Cover

DIE AUTORIN

Foto: © Paul Barnett

Simone Elkeles wuchs in der Gegend von Chicago auf, hat dort Psychologie studiert und lebt dort auch heute mit ihrer Familie und ihren zwei Hunden. Ihre »Du oder das ganze Leben«-Trilogie, für die sie zum »Illinois Author of the Year« gewählt wurde, wurde zum weltweiten Bestseller.

Weitere Titel von Simone Elkeles bei cbt:

Du oder das ganze Leben (30718)

Du oder der Rest der Welt (30771)

Du oder die große Liebe (30808)

Leaving Paradise (30793)

Back to Paradise (30794)

Nur ein kleiner Sommerflirt (30861)

Zwischen uns die halbe Welt (30864)

Kann das auch für immer sein? (30870)

Simone Elkeles

Herz verspielt

Aus dem Englischen

von Katrin Weingran

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Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 2013 by Simone Elkeles
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
»Wild Cards« bei Walker Books for Young Readers,
an imprint of Bloomsbury Publishing, Inc., New York.
© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Katrin Weingran
Lektorat: Kerstin Kipker
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen,
unter Verwendung des Originalumschlags © Amanda Bartlett
he · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-12902-6
V003
www.cbt-buecher.de

Für die Nummer eins unter meinen Fans, Amber Moosvi

Deine Stärke inspiriert mich.

Dein Mut inspiriert mich.

Du inspirierst mich.

Ich werde niemals die drei Worte vergessen, die Du mich lehrtest, als ich Dich im Alter von sechzehn die Chemo durchmachen sah und miterlebte, wie Du Dich dem wichtigsten Kampf Deines Lebens stelltest:

Gib niemals auf!

1

Derek

Erwischt zu werden hatte nicht zu unserem Plan gehört. Einen grandiosen Streich auf die Beine zu stellen, der noch Jahrzehnte lang in aller Munde sein würde, dagegen schon. Ich stehe mit fünf meiner Freunde im Büro von Schuldirektor Crowe und höre ihn nun schon seit einer Stunde darüber schwadronieren, dass unser letzter Streich nicht nur ihn, sondern auch die Förderer und Lehrer dieses altehrwürdigen Internats in Verlegenheit gebracht habe.

»Will irgendwer gestehen?«, fragt Crowe.

Jack und Sam machen sich vor Angst in die Hose. David, Jason und Rich bemühen sich, nicht loszuwiehern. Ich bin mehr als ein Mal ins Büro des Direktors zitiert worden, seit ich an dieser Schule bin, also ist das hier nichts Neues für mich.

Während ihrer letzten Woche an der Regents Preparatory Academy, Kalifornien spielen die Seniors den Juniors einen Streich. Das ist so Tradition. Dieses Jahr haben die Seniors es geschafft, blaue Farbe in unsere Duschköpfe zu füllen und sämtliche Glühbirnen aus den Gemeinschaftsräumen unserer Wohnheime zu entfernen. Es war nur fair, diese Herausforderung zu erwidern, wenn auch in etwas extremerem Ausmaß. Die Seniors haben erwartet, dass wir ihre Wohnheime verwüsten, und waren sichtlich die ganze Woche in höchster Alarmbereitschaft. Sie postierten rund um die Uhr Wachen, bereit, ihr Territorium zu verteidigen.

Mein Zimmergenosse, Jack, hatte den genialen Einfall, drei Ferkel von der Farm seines Onkels mit Fett einzuschmieren und sie im Wohnheim der Seniors freizulassen. Sam meinte, wir sollten die Schweine stattdessen lieber während der Abschlussfeier ins Rennen schicken. Ich gestehe, es war meine Idee, die Schweine zu nummerieren … 1, 3 und 4. Es waren sechs von uns nötig, um die Chose durchzuziehen. Das Einsetzen der Musik zum feierlichen Einzug der Absolventen war unser Zeichen, die Schweine freizulassen.

Ich hatte angenommen, damit durchgekommen zu sein, bis wir vor einer Stunde alle in Crowes Büro zitiert wurden.

