Durs Grünbein
Aus der Traum (Kartei)
Aufsätze und Notate
Suhrkamp
Aus der Traum (Kartei)
Für Eva
I
Fußnote zu mir selbst
Das Reservoir der Träume
Aus der Traum (Kartei)
Die Kröte mit den Gaumenaugen
Traumnotizen I
Traumstadt Berlin
Die Couch
Von der Kunstlosigkeit der Träume
Das Model
Gesten und Zeichen
Das Spielhaus
Ratten träumen von Schokolade
Traum und Futur
Schlachtung
Tabuzone
Traumdeutung
Der Nabel des Traums
Schlafen
Überschwemmung
Traumnotizen II
Afrikanischer Traum
Männerfreundschaft
Den Traum zertrümmern
Realität
Schlafwandler
Alexanderplatz
Der Mann in der Litfaßsäule
Keplers Leben und Traum
Die Höhle
Der Planet Watte
Asbest
Die Akademie des Meeres
Das Punktum des Gedichts
Paraphrase
II
Der Weg nach Bornholm
Oktoberfilm. (Sprechertext)
Humboldts Bunker
Weekend am Döllnsee
Kanzleramt
Unfreiheit. Eine Rede
Solidarität
Aufbruch in die politische Kälte
Die süße Krankheit Dresden
III
Ein Klassiker für viele Fälle
Eine Träne für Petronius
Hoheslied auf einen Fluß
Sittengemälde. Das Tagebuch des Samuel Pepys
Das entblößte Menschenherz. Monsieur Nicolas (Rétif de la Bretonne)
Erotik als Erkenntnisform
Selbstentblößung
Das Zeitalter der Galanterie
Die Schule der Frauen
Der erste proletarische Schriftsteller
Zensur
Der Schrecken im Bade. Ein Hörspiel von Kleist
Der Fasanentraum
Reimereien in Weimar
Mit den Dämonen vertraut
Der Balzac des Rodin
Porta Nigra
Aus der Distanz
Imaginäres Rußland
Waffenstillstand 1918
»Poseidon war überdrüssig seiner Meere«
Ein Buch für Eingeweihte
Der Verschollene
Elegien für einen Irrtum
Praxis
Artistik und Existenz
Die Causa Pound
Das öde Land – ein Remake
Sterne, Städte, Gehirne
Pasolini, der Gerechte
Geschichtsland Schatten
»Berlin, du deutsche deutsche Frau«
Versiegelte Zeit
Im Schmetterlingstal
Eine Gedankenlänge Stille
Sarajevo. Danach
IV
Der Indianer des Geistes. Bagatellen über das Leben des Philosophen Pascal
Vom Schnee
V
Aschenbecher und Blütenblatt
Versuch über die Stubenfliege
Die Insel, die es nicht gibt
Abbildungsnachweise
Einige Anmerkungen
Ich habe die Straße der modernen Poesie an ihrem oberen Ende betreten, dort, wo sie überging in die schmucklosen, tristen Vorstädte, bei den Endhaltestellen der Straßenbahnen, den Autobahnzufahrten. Was ich als erstes sah, waren graue Mauerstücke, Lücken zwischen den Häusern, Gräben entlang der Straße, das Erdreich aufgerissen, zerwühlt. Meine Heimatstadt war vom Krieg zerstört.
Ich mußte feststellen, daß zuletzt beinah alles auf der Strecke geblieben war: die Versformen, der Grundrhythmus der Strophen, die großen balladenhaften Spannungsbögen, der Geheimnischarakter, die feine Lineatur der bedeutungsreichen Worte, schließlich die Poesie selbst. Wenn jemand erklärt hätte, sein Dichten verfolge die Absicht, dem Ausdruck Klarheit zu verschaffen, dem Versbau Bedeutung, dem Klang der Worte Anmut und Leben, man hätte ihn ausgelacht. Es galt als abgemacht, daß das meiste, was die konventionelle Lyrik bereithielt, nur mehr Plunder war, etwas Unbrauchbares, das dem direkten Ausdruck im Wege stand. Ich las Rimbauds Schilderungen von seiner Jahreszeit in der Hölle und nahm es als realistischen Bericht, die Umwelt darin war mir vertraut. So fing mein Dichterleben an.
Es war eine Befreiung, die den innersten Kern des Poetischen sprengte und dabei ungeahnte Kräfte freisetzte. Wer sich mit der Musik vieler Jahrhunderte angereichert fühlte, mochte getrost dem Lockruf ins Offene folgen, er würde sich in der nackten Gegenwart aufgehoben fühlen wie in Abrahams Schoß. Wer sein Vertrauen zum Wort behielt, dem kam nun die Komik, die allem Ausdruck innewohnt, von allen Seiten zu Hilfe, und das Absurde war ihm ein Trost.
Es hatte sich erwiesen, daß Gedichte mehr sind als feststehende Rituale in lange befestigten Formen. Mochten sie auch ihre Würde dem uralten Status der Elegie verdanken, sie waren doch mehr als nur Verlust- und Vergänglichkeitsbilanzen, Feiertagsgeschenke oder Zutat auf Trauerannoncen. Seit den Tagen der frühen Moderne war jeder Stilbruch erlaubt – im Namen der Überraschung. Ausdruck war nun etwas Unmittelbares, man erzwang ihn durch Inkongruenz, Disharmonie, gewagte Sprünge, die Kombination des scheinbar Unvereinbaren. Damals hat das Gedicht, mit einem verführerisch jungen Lächeln, all seinen zeremoniellen Befangenheiten Adieu gesagt, Goodbye, до свида́ния! Damals hat es, neben den entlegeneren Nerven, auch seine Muskeln entdeckt, sein freches Grinsen, die Süße, die in der Zerstörung der Formen lag. Den Verlust seiner Schmuckfunktionen sollte, wie sich zeigte, ein Zuwachs an Mimik aufwiegen, eine erhöhte Alarmbereitschaft für die kleinen tragischen wie die großen komischen Dinge des Lebens. Der Augenblick zog in das Gedicht ein, sein Stilmerkmal war das scharf beobachtete Detail. Und wachsam hielt er von nun an dort die Stellung, im Zentrum des Gedichts, mißtrauisch gegen die dunklen Heere der hysterischen Ideen, mit ihrem Potential, alles ringsum zu verwüsten.
