Anne Scheller wurde seit ihrer Geburt 1980 quer durch Niedersachsen, länger nach Bayern und immer wieder nach England verweht, bevor sie schließlich wieder in der Lüneburger Heide landete, wo sie mit ihrer Familie zwischen Heide und Kiefernwald lebt. Seit zehn Jahren schreibt sie Kinderbücher und bereist so schöne Orte wie Flusenbek – allerdings nur in der Fantasie.
Nina Dulleck, geboren 1975, zeichnet, seit sie einen Stift halten kann. Später, in der ersten Klasse, hat sie damit begonnen, die vielen Geschichten, die in ihrem Hirn herumflatterten, auch mit Wörtern zu Papier zu bringen. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt auf einem kleinen Berg in Rheinhessen mit gefühlten zweihundertsiebenundzwanzigeinhalb Pferden, einer Pfauenfamilie und einem altersschwachen Kater.
Mit Bildern von Nina Dulleck
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2019 by Baumhaus in der Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: two-up, Düsseldorf
Umschlagmotiv: Nina Dulleck
eBook-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-7325-7451-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Stellt euch vor, es gibt echte Monster. So richtig monstermäßige Monster! Aber nicht solche, die Kinder erschrecken. Nein, diese Monster sind sehr lieb, sehr flauschig und bärenstark.
Und manchmal zieht eines von ihnen von zu Hause fort, um bei den Menschen zu wohnen. Sie leben bei uns in Dörfern und Städten, gehen zur Schule, spielen und schließen Freundschaften.
Wer so einen monstermäßig besten Freund hat, der kann sich auf einige Abenteuer gefasst machen.
Wer so einen monstermäßig besten Freund hat, der hat ein tolles Leben …
Inmitten einer Wolke Zimtbrötchenduft trat Emil aus der Tür der Bäckerei Brotliebe. Auf dem Weg durch die Backstube hatte der Bäcker ihm eine Tüte mit warmen Zimtbrötchen mitgegeben. Emil hatte sich einen Kakao geschnappt und der Bäckerin zum Abschied gewinkt. Die beiden waren nämlich nicht nur die Besitzer der besten Bäckerei der kleinen Stadt Flusenbek, nein, sie waren auch Emils Eltern, Antje und Kay-Uwe Hansen. Der Zimtbrötchenduft wanderte vor Emil die Kirchstraße mit ihrem Kopfsteinpflaster entlang und in den Park. Auf der Brücke über die Fluse hielten Kind und Duft inne.
Zur gleichen Zeit trat Fjelle aus seiner Holzhütte am Waldrand. Er trottete am Ufer der lustig plätschernden Fluse entlang bis zur hölzernen Brücke im Park.
Und genau dort trafen sie sich.
Wie jeden Morgen.
Denn Emil und Fjelle waren die besten Freunde.
„Guten Morgen!“, rief Emil, grinste und winkte.
„Morgen, Emil!“, rief Fjelle, grinste noch breiter und winkte noch wilder. So wild wie Monster nur winken können, denn das war Fjelle: ein riesiges, bärenstarkes Monster mit moosgrünem Pelz. Er war ungefähr doppelt so groß wie sein bester Freund Emil und doppelt so breit und mindestens viermal so stark. Fjelle hatte Zähne wie Knethaken und Füße wie Dreipfundbrote, mit haarigen Sohlen und messerscharfen Krallen.
Emil dagegen war ziemlich klein für einen Zehnjährigen und ein winziges bisschen rundlich. Seine Haare waren hellblond, fast wie Mehl. Alles kein Wunder, wenn man in einer Bäckerei lebte.
Auf dem Weg zur Flusenbeker Grundschule vertilgten Emil und Fjelle die Zimtbrötchen.