Crowes Sekretärin, Martha, steckt den Kopf zur Tür herein. »Mr Crowe, Nummer 2 ist noch immer nicht gefunden worden.«

Der Direktor knurrt frustriert. Wenn Crowe nicht so ein Arsch wäre, würde ich ihm sagen, er solle die Suche abblasen, weil es kein Schwein Nummer 2 gibt – das ist Teil des Streichs. Aber er gehört zu der Sorte Mensch, dem die Schüler scheißegal sind. Ihm ist wichtig zu zeigen, dass er die Macht hat; er liebt es, Verweise zu erteilen und Lehrer nach eigenem Gutdünken zu feuern. Ich habe im Lauf des vergangenen Jahres mehr als einmal miterlebt, wie er diese Macht missbraucht hat.

»Ich war’s«, stoße ich mit übertriebenem texanischen Zungenschlag hervor, weil ich weiß, dass Crowe bei dem Gedanken, einen Redneck an seiner edlen Schule zu haben, insgeheim mit den Zähnen knirscht. Er hat mich mehr als ein Mal für meine nicht gerade geschliffene Ausdrucksweise und das schnoddrige Vokalverschlucken zurechtgewiesen. Ich schätze, ich hab’s gemacht, um dem Typen auf die Eier zu gehen.

Crowe steht dicht vor mir. »Welcher Ihrer Freundchen hier hat Ihnen geholfen?«

»Keiner von ihnen, Sir. Ich bin ganz allein dafür verantwortlich.«

Er fuchtelt drohend mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum. »Wenn Ihr Vater hiervon erfährt, wird er garantiert sehr enttäuscht von Ihnen sein, Derek.«

Durch meinen Körper geht ein Ruck. Mein Dad, auch bekannt als Commander Steven Fitzpatrick, ist mal wieder im Einsatz. Die nächsten sechs Monate wird er auf einem U-Boot verbringen, komplett abgeschnitten vom Rest der Welt.

Einen kurzen Moment frage ich mich, wie meine neue Stiefmutter, Brandi, wohl klarkommt, jetzt, da Dad auf See ist. Unser Arrangement ist perfekt. Ich lebe hier, bis ich meinen Abschluss in der Tasche habe, und die neue Frau meines Vaters wohnt mit dem fünfjährigen Kind, das ihr irgendein Exfreund beschert hat, in einem gemieteten Haus in der Nähe des Marinestützpunkts.

Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die News über den Ferkel-Stunt bis zu meinem Vater durchdringen. Und wenn Crowe glaubt, ich würde Brandi damit enttäuschen, ist das zum Totlachen.

Crowe zieht die Schultern hoch und wirft mir einen seiner überaus erprobten, finsteren Blicke zu, die ihn aussehen lassen wie ein Oger auf Steroiden. »Sie erwarten von mir zu glauben, dass Sie ganz allein einen unserer Schultransporter gestohlen, vier Schweine zur Abschlussfeier transportiert, sie eingefettet und dann freigelassen haben?«

Ich werfe meinen Freunden einen kurzen Blick zu und signalisiere ihnen, die Klappe zu halten, denn ich sehe, dass mehr als einer kurz davor ist einzuknicken. Es gibt keinen Grund, dass wir alle Ärger bekommen, nur weil Crowe keinen Sinn für Humor hat.

Ich nicke. »Ich habe allein gehandelt, Sir. Aber genau genommen habe ich den Transporter nicht gestohlen. Ich habe ihn nur geliehen.« Es waren drei Schweine und es brauchte uns alle sechs, um das Ding durchzuziehen, aber diese Info behalte ich für mich. Ich warte darauf, dass er mich zum Arrest verdonnert und mir aufträgt, Böden zu schrubben oder Waschräume oder etwas ähnlich Demütigendes. Egal, was. Den Arrest während der Sommerferien abzusitzen wird ein Leichtes sein.

»Der Rest von Ihnen ist entlassen, Gentlemen«, verkündet Crowe. Er setzt sich in seinen breiten Ledersessel und nimmt den Telefonhörer von der Gabel, während meine Freunde einer nach dem anderen das Büro verlassen. »Martha, rufen Sie Mrs Fitzpatrick an und informiere Sie sie darüber, dass ihr Stiefsohn der Schule verwiesen wurde.«

Moment mal! Was?

