Cover

Titel

Michael Boenke

Riedripp

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2011

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / René Stein

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: Michael Boenke

ISBN 978-3-8392-3628-4

Vorwort

Für Gavin

The best die young

 

 


Ripp hat mich ausgelacht

Ich seh, hör, rieche sie im Haus

Pilze hab ich angemacht

Pust das Lebenslicht ihr aus und schneid ihr eine
Ripp heraus

 

RIP(P) steht am Kreuz mit blut’ger Schrift

Ich seh, hör, riech sie immer noch

Pilze wirken durch ihr Gift

Pein und Not leid ich all Tag, ich seh die Rippe
immer doch

 

Requiescat

In

Pace

Puella

 

 

 

Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch.

Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.

Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Männin soll sie heißen; denn vom Mann ist sie genommen.

Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.

 

Das Buch Genesis

1 Bauernzorn

Das Buch Ezechiel

45:19 Der Priester nimmt etwas Blut von dem Sündopfer und bestreicht damit die Türpfosten des Tempels und die vier Ecken der (mittleren) Stufe des Altars und die Türpfosten des Tors zum Innenhof.

45:20 Dasselbe sollst du am siebten Tag des Monats tun für die, die sich aus Versehen oder aus Unwissenheit verfehlt haben. So sollt ihr den Tempel entsühnen.

 

Bauer Fränkel schob die quietschende Schubkarre aus dem kleinen Schweinestall in Richtung des dampfenden Misthaufens. Die acht Schweine kreischten aufgeregt. Immer wenn jemand den Stall betrat, rechneten sie mit Futter, das in ihrem speziellen Kleinstall-Dasein oft aus leckeren Küchenabfällen bestand. Vor allem die Kartoffelschalen, die es fast jeden Tag gab, liebten sie sehr.

Der Morgen war für einen Tag Anfang Oktober empfindlich kühl, daher hatte der dunkelhaarige, große Bauer einen dicken, grauen Strickpullover über sein kariertes Flanellhemd gezogen. Der 45-Jährige, der deutlich jünger wirkte, trug eine braune Breitcordhose, die von Hosenträgern, welche er über den Pullover mit den rot-grünen Bündchen installiert hatte, fest im Schritt gehalten wurde und somit sein Gemächt vortrefflich zur Geltung brachte. Der untere Abschluss des Landwirtes steckte in schmutzigen, kotverschmierten Gummistiefeln.

Die über 30 Meter hohen Birken, die das bäuerliche Anwesen nach Süden säumten, standen still, von den Spitzen ihrer goldgelb gefärbten kleinen Blätter tropfte der zu Tränen verdichtete Nebel. Der Ahornbaum dazwischen verschwendete das rotgezackte Gelb ungesehen im trüben Oktoberdampf. In jedem Nebelkristall, der ängstlich an den Blattspitzen zitterte, spiegelte sich milchig die kleine Bauernwelt – und stand auf dem Kopf. Der weiße, morbide Schleier überzog Hof und Landschaft, wie meist zu dieser Jahreszeit. Das nahe Ried sorgte mit recht zuverlässiger Klimasteuerung von Mitte September bis Ende November für morgendlich-dunstige Aussichten.

Bauer Fränkel fluchte, als die Schubkarre mit der dampfenden Ladung Schweinemist ins Schwanken geriet, da er längs mit dem luftgefüllten Solorad in eine tiefe Traktorspur fuhr.

»Heilandsakrament, Scheiße!«

Und so roch es auch.

Als er die Fuhre Mist wieder stabilisiert hatte, schimpfte der gut aussehende Mann laut weiter:

»Alles kann man allein machen und den Hof übernimmt er dann doch nicht … Auf die Berufsschule muss der feine Herr, Fachhochschulreife, so ein Scheißdreck!«

Schwungvoll kippte er die letzte Ladung Schweineexkremente mit der Kraft der Wut über ein schräg ansteigendes Dielenbrett auf den Misthaufen, der von einer maroden Mauer umgeben wurde.

Die geleerte Schubkarre schob er energisch zur Riedseite des sanierungsbedürftigen Anwesens unter die brüchige Treppe zur ehemaligen Gesindekammer. Dann holte er die verwitterte, lederne Traktorjacke, seine Helmut-Schmidt-Gedenkkappe, wie er sie nannte, und ging zur Scheune, um den alten Fendt-Traktor herauszufahren. Auf dem Weg zur Scheune trat er nach der schwarzen Katze, die von links nach rechts seinen Weg kreuzte:

»Drecksviech, bringst bloß Unglück!«

Als er auf das hölzerne, verwitterte Scheunentor zuging, bemerkte er auf dem rissigen, grauen Balken des Türpfostens die seltsamen Flecken in Kopfhöhe. Als er näher kam und die feinen, kühlen Tröpfchen des Herbstnebels den Blick auf das Tor nicht mehr beeinträchtigten, sah er, dass es keine Flecken waren. Irgendjemand hatte irgendetwas mit kleinen Nägeln in Form eines Dreiecks an das Scheunentor geheftet.

Er schritt weiter auf das Tor zu und begann zu schimpfen:

»Ja Heilandsakrament, pfui Teufel, so eine Sauerei, dem werde ich seine dummen Späße noch austreiben. Die Schlachtabfälle macht er selbst weg, wenn er aus der Schule kommt.«

Als er die drei ekelerregenden Objekte näher betrachtete, schüttelte er angewidert den Kopf. Nicht, dass es ihn vor den organischen Hängseln und dem süßlichen Geruch, der ihnen entströmte, grauste, vielmehr störte ihn die scheinbar absurde Anordnung der Schlachtabfälle. An einem Nagel war etwas gefaltetes Fleischkäseartiges aufgespießt, am zweiten Nagel hing ein rundes, runzeliges, schlauchartiges Gebilde. Es war undefinierbar und etwa kleinfingerdick, von braunrötlicher Färbung. Der dritte Nagel befestigte etwas mit getrocknetem Blut verschmiertes Nasenartiges. Die Mitte des Dreieckes zierte ein bräunlich gezeichnetes Auge.

Der Bauer schüttelte noch einmal den Kopf und fuhr danach seinen altersschwachen, stumpfgrünen Fendt mit der stolzen gelben Aufschrift ›Dieselross‹ aus der Scheune, um Einkäufe im nahen Ostrach zu erledigen. Die roten Radfelgen leuchteten durch den Nebel.

Das braune gemalte Auge blickte dem Bauer aus dem fleischigen Dreieck vorwurfsvoll nach, als er auf seinem knallenden Traktor im Nebel verschwand.