Nach vielen Jahren ununterbrochener Praxis kann ich sagen: Das Gedichteschreiben ist wohl zuallererst eine Übung in radikaler Selbsterforschung. Es wendet sich gegen die Generalisierungen. Es unterläuft den Roman der Geschichte, die immer kollektiv voranschreitet, rechthaberisch in ihrem Anspruch, den Einzelnen mit seinen Eigenheiten zu vereinnahmen. Dagegen steht das Gedicht, das aus den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts gelernt hat. Ich erinnere mich, daß ich der großen Erzählungen sehr müde war, schon am Beginn, als ich anfing, regelmäßig zu schreiben. Ich war siebzehn, als ich mit der modernen Poesie mein Glück versuchte. Es war wirklich nichts Besonderes. Man kratzte sein weniges Erspartes zusammen und setzte auf ein paar magere Zeilen. Ich begann mit einer einfachen Lektion. Sie betraf diesen Körper – das einzige, was der Staat, in den ich durch genetischen Loswurf hineingeraten war (der glorreiche Arbeiter-und-Bauern-Staat DDR), beschlagnahmen konnte, indem er mich zum Militär einberief und in die Großbetriebe zur Produktion. Dann fand ich bei dem jungen Ossip Mandelstam den Vers: »Man gab mir einen Körper – wer / sagt mir, wozu? Er ist nur mein, nur er« –, und fortan war es um mich geschehen. Aus der Sicht dieses Körpers mußte etwas getan werden, wollte man nicht als Gefangener enden eines Regimes, das auf ebendiesen Körper Anspruch erhob, indem es ihm geographische Grenzen setzte, ihn disziplinierte und als Geisel einbehielt für etwas, dessen es anders nicht habhaft wurde – nennen wir es Ich oder Seele oder Bewußtsein. Dafür, daß es dies Unfaßbare, stets Unzuverlässige nie ganz vereinnahmen konnte, rächte es sich mit der Beschlagnahmung jenes, der nur allzu sichtbar war, eine leichte Beute. Not macht erfinderisch: Das Schreiben war damals mein erster Schritt über die Grenzen des Körpers und der geschlossenen Gesellschaft hinaus.
Jede Generation entwickelt ihre eigene Sensibilität, heißt es. Man versteht dies unmittelbar, wenn man eine Gruppe junger Menschen beobachtet, dem Krachen ihrer Surfbretter lauscht, ihren angesagten Songs zuhört, ihre Gesten studiert. Es ist eine neue Art, auf der Welt zu sein und auf diese zu reagieren. Die Landstraße mag noch dieselbe sein, aber die Kinder, die sich auf ihr zum Spiel verabreden, sind andere, sie sprechen andere Sätze, ihre Träume haben sich verändert – wohin, wird die Zukunft zeigen. Genauso verhält es sich mit der Poesie. Über diese schlichteste und zugleich rätselhafteste aller Künste hat Jean Cocteau gesagt: »Sie ist unerläßlich, aber ich weiß nicht genau, wofür.« An dieser Unbegründbarkeit liegt sehr viel. Sie ist vermutlich sogar die Essenz der Sache, darum bleibt das Zitat auch über die erste Erheiterung hinaus gültig.
Was ihre Gegenstände betrifft, so sind sie tatsächlich uralt und bei allem Variantenreichtum beinah stereotyp, wie es scheint. Es sind die Liebe, das Begehren, das Rätsel der Zeit, die Schocks der Erkenntnis, die einer am eigenen Leib macht – und der immer wiederkehrende Glücksmoment, sich als Teil des Universums lebendig zu fühlen. Dies drängt im Gedicht zur Sprache, koste es, was es wolle. Aber es ist das spezifische Erlebnis eines Einzelnen, das hier für Abwechslung sorgt und die Dinge von Zeit zu Zeit neu erstrahlen läßt – so noch nie zuvor angeschaut.
Heute kann ich hinzufügen: Der Dichter ist wirklich das Wesen, das seinem Leitstern folgen muß, seinem Daimon, wie es in der Sprache des Sokrates hieß. Daß es ein Philosoph war, der mit diesem Ausdruck auf der Rolle des Individuums beharrte, sagt uns, wie eng das Erwachen der Persönlichkeit im frühen Griechenland mit dem Erwachen des Geistes einherging. Niemand sollte sich von der später so bequemen Trennung in Dichten und Denken irremachen lassen. Besser, man geht von einer Arbeitsteilung aus, die am Ende allen zugute kommt. Der Dichter muß seiner eigenen Traumwirklichkeit folgen, nicht selten auch seiner abgründigen Psyche, wie es alle die Zerrissenen taten, die sich ins goldene Buch der Menschheit eintrugen – hier hat jeder seinen Favoriten parat. Der Dichter ist einer, der lernen mußte, allein zu sein, nonkonform, keinem verpflichtet – keiner äußeren Macht, keinem höheren (religiösen oder philosophischen) Prinzip, nicht einmal einer vorherrschenden literarischen Strömung. Er wird aber, bei aller sozialen Kontaktfreudigkeit, auch dann noch der Einsiedler inmitten der Gesellschaft sein, wenn alle Religionen, alle demokratischen Ideale zu kollektiver Routine verkommen sind.