»Schulverweis?« Ich drohe praktisch an dem Wort zu ersticken. Warum keine Verwarnung, kein Nachsitzen oder ein Unterrichtsausschluss? »Es war nur ein harmloser Streich.«

Er legt den Hörer mit Nachdruck zurück auf die Gabel. »Schulverweis. Handlungen haben Konsequenzen, Mr Fitzpatrick. Trotz mehrfacher Verwarnung aufgrund von Täuschungsversuchen, Drogenkonsum und Streichen haben Sie erneut unsere Regeln missachtet und bewiesen, dass Sie nicht würdig sind, die Regents Preparatory Academy zu besuchen. Es versteht sich von selbst, dass dies zugleich bedeutet, dass wir Sie nicht dazu einladen, nach den Ferien wiederzukommen und ihr Senior-Jahr bei uns zu absolvieren.«

Ich rühre keinen Muskel, sage kein Wort. Das darf einfach nicht wahr sein. Ich könnte ein Dutzend andere Schüler aufzählen, die bei Streichen erwischt wurden und mit nicht viel mehr als einer Verwarnung davongekommen sind, wenn überhaupt. Ich habe während einer Arbeit aus Versehen meine Notizen auf dem Boden liegen gelassen und Mr Rappaport hat das als Täuschungsversuch gewertet. Und der Drogenvorwurf … Zugegeben, ich bin mit ein paar Freunden auf eine Party gegangen und vollkommen breit nach Hause gekommen. Es war nicht meine Absicht, auf die Statue des Regents-Gründers zu reihern, nachdem ich herausgefunden hatte, dass jemand heimlich Ecstasy in meinen Drink geschüttet hatte. Und ich war ganz bestimmt nicht derjenige, der Bilder von meiner Reiherattacke auf die Schulwebsite gestellt hat. Ein gewisser Senior aus der Schülervertretung war dafür verantwortlich, obwohl er bis heute nicht deswegen belangt wurde, weil niemand einen Typen beschuldigen würde, dessen Vater der Schule jedes Jahr einen Haufen Kohle überweist.

»Da Sie Ihre Prüfungen bereits abgelegt haben, will ich gnädig sein und gestatten, dass Sie die volle Anerkennung für Ihr Junior-Jahr erhalten. Als Gefälligkeit Ihrem Vater gegenüber werde ich Ihnen außerdem achtundvierzig Stunden gewähren, Ihre Sachen vom Campus zu entfernen.« Er nimmt seine Unterlagen und beginnt etwas zu schreiben, blickt aber noch einmal zu mir hoch, als er bemerkt, dass ich mich nicht vom Fleck rühre. »Das wäre alles, Mr Fitzpatrick.«

Gnädig?

Auf dem Weg zum Junior-Wohnheim wird mir die Absurdität des Ganzen langsam klar. Ich werde von der Regents geworfen und muss zurück nach Hause ziehen. Zu meiner Stiefmutter, die in ihrer eigenen rosaroten Welt lebt. Das ist doch absolut scheiße.

Mein Zimmergenosse Jack sitzt kopfschüttelnd auf der Bettkante. »Ich habe Crowe sagen hören, du wärst der Schule verwiesen.«

»Jau.«

»Wenn wir alle zu ihm gehen und ihm die Wahrheit sagen, denkt er vielleicht noch mal …«

»Wenn dein Dad davon erfährt, macht er dir das Leben zur Hölle. Bei den anderen Jungs wäre es dasselbe.«

»Du solltest die Schuld nicht allein auf dich nehmen, Derek.«

»Mach dir deswegen mal keine Gedanken«, sage ich. »Crowe hat es auf mich abgesehen. Das hier hat ihm nur den Vorwand geliefert, den er brauchte, um mich rauszuschmeißen.«

Eine halbe Stunde später ruft Brandi an. Meine Stiefmutter ist von Crowe informiert worden und wird morgen die drei Stunden von San Diego hierher fahren. Sie schreit mich nicht an oder hält mir eine Standpauke oder tut so, als wäre sie meine Mom. Stattdessen sagt sie, sie werde sich bemühen, Crowe zu überzeugen, seine Meinung über den Rauswurf zu ändern. Als ob das funktionieren würde. Ich bezweifle, dass Brandi ein Mitglied ihres Highschool-Debattierklubs war. Ich habe nicht viel Vertrauen in ihre Überzeugungskraft. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht mal sicher, ob sie einen Highschool-Abschluss hat.

