahrung zu gewähren«, beharrte der Bogenschütze ruhig.

»Was, wenn sie uns wieder bestiehlt?«

»Wir haben nicht genug Vorräte für einen weiteren Esser«, wandten nun die anderen ein.

»Sie kann von meinem Brot haben. Und ich werde auf sie achtgeben«, erklärte Bennet.

»Aber …«

Der junge Mönch nickte. »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan, spricht der Herr«, rezitierte er und blickte mahnend in die Runde. »Was für Pilger sind wir, wenn wir Notleidenden unsere Barmherzigkeit verweigern? Seid nicht so kleingläubig, Gott wird für uns sorgen, schließlich sind wir zu Seinem Lob unterwegs. Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf. Und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat, verkündet er.«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Einzig der Alte hielt weiterhin seinen Stock gepackt und rührte sich nicht von der Stelle.

»Bruder Gilbert. Bitte.« Der Bogenschütze namens Bennet sah den Mönch eindringlich an. Der zögerte noch einen Augenblick, dann schleuderte er seinen Stock mit einem wütenden Schnauben vor Aveline in den Staub und stapfte davon.

Bennet stand auf, machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Komm, Mädchen, du brauchst keine Angst zu haben.«

Tatsächlich? Aveline zögerte. In den Augen des Alten hatte sie brodelnden Zorn gesehen. Konnte sie den anderen trauen?

Schwindel machte sie benommen und die Übelkeit kehrte zurück. Die Ereignisse der vergangenen Tage hatten ihre letzten Kräfte aufgezehrt. Sie musste dringend essen, wenn sie nicht sterben wollte. Und sterben wollte sie nicht. Noch nicht.

Mühsam kämpfte sie sich auf die Füße und ließ zu, dass Bennet sie bei der Hand nahm.

 

Nachdem die erste Aufregung verflogen war, und alle sich überzeugt hatten, dass von Aveline keine Gefahr ausging, hatten sich die meisten wieder zur Ruhe gelegt.

Nur der Angelsachse Bennet und der junge Mönch, der sich als Vater Kilian aus der Abtei Saint-Arnould in Metz vorstellte, leisteten Aveline Gesellschaft – oder bewachten sie, ganz wie man es betrachten wollte.

Bennet reichte ihr Brot, Wurst und ein großzügig bemessenes Stück Käse, und der Mönch schürte die Glut zu einem munteren Feuer.

Aveline hatte sich vorgenommen, nicht zu schlingen, doch sobald das Essen vor ihr ausgebreitet lag, fiel sie wie eine ausgehungerte Wölfin darüber her. Was sie im Magen hatte, konnte ihr keiner mehr nehmen.

Erst nach einer Weile bemerkte sie, dass Bennet und Kilian sie mit gutmütiger Belustigung beobachteten. Sie zwang sich, innezuhalten und den nächsten Bissen bedächtig zu kauen. Der Käse schmeckte köstlich.

»Greif nur zu!«, forderte Kilian sie mit einem freundlichen Lächeln auf. Und nach einer Pause: »Wie dürfen wir dich eigentlich nennen?«

Der junge Mönch war vielleicht ein, zwei Jahre älter als sie, höchstens zwanzig Sommer. Aber anders als sein Mitbruder hatte er sich als wahrer Christ erwiesen.

»Mein Name ist Aveline, man nennt mich Ava«, wisperte sie.

Bennet griff nach einer seiner Decken und legte sie ihr um die knochigen Schultern. »Du siehst krank aus«, sagte er. »Was ist dir widerfahren, Ava?«

Sie hielt inne. Das Brot in ihrem Mund schien zu Asche zu zerfallen. Sie konnte sich vorstellen, was die anderen sahen, wenn sie sie anblickten: dunkles Haar, strähnig und verfilzt, hohle Wangen, große blaue Augen, in denen der Schrecken irrlichterte, zerrissene und besudelte Röcke. Natürlich mussten sie fragen.

Aveline kaute lange und ausgiebig, um Zeit zu gewinnen.

»Ein Überfall …«, murmelte sie schließlich. Und in gewisser Weise entsprach das der Wahrheit, auch wenn der Überfall Monate zurücklag. Und doch war dieser Tag Ursprung all ihres Unglücks. Ihr Kopf dröhnte bei der Erinnerung. Aveline spürte, wie sich ihr Magen hob, und sie begann zu würgen.