»Dichtung ist der Triumph der Kontemplation«, sagte Wallace Stevens, und er tat es mit herausforderndem Blick auf die Philosophie. Das erinnert an das platonische »Selbstgespräch der Seele«, das bei den Griechen begann, nein, früher noch, im alten Ägypten mit dem lyrischen Liebesgeflüster einiger Hofdamen, und im Grunde nie aufgehört hat. Dieses Selbstgespräch, unter Einbeziehung eines heimlichen Mitwissers, als welcher der Leser ins Spiel kommt, sobald das Gedicht das Licht einer Buchseite erblickt, ist die Grundbewegung, der innerste Antrieb der Poesie. Dabei gilt: Die poetische Wirklichkeit ist eine andere als jene, die uns unterm Namen Realität immer neu verkauft werden soll. Sie ist zugleich flüchtiger und dauerhafter als diese. Sie legt sich nicht mit ihr an, warum auch? Sie sieht das Fadenscheinige jeder Realität, die menschlichen Konstruktionen dahinter und überwindet sie spielend mit Hilfe der Imagination. Sie erzieht den, in dem sie erwacht, zum permanenten Widerstand gegen den Fatalismus der Fakten und ist damit politischer als jede Politik. So ist die Unabhängigkeitserklärung der Poesie auch mehr als ein bloßer ästhetischer Akt. Sie verdeutlicht das Lebensprinzip, dem jeder Mensch, wie verstrickt und von den Umständen korrumpiert er auch immer sich durchwindet, in der Sehnsucht doch folgt, ob er nun schreibt oder nicht. Das Wagnis der Dichtung besteht nur darin, daß sie dies demonstrativ tut, für jeden nachprüfbar, der an der unvergeßlichen Wendung, der Aussagekraft von Metapher und Gleichnis einen Halt zu finden sucht, während Zeit ihn davonreißt. Dichtung ist die Garantie dafür, daß es sich gelohnt hat, die Muttersprache zu erlernen. Wenn es ihr gelingt, findet sie hin und wieder das schlagende Bild, das auf der inneren Retina bleibt und einen lebenslang schützt und begleitet.
»Kleiner verständiger Traum,
wenn ich Abend für Abend
in meinem Bett
Betten zähle,
wieviele
und wo
ich geschlafen habe
in meinem Leben,
und an all diesen Stellen,
während ich schlief,
habe ich an einem Traum
geträumt,
der sich Abend für Abend
derselben Stelle
nähert …«
Inger Christensen, Brief im April
»Zum letztenmal Psychologie!«, der Stoßseufzer,
den Franz Kafka in eins seiner Oktavhefte schrieb,
fällt mir als erstes ein, höre ich das Wort Traum.
Vom Traum Auskunft zu geben, das Träumen
als einen unvorhersehbaren, wundersamen Akt
im eigenen Leben zu begreifen heißt aber zuerst,
ihn von aller Zuschreibung freizuhalten.
Ihn wie ein Tier zu behandeln, ein seltenes Tier,
nicht wie einen Gegenstand, den man zerlegt.
Es gibt Fische, die sterben, zerrt man sie ans Licht.
Es sind dies die Fische der Tiefsee, Lebewesen
aus den tiefen Ozeangräben:
dem Philippinengraben,
dem Marianengraben,
dem Tongagraben. Oder umgekehrt,
Erscheinungen aus den Räumen der weiten Welt.
»Freud hat den Traum psychologisiert«,
notiert ein junger Philosoph in Paris, Michel Foucault,
und wendet sich mit allem gebotenen Respekt ab
vom Diskurs der analytischen Seelenkunde.
Nach Freud war der Traum die Art, wie die Seele
auf die im Schlafzustand einwirkenden Reize reagiert.
Damit war die moderne Traumdeutung geboren,
im Zeichen und mit den Zeichen der Psychoanalyse.
Es galt nun die Reize zu finden, die in den Schlaf
einbrachen und erst die Träume bewirkten.
Reste von Seelentätigkeit halten nachts
das Bewußtsein in Spannung, sie stören den Schlaf.
Darin zeige sich das Gemeinsame aller Träume.
Ihr Anstoß komme entweder von außen –
ein Weckersignal, ein Schrei, das Regenrauschen,
oder tief aus den Eingeweiden: der Leibreiz.
So bringt die Erektion den Erotikfilm hervor,
Verdauungsstörungen liefern Szenen des Ekels,
der Zahnschmerz führt zum Sturz in den Hausflur.
Auch ein Ohrwurm könne der Auslöser sein,
ein Stachel in Form eines Wortspiels, ein Streit
im Hotelzimmer nebenan, eine ferne Detonation.
Auch der Krach, den draußen die Großstadt macht.
Nach orthodoxer Lehre sind sie das Material,
aus dem der Traum sein Kino erschafft.
Ein Apparat hinter der Stirn ist da, der verarbeitet
Erinnerungsreste des Lebens zu Szenenfolgen.
Was aber sagt das über die Qualität der Bilder,
ihre Eigenart und eigentümliche Eloquenz?
Nur Ungefähres, kontert Foucault. Die »Traumdeutung«
erschöpft sich in einer Relation zwischen dem Bild
und seinem verborgenen Sinn.