2 Lehrerglück

Der Brief des Jakobus

Nicht so viele von euch sollen Lehrer werden, meine Brüder. Ihr wisst, dass wir im Gericht strenger beurteilt werden.

3:2 Denn wir alle verfehlen uns in vielen Dingen. Wer sich in seinen Worten nicht verfehlt, ist ein vollkommener Mann und kann auch seinen Körper völlig im Zaum halten.

3:3 Wenn wir den Pferden den Zaum anlegen, damit sie uns gehorchen, lenken wir damit das ganze Tier.

3:4 Oder denkt an die Schiffe: Sie sind groß und werden von starken Winden getrieben, und doch lenkt sie der Steuermann mit einem ganz kleinen Steuer, wohin er will.

3:5 So ist auch die Zunge nur ein kleines Körperglied und rühmt sich doch großer Dinge. Und wie klein kann ein Feuer sein, das einen großen Wald in Brand steckt.

 

»Sergej, lass das! Weg mit dem Feuerzeug!«

Der Angesprochene schaute mich kurz herausfordernd an, dann ließ er das Feuerzeug in seiner Tasche verschwinden. Sergej hatte versucht, den Hintern seines Vordermannes zu erhitzen. Dieser war nun aufgesprungen, fuhr sich mit der Rechten über sein Gesäß und rief:

»Du Russenarsch, lass den Schwachsinn, das nächste Mal fängst du eine!«

»Ich nix Russenarsch«, konterte Sergej erstaunlich gesprächig.

Meist schüttelte der 17-jährige Russlanddeutsche nur den Kopf. Entweder vertikal, meist jedoch horizontal.

»Ruhe, Leute, benehmt euch nicht wie im Kindergarten.«

Diese Aufforderung und einer meiner pädagogischen Standardsprüche, vermochte es vermutlich nicht, die beiden Kampfhähne zu beruhigen, es war wohl eher ihre Müdigkeit in der letzten Schulstunde, die eine heftigere Auseinandersetzung verhinderte.

Seit einem Jahr war ich Berufsschullehrer honoribus causa, mit einem Sechs-Stunden-Deputat unterrichtete ich Religion in Friseurinnen I und II, MetallII, Puddingakademie I und Fototechnische Assistenten – wobei ich die Elitegruppe Fototechnische Assistenten zweistündig unterrichtete, immer donnerstags und am Freitag in der ersten Stunde. In dieser Klasse der gewerblichen Bad Saulgauer Vorzeigeausbildung befand ich mich gerade.

»Also zurück zum Thema, wer weiß noch, wo wir stehengeblieben waren?«

Stille.

Vorwurfsvoll blickte ich in die illustre Runde von 24 eher gelangweilten Gesichtern. Ich wusste selbst nicht mehr, wovon wir gerade geredet hatten. Als ich meine Stirn sorgenvoll runzelte, meldete sich die zarte Alisa:

»Sie haben gesagt, Sie finden den obszönen Endkapitalismus echt zum Kotzen und letztendlich müsste unsere Generation wieder auf die Straße und Molotowcocktails werfen.«

»Ähm, so habe ich das nicht, ähm gesagt.«

»Doch ziemlich genau so.«

Das doppelte Dutzend grinste mich – plötzlich erstaunlich aufmerksam – forsch an. 23 Köpfe nickten, nur Sergej, von dem keiner wusste, warum er ausgerechnet in dieser Klasse war, schüttelte den Kopf. Ich deutete vom Pult aus in seine Richtung und nickte ihm dankbar zu – einen Verbündeten wähnend:

»Sergej scheint das auch anders zu sehen?«

Sergej schüttelte weiterhin seinen kleinen Kopf mit den glatten, blonden Haaren und bemerkte:

»Ich nix Russenarsch!«

»Also, zurück zum Thema. Wir haben versucht zu klären, was Trinität ist. Wer kann das noch mal in einem Satz wiedergeben?«

Die anämische Alisa hob wiederum ihr dünnes, dunkel behaartes Ärmchen und schnipste ungeduldig mit den Fingern.

»Nicht immer Alisa, weiß das sonst noch jemand? Das ist echt zum Kotzen mit euch, Heilandzack!«

»Aber Herr Bööönle, man darf doch nicht fluchen«, klimperte Vicky mit ihren verlängerten Wimpern. Sie saß in der ersten Reihe mit ihrer Busenfreundin Anita. Und Busenfreundin war noch untertrieben. Anita war vorbildlich gebaut und für die herbstliche Jahreszeit eindeutig zu leicht beschürzt.

»Sag mir lieber, was Trinität bedeutet.«

Die schöne, dunkelhaarige Vicky schaute mich treu an.

»Herr Bönle, können Sie mir mal sagen, warum ein Mann wie Sie Religion in einer Berufsschule unterrichtet?«

Dabei begutachtete sie mich ausgiebig von oben bis unten. Ganz unten blieb sie hängen und forderte keck:

»Und die Geschichte mit Ihren Stiefeln müssen Sie auch noch einmal erzählen. Die war ja voll crazy!«

Ich ignorierte ihre kokette Aufforderung und ging oberflächlich auf ihre erste Frage ein:

»Das frage ich mich auch. Herrgottzack, Sergej, steck dein Feuerzeug jetzt endgültig weg oder ich nehme es dir ab, dann kannst du es am Ende des Schuljahres beim Rektor wieder abholen.«

»Ich nix Russenarsch.«

»Ist ja okay, du Arschloch«, schrie der füllige Rolf aus der letzten Reihe, »du bist kein Russenarsch!«

Die Situation war noch unbedenklich und weiterhin pädagogisch zu retten.

»Mit euch macht das ja wirklich Spaß, ihr seid eine Kombination aus Geriatrie, Kindergarten und forensischer Psychiatrie.«

Da in meiner Aussage mindestens zwei Begriffe waren, die achtzig Prozent der körperlich Anwesenden nicht verstanden, sie mich aber mittlerweile gut kannten und zu Recht eine kumulative Schülerbeleidigung erahnten, war es schlagartig still im überheizten Klassenzimmer.

»Erklären Sie das mal!«, forderte ein Backbancher.

»Das kann ich euch sehr wohl erklären, geriatrisch in dem Sinne, dass ihr umgekehrt proportional zu eurem Alter dement seid, Kindergarten betrifft eure progressive Infantilität, der erwähnte Begriff forensisch bezieht sich auf eure latente kriminelle Energie.«

Endlich war es im Klassenzimmer für lange fünf Sekunden unerträglich still. Ich nutzte die Zeit zum Regenerieren.