Am Morgen grüble ich immer noch darüber nach, was zum Henker ich jetzt tun soll, als die Campus-Security an meine Tür klopft. Sie haben die ausdrückliche Order, mich auf der Stelle ins Büro des Direktors zu eskortieren.

Während ich rechts und links von Wachmännern flankiert über den Campus laufe, bin ich mir des Geraunes der anderen Schüler nur allzu bewusst. Es passiert nicht besonders oft, dass jemand von der Schule fliegt. Ich steige die Stufen zum Sekretariat hinauf, die von Fotografien ehemaliger Schüler gesäumt sind, aus denen berühmte Sportler, Astronauten, Senatoren und Business-Gurus geworden sind. Sie werden stolz an der Wall of Fame präsentiert. Vor zwei Jahren hätte ich mir vielleicht noch ausgemalt, dass mein Bild einmal hier hängen würde, aber diese Zeiten sind lange vorbei.

Als sich die Tür von Crowes Büro öffnet, fällt mein Blick auf die Frau, die vor seinem Schreibtisch sitzt. Es ist Brandi, seit acht Monaten die Frau meines Vaters. Sie ist vierzehn Jahre jünger als mein Vater (was bedeutet, dass sie fünfundzwanzig ist, nur acht Jahre älter als ich). Ihre orangefarbenen Stilettos passen farblich zu den übertrieben großen orangefarbenen Ohrringen, die über ihren Schultern baumeln. Ihr Kleid sieht aus, als wäre es ihr zwei Nummern zu groß, was so gar nicht ihre Art ist. Immer, wenn ich sie bisher gesehen habe, trug sie eng anliegende, tief ausgeschnittene Outfits, so als hätte sie vor, durch die Clubs von San Diego zu ziehen. Sie wirkt völlig deplaziert in diesem Büro voller Mahagoni und dunklem Leder.

Als ich hereinkomme, wirft mir Brandi einen kurzen Blick zu, dann widmet sie ihre volle Aufmerksamkeit wieder Crowe. »Also welche Möglichkeiten haben wir?«, fragt sie, während sie mit einem ihrer Ohrringe spielt.

Crowe schlägt die Akte zu, die auf seinem Schreibtisch liegt. »Es tut mir leid, aber ich sehe keine Möglichkeiten. Verabscheuenswürdige, kriminelle Handlungen, die Tiere mit einschließen, werden an der Regents nicht toleriert, Mrs Fitzpatrick. Ihr Sohn …«

»Stiefsohn«, korrigiere ich ihn.

Crowe betrachtet mich angewidert. »Ihr Stiefsohn hat die Grenze überschritten. Es begann damit, wie mir berichtet wurde, dass er sämtliche Nachmittagsaktivitäten abgewählt hat. Dann kam uns zu Ohren, dass er auf Partys geht, auf denen Alkohol und Drogen kursieren. Das alles zusätzlich zu den Täuschungsversuchen bei Klassenarbeiten und der Verunreinigung von Schuleigentum mit Erbrochenem. Jetzt dieser Streich mit lebenden Nutztieren. Wir waren sehr geduldig mit Derek und haben Verständnis für die Herausforderungen, die das Leben zuletzt an ihn gestellt hat, aber das entschuldigt keinesfalls kriminelles Verhalten. Wir hier an der Regents Preparatory Academy haben die Pflicht, unsere jungen Schüler zu produktiven Staatsbürgern und künftigen Führungspersönlichkeiten zu formen, die Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen. Derek möchte offensichtlich nicht länger Teil dieser stolzen Tradition sein.«

Ich verdrehe die Augen.

»Können Sie ihn nicht einfach zu gemeinnütziger Arbeit verdonnern oder ihn so eine Art Entschuldigungsbriefdingsbums schreiben lassen?«, fragt Brandi. Ihr Armband klimpert, als sie mit den grell lackierten Fingernägeln gegen ihre Handtasche trommelt.