Verfehlt wird so der Traum,
der Traum als konkretes Geschehen,
der Traum als ureigene plastische Synthese,
der Traum als kostbare Form der Erfahrung,
als Kunstwerk, Exzeß, Phantasieprodukt,
als eine Ausdrucksform, ähnlich der Poesie.
Gemeint ist der Schlaftraum, dieser ganz
gewöhnliche Vorgang, der wie das Atmen,
der Herzschlag zum Leben gehört. Der Traum,
auf den wir nur selten achten, in einem
von hundert Fällen vielleicht. Über ihn
läßt sich in aller Offenheit sagen:
»Träumen heißt: Ich weiß nicht, wie mir geschieht.«
Es war Ludwig Binswanger, ein Schweizer Psychiater
und Schüler Sigmund Freuds, der es unternahm,
den Traum aus seiner Funktionalisierung
zu lösen, seine Reduktion auf Symbole
aufzuheben. Im Ausdrucksakt
des Träumens wird die Welt zurückgewonnen,
die gesamte Welt, in der sich der Träumer bewegt.
Foucault wird deutlich, wenn er Binswanger folgt:
»Doch ist das Träumen gewiß etwas anderes
als eine Bilder-Rhapsodie: aus dem einfachen Grunde,
daß es eine Erfahrung im Modus der Bildhaftigkeit ist.«
Nicht nur ist dies ihre Autonomie: Daß die Bilder
im Traum sich selber zum Sprechen bringen, auch
steckt der Traum voll Eigensinn, und der Träumer
in seiner Spaltung als Betrachter und Leinwand
ist ein Medium, aktiv und passiv zugleich –
der Projektor und seine Projektion.
Im Traum bin ich der Akteur. Ich bestimme
das Tempo, die Szenenfolge, den Ausschnitt,
den mein Gesichtsfeld mir liefert. Die Räume
bewegen sich auf mich zu, in rasantem Wechsel.
Enorm ist die Tiefenschärfe der Traumbilder,
ihre taghelle Klarheit. Luzider
als der reale Tag scheint oft der geträumte.
So sind die optischen Phänomene in den Phasen
der schnellen Augenbewegung hinter den Lidern,
die phototechnischen Qualitäten der Aufnahmen,
die Spezialeffekte, die Schwenks und Schnitte
nicht nur für Künstler, für jeden Menschen
bedeutsamer als Woher-Wohin,
das Brimborium ihrer Bedeutung.
DER TRAUM IST EINE SCHULE DER IMAGINATION.
Als solchen verstanden ihn etwa die Surrealisten.
Es hat Dichter gegeben, die zeitlebens versuchten,
auf das Niveau ihrer Träume zu kommen. »Der Schlaf«,
sagt ein anderer Psychologe, Freuds erster Apostel
in Wien, Wilhelm Stekel, »ist ein Tauchen
in die Vergangenheit, ein Versinken
in den unermeßlichen Ozean der Erinnerungen
des Menschen und der Menschheit.«
Das ist die Drehung ins Universelle. Eine Sicht,
die den Traum als Aufbruch versteht,
als Expedition ins Unbekannte.
Der Träumer ist mithin viel mehr
als nur ein Spielball seiner Affekte und Sorgen,
als das Kind im Brunnen unerfüllbarer Wünsche.
Er ist der Mann in der Taucherglocke,
Der Offizier an Bord eines U-Boots,
Der Scout in der Wildnis,
Der Astronaut in den Weiten des Alls.
Aus Little Nemo in Slumberland, dem Jungen,
der nachts als Riese im Schlafanzug
an New Yorks Wolkenkratzern hinaufturnt,
ist Nemo geworden, der Exilant, Misanthrop,
20 000 Meilen unter dem Meer
in seiner schwimmenden Hightech-Festung.
Das ist der Träumer als Dichter. Er untersteht,
wie Cocteau sagt, den Befehlen seiner Nacht.
In einer einzigen Nacht erlebt er mehr
als in zehn Jahren Schule, Eheleben, Beruf,
als in den unbeschwertesten Kindertagen.
In den Momenten vorauseilenden Träumens
Erfährt sich mancher von vielen Seiten.
»Die Träume einer Nacht, aufgeschrieben,
geben vielleicht ein Werk in 20 Bänden,
ungefähr so groß wie ein Konversationslexikon«,
sagt derselbe Stekel, und mit Blick auf Freuds
zentrale These der Wunscherfüllung ergänzt er:
»Der Traum ist der einzige Zauberer,
Der das Unmögliche möglich macht.«
Diese Expansionen, diese Höhenflüge
und Tieftauchgänge meinen aber noch mehr
(davon abgesehen, daß sie auch
ihre Kehrseite haben: die Katastrophe;
einer meiner wiederkehrenden Alpträume
geht so: Ich bin der elende Astronaut,
der bei Reparaturarbeiten an der Raumstation
aus der Luke gesaugt wird nach draußen
und auf Nimmerwiedersehen ins All abtreibt) –
sie künden von der Neuordnung des Raumes
im Modus des Träumens. Weitung
und Stauchung der Räume werden erlebt.
Einsteins Relativitäts-Phantasien, Minkowskis
nichteuklidische, vierdimensionale Räume,
aber auch der dunkle Raum, den ein anderer
Minkowski, Psychopathologe, beschrieb:
der Raum, in dem die Stimmen widerhallen,
ein Hörsaal mit einer besonderen Akustik
für die Halluzinationen, in denen sich
die Sender aller Radiostationen sämtliche
Popsongs zuwerfen, vermischt mit den Echos
der im Körper gespeicherten Peiniger –
Lehrer, Geliebte, Eltern und Vorgesetzte,
die laut und scharf durcheinanderreden,
eine Kakophonie, Bit für Bit wiederholt
im wandernden Klangraum des Traums.