»Schscht«, Bennet wollte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter legen, doch sie zuckte zurück. »Eigentlich spielt es keine Rolle, was passiert ist. Du kannst bleiben. Hier bist du sicher.«

Kilian nickte. »Wir sind Pilger auf dem Weg ins Heilige Land.«

Aveline blickte auf. »Aber … Jerusalem ist gefallen.« Ihre Stimme klang fremd und heiser in ihren eigenen Ohren. Es schien eine Ewigkeit her, dass sie sie zum Sprechen benutzt hatte. Zuletzt waren lediglich Schmerzensschreie aus ihrer Kehle gedrungen.

»Ja, Gottes heilige Stadt befindet sich in den Klauen der Heiden, genau wie das Wahre Kreuz, der Herr steh uns bei!« Kilian stocherte mit einem langen Ast in der Glut, sodass Funken knisternd in den Nachthimmel stoben. »Ein schwerer Schlag für jeden rechtschaffenen Christen. Aber«, er blickte auf, und es waren nicht nur die Flammen, die seine grünen Augen zum Leuchten brachten, »eine Streitmacht, wie sie die Christenheit noch nicht gesehen hat, ist ins Heilige Land aufgebrochen, um Jerusalem für den wahren Glauben zurückzugewinnen.«

»Kaiser Friedrich Barbarossa und König Philippe von Frankreich sammeln ihre Ritter für den gerechten Krieg oder sind bereits unterwegs. Auch der englische König wird ins Heilige Land aufbrechen, sobald diese unselige Familienfehde zwischen ihm und seinem Thronfolger Richard endlich ein Ende gefunden hat«, erklärte Bennet.

Aveline nickte. Sie hatte davon gehört.

»Wir sind zwar nur einfache Gläubige«, ergänzte der Mönch, »aber mit Gottes Hilfe wollen wir unseren Beitrag für die Sache Christi leisten.«

»Zum Ruhme des Allmächtigen und zur Vergebung all unserer Sünden.« Bennet bekreuzigte sich.

Aveline verspürte einen heißen Stich in der Brust. »Wie … meinst du das?«

»Jedem, der im Zeichen des Kreuzes ins Heilige Land pilgert, wird vollständiger Sündenablass gewährt«, antwortete Vater Kilian an seiner Stelle. »Die Seele wird von allen Makeln reingewaschen. Wusstest du das nicht?«

Avelines Kehle wurde eng. »Von allen … Sünden?«

Bennet nickte stumm und versuchte, in ihren Augen zu lesen.

»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln«, betete Kilian, während er ins Feuer starrte. »Er führet mich auf rechter Straße um Seines Namens willen. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar

Kapitel 3

Burgund, Juni 1189

Über Étienne spannte sich straff und wolkenlos der Frühsommerhimmel und die Sonne wärmte ihn mit milden Strahlen. Sein Führer hatte ihn auf einen ebenen Pfad geleitet, sodass Étiennes Wallach munter ausschritt und das Maultier seines Begleiters bald hinter sich ließ.

Étienne sog tief die seidige Luft in seine Lungen, die erfüllt war vom süßen Duft des Grases und würziger Wildkräuter. So schmeckte also die Freiheit! Er konnte nicht genug davon bekommen.

Er hatte es tatsächlich getan. Seit nunmehr fünf Tagen ritt er Richtung Süden, ohne Ziel, einfach nur weg von Arembour. Während der ersten Tage seiner Flucht hatte die Furcht überwogen – vor all dem Unbekannten und Neuen, das ihn erwartete, davor, ob er es schaffen würde, allein klarzukommen, ob es ihm gelingen würde, Essen und Unterkunft zu finden und irgendwann eine Aufgabe, mit der er seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Und schließlich die allgegenwärtige Furcht, seine älteren Brüder oder sein Vater könnten aufkreuzen und ihn mit Schimpf und Schande zurück in sein Gefängnis schleifen.

Inzwischen glaubte er nicht mehr daran, dass jemand nach ihm suchte oder gar Jagd auf ihn machte. Im Gegenteil, vermutlich erschienen seinem Vater ein gestohlenes Pferd, ein paar Vorräte und Decken ein geringer Preis dafür, den verhassten Sohn ohne eigenes Zutun – und damit ohne Gottes Zorn herauszufordern – los zu sein.