»Ich fürchte nein, Mrs Fitzpatrick. Derek hat mir keine andere Wahl gelassen, als ihn der Schule zu verweisen.«

»Mit der Schule zu verweisen meinen Sie, er darf nach den Sommerferien nicht wiederkommen?« Ein Sonnenstrahl bringt ihren Ehering zum Blitzen und erinnert mich daran, dass sie tatsächlich mit meinem Vater verheiratet ist.

»Das ist korrekt. Mir sind die Hände gebunden«, eröffnet Crowe ihr, was eine faustdicke Lüge ist. Er macht die Regeln und ändert sie von jetzt auf gleich, wenn es ihm nutzt. Ich werde ihn deswegen nicht zur Rede stellen. Es würde eh nichts ändern, also weshalb sich die Mühe machen? »Die Entscheidung ist gefallen«, fährt Crowe fort. »Falls Sie sich an den Schulvorstand wenden möchten, von dem ein Großteil das gestrige Debakel während der Abschlussfeier mitverfolgt hat, können Sie natürlich jederzeit die entsprechenden Formulare ausfüllen. Ich warne Sie jedoch, das Einspruchsverfahren ist langwierig und ein positiver Ausgang unwahrscheinlich. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, wir haben eines der Tiere, das Ihr Stiefsohn losgelassen hat, noch immer nicht gefunden, und ich habe alle Hände voll mit der Schadensbegrenzung zu tun.«

Brandi öffnet den Mund, in einem allerletzten Versuch, ihn doch noch zu überzeugen, schließt ihn mit einem Seufzer aber wieder, als Crowe uns mit einer Handbewegung bedeutet, sein Büro zu verlassen.

Brandi folgt mir zurück zum Wohnheim, ihre Stiletto-Absätze klackern auf dem Bürgersteig. Klack, klack, klack, klack. Vorhin im Büro ist es mir nicht aufgefallen, aber sie hat definitiv zugenommen, seit ich sie zuletzt gesehen habe. Ist es ihr egal, dass alle sie und ihr lächerliches Outfit und die auftoupierte blonde Frisur mit den überlangen Extensions anstarren? Wer sie kennt, weiß, dass ihr wahrscheinlich nicht einmal bewusst ist, was für ein Bild sie abgibt.

Mein Dad hat mich damals genötigt, Platz zu nehmen, bevor er mir eröffnete, dass sie heiraten würden. Er sagte, Brandi mache ihn glücklich. Und das ist der einzige Grund, weshalb ich sie noch nicht komplett abgeschrieben habe.

»Vielleicht«, sagt Brandi und ihr fröhlicher Tonfall schallt über den ganzen Hof, »ist es so am besten.«

»Am besten?« Ich lache auf, als ich stehen bleibe und mich zu ihr umdrehe. »Was soll daran gut sein?«

»Ich habe beschlossen, zurück nach Chicago zu ziehen, um bei meiner Familie zu leben«, sagt sie. »Da dein Vater ein halbes Jahr lang weg sein wird, denke ich, dass es das Beste für Julian ist. Er kommt im Herbst in die Vorschule, weißt du.« Brandi schenkt mir ein breites Lächeln.

Ich glaube, sie erwartet von mir, vor Freude über die großen Umzugsneuigkeiten auf und ab zu hüpfen und in die Hände zu klatschen. Oder so breit zu lächeln wie sie. Nichts davon wird in nächster Zeit passieren.

»Brandi, ich werde nicht nach Chicago ziehen.«

»Red keinen Unsinn. Du wirst Chicago lieben, Derek. Dort gibt es Schnee im Winter und im Herbst haben die Blätter die coolsten Farben …«

»Komm schon«, sage ich und unterbreche damit ihre Chicago-ist-ja-so-toll-Ansprache. »Das soll keine Beleidigung sein, aber es ist nicht so, als wären wir eine echte Familie. Ihr zwei könnt gerne nach Chicago ziehen. Ich bleibe in San Diego.«