Aber auch dies, eine andere Zeitstruktur,
wird in Träumen verinnerlicht. Was bringt sie?
Was bewirkt sie, wenn einer sich ganz
dem Traumfluß hingibt? (Er hat keine Wahl.)
Die reine Gegenwart aller Zusammenhänge.
In scheinbar wirren Episoden, Handlungsfetzen,
die ganze Geschichte von Anfang an und sogar
bis zum Ende im Traum vorweggenommen.
Wie oft stirbt man im Schlaf, wird erstochen,
von Pfeilen durchbohrt, gerät unter die Räder,
stürzt von Brücken herab, Treppen und Türmen,
fällt in den Fahrstuhlschacht, findet den Weg
aus dem brennenden Haus nicht, ertrinkt
als Kind in der Pfütze, geht unter im Meer?
Im Traum läuft das Leben im Zeitraffer ab,
erlischt in einer Sekunde der Unachtsamkeit.
Das Imaginäre als Diagonale des Daseins –
das ist, sagt Foucault, nicht die Unwirklichkeit,
vielmehr ein Spiel von Licht und Dunkelheit,
Wechsel der Jahreszeiten, von Tag und Nacht.
Der Traum liegt im Keuzverkehr vieler Zeiten.
So ergibt sich die Nähe von Lyrik und Traum.
Hier wie da gleiten die Bilder, sie zerfließen,
erscheinen nur kurz, doch nicht als Gemälde,
es gibt keinen Rahmen, höchstens Sequenzen,
die keine Leinwand hält. Diese Traumfabrik
ist nicht Hollywood, ist kein Cinemascope.
Sehen heißt hier die Bilder töten. (Heiner Müller)
Warum nicht Dichter sein? In den Träumen
Ist jeder ein Dichter. Jeder schafft das –
diesen Gang in den Siebenmeilenstiefeln,
das Spontane, Übergangslose, die genialen
Sprünge von Bild zu Bild wie im Gedicht,
den ganzen Blumenstrauß. Anderntags
ist er wieder derselbe, mit sich allein
unter den großen Bildkomplexen, der Lawine,
bedrohlich über ihm hängend: die Existenz.
Der Traum beschreibt uns. Er entspricht
unserer Natur bis in die kleinsten Schwächen.
Wir sind seine Erfinder.
Hier, sagt das Traum-Ich,
führe ich die Regie. Ich verteile die Rollen,
ordne an, was mir zustößt, dirigiere jeden,
der mir in die Quere kommt, ich erlebe
meine Ohnmacht und schaue mir dabei zu.
Passiv bin ich und aktiv zugleich, ich,
der Idiot meiner Träume,
der Super-Protagonist* –
»Das Subjekt des Traumes oder die erste
Traum-Person ist der Traum selber«,
meint Foucault mit dem Überschwang dessen,
der die Romantiker wiederentdeckt,
Novalis und Schelling und Franz von Baader.
Seit Novalis wissen wir »von der Leichtigkeit
unserer Seele, in jedes Objekt einzudringen,
sich in jedes sogleich zu verwandeln«.
Wir sind die Stadt, die wir durchstreifen,
das Bett, in dem wir auf Reisen gehen.
Wir sind die Objekte und ihre Tücke.
Die Abenteuer, die wir im Traum bestehen,
sind typisch für uns. Nur uns stoßen sie zu,
nur wir erleben sie so, manche von ihnen
oft und oft wiederholt. Wie David Bowie singt:
»Always crashing in the same car.«
Am Abend sind die Kontaktlinsen trocken
nach einem Tag voller Mißgeschicke.
Die Augen tränen. Der Blick aber schwimmt
durchdringend weiter. Bis zuletzt
kämpft jeder um den bewußten Moment,
bis Müdigkeit ihm den Boden wegzieht:
erschöpft sinken wir in den Schlaf.
Und da ist sie, breitet sich vor uns aus:
die Landschaft des Träumers, der endlich
reines Subjekt ist, ein Unterworfener
und Getriebener und zugleich Zensor
seiner Getriebenheiten und Unterwerfungen
im Raum seiner ewigen Kollisionen,
wo Geschichte sich ihm enthüllt, endlich
als das erkennbar, was ein Leben als ganzes
ausmacht mit all seinen Widersprüchen
und Hindernissen. Am Horizont
der Träume laufen die Routen zusammen,
alle die Irrwege, die er als Einzelner ging.
Und plötzlich steht man, wie ich eines Tages
in meinem heftigsten Reisejahrzent,
nach Sprüngen über drei Kontinente,
nachdem ich in Tokio, Toronto, Melbourne war
mit einem seltsamen Zwischenstop in Kuala Lumpur,
zu Haus vor dem Gartentor und sieht
eines Nachts das Elternhaus auf der Autobahn
auf einem Tieflader abtransportiert
und hat lange das Nachsehen. »In dieser
ursprünglichen Räumlichkeit
der Landschaft entfaltet sich der Traum,
und zu ihren wichtigsten Gefühlswerten
findet er zurück.«
Aber wie träume ich denn? Ich bewege mich
durch meine Träume wie Alice
im Wunderland. Auch ich hoffe immer,
es ist mein Traum und nicht der eines
anderen, eines Doppelgängers,
der mich vertritt. Alles, was mir zustößt,
kommt mir bekannt vor. Es erinnert mich
an etwas aus der Tagwelt Vertrautes,
aus dem Kontext gerissen, verdichtet.