»Können Sie das mal übersetzen?«

»Ja, ihr seid Deppen.«

Einige fingen an zu grinsen, die übrigen gingen ihren vorherigen unterrichtsirrelevanten, stereotypen Tätigkeiten nach.

Sergej meldete sich.

»Ja, Sergej?«

Ich ahnte es.

»Ich nix Russenarsch!«

 

Am Ende der nur bedingt erfolgreichen Unterrichtsstunde im Fach katholische Religionslehre an der Berufsschule in Bad Saulgau kam der schwarzhaarige Tobi aus der letzten Reihe mit dem Sturzhelm in der Hand auf mich zu. Zuerst griff ich mir aber noch Sergej heraus, um ihn zu ermahnen:

»Sergej, provoziere doch nicht ständig. Ich habe nichts dagegen, wenn du dich hier nur reinsetzt und deine Klappe hältst und niemanden störst, okay? Und übrigens, deine Schwester, wann kommt die wieder? Ist sie krank? Bring doch wenigstens eine Entschuldigung, der Klassenlehrer ist schon sauer.«

»Ich weiß nix, wo meine Schwester, vielleicht ist sie wieder in Ukraine. Mit der сука will ich nix zu tun chaben! Außerdem, fragen Sie da lieber Tobi!«

»Was, die ist abgehauen?«

»Egal, sie ist alt genug, die подстилка

Ich fragte Tobias:

»Weißt du, wo Alexandra steckt?«

Er zuckte mit den Schultern, warf Sergej einen giftigen Blick zu und ging zum Fenster.

Sergejs ältere Schwester Alexandra war ebenfalls in der Klasse der Fototechnischen Assistenten, aber seit Tagen nicht mehr zum Unterricht erschienen.

Tobi mit dem Sturzhelm in der Hand räusperte sich lautstark, er wollte aufbrechen. Er nickte mir kurz auffordernd zu. Ich verabschiedete mich von Sergej:

»Wenn deine Schwester auftaucht, schick sie einfach mal bei mir vorbei. Das ist doch keine Lösung, einfach von der Schule wegzubleiben.«

»Das ist mir egal, meine Schwester ist eine Schlampe, eine сука, eine подстилка

3 Straßengedanken

Das Buch der Sprichwörter

4:25 Deine Augen sollen geradeaus schauen, und deine Blicke richte nach vorn!

4:26 Ebne die Straße für deinen Fuß, und alle deine Wege seien geordnet.

4:27 Bieg nicht ab, weder rechts noch links, halt deinen Fuß vom Bösen zurück!

Ich packte meine wenigen Utensilien in den schwarzorangenen Rucksack, zog meine schwarze Lederjacke über mein schwarzes Sweatshirt, das wiederum harmonierte farblich hervorragend mit meiner schwarzen Lederhose im Jeansstil. Ich vergewisserte mich, dass alle Fenster geschlossen waren, damit die wertvolle Energie, wie Rektor Saitling zu sagen pflegte, nicht verloren ging. Ich nahm meinen schwarzen Helm mit der bescheidenen Aufschrift Harley Davidson und verließ als Letzter zusammen mit dem 16-jährigen Tobias Fränkel das dunstgeschwängerte Klassenzimmer der Fototechnischen Assistenten. Die lederbesohlten Holzabsätze meiner Pythonlederstiefel – gelbe Python aus Brasilien, gepaart mit braunem Rindsleder – gaben bei jedem Tritt einen dumpfen hallenden Ton im schon menschenleeren Gang von sich. Tobi schritt wortlos neben mir her. Wieder hatte ich eine Schlacht geschlagen – und gewonnen; noch unzählige werden folgen. Ich kam mir vor wie John Wayne in Rio Bravo als Sheriff John T. Chance und neben mir mein stummer Deputy. Passend dazu fiel meinem erstaunlichen Gehirn Bob Marleys Liedchen vom bedauernswerten Sheriff und vom Deputy ein und es swingte dazu im Reggae-Rhythmus:

 

I shot the sheriff, but I did not shoot the deputy.

I shot the sheriff, but I swear it was in self-
defense.

I shot the sheriff, and they say it is a capital
offense.

 

Zur Berufsschule war ich gekommen wie Politiker zum Verstand, das Telefon hatte geklingelt: Wir hätten da etwas Attraktives auf Angestelltenbasis für Sie. Sechs Stunden Religionsunterricht an der Berufsschule … Gute Bezahlung … Pädagogische Herausforderung … Mit Ihrem Studium gar kein Problem … Nette Kollegen, ehrlich, erdig, unkompliziert.

Und schon konnte ich meinem erlernten Beruf nachgehen. Nach Jahren beruflicher Inkontinenz – immer wieder tröpfelte etwas mehr oder weniger Attraktives an mich heran – nun endlich mal was Festes und dann gleich sechs Stunden. Das war überschaubar und von meinem Wohn-, Heimat- und Lebensort Riedhagen aus benötigte ich mit meinem Milwaukee-Eisen gerade mal 16 Minuten von meinem Erbhaus bis zum Arbeitsplatz Schule. Nun könnte ich auch meine Arbeit als Mädchen für alles in der Gemeinde etwas reduzieren. Die katholische Kirche hatte gern auf mich als studierten Theologen zurückgegriffen, um mich mit so wichtigen Tätigkeiten wie Friedhofspflege, Aushilfs-Mesnerei und Lebensberatungskursen kostengünstig anzustellen. Nach dem Unfalltod meiner Eltern war ich nach Riedhagen zurückgekehrt, um deren Haushalt aufzulösen. Über die Planung des Auflösungsprozesses war ich nie hinausgekommen. Mittlerweile fühlte ich mich sehr wohl im geerbten Haus, mit der herrlich riedblickenden Wohnlage. Ich hatte alles, was ich brauchte. Ein Haus, ein Motorrad, Erbgeld, eine gute Figur und vor allem Cäci. Riedhagen war für mich die Wahlheimat der Bequemlichkeit geworden. Es mangelte mir an nichts.

Tobi schwieg immer noch neben mir her. Donnerstags nahm ich ihn von der Berufsschule mit nach Hause, ansonsten hätte er noch zwei Stunden auf eine günstige Busverbindung ins abgelegene Riedhagen warten müssen. Tobi war das einzige Kind des Bauernehepaares Fränkel. Sie hatten einen kleinen Hof am Rande des Pfrunger-Burgweiler Rieds und kamen, nachdem sie die Dorfmetzgerei vor zwei Jahren aufgeben mussten, eher schlecht als recht über die Runden. Mit sechs Milchkühen und acht Schweinen, einem Deckeber und einem alten Haflinger war das Leben im Ried kein Ferien-Traumschiff vor Ibiza. Mit Schwarz-Metzgern in Riedhagen und Umgebung verdienten sich Fränkel und sein Sohn etwas dazu. Die Jäger-Schweinswürste mit viel Majoran und ›geheimen‹ Kräutern genossen sogar überregionale Anerkennung.