„Oh, guuut“, brummelte Fjelle. „Ich mag Zimtbrötchen. Am liebsten mit Butter. Und Petersilie.“
Emil pickte ein paar Krümel von seinem Pulli, die sein Monsterfreund in alle Richtungen gespuckt hatte. „Das sind Mamas und Papas beste Brötchen“, sagte er. „Die weichen Milchbrötchen sind aber auch lecker. Und der Hefezopf, den Mama immer backt, auch. Und das lange Meterbrot.“
Fjelle nickte. „Ich mag alles. Auch dich“, sagte er, packte seinen Freund, hob ihn hoch und drehte ihn auf den Kopf.
Emil machte sich gar nicht erst die Mühe, erschrocken aufzuschreien. Denn bevor er den Mund öffnen konnte, hatte Fjelle ihn wieder richtig herum hingestellt. Einen kurzen Moment drehte sich alles um Emil, und er taumelte, doch Fjelles haarige grüne Pranke hielt ihn fest.
Aus dem Blumenbeet vor der Grundschule riss Fjelle eine Handvoll Löwenzahn. Während Emil und er durch die Schultüren stiefelten, knabberte Fjelle gelbe Blüten.
Im Klassenraum der 4 a ließen sich die Freunde auf ihre Plätze fallen. Sie saßen ganz hinten, weil sonst niemand über Fjelles haarigen Rücken zur Klassenlehrerin Frau Sänger gucken konnte. Die verteilte an diesem Tag die Diktate der vorigen Woche.
Emil spürte ein unangenehmes Ziehen im Bauch, und das hatte sicher nichts mit den Zimtbrötchen zu tun. Er war nicht gut in Diktarten. Er konnte sich noch nicht mal merken, wie man Dicktat schreibt! Deshalb hatten Fjelle und er letzte Woche wie verrückt geübt. Fjelle war nämlich ein echter Profi, wenn es um Rechtschreibung ging. Er konnte sogar so komplizierte Wörter wie Rhythmus und asymmetrisch richtig buchstabieren. Auch rückwärts, wenn ihm gerade danach war.
„Prima wie immer“, sagte Frau Sänger zu dem Jungen vor Emil, der Theodor hieß.
„Gut gemacht, Lia“, lobte Frau Sänger als Nächstes. Das blonde Mädchen drehte sich um und strahlte Fjelle und Emil an. Fjelle strahlte zurück, heller als die Sonne vor dem Fenster. Er streckte einen langen Arm zu Lia aus und wuschelte ihr glücklich durch die Haare. Als er fertig war, sah sie aus wie nach einem Wirbelsturm.
Und dann stand Frau Sänger vor dem hintersten Tisch.
„Tja, Emil“, sagte sie nur.
Fjelle schaute von Frau Sänger, die mit dem Diktatheft wedelte, zu seinem Freund, der sich vor Aufregung auf die Lippen biss, und wieder zurück. Seine großen Monsteraugen rollten, und er knirschte mit den Zähnen.
Da legte Frau Sänger mit einem breiten Lächeln das Heft vor Emil auf den Tisch und sagte: „Zwei plus. Ganz hervorragend.“
Emil ächzte erleichtert und grinste seinen besten Freund glücklich an, und der … explodierte.
„Zweiiiiii!!! Pluuuuuus!!!“, brüllte er in monstermäßiger Lautstärke. Er sprang auf und riss triumphierend die Arme hoch. Dass er dabei mit seinen Krallen die Decke zerkratzte, merkte er gar nicht. Lia und Theodor hielten sich automatisch ihre Bücher über die Köpfe, damit der rieselnde Putz nicht in ihren Haaren hängen blieb.
Emil holte tief Luft, denn er ahnte schon, was jetzt kam.
„Emil ist SUUUUPER! “, brüllte Fjelle und drückte seinen Freund an sich, dass der nach Luft schnappte. Dann brach das Monster in dröhnendes Lachen aus. Es bebte so sehr, dass Emil das Klassenzimmer nur noch verschwommen sah. Im nächsten Augenblick fand er sich auf seinem Platz wieder und pulte eine Handvoll grüner Haare von seiner Zunge. Fjelle lachte immer noch und klopfte sich mit den monstergroßen Pranken auf die Schenkel. Das war zu viel für die Stuhlbeine. Knirschend gaben sie nach, und Fjelle landete auf dem Fußboden.