»Jaaa … also das …« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Ich habe den Mietvertrag gekündigt. Eine andere Familie zieht nächste Woche in unser Haus ein. Ich wollte es dir erzählen, aber ich wusste, deine Prüfungen stehen an, und da du sowieso vorhattest, den Sommer auf dem Campus zu verbringen, hab ich quasi nicht gedacht, dass es dringend wäre.«

Ein Gefühl des Grauens macht sich in meinem Magen breit. »Willst du damit sagen, ich habe quasi keinen Ort, an dem ich wohnen kann?«

Sie lächelt wieder. »Na, klar hast du den. In Chicago, zusammen mit mir und Julian.«

»Brandi, komm schon. Du glaubst doch nicht wirklich, ich will für mein Senior-Jahr nach Chicago ziehen.« Die Leute ziehen von Chicago nach Kalifornien, nicht andersrum.

»Ich verspreche dir, du wirst Chicago lieben«, versichert sie mir übereifrig.

Nein. Werde ich nicht. Dummerweise gibt es niemanden, bei dem ich hier in Kalifornien wohnen könnte. Die Eltern meines Vaters sind tot, und ich habe gehört, der Vater meiner Mom ist vor einer Weile gestorben. Die Mutter meiner Mom … nun, lasst uns einfach sagen, sie lebt in Texas, und es dabei belassen. Eher friert die Hölle zu, als dass ich bei ihr einziehe. »Ich habe keine Wahl, oder?«

»Nicht wirklich.« Brandi zuckt mit den Schultern. »Dein Vater hat dich in meiner Obhut gelassen. Wenn du nicht auf der Akademie bleiben kannst, wirst du mit mir zusammenleben müssen … in Chicago.«

Wenn sie noch einmal das Wort Chicago erwähnt, wird wahrscheinlich mein Kopf explodieren. Das darf einfach nicht wahr sein. Ich hoffe, ich durchleide gerade irgendeine Art realistischen Albtraum, aus dem ich jede Sekunde aufwachen werde.

»Es gibt da noch eine Sache, die ich dir nicht erzählt habe«, sagt Brandi in einem Ton, als spräche sie mit einem Kleinkind.

Ich reibe meinen Nacken, an dem sich gerade ein Knoten bildet. »Was?«

Sie legt die Hand auf ihren Bauch und sagt mit hoher, freudig erregter Stimme: »Ich bin schwanger.«

Un-fucking-believable.

Sie kann nicht schwanger sein.

Ich meine, es ist biologisch möglich, aber … der Knoten in meinem Nacken pocht jetzt ernsthaft und droht meine Haut zu sprengen. Das hier ist definitiv ein Albtraum.

Ich wünsche mir sehnsüchtig, sie sagen zu hören, das Ganze sei bloß ein Scherz, aber so viel Glück ist mir nicht vergönnt. Es war schlimm genug, dass mein Vater diese Tussi geheiratet hat. Ich warte täglich darauf, dass bei ihm der Groschen fällt und er kapiert, was für ein Fehler es war, sie zu heiraten. Aber jetzt … ein Baby besiegelt die Sache für immer.

Mir wird schlecht.

»Ich wollte es für mich behalten, bis du am vierten Juli nach Hause kommst«, erklärt sie aufgeregt. »Überraschung! Dein Vater und ich erwarten ein Baby, Derek. Ich denke, dein Schulverweis ist ein Zeichen, dass wir alle zusammen in Chicago leben sollen. Als Familie.«

Da liegt sie falsch. Mein Schulverweis ist ein Zeichen, so viel ist richtig, aber nicht, dass wir alle zusammen in Chicago leben sollen. Es ist ein Zeichen, dass mein Leben kurz davor steht zu implodieren.

2

Ashtyn

Ich bin seit dem Freshman-Jahr das einzige Mädchen im Footballteam der Fremont High, daher ist es keine große Sache, als Coach Dieter den Jungs eine Warnung zuruft, um sicherzugehen, dass sie was anhaben, als ich die Jungenumkleide zur ersten Teambesprechung des Sommers betrete. Der Trainer haut mir auf den Rücken, als ich an ihm vorbeigehe, genauso wie er es bei den Jungs macht.

»Bereit für dein Senior-Jahr, Parker?«, fragt er.