Étienne musste grinsen. Gérard sah die Sache womöglich anders, wenn er bemerkte, dass sein Jagdmesser und sein wertvoller Bogen verschwunden waren. Die Klinge stand Étienne rechtmäßig zu, schließlich hatte er sie in ehrlichem Wettstreit gewonnen. Den Bogen indes betrachtete er als Entschädigung für all die Demütigungen und Schikanen, die er von dem Älteren hatte erdulden müssen. Ein schlechtes Gewissen plagte ihn deswegen nicht.

Margot hatte zudem dafür gesorgt, dass seine Satteltaschen prall gefüllt waren mit Brot, Würsten, Wein und all den Dingen, die das Reisen angenehmer machten. Philippe, die gute Seele, hatte ihm sogar einen Beutel mit Münzen zugesteckt. Der Himmel allein wusste, woher das Geld stammte. Jedenfalls würde es genügen, um eine Weile über die Runden zu kommen. Und danach würde sich ein anderer Weg finden, davon war Étienne überzeugt.

Am Tag, als sein Vater zusammen mit den älteren Brüdern und einem Großteil der Knechte zur Jagd aufgebrochen war, hatte er die Gelegenheit ergriffen und sich davongestohlen.

Warum nicht viel früher schon? Warum hatte er so viel Zeit vergeudet? Verrückt, dass es eines vorlauten Bengels bedurft hatte, um ihn sein Leben endlich selbst in die Hand nehmen zu lassen. Aber Gottes Wege waren unergründlich, auch was die Wahl Seiner Werkzeuge betraf.

Stumm dankte er seinem kleinen Bruder. Blieb zu hoffen, dass ihr Vater Philippe nicht mit der Flucht in Verbindung brachte und ihn dafür büßen ließ. Auch wenn Étienne sich den aufgeweckten Knaben kaum schweigend und demütig in klösterlicher Abgeschiedenheit vorstellen konnte, beruhigte es ihn, dass er auf diese Weise bald dem Zugriff des Vaters entzogen sein würde.

Um Margot musste er sich nicht sorgen. Die resolute Köchin kam gut allein zurecht. Und sich mit ihr anzulegen, hatte noch keiner gewagt. Jedenfalls keiner, der Wert auf anständiges Essen legte.

Ob er sie und Philippe je wiedersehen würde? So oder so, er würde allen beweisen – an erster Stelle sich selbst –, dass er zu mehr als zum Prügelknaben taugte, dass er es allein schaffen und etwas aus sich machen konnte.

Étienne blickte sich um. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden, im Grunde war es ihm egal, solange es nur weit genug entfernt war von Arembour. Dafür hatte er schließlich seinen Begleiter angeheuert. Er zügelte das Pferd, damit der Mann auf dem Maulesel zu ihm aufschließen konnte.

Es handelte sich um einen kleinen, drahtigen Burschen mit spitzem Kinn und flinken Augen namens Hernand, der sich Étienne am vergangenen Tag in einem Gasthaus als ortskundiger Führer angedient hatte und ihn für ein paar Münzen bis nach Roanne bringen wollte. Étienne willigte ein, denn davon abgesehen, dass er sich in der Gegend nicht auskannte, erschien ihm das Reisen in Gesellschaft sicherer und unterhaltsamer.

»Warum sind wir nicht auf der Heerstraße geblieben?«, erkundigte er sich.

Hernand winkte ab. »Jede Menge Pilger dort, Ritter, aber auch Halunken. Woll’n alle zu den Hafenstädten. Woll’n sich den hohen Herren ins Heilige Land anschließen, Heiden abschlachten.« Er grinste und entblößte ein lückenhaftes Gebiss. »Zertrampeln die Straße. Und ständig bleiben Wagen liegen, versperren den Weg. Die Gasthäuser voll bis unters Dach. Versteht sich, dass man da dieser Tage das Doppelte für einen verlausten Strohsack nimmt.« Hernand spuckte aus. »Solange das Wetter hält, ist das hier der bessere, schnellere Weg, Herr.«