 

Für den donnerstäglichen Personennahverkehr hatte ich extra das Klebesitzpad für meine nachtschwarze Schöne aus Milwaukee im Rucksack mitgebracht. Eigentlich war meine Harley Davidson Street Bob für den Ein-Mann-Betrieb konzipiert. Es gab jedoch Situationen, in denen ein Sozius-Betrieb von erotischem Vorteil war, und so hatte ich an mein Eisen zusätzliche Fußrasten angebracht und mir ein sündhaft teures Saugnapfsitzpad für den hinteren Kotflügel käuflich erworben. Auf diesem Hasenfänger thronte nun Tobi, als wir in südliche Richtung ins 20 Kilometer entfernte Riedhagen aufbrachen.

Mittlerweile hatte die morgendlich-nebelige Stimmung einem fast schon frivol dunkelblauen Herbsthimmel Platz gemacht. Herrlich war es, mit der drehmomentstarken Kraft des schweren, grummelnden 1.600 Kubikzentimeter fassenden Motors, in klassischer V-Form angeordnet, nur durch einen zarten Dreh am Gasgriff durch die Landschaft des Rieds geschoben zu werden. Heute wählte ich zur Rückfahrt die längere, aber reizvollere Strecke, die uns von Ostrach ab über Spöck, Burgweiler, Waldbeuren, Ulzhausen und Egelreute direkt durch das Riedgebiet schließlich nach Riedhagen führte. Sonor schüttelte uns das brachiale Kult-Eisen mit lässigen 2.500 Motor-Umdrehungen pro Minute über die wellige Riedallee. Das Weiß der Birkenrinden verschwendete seinen Glanz auf fast schon unanständige Art und Weise an die Umwelt. Das Goldgelb der Blätter zitterte an uns vorüber. Schlaglichtartig leuchtete großzügiges Rot von Beeren und Blättern. Ein Hase sprang plötzlich aus dem hohen Gras auf die Straße, bemerkte die Gefahr, unterbrach die beabsichtigte Überquerung der schmalen Straße und hüpfte in wildem Zickzack einige Meter panisch vor uns her. Immer wieder brachen die Hinterläufe auf dem rutschigen Asphalt aus. Dann hatte Meister Lampe die beste Idee dieses Tages, er verschwand von der Straße, wenige Meter vor meinem bremsenden Vorderrad, in die rettende Wiese.

Harleyfahren hatte für mich immer etwas Meditatives und immer wenn ich meditiere, aber auch ganz unverhofft, macht mein Hirn, was es will. Dieses Mal wollte es singen, als ich mit meiner 16-jährigen Schülerfracht durchs Ried schaukelte. Ich schämte mich für mein Gehirn und fragte mich, wer eigentlich der Herr im Hause ist – mein Wille, also ich, oder das alberne Hirn. Es summte stumm einfach eine Melodie, die mir irgendwie bekannt vorkam, und schon bald setzte auch der schweigende Text dazu ein:

 

Schööön ist es auf der Welt zu sein

Sagt die Biene zu dem Stachelschwein

Du und ich wir stimmen ein:

Schön ist es, auf der Welt zu sein.

Du kannst atmen, du kannst gehn

Mmmmhhh … irgendwas sehn … tatata

Das Beste am Tag, das sind die Pausen,

Das ist auch in der Schule so

Das Schönste im ganzen Jahr, das sind die Ferien

Dann ist sogar der Lehrer froh

Dann kann man endlich tun und lassen, was man
will

Dann sind wir frei und keiner sagt mehr: Du sei
still

Das Schönste im Leben ist die Freiheit

Schön ist, es auf der Welt zu sein

Wenn die Sonne scheint für groß und klein

Dann singt sogar das Stachelschwein …

 

Ich zweifelte aufrichtig an meinem Geisteszustand, vielleicht war die Schule doch nicht das Richtige für mich. Vielleicht sollte ich mir aber auch ein neues, intaktes Unterbewusstsein zulegen.

Gerhard Höllerich, manchen, vor allem unreifen, reiferen Damen auch als Roy Black bekannt, hatte dieses Liedchen mit der zehnjährigen Anita Hegerland Anfang der 70er-Jahre geträllert. Schon damals als Kind fand ich dieses Lied peinlich. Sinnvollerweise tat sich die blonde Kindersängerin in reiferen Jahren mit Mike Oldfield zusammen. Der sang wenigstens nicht von Schweinen. Roy Black starb dann irgendwie irgendwann – zu jung. Nicht nur die Besten sterben jung.

 

Das arme Schwein stand mitten im Hof. Es hatte aber keine Chance. Von der Hofeinfahrt her kündigte ich mich mit der donnernden Harley an. Zeitgleich näherte sich von der gegenüberliegenden Seite der knallende und rauchende Fendt von Fränkel und von der Haustür her schwang die rundliche Mutter Tobis, mit einer blau-weißen Kittelschürze bekleidet, einen Reisigbesen und versuchte, den quietschenden schweinischen Ausbrecher zurück in den Stall zu treiben. Bauer Fränkel sprang mit Zornesmiene vom Traktor, fuchtelte weit ausladend mit den Armen, seine Frau schlug mit dem Besen auf das Hinterteil des Schnitzel produzierenden Borstentieres. Dieses sah nur noch einen Ausweg und floh kreischend, das Kringelschwänzchen steil erhoben, zurück in den Stall.

Der Bauer kam auf seinen Sohn Tobi zu und als dieser gerade den Helm abgenommen hatte und sein schulterlanges schwarzes Haar ordnete, klatschte die rechte Hand des Vaters mitten in sein Gesicht. Tobis Augen weiteten sich, er machte einen Satz rückwärts, stolperte und landete mit dem Gesäß im Dreck. Auf seiner linken Wange erschien ein rot-weiß marmorierter Fleck.

Tobis Mutter stürzte auf ihren Mann mit erhobenem Besen zu und holte aus. Geschickt fing der kräftige Bauer das Schlaginstrument ab und entwand es ihr.

»Wehe …«, drohte er nun seinerseits mit dem Kehrutensil.

»Was hat der Bub dir getan?«

»Schau dir doch die Sauerei am Scheunentor an!«

Tobi schaute zum Torpfosten.