Der Rest der Klasse beachtete Fjelle nicht weiter. Lia brachte ihm rasch einen neuen Stuhl von dem Ersatzstapel in der Ecke. Frau Sänger teilte die übrigen Diktathefte aus. Paula tuschelte mit Celina. Harry und Joscha tauschten Sammelkarten. Alle fanden Fjelles Ausbruch völlig normal. Und das war er auch. So was hatte das Monster täglich! Es konnte gar nichts dafür, das wussten alle Flusenbeker. War jemand in seiner Nähe glücklich, fühlte Fjelle sich SUPERglücklich. Weinte jemand, wurde er SUPERtraurig. Monster sind einfach so. Nach ein paar Minuten beruhigte Fjelle sich jedes Mal wieder.
Und so war es auch jetzt. Das Monster schüttelte sein moosgrünes Zottelfell, zog die Monsternase hoch und setzte sich. Erschöpft legte er seinem Freund den haarigen Kopf auf die Schulter.
„Ich bin monsterglücklich“, flüsterte er.
Emil lächelte und tätschelte Fjelles Hand. Aber nur ganz leicht. Es musste ja nicht sein, dass es gleich noch einen monstermäßigen Gefühlsausbruch gab.
Kurz vor Ende der Stunde hatte Frau Sänger noch etwas mitzuteilen: „Morgen findet eine Schulversammlung in der Aula statt. Unser neuer Direktor, Herr Unterberg, möchte sich den Schülerinnen und Schülern vorstellen. Hausaufgabe: Übt das Schullied. Das wollen wir morgen für Herrn Unterberg singen.“
Mittags, nach der letzten Stunde, stellte Fjelle im Handumdrehen alle 22 Stühle der 4 a auf die Tische. Dann trug er die 22 Schulranzen in einem einzigen riesigen Stapel nach draußen, setzte einen Teil am Fahrradständer und einen anderen an der Bushaltestelle ab. Den Rest sortierte er der Größe nach und stellte ihn an die Ampel vor der Schule. Dort suchten sich die Kinder ihre Ranzen heraus und winkten Emil und Fjelle zum Abschied. Lia und Theodor hängten sich an Fjelles Arme, und er schlenkerte sie wie auf einer Riesenschaukel hin und her.
„Jippie!“, jubelte Lia, und „Höher!“, rief Theodor, aber Fjelle setzte die beiden ganz sanft auf dem Boden ab.
„Morgen wieder“, sagte er. „Jetzt habe ich Hunger.“
Lia und Theodor radelten nach Hause. Emil und Fjelle wanderten gemeinsam zur Fluse. An der Brücke trennten sie sich, Emil ging zur Bäckerei Brotliebe und Fjelle bis zum Waldrand, zu seiner Hütte am Ufer der Fluse.
„Emil!“, brüllte das Monster seinem Freund hinterher. „Kommst du heute Nachmittag zu mir?“
Emil grinste erfreut und zeigte mit dem Daumen nach oben. Fjelle machte einen Luftsprung bis in die untersten Äste einer Birke am Wegesrand. Ärgerlich gurrend flatterten zwei Tauben aus dem Baum auf.
Am Nachmittag lief Emil an der Fluse entlang in den Wald. Der Fluss war hier flach, sandig und glasklar. Unter dem grünen Dach alter Erlen stand Fjelles Hütte. Am Fenster, das von kunterbunten Sommerblumen im Kasten fast ganz zugewuchert war, wartete eine Bank auf ihren Besitzer. Die Haustür stand sperrangelweit offen.