Fester bin ich dort, abgedichtet, evakuiert
in diese Gegenwelt. Dabei spüre ich stark
das Traumhafte des Traumgeschehens.
Alles erscheint in einem veränderten Licht,
in stürzenden Perspektiven, sonderbaren
Proportionen: Kleines wird groß,
Fernes rückt nah und umgekehrt. Im Traum
gehen die Schauplätze ineinander über.
Hier grenzt mein altes Klassenzimmer
an den Konzertsaal, die heimische Küche
an den Club in Paris, eine Sauna in Finnland,
und diese öffnet sich auf den Kai von Neapel,
von dem die Fähre nach Ischia ausläuft.
Oftmals lagen in meinem Traumhotel
alle Schreckenskammern des Lebens
Tür an Tür beieinander: der Heizungskeller,
das Rekrutierungsbüro, die Gefängniszelle
im Untersuchungsknast nach der Verhaftung
im Oktober 89 (vor dem Fall der Mauer)
und jedes Wartezimmer davor und danach,
seit Verwaltung uns fest in den Klauen hält
über alle Systeme hinweg (Diktatur oder
Demokratie) mit ihren Steuerbüros,
Konsulaten und Einwohnermeldeämtern:
Piranesi hat solche Schachtelräume entworfen,
Labyrinthe, in denen das Ich sich verliert.
Im Traum sehe ich fern. Sehe mir selber zu,
ohne einzugreifen. Ich bin der Andere,
der sich beschattet, von andern beschattet.
Ich bin mir fremd und bedrohlich nah.
Ich kann auf der Flucht sein und bleibe
doch äußerlich ruhig. Ich spüre den Druck,
den Atem meiner Verfolger im Nacken
und wälze mich in den Kissen, strecke mich
im Bett, auf der weichen Folterbank, aus.
Jemand treibt mich in die Enge. Ich höre
mein lautes Gelächter. Das soll ich sein –
Dieser Chinese, mit seinen Chimären eins?
Ich weiche mir nicht von der Seite.
»Nichts zu sagen gibt es, über nichts.«
Oder anders: Im Traum ist die Seele
Tier und Dunkelheit zugleich.
»Jung durchschwimmt sie, ein Delphin,
Weltenschlucht um Weltenschlucht«,
wie es in einem Gedicht Mandelstams heißt.
Am Beginn der Poesie stand der Traum
vermutlich in allen Sprachen, allen Kulturen.
Bevor seine Deutung einsetzt, bevor Sprache
in ihrer Eigenmächtigkeit zuschlägt, diktiert
ein Erleben, in dem das Leben sich aufgibt
und aus der Sicht des totengleich Gelagerten
nachts revidiert, die Regeln des Seins
und spricht eine andere Sprache.
Diese wird zum Ausgangspunkt des Sagens.
Der erste englische Dichter, ein Mönch,
Lernte die Kunst des Liedes in einem Traum.
Und so ging es weiter, immer weiter
durch die Jahrhunderte, die wie im Schlaf
durchquerte Räume hinterrücks entschwinden,
von Geschichtsschreibung wachgehalten
und neuerdings auch durch die Filme,
die Fernsehserien, nachtlang verfolgt,
aufgefrischt, immer anders, immer neu
aktualisiert – nicht als Traum, versteht sich,
sondern als allgemeines Als-ob.
Oft beriefen die Dichter sich auf den Traum
Als primäre Quelle, Modell einer Erzählung,
die alle Register zog, biblisch, parabelhaft,
surrealistisch, tiefenbohrend, assoziativ,
formensprengend. Goethe bekennt,
er habe viele seiner Gedichte des Nachts
wie im Traum niedergeschrieben.
Aber auch bei Tag geht es so.
Die Worte fallen einem,
der die Antennen aufstellt und wartet,
in flüchtigen Zeilen wie Traumelemente zu,
geschrieben in einer Sprache, die neben
der Sprache des Alltags einhergeht,
leicht versetzt, verfremdet, paranormal,
übertragen in eine andere Tonart,
immer etwas neben der Spur.
»Denn die Sprache ist es«, sagt Binswanger,
»die für uns alle dichtet und denkt, noch ehe
der Einzelne es zum eigenen Dichten
und Denken gebracht hat.«
Dichter aber sind solche,
die das Nadelöhr finden,
die Rutschbahn in den Kaninchenbau,
das Loch im Himmel, den Tränenteich,
den Zugang zum Ungesagten,
das Wort an der Schwelle des Traumes.
Dichter sind Leute, die mit kalter
Aufmerksamkeit Sätze wie diese schreiben:
»Der Fischschwanz wird nur drei Tage lang
fliegen, das ist wahr, aber ach! Der Balken
wird dennoch verbrannt sein; und eine
zylindrisch-konische Kugel wird das Fell
des Nashorns durchbohren, trotz des
Schneemädchens und des Bettlers!
Weil der gekrönte Narr über die Treue
der vierzehn Dolche die Wahrheit
gesagt haben wird.« Alles klar? Maldoror.
Oder diese, vom selben Autor geäußert
in einem zweiten Anlauf, der alles
zuvor Gesungene revidiert, annulliert:
»Nichts ist gesagt. Seit mehr als 7000 Jahren,
seit es Menschen gibt, kommt man zu früh.
Was die Sitten wie alles übrige betrifft,
ist das weniger Gute beseitigt worden.