»Was soll das?«

»Das frage ich mich auch. Seit du auf dieser Schule bist, hast du nur noch Scheißdreck im Kopf! Kreativität und so ein Blödsinn … Von Kreativität wird hier auf dem Hof keiner satt. Das sollte wohl wieder ein Fotomotiv werden, experimentelle Fotografie oder so ein Rotz! Mach sofort die Sauerei vom Tor weg, sonst fängst du noch mal eine!«

Der Bauer fuchtelte mit dem Besen in Richtung des Scheunentores.

»Das war ich nicht«, fauchte Tobi trotzig.

Mittlerweile war ich von meinem Bike abgestiegen, hatte den Helm abgenommen und versuchte, die angespannte Lage durch ein paar besänftigende Leerformeln zu beruhigen.

Der Bauer wurde nur ärgerlicher.

»Sieee geht das sowieso nichts an. Sieee wissen ja gar nicht, was Arbeit ist, was es bedeutet einen Hof und eine Familie über die Runden zu bringen. Nicht jeder kann mit Nichtstun oder vom Erbe seiner Eltern überleben.«

Mittlerweile waren wir alle vier vor dem surrealen Arrangement am Scheunentorpfosten versammelt.

»Das war ich nicht. Was ist denn das, das sieht ja aus wie eine Nase.«

Tobi deutete auf die rechte Ecke des Dreiecks. Der Bauer zog am Nagel des gefalteten fleischkäseartigen Objektes, das die Spitze des Dreiecks bildete, und zog das Aufgespießte mit Kraft vom Nagel. In seiner Hand entfaltete sich ein Ohr. Es war zweifelsohne ein menschliches.

»Scheiße«, hauchte der Bauer entsetzt.

Seine mollige Frau fasste ihn fest am Oberarm, Tobi stand bleich neben mir. Der Bauer zog die Hand wie elektrisiert zurück. Das Ohr fiel auf den Boden.

»Das ist von keinem Tier …«

»Wir müssen die Polizei rufen.«

»Das andere sieht nicht nur aus wie eine menschliche Nase, das ist bestimmt eine.«

»Das daneben, was da noch hängt, das runde wurmartige, was ist das?«

Mittlerweile hatte ich mein altes, blaues Handy gezückt, das beinahe die Größe einer Telefonzelle besaß und noch mit dem Atavismus einer schwarzen Stummelantenne ausgerüstet war, und informierte die Polizei in Bad Saulgau vom Gehänge am Scheunentor. Sie versprachen mir, sofort jemanden zu schicken.

Das Ohr hatte ich mit zwei herumliegenden kurzen Stecken in der Art des Aufstocherns chinesischer Speisen auf ein Papiertaschentuch gelegt. Bis zum Eintreffen der Beamten betrachtete ich das makabre Dreieck mit dem bräunlichen Auge in der Mitte. Ich zog meine neue Spiegelreflex-Digitalkamera aus dem Rucksack. Zehn Millionen Pixel, tolles lichtstarkes Zoom und alles herrlich kompakt gebaut. Bald hatte ich all das abgelichtet, was ich von Interesse fand. Um nachzudenken, lief ich um das Fränkelsche Anwesen und fotografierte, bis der Akku im Haltegriff der Kamera eine wohlige Wärme ausstrahlte.

Ganz weit vorn in meinem bedauernswerten Gehirn, wo die assoziativen Prozesse gesteuert wurden, dämmerte im riedigen Nebel des Frontallappens eine Idee. Ich erschrak.

Der Vorhang des Küchenfensters, von dem aus ein altes runzliges Gesicht mit wachen, wasserblauen Augen das Geschehen auf dem Hof aufmerksam beobachtet hatte, wurde mit gichtigen Fingern sorgfältig wieder zurückgezogen.

4 Witwensitz

Der erste Brief an Timotheus

5:4 Hat eine Witwe aber Kinder oder Enkel, dann sollen diese lernen, zuerst selbst ihren Angehörigen Ehrfurcht zu erweisen und dankbar für ihre Mutter oder Großmutter zu sorgen; denn das gefällt Gott.

5:5 Eine Frau aber, die wirklich eine Witwe ist und allein steht, setzt ihre Hoffnung auf Gott und betet beharrlich und inständig bei Tag und Nacht.

5:6 Wenn eine jedoch ein ausschweifendes Leben führt, ist sie schon bei Lebzeiten tot.

5:7 Das sollst du ihnen einprägen; dann wird man ihnen nichts vorwerfen können.

5:8 Wer aber für seine Verwandten, besonders für die eigenen Hausgenossen, nicht sorgt, der verleugnet damit den Glauben und ist schlimmer als ein Ungläubiger.

 

»Eigentlich hätte ich mir das ja denken können.«

Provokativ legte die blonde Kommissarin ihr hübsches Köpfchen in den Nacken.

»Herr Bönle, Daniel Bönle.«

»Freut mich aufrichtig, dass Sie meinen Namen noch kennen, Frau Dings … ähm Frau Hauptkommissarin.«

»Kommissarin reicht.«

Mittlerweile hatte sie einen grauen Minicomputer und einen winzigen Plastikstift aus der Brusttasche ihres dunkelblauen Blazers gezogen, der sehr gut zu ihrer blau-weiß längs gestreiften Bluse passte. Die obersten Knöpfe waren nicht geschlossen. Meine Augen blieben eine Millisekunde zu lang an ihrer Bluse und ihrem geschätzten Inhalt hängen. Mit schlanken Fingern zupfte die fesche Beamtin ihren Blazer enger zusammen. Ohne sichtlichen Erfolg.

»Längsstreifen machen schlank«, bemerkte ich.

Sie funkelte mich an:

»Herr Bönle, ich nehme mit Erschrecken zur Kenntnis, dass Sie noch genauso infantil sind wie im vorherigen Jahr. Und zu neuen Stiefeln hat es wohl immer noch nicht gereicht.«

Das saß.

Ihr uniformierter Begleiter grinste dümmlich in meine Richtung.

»Wollen Sie nicht zum Wesentlichen kommen?«, forderte ich die schlanke Schöne mit ihrem elektronischen Notizblock auf.

Ich führte die Kommissarin zum Scheunentor. Bauer, Sohn und Bäuerin trotteten in hierarchischer Formation hinterher.

»Wer hat das Ohr vom Nagel entfernt?«

Umständlich, mit ausladenden Gesten und dramatischer Mimik erklärte Bauer Fränkel der Wohlgeformten, wie und was er schon in der Frühe entdeckt und wofür er es gehalten hatte. Und ohne seine Lesebrille hätte er sowieso nicht genau erkennen können …

Die ernste Kommissarin tippte mit dem Plastikzahnstocher alles in ihr elektronisches Begleiterchen. Danach wurden kurz die Bäuerin und anschließend auch ich befragt, wenn auch etwas länger.