„Fjelle, ich bin’s“, rief Emil nach drinnen. Ein großer Tisch füllte den Wohnraum. Davor stand ein Schaukelstuhl mit einem selbst gehäkelten Überwurf (kunterbunt und monstergroß). An der Wand hing ein Bild von Fjelles Monstereltern in einem liebevoll geschnitzten Holzrahmen. Getöpferte Krüge und Teller füllten ein Regalbrett, dicke Bücher ein anderes. Sie hießen: Von Monstern und Menschen, Die Leiden des jungen Monsters und Mein Monsta-Leben. An der Wand neben Fjelles Schaukelstuhl klebte ein Bild, das Emil seinem Freund zum Geburtstag gemalt hatte. Es zeigte eine kleine, runde und eine sehr große, moosgrüne Gestalt. Eine Leiter aus jungen Baumstämmen führte zu Fjelles Schlafplatz unter dem Dach. An der gewölbten Zimmerdecke trockneten Sträußchen von Petersilie, Minze und Salbei. Ein Eichhörnchen hockte auf dem Tisch, schnappte sich eine Haselnuss aus einer Schüssel und knabberte daran.
„Hallo, Amadeus“, flüsterte Emil. Er kannte das zahme Tier bereits. „Weißt du, wo Fjelle ist?“
Natürlich antwortete das Eichhörnchen nicht. Stattdessen sprang es vom Tisch auf den Lampenschirm, hüpfte auf die Fensterbank, dass die zum Trocknen aufgehängten Petersilienbündel wackelten, und war im nächsten Augenblick im Wald verschwunden.
Von draußen hörte Emil ein Stampfen und Brummen. Er rannte in den Garten. Im Gemüsebeet hinter dem Haus zupfte Fjelle Unkraut zwischen Büscheln von Petersilie, Reihen von Möhren und bunten Ringelblumen. Erdklumpen spritzten in alle Richtungen, und grüne Stängel flogen hinterher. Mit seinen riesenhaften Füßen trat Fjelle immer haarscharf neben die zarten Pflanzen.
„Rosinenbrötchen?“, fragte Emil zur Begrüßung und raschelte mit der Tüte.
Fjelle richtete sich auf, grinste breit und winkte wild. „Emil!, rief er. „Lecker!“
„Wer? Ich?“ Emil machte einen großen Schritt rückwärts.
Fjelle schrak zusammen. „Neiiin!“, jaulte er auf. „Nicht du! Ich würde dich doch nie fressen! Auch wenn ich dich zum Fressen gernhab! Aber nicht zum Essen! Ich mag nur Petersilie. Und Löwenzahn. Und Brötchempfff …“ Er brach ab, weil Emil ihm lachend ein Rosinenbrötchen in den Mund gestopft hatte.
„Weiß ich doch, Fjelle“, sagte er und biss selbst in sein Brötchen.
„Ach so“, sagte das grüne Monster und gab seinem Freund einen Knuff, dass der zur Seite stolperte. „Scherzkeks.“
Emil aß vergnügt auf, dann rief er: „Komm, lass uns Verstecken spielen!“, und verschwand im Wald. Er huschte von Baum zu Baum und fand schließlich ein passendes Versteck: die Wurzelhöhle einer alten Eiche. Dort wartete er gespannt auf seinen Freund.
„Emil!“, rief Fjelle, noch weit weg. „Emil, sag mal Piep!“
„Piep!“
Die Schritte verharrten. „Emil?“, fragte Fjelle gespannt. Er kam etwas näher. Emil biss sich aufgeregt auf die Lippen. Er musste kichern, als sein Freund plötzlich ganz nah an seinem Versteck vorbeimarschierte.
Natürlich wurde Fjelle jetzt SUPERaufgeregt. „Wo bist du, Emil? Eeemil!“, rief er.
„Piep!“, machte Emil wieder, und im nächsten Augenblick tauchte ein riesiger, moosgrüner Monsterkopf vor seinem Versteck auf.