Étienne nickte und war einmal mehr froh, sich einem Einheimischen anvertraut zu haben – wenngleich er ein klein wenig bedauerte, dass ihm auf diese Weise der Anblick der wallfahrenden Krieger und ihres Gefolges entging. Die Nachricht von den verheerenden Zuständen im Heiligen Land nach der Katastrophe von Hattin und dem niederschmetternden Verlust Jerusalems war natürlich auch bis nach Arembour gedrungen, genau wie der Aufruf des Papstes zur bewaffneten Pilgerfahrt. Doch bisher hatte Agnes, die Gräfin von Auxerre, Tonnerre und Nevers, deren Vasallen die Arembours waren, noch nicht zu den Waffen gerufen. Man munkelte, sie wolle ihre Besitzungen nicht entblößen, auch wenn die Kirche beteuerte, Hab und Gut der pilgernden Fürsten zu schützen. Blieb abzuwarten, wie lange sie sich dem Drängen des Heiligen Vaters und des französischen Königs, dessen Mündel sie gewesen war, entziehen konnte. Die Rückgewinnung Jerusalems mit der Grabeskirche war schließlich eine heilige Pflicht. Und wenn es so weit war, würde sich womöglich auch einer von Étiennes älteren Brüdern oder gar sein Vater aufmachen, um in Outremer gegen die Heiden zu kämpfen.

Als Streiter Christi taugte Étienne sicher nicht. Er fragte sich, wohin Gott stattdessen seine Schritte lenken würde.

Hoffentlich erst einmal in ein Gasthaus. Mit einem Knurren meldete sich sein Magen. Ihre letzte Rast musste Stunden zurückliegen.

»Wie weit ist es bis zur nächsten Herberge?«, wandte er sich an seinen Führer, der wieder ein Stück zurückgefallen war.

»Nicht weit«, entgegnete Hernand, während er auf einem trockenen Grashalm herumbiss. »Noch durch das Waldstück da. Gutes Haus, anständiges Essen.«

Kurz darauf tauchte Étienne in den kühlen Schatten der Buchen und Eichen. Hier und da fielen Sonnenstrahlenbündel durchs Laub und malten flimmernde Muster aus Licht auf das Fell seines Pferdes und den Waldboden. Sie erinnerten ihn an das kleine, sündhaft teure Glasfenster, das sein Vater in der Hauskapelle über dem Altar hatte einsetzen lassen und dessen Abbild von der Morgensonne jeden Tag auf die Steinplatten gezaubert wurde.

Étienne hatte gehört, die Kathedrale von Le Mans sei mit prachtvollen, bunt bemalten Glasscheiben ausgestattet, welche das Gotteshaus in ein Meer aus Licht und Farben tauchten. Vielleicht würde er Gelegenheit bekommen, sich dieses Schauspiel selbst einmal anzusehen.

»Wo bleibst du, Mann?«, rief er über die Schulter. Hernand hatte sein Maultier zum Stehen gebracht und zupfte an seinem Grashalm.

»Komm weiter.«

Sein Führer schüttelte den Kopf und ein kalter Ausdruck trat in seine Augen. »Ende der Reise, mein Freund.«

»Was redest du? Wir müssen …« Étienne stockte, als er Geräusche auf dem Weg vernahm und das Pferd zur Seite scheute. Sein Kopf flog herum.

Nein, nicht das, bitte nicht! Nein, nein, nein.

Vier Kerle versperrten den Waldweg, verwahrloste Gestalten mit armdicken Knüppeln in den Fäusten und einem schmutzigen Grinsen auf den Lippen.

Eine Mischung aus Empörung, Wut und nie gekannter Angst ließ Étiennes Herz gegen die Rippen hämmern wie eine geballte Faust. Sein sauberer Begleiter hatte ihn geradewegs in die Arme von Halsabschneidern geführt. Dieser Bastard! Wie hatte er nur so vertrauensselig und dermaßen dumm sein können?

Er zog das Jagdmesser aus der Scheide am Gürtel und hämmerte seinem Wallach die Fersen in die Flanken. Doch einer der Halunken sprang vor und griff grob in die Zügel. Das Tier scheute mit einem schrillen Wiehern und stieg, wobei Étienne das Messer aus der Hand flog.

»Nicht so hastig, Bürschchen«, schnarrte ein pockennarbiger Kerl. Er packte ihn am Unterschenkel und zerrte ihn mit einem einzigen kräftigen Ruck vom Pferderücken.

Der Aufprall trieb Étienne einen Augenblick den Atem aus den Lungen und er japste nach Luft. Gott, so konnte es doch nicht enden. Nicht so. Nicht jetzt.