 

Tobi hatte sich in die Küche mit der niedrigen Decke verzogen. Er saß neben dem alten Holzofenherd, hatte mit einem Schürhaken die gusseiserne Kasserolle mit dem Schweinsbraten auf eine kalte Herdstelle gezogen und mit einer überdimensionalen Fleischgabel ein paar abgelöste Stücke vom weich gegarten Fleisch stibitzt. Nun stocherte er noch in der Soße herum, um ein Scheibchen Steinpilz zu ergattern. Die Oma saß in ihrer schwarzen Kleidung auf der Eckbank, gebeugt unter dem Herrgottswinkel, der die üblichen Utensilien, nämlich ein schräg hängendes Holzkruzifix, verblasste Heiligenbildchen und einen dürren Thujawedel vom letzten Palmsonntag barg. Die 83-jährige Witwe grinste ihren Enkel kurz an, dann zog sie eine Perle des Rosenkranzes weiter, der in ihren altersfleckigen, gefalteten Händen verschlungen war:

»… und gebenedeit sei die Frucht deines Leibes Jesu.«

Sie unterbrach ihr Gebet und schaute zu ihrem Enkelkind:

»Das hat dir schon als kleiner Bub geschmeckt, weicher Schweinebraten und Pilze.«

Nachdenklich, das faserige Fleisch kauend, blickte Tobi durch die kleine, verdreckte Scheibe mit dem vergilbten Häkelvorhang. Dann wanderte sein Blick auf das ehemals weiß gestrichene hölzerne Fensterbrett, auf dem sich ein Panoptikum unterschiedlichster Gegenstände befand. Das Auffälligste war eine 30 Zentimeter große Madonnenfigur mit Kind. Das Jesuskind, das mühelos von seiner blau bemantelten Mutter auf dem linken Arm getragen wurde, sah aus wie ein kleiner Erwachsener mit blond gelocktem Haar und blauen Augen. Vermutlich war der junge Jesus ein Arier, mit Sicherheit kein Jude. Die Nasenspitzen von Mutter und Kind waren abgebrochen, sodass der weiße Alabaster zum Vorschein kam. Hinter der Madonnenfigur stand ein silbernes Beistellkreuz, das man ansonsten neben Verstorbenen aufstellte. Um das Kreuz war ein Rosenkranz gewickelt, der wiederum einen rindenlosen Stecken an das Kreuz fesselte. Neben der Madonna mit Kind saß, deutlich kleiner, eine Engelsfigur, sie hob Blick und Hände gen Küchendecke. Zum Engelsarrangement gehörte eine leere Eierschale aus Porzellan, aus der der kleine Racker wohl gerade geschlüpft war. Am Rücken trug er winzige, blaue Flügelchen mit vergoldeten Spitzen. Neben dem Eierengel stand ein Aral-Wackeldackel aus den 70er-Jahren. Tobi ging kauend zu ihm hin und verpasste ihm einen sanften Nasenstups. Der Dackel nickte dankbar mit dem Kopf.

Tobi schüttelte ebenfalls den Kopf und murmelte:

»Mittelalter, das ist alles wie im Mittelalter, alles Scheiße.«

»Was hast du gesagt?«

»Ach nichts, ich denke, dass ich heute noch in die Pilze geh. Steinpilze gibts gerade.«

Die Oma nickte und erhob ihre Stimme zum schmerzhaften Rosenkranz:

»Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat. Jesus, der für uns Blut gegeißelt worden ist. Jesus, der für uns Blut mit Dornen gekrönt worden ist.«

Tobi fuhr seiner Oma kurz über das graue Haar und verschwand lautlos aus der Küche.

»Jesus, der für uns Blut das schwere Kreuz getragen hat. Jesus, der für uns Blut gekreuzigt worden ist.«

 

Auf dem Hof stand die wohlgeformte Kommissarin mit einem adretten, blütenweißen Handy – es war fünf Mal kleiner als das meinige – und sie sprach fast zärtlich leise mit ihm. Ich verstand Worte wie:

»Spurensicherung, vermutlich menschlich, seltsam, Verbrechen, Bönle, wer sonst.«

Nachdem das winzige Telefon mühelos in einer noch winzigeren Krokoleder-Imitat-Handtasche verschwand, meinte sie freundlich in meine Richtung:

»Wir brauchen Sie hier nicht mehr, Herr Bönle, die Spurensicherung kommt gleich.«

Ihr rangniedrigerer Kollege in Uniform, der bis jetzt schweigend neben ihr stand und sie auf Schritt und Tritt wie ein artiges Hündchen begleitete, nickte wichtig. Meinem Blickkontakt konnte er jedoch nicht lange standhalten.

»Ich habe Zeit.«

5 Krautgespräche

Das Buch der Weisheit

8:8 Wenn jemand nach reicher Erfahrung strebt: sie kennt das Vergangene und errät das Kommende, sie versteht, die Worte schön zu formen und Rätselhaftes zu deuten; sie weiß im voraus Zeichen und Wunder und kennt den Ausgang von Perioden und Zeiten.

 

Zuhause erwartete mich die zweite große Überraschung des Tages. Als ich in den Tulpenweg einfuhr, sah ich, dass Cäcis roter Opel in meiner Garageneinfahrt stand. Freudig betätigte mein Daumen dreimal das dumpf klingende Horn meiner potenten, amerikanischen Maschine.

Cäci kam mir von der Veranda her barfüßig entgegengehüpft. Sie trug ein rotes, der Jahreszeit nicht entsprechendes Top, enge Bluejeans formten ihre schlanken Beine trefflich. Bei jedem Schritt die steile Treppe herunter wippte ihr brünettes, langes Haar weich im warmen Licht der Herbstsonne, zwei meiner besten haptischen Freunde hüpften fest und klein mit. Ihre riedbraunen Augen blitzten vor Freude, als sie mich umarmte.

»Hi Dani, ich hab schon was gekocht, schnell, ich bekomme kalte Füße.«

Bei dem Wort gekocht erschrak ich, schaute misstrauisch und fragte:

»Warm gemacht?«

Sie ignorierte meine berechtigte Frage einfach. An und für sich bin ich ein moderner Mensch und habe nichts dagegen, wenn starre geschlechterspezifische Verkrustungen allmählich entkrustet werden. Es ist mir nicht unangenehm, wenn dem unterdrückten Geschlecht, uns Männern, wieder mehr Freiheiten zugesprochen werden. Immer bemerkenswert fand ich es, wenn sich Männer das Feuer, also den Herd zurückeroberten. Ich konnte das schwache Geschlecht, uns Männer, also nur unterstützen im Kampf um die Küche. Mittlerweile hatten wir in diesem kulinarischen Genre schon einen unserer wenigen Siege zu verzeichnen. Immer mehr Männer beherrschten die Kochkunst. Kaum ein Restaurant, das nicht einen Spitzenkoch hat. Hatte man jemals von einer Spitzenköchin gehört?