Wir haben den Vorteil, als Nachfolger
der Alten zu arbeiten, die Gewitzten
unter den Modernen.« – Soweit Isidore
Lucien Ducasse Comte de Lautréamont,
Der Prinz aus Übersee (Uruguay), der Barbar
auf den nächtlichen Pariser Boulevards
unterwegs zum Parnaß. Der Dichter
in seinem Alleingang ist kein Problem
der Literatur, er ist ein Problem
der Gesellschaft. Unbedingt
ist sein Kompositionsprinzip. Es folgt
anderen Regeln, anderen Sitten:
dem Flug der Stare, ungeachtet
der Wunderlichkeit mancher Strophen,
dem Drang der Kraken, die sich
in innerste Höhlen zurückzuziehen.
Nochmals Goethe, Dichtung und Wahrheit,
vom nachtwandlerischen Dichten:
»Ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgänger
[gemeint war Petrarca] mir ein ledernes Wams
machen zu lassen und mich zu gewöhnen,
im Finstern durchs Gefühl das, was unvermutet
hervorbrach, zu fixieren. Ich war es gewohnt,
mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder
zusammenfinden zu können, daß ich einige Male
ans Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm,
einen quer liegenden Bogen zurechtzurücken,
sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende,
ohne mich von der Stelle zu rühren,
in der Diagonale herunterschrieb.
[…] Für solche Poesien hatte ich
eine besondere Ehrfurcht.«
Und darum, nur darum geht es im Traum
wie im Schreiben der ungewollten Gedichte.
Fiktum und Imaginatum,
sagt der Philosoph (Edmund Husserl),
der sich bemühte, Phantasie
und gewöhnliche Bildvorstellung zu trennen.
Das BILD ist ihm klar: als Bildobjekt, Fiktum,
doch ist es ein Scheinobjekt im Streit
mit der unbestreitbaren Gegenwart.
Von dort hat es sich abgelöst, aufgepumpt
mit dem Bewußtsein der Repräsentation.
Umspielt wird es, wie ein Denkmal
umrankt, umwuchert vom Imaginatum,
das allen gehört und immer ungenau bleibt.
Der Traum ist ein »Nicht-Jetzt im Jetzt«,
schreibt Husserl, der Phantasie, Bild-
und Zeitbewußtsein zusammenfügte.
Im Traum wird die innere Lichtung betreten.
Hier werde ich meiner Einsamkeit
wie der aller andern gewahr.
Als wäre der Tod wirklich
der absolute Sinn aller Träume.
Ein Anachronismus ist er, der Traum,
ein Mixer von Zeiten und Orten, Reales
im Fluß überschießender Phantasien.
Dinosaurier, auf denen die Popstars reiten.
Pompeji als Photoshopbild im Schaufenster
eines Reisebüros in Neuseeland.
Titelseiten, Ohrwürmer, Idole,
die einen über Jahrzehnte begleiten.
Ein ganz gewöhnliches Paradoxon auch:
Exogenes, das sich im Inneren äußert,
Sensationen, die im verborgenen spielen.
Keiner bemerkt sie, niemanden kümmert,
was der Nachbar träumt, ein Verwandter.
Wer erfährt schon von all dem Traummüll
des Menschen, den er am innigsten liebt?
Da gibt es die Reiseträume, Sterbeträume,
Träume, in denen man nackt umherirrt,
mutterseelenallein durch die Städte.
Es gibt Eisenbahnträume, Fluchtträume,
Unfallträume und Fahrtstuhlträume. Es gibt
Geburtsträume, Essensträume: Man nimmt
die ekligsten Speisen zu sich: Maden
und Nägel, Pillen und Pilze, Haare
aus dem Flusensieb, schmutziges Kleingeld.
Angstträume gibt es und Heimatträume,
Träume von Operationen (Herz und Zahn
und Achillessehne) und solche
am offenen Hirn. In all diesen Träumen
ist ein Verrückter am Werk, ein Arrangeur,
der den ganzen Irrsinn steuert, sein LEBEN.
Es ist seins, und er weiß nichts davon.
Ein Traumorgan bringt die Bilder hervor,
Visionen und Revisionen und Fernsehserien
der inneren Anschauung. Slow motion,
Fast forward, Einzelbild, Rückprojektion:
alles wird ausprobiert, und das Filmteam
ist längst über alle Berge, wenn der Wecker
früh klingelt und sein Schrillen sagt: Cut!
Man spricht vom Traumauge, vom Traumbild,
vom Traumgesicht und vom Trug im Traum.
Man weiß, daß es eine Traumgewalt gibt
und eine Traumwelt, in der vieles sich trifft,
vieles mit vielem verbunden ist
wie es die Traumlogik will.
Mehr als einmal geschah es mir, daß ich
auf Reisen in irgendeinem Hotel erwachte,
mir schien, daß alles nur geträumt war,
und ich mich fragte: Wo bin ich?
Im permanenten Unterwegssein hatte ich
wie im Traum die Orientierung verloren.
»Weil aber die Traumbilder immer wechseln«,
sagt Pascal, »und eines und dasselbe sich wandelt,
berührt uns das, was man dort sieht, weniger
als das, was man im Wachen sieht.«
So ist es: Der Tag, jeder weitere Tag
zieht mich, je länger ich lebe, in seinen Bann
wie ein beständiger Traum, von dem ich
zu meiner Bestürzung erkennen muß,
daß ich niemals aus ihm erwachen kann.
»Denn das Leben«, schließt Pascal den Gedanken,
ist nur ein um ein Weniges weniger
unbeständiger Traum.«
Einer meiner wiederkehrenden Träume geht so: Ich habe die Brille verlegt und kann nur noch unscharf sehen. Für einen Brillenträger die Katastrophe. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Wenn das so bleibt, denke ich, bin ich geliefert, werde auch nichts mehr schreiben können. Mein eingeschränkter Orientierungssinn, der verringerte Bewegungsradius, der Verlust an Überblick, Handlungsfähigkeit: alles summiert sich zu einer großen Lähmung. Ich bin hilflos. Wo zum Teufel ist meine Brille? Ein chassidisches Gleichnis fällt mir dazu ein.