Wild blickte er sich um, sah das Messer unweit von sich auf dem Waldboden liegen, warf sich verzweifelt herum und streckte die Hand aus.

Im selben Augenblick traf ihn der erste Knüppelhieb im Rücken und schmetterte ihn bäuchlings in den Staub. Ein weiterer traf ihn in die Seite und schickte eine Welle glühender Schmerzen durch seinen Leib. Er keuchte, schluchzte, weinte. Noch ein Schlag, diesmal die Schulter, dann wieder die Seite. Hände griffen unter sein Wams, rissen daran, zerrten an seinen Stiefeln. Sie warfen ihn erneut auf den Rücken, drückten ihn nieder. Er versuchte, sich aus der Umklammerung zu winden und zu schreien, als eine Faust wieder und wieder in seinem Gesicht einschlug. Irgendetwas zerbrach unter den Hieben und plötzlich füllte Blut Mund und Nase. Étienne schnappte nach Luft, spuckte gurgelnd aus. Er versuchte sich zusammenzurollen und seinen Kopf mit den Armen zu schützen. »Bitte …«, war alles, was er hervorbrachte, während ihm Blut und Speichel übers Kinn rannen.

»Gleich hast du’s hinter dir«, verkündete eine Stimme über ihm, gefolgt von rauem Gelächter.

Étienne blinzelte hoch – und sah einen Knüppel auf seinen Kopf zufliegen.

Kapitel 4

Herzogtum Österreich, Juli 1189

»Ich habe mein Kind umgebracht.«

Aveline spürte, wie Kilians Hand von ihrem Scheitel zurückzuckte, und sah zu ihm auf.

Sie kniete auf den Steinfliesen der schlichten Kapelle, die zu einem kleinen Kloster nahe Melk gehörte. Das Frauenstift hatte sich im Schatten der dortigen Benediktinerabtei am Rande der Donau angesiedelt und sich der Versorgung von Pilgern und Reisenden verschrieben. Als die Nonnen vernommen hatten, dass Aveline das Gelübde für die Pilgerfahrt ins Heilige Land abzulegen gedachte, hatten sie ihr ein einfaches Leinenkleid aus ihrem Vestiarium überlassen. Das schlichte graue Gewand war an mehreren Stellen geflickt, die Ärmelsäume fadenscheinig, aber es war sauber und saß wie angegossen an ihrem schlanken Körper. Ein einfaches Gebende und eine Leinenrise bedeckten ihr fein säuberlich geflochtenes Haar.

Sie hatte sich mit Kilian in die Kühle der Kapelle zurückgezogen, um die Beichte abzulegen. Nur Sünden, die gebeichtet worden waren, konnten durch die Pilgerfahrt vergeben werden. Nur reingewaschen konnte sie während des Vespergottesdienstes das feierliche Pilgergelübde ablegen.

Der Mönch starrte sie mit offenem Mund an. »Du hast … was?«

Aveline sah die Fassungslosigkeit in seinen Augen und schaute zur Seite. Sie beobachtete die Staubkörner, die in den Lichtbalken der einfallenden Sonne tanzten. Entgegen ihrer Hoffnung tilgte das Geständnis nichts von der Last auf ihrer Seele. Übelkeit stieg ihr die Kehle hinauf und sie räusperte sich. »Ich habe mein Kind dem Tod preisgegeben«, wiederholte sie. »Ich habe den Jungen nach der Geburt im Wald sich selbst überlassen.« Seltsam, wie ruhig, fast teilnahmslos ihr die schreckliche Wahrheit über die Lippen kam. War sie so ein Ungeheuer? Eine gute Woche bevor sie Kilian, Bennet und die anderen getroffen hatte, war sie alleine und hilflos niedergekommen. Ein Gefühl, als würde sich das Kind mit Messern den Weg in die Welt freischneiden.

Sie blickte zu Kilian auf und verspürte plötzlich das verzweifelte Bedürfnis, ihre monströse Tat zu rechtfertigen. »Es war ein Kind der Sünde«, sprudelte sie hervor. »Ein Ritter – er hat mich geschändet und es mir mit Gewalt eingepflanzt. Ich …«

Ich war nicht imstande, jeden Tag in dieses Gesicht zu sehen, das auch sein Gesicht war, jeden Tag daran denken zu müssen, unter was für Umständen dieses Kind gezeugt worden war.