Andererseits erschreckte es mich, dass diese zurückeroberte, urzeitliche Männerdomäne so viele jetztzeitige weibliche Opfer forderte. Cäci war ein Paradebeispiel dafür. Als sie in mein Leben trat, war sie nicht fähig, ein Sechsminuten-Ei zu kochen, sie hatte das Wasser vergessen. Beim Aufwärmen der Speisen, die ihre Mutter zuvor aufwändig und köstlichst zubereitet hatte, roch ich heute noch oft Brenzliges.

 

Mit einer rhetorischen Frage versuchte ich das Thema zu ändern:

»Was machst denn du schon hier? Sind schon wieder Semesterferien?«

»Ich habe meine Prüfung vorziehen können. Jetzt habe ich verlängerte Semesterferien.«

»Wie liefs?«

»Ganz gut, bestanden habe ich auf jeden Fall.«

Ich ging hinter ihr her die schmale, steile Treppe zu meinem Erbheim hoch. Über die Veranda, unter der sich die Garage befand, gingen wir durchs Wohnzimmer in die Küche.

Dort warteten schon aufgewärmter Kartoffelbrei, aufgewärmte Kassler-Ripple und aufgewärmtes Sauerkraut auf mich.

»Und wie gehts denn meinem Lehrer?«

»Ganz okay, manchmal nervts.«

»Was ist los, freust du dich nicht, dass ich gekommen bin? Irgendwas stimmt doch nicht. Wir habens doch so schön hier, das Wetter stimmt, du hast endlich einen guten Job, ich hab dir was Feines mitgebracht. Was will man mehr?«

Mir ging schon wieder der Refrain des einfältigen Liedes wie ein schleimiger unendlicher Wurm durch das Musikzentrum meines bedauernswerten Gehirns: Schööhöön ist es auf der Welt zu sein. Sagt die Biene zu dem Stachelschwein …

Cäci, die Psychologiestudentin, hatte sofort bemerkt, dass meine Stimmung nicht dem herrlichen Herbstwetter entsprach.

»Beim Fränkel ist was vorgefallen«, unterbrach ich die Musik in meinem Gehirn.

»Beim ehemaligen Metzger?«, unterbrach sie mich.

»Ja, unten am Ried, du weißt schon, der vergammelte Fränkel-Hof.«

»Du hast doch den Jungen, den Tobi im Unterricht.«

»Genau.«

Ich schob mir ein trockenes, fettfreies Stück vom Ripple in den Mund und führte schnell zur Befeuchtung des Bissens eine Gabel vom fein gehobelten und lang gekochten Sauerkraut nach.

»Ist das von deiner Mama?«, fragte ich vorsichtig.

»Ja, hat sie gestern schon aufgesetzt. Ich habe aber alles allein aufgewärmt, für dich.«

Ich freute mich aufrichtig, dass nichts angebrannt war und genoss die schwäbische Spezialität, obwohl dem angetrockneten Kartoffelbrei zur neuerlichen Erwärmung ein Schuss Sahne oder wenigstens Milch gut getan hätte.

»Wir können ja heute Abend die anderen auf ein Bier in den Goldenen Ochsen bestellen. Dann brauchen wir nicht nach Saulgau reinzufahren. Mama hat schon den Tisch am Kachelofen für uns reserviert.«

»Und deine Mama verdient sich eine goldene Nase an uns.«

»Jetzt erzähl schon, was war beim Fränkel?«

Ausführlich erzählte ich der neugierigen Tochter der Wirtin des Goldenen Ochsen, was sich auf dem Hof ereignet hatte.

»Und die Kommissarin, die Krieger ist gekommen? Die wird ja schön blöd geguckt haben, als ausgerechnet du auf dem Hof standest. War ihr Chef, der Härmle, auch dabei?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Was meinst du, was steckt dahinter?«

»Wenn es wirklich menschliche Teile sind – vermutlich ein Mord. Einem Lebenden kann man so was wohl kaum antun?«

»Und die Anordnung der Teile, was hat das zu bedeuten?«

»Ich habe da so eine Idee. In der Schule behandle ich auch gerade das Thema. Das Dreieck mit dem Auge steht eigentlich für den dreifaltigen Gott. Also den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Was aber das abgeschnittene Zeugs bedeuten soll, das weiß ich nicht. Das Einzige, was eindeutig zu erkennen war, das war ein Ohr. Das andere sah aus wie der vordere Teil einer Nase und das andere … so rund und schlauchartig.«

Mit den Händen versuchte ich meine Beschreibung zu unterstützen. Nachdenklich spielte Cäci mit ihren Haarspitzen.

»Mir fallen da die Affen ein.«

»Welche Affen?«

»Augen, Ohren, Mund.«

»Hää?«

»Du hast doch beschrieben, dass in die Mitte des Dreiecks ein Auge gezeichnet war, dann hängt ein Ohr dabei, der andere Körperteil könnte eine Nase sein. Meinst du, das runde Wurmartige war ein herausgeschnittener Mund?«

Cäci schaute mich aus riedwasserfarbenen Augen entsetzt an. Ich küsste sie.

»Das ist ja genial, natürlich! Das passt zusammen: Augen, Ohren, Mund und Nase.«

»Es könnte eine Warnung sein – für jemanden vom Fränkel-Hof.«

»Was für eine Warnung?«

»Seine Nase nicht irgendwo reinzustecken, nicht zu lauschen, nichts zu verraten und nicht hinzuschauen.«

»Das Auge in der Mitte könnte aber auch eine Warnung sein, dass man beobachtet wird.«

Cäci zuckte mit ihren schmalen Schultern:

»Iss leer. Wie hat denn Tobi reagiert?«

»Nachdem sein Vater ihn geschlagen hatte, ging er in die Küche. Die blonde Kühle hat ihn wahrscheinlich abschließend verhört. Da habe ich aber nichts davon mitbekommen.«

»Hast du mal wieder fotografiert?«

»Klar.«

»Zeig mir die Bilder.«

Ich lud die 62 Bilder, die ich von dem Scheunentor und den angehefteten Körperteilen, dem auf dem Taschentuch liegenden Ohr sowie dem Hof und der allernächsten Umgebung gemacht hatte, in mein Notebook ein. Cäci betrachtete jedes Bild aufmerksam. Immer wieder vergrößerte sie Bildausschnitte.