Es beschreibt die kommende Welt, das Jenseits. Da ist die Stube wie jetzt, in seinem Zimmer das schlafende Kind und wir, die Eltern, gekleidet wie immer. Alles ist wie bei uns, jetzt und hier auf Erden, nur ein klein wenig anders.
Was ist das also, ein Blick, der ungehinderte Blick in die sichtbare Welt, frage ich mich? Gesetzt den Fall, ich wäre der Blinde. Gott sei Dank kann ich sehen, ich muß nicht im Dunkeln dahinvegetieren. Es geht mir nicht so wie dem blinden slowenischen Photographen, der als Kind eines Tages für immer das Augenlicht verlor. Wie konnte er sagen, ein Blick sei die Summe aller Träume? Die Finsternis, meint er, ist nur ein Schein, denn das Leben jedes Einzelnen, so dunkel es auch sein mag, besteht aus Licht.
So absolut mir die Aussage erscheint, endlich weiß ich, sie betrifft auch die Träume. Der Traum ist wie das Arbeiten an einer imaginären Wahrnehmungsfront. Er sprengt die Ketten der Realität. In ihm befreit sich die Imagination, wird zur weltverändernden Triebkraft.
Der Surrealismus war ein Versuch, der vorerst letzte, den modernen Menschen, den Menschen der Technik, der Soziologie und der Psychoanalyse, als einen im Traum Verankerten zu begreifen. Letzter Versuch auch der Kunst, ihn als solchen zu befreien, indem er sich seiner Traumanteile bewußt wird. »Träume sind Kryptogramme der Wirklichkeit«, sagt André Breton. Und: »Ich glaube an die künftige Auflösung der beiden äußerlich so widersprüchlichen Zustände – Traum und Wirklichkeit.« Der Sinn für die Kunst, die Empfänglichkeit für Liebe, die Sehnsucht nach dem Anderen – auch sie, vermute ich, werden schließlich im Traum vorgeprägt und entfacht. Und sind damit schwer nur im Tagesgeschäft einzulösen, im Auf und Ab der gesellschaftlichen Prozesse und ihrer widerstreitenden Interessen. Wir alle verlieren uns, finden uns erst wieder jenseits der Träume.
»Was ist das also, ein Blick?« fragt der Blinde: »Es ist vielleicht die Summe aller Träume, wobei man den Anteil der Alpträume wenn möglich außer acht läßt. Die Finsternis ist nur Schein, denn das Leben jedes einzelnen, so dunkel es auch sein mag, besteht aus Licht.« (Evgen Bavčar)
Regelmäßig beliefern die Zeitungen den Betrachter mit immer neuen Mutanten und Monsterformen aus Biologie und Technik. Einige dringen ans Licht aus den Forschungslaboren, die normalerweise kein Unberufener betritt, andere tauchen in der Landschaft an den Stellen auf, wo sie vom Menschen am intensivsten geschändet wurde. Wir sehen, was in Genetikerhänden aus Mäusen und Schnecken werden kann. Fische in Baggerseen gehören in dieses Panoptikum, seltsam entfärbte Lurche aus radioaktiv verseuchten Regionen, allerlei Kleingetier, welches das Pech hatte, in der Nähe von Chemiewerken sein Auskommen zu suchen. Daneben gibt es, wie alle gewöhnlichen Wunder der Natur, seit eh und je das Albino-Reh oder das Kalb mit den zwei Köpfen. Diese Wesen erinnern daran, wie schon in den Mythen und Märchen das Deformierte höchste Beachtung fand, im Handlungsgang jederzeit auftauchen konnte.
Neu ist nur, daß uns die Photographie ihr Vorhandensein nun bezeugt. Dabei kommt es zu den sonderbarsten Wiedererkennungsmomenten. Kein Traum hat uns darauf vorbereitet, in die Gaumenaugen der Kröte zu schauen, die ein Kanadier in seinem Garten fand. Und doch könnte sie das Totemtier vieler Träume sein. Ihre Augen, die aus dem Dunkel der Mundhöhle glotzen, geben ein Bild vom inneren Sehapparat des Träumers, der auch in tiefer Nacht noch auf Beobachtungsposten ist. Schließt sie ihr Maul, um zu schlucken, ist sie blind, öffnet sie es, wird die Welt ihr zur Beute: Sehen und Einverleiben sind für sie eins. Und schlafen wir nicht oft über lange Strecken mit offenem Mund?
»Der Träume Herr, der große Isachar, saß vor dem Spiegel, den Rücken eng an dessen Fläche, den Kopf weit zurückgebeugt und tief in den Spiegel versenkt. Da kam Hermana, der Herr der Dämmerung, und tauchte in Isachars Brust, bis er ganz in ihr verschwand.« (Franz Kafka, Nachgelassene Schriften)
Es ist der Traum, der dem Dasein die poetische Dichte verleiht. Er wappnet uns mit der Undurchdringlichkeit der Augenblicke.
Immer wieder gibt es im Leben Momente, wo man plötzlich innehält und die Umwelt wie zum ersten Mal sieht
Im Traum öffnet sich, so plötzlich, wie der Pfau sein Rad schlägt, der große Fächer der Psyche.
Von allen Ausdrucksformen kommt die Poesie ihm am nächsten. Sie versetzt das Wort in den Traumzustand. Mein ganzes Sinnen dreht sich im Alltagsleben darum, die Poesie zurückzugewinnen.