»Mein Gott, wie viel hast du denn wieder fotografiert.«

Sie schüttelte vorwurfsvoll ihren Kopf und konzentrierte sich auf die ersten Bilder.

»Jede Wette, dass das ein herausgeschnittener Mund ist«, sagte sie würgend.

»Schau, das ist die Lippenstruktur, das vollere ist die Unterlippe, das da die Oberlippe, hier ist zu weit hineingeschnitten worden. Das ist ein Teil der Wange.«

Sie vergrößerte den Ausschnitt weiter.

»Es war eine Frau.«

»Wie kommst du da drauf?«

»Hier zwischen den Riefen der Lippen, da sind Reste vom Lippenstift. Und hier, wo über die Oberlippe hinaus geschnitten wurde, sind ganz feine Härchen zu erkennen. Bei Männern wären da Stoppeln.«

Triumphierend schaute mich die clevere Wirtstochter an. Mir schmerzten plötzlich die Lippen. Dann verzog Cäci die Mundwinkel langsam nach unten.

»Pfui Teufel, ist das alles ekelhaft. Da kann man nur hoffen, dass das nach dem Tod stattgefunden hat. Was summst du denn die ganze Zeit für eine alberne Melodie? Ist das nicht … Nicht verraten, mir fällts irgendwann ein.«

6 Bettversteck

Die Psalmen

10:7 Sein Mund ist voll Fluch und Trug und Gewalttat; auf seiner Zunge sind Verderben und Unheil.

10:8 Er liegt auf der Lauer in den Gehöften / und will den Schuldlosen heimlich ermorden; seine Augen spähen aus nach dem Armen.

10:9 Er lauert im Versteck wie ein Löwe im Dickicht,/ er lauert darauf, den Armen zu fangen; er fängt den Armen und zieht ihn in sein Netz.

10:10 Er duckt sich und kauert sich nieder, seine Übermacht bringt die Schwachen zu Fall.

 

Die Gestalt schlich vorsichtig durch die Dunkelheit zur steilen Treppe der Gesindekammer. Sie war vom Ried her gekommen, von dort, wo Nebelfetzen sich wie in Zeitlupe drehten, legten, wieder aufstiegen und sich dann langsam zu einem weißen Nichts am Boden verdichteten. Die Gesindekammer lag auf der Nordseite hinter dem Haus, zum Ried hin.

Die zwei Stufen, die an der einfachen Holztreppe fehlten, überbrückte die Gestalt mit einem weiten, lautlosen Schritt, indem sie sich am Holzgeländer hochzog. Beinahe wäre sie vom Holz abgerutscht.

»Gottverdammt, das hätte noch gefehlt!«

Sie atmete kurz durch und zog sich behänd am Holzgeländer nach oben, um das Knarren der alten Stufen zu vermeiden. Von der steil ansteigenden Treppe aus konnte sie über den Schopf in den Hof hineinsehen. Durch den nachlässig geschlossenen Vorhang des gegenüber liegenden Wohnzimmers störte sie das hysterische, helle Blitzen eines laufenden Fernsehgerätes. Schnell nahm sie, fast geräuschlos die letzten Stufen. Mit sanftem Druck öffnete sie die Tür zur Gesindekammer.

Die Person war nicht das erste Mal hier. Sie kannte sich bestens aus. Ein paar notwendige Dinge hatte sie schon seit Längerem liegen, eine raue Decke und eine ausgefranste Zahnbürste. In der nahen Stadt hatte sie feuchte Tücher mitgehen lassen, da sie sich nicht traute, den Wasserhahn des Waschbeckens zu bedienen, wegen der Fließgeräusche im Rohr. Sie legte ein paar Äpfel, Cox Orange, die sie aus einer der das Ried säumenden Obstwiesen mitgenommen hatte, auf das alte Nachttischchen. Fröstelnd schloss sie die Arme um den Oberkörper. Trotzdem war es hier in den langen Nächten wärmer, viel wärmer als im Ried. Sie lehnte sich an die Wand, hier war es sogar ein bisschen behaglich, hinter der Wand lief der Kamin der holzbefeuerten Waschküchenheizung. Sie ging vorsichtig zum kleinen Fenster, das sie immer wieder im linken, unteren Eck blank rieb, um einen besseren Einblick in das Hofgeschehen zu haben. Das bläulich zuckende Licht, das der Fernsehapparat gespenstisch durch das Wohnzimmerfenster über den dunklen, leicht benebelten Hof schickte, schien das einzig Lebendige zu sein.

Ihn hatte sie heute schon ein paar Mal gesehen, heute Morgen, als sie im Nebel hinter der Hecke stand. Er schien jedoch nicht verstanden zu haben, was das alles zu bedeuten hatte. Und zur Mittagszeit war richtig viel los auf dem ansonsten ruhigen Hof. Vom Fenster der Gesindekammer aus hatte sie mit trommelndem Herzen die eigenartige Szenerie beobachtet. Als der Motorradfahrer alles fotografiert hatte und die Kommissarin mit ihrem Begleiter wieder verschwunden war, nutzte sie eine ruhige Minute, um vor dem großen Ansturm der Spurensicherung in Richtung Ried zu verschwinden.

Nun legte sie sich in das alte Kirschholzbett und zog die Decke bis zum Kinn. Obwohl die alten dreiteiligen Matratzen feucht waren und diese Unterkunft immer wieder ein gewisses Risiko darstellte, vor allem jetzt, da häufiger Polizeibesuch zu erwarten war, lächelte sie und freute sich auf einen guten Schlaf. Das Messer in der engen Hosentasche störte sie. Sie nahm es heraus, löste die Klinge mit einem Druck auf den hinteren Teil des Griffes und fuhr mit dem Daumen über den hauchdünnen Grat des Eisens, um die Schärfe zu prüfen. Ihre Pupillen waren weit geöffnet. Sie zitterte, dann wurde ihr übel. Sie legte das Messer schnell auf das Nachttischchen. Sie war gern hier. Sie holte das alte, gefaltete Blatt Papier mit der Zeichnung aus ihrem Geldbeutel und betrachtete es eingehend.

Sie lächelte, wie man lächelt, wenn einem gesagt wird, ich mag dich schon, aaaber … und leise hauchte sie in den dunklen Raum:

»Ripp.«

7 Gesichtsentgleisung

Das Buch der Sprichwörter

1:8 Höre, mein Sohn, auf die Mahnung des Vaters, und die Lehre deiner Mutter verwirf nicht!

1:9 Sie sind ein schöner Kranz auf deinem Haupt und eine Kette für deinen Hals.