»Es ist der erste Tag der Sommerferien, Coach«, erwidere ich. »Lassen Sie ihn mich in Ruhe genießen.«

»Genieß ihn nicht zu sehr. Trainiere diesen Sommer hart in diesem Footballcamp in Texas, denn ich erwarte im Herbst eine Gewinnersaison.«

»Wir holen die Meisterschaft zum ersten Mal in vierzig Jahren, Coach!« brüllt einer meiner Mannschaftskameraden. Der Rest der Mannschaft, ich inbegriffen, bejubelt seine Worte frenetisch. Wir haben die Landesmeisterschaft letzte Saison beinah geholt, aber wir mussten uns in den Play-Offs geschlagen geben.

»Schon gut, schon gut. Immer langsam mit den jungen Pferden«, sagt Dieter. »Lasst uns erst mal das Geschäftliche regeln. Es ist mal wieder an der Zeit, dass ihr denjenigen aus eurer Mitte wählt, der es in euren Augen am meisten verdient hat, diese Mannschaft anzuführen. Denkt dabei an den Spieler, dessen Talent, harte Arbeit und Einsatz für die Mannschaft unleugbar sind. Der Spieler, der die meisten Stimmen auf sich vereint, wird in der kommenden Saison Mannschaftskapitän.«

Zum Captain gewählt zu werden ist eine Riesensache an meiner Schule. Es gibt einige Klubs und Sportmannschaften, aber nur eine Sportart, die wirklich zählt: Football. Ich werfe meinem Freund, Landon McKnight, einen stolzen Blick zu. Er wird es werden. Er ist unser Stamm-Quarterback, und von ihm wird erwartet, uns bis zur Landesmeisterschaft von Illinois zu führen. Sein Vater war in der NFL, und Landon ist auf dem besten Weg, in seine Fußstapfen zu treten. Im letzten Jahr hat sein Dad sogar mehr als einmal Talentsucher von Colleges hergebracht, damit sie seinen Sohn spielen sehen. Bei seinem Talent und seinen Beziehungen besteht kein Zweifel daran, dass er ein Footballstipendium fürs College bekommen wird.

Wir sind Anfang der letzten Saison zusammengekommen, direkt nachdem Coach Dieter mich zum Kicker der Startelf befördert hat. Ich hatte meine Technik in den Sommerferien perfektioniert und das hat sich bezahlt gemacht. Die Jungs haben mir beim Training zugesehen und Wetten darauf abgeschlossen, wie viele Field Goals ich hintereinander schaffen würde.

Früher hat es mich verunsichert, das einzige Mädchen im Team zu sein. Im ersten Jahr habe ich mich im Hintergrund gehalten und gehofft, mich unauffällig einfügen zu können. Die Jungs haben dämliche Kommentare losgelassen, aber ich habe sie weggelacht und ihnen passende Erwiderungen zugeworfen. Ich wollte nie eine Sonderbehandlung und habe darum gekämpft, einfach wie ein weiteres Teammitglied behandelt zu werden, das zufällig ein Mädchen ist.

Dieter, der die für ihn typische Kakihose und ein Poloshirt mit dem aufgestickten Schriftzug Freemont Rebels trägt, reicht mir meinen Stimmzettel. Landon nickt mir zu. Jeder weiß, dass wir zusammen sind, aber wir lassen unsere Beziehung während des Trainings nicht raushängen.

Ich schreibe Landons Namen auf den Stimmzettel, dann gebe ich ihn ab.

Dieter geht unseren brutalen Trainingsplan mit uns durch, während die Assistenztrainer die Stimmzettel auszählen.

»Ihr gewinnt Spiele nicht, indem ihr auf dem Hintern sitzt«, sagt Dieter während seiner Ansprache. »Und ganz nebenbei, wir rechnen damit, dieses Jahr weitere Talentsucher anzuziehen. Ich weiß, mehr als nur ein paar von euch würden gerne College-Football spielen. Seniors, dies ist das Jahr, in dem ihr euch beweisen könnt.« Coach Dieter sagt es nicht, aber uns ist allen klar, dass die Talentsucher nur kommen, um Landon spielen zu sehen – profitieren können wir von ihrer Anwesenheit jedoch alle.

Es wäre unglaublich, einer College-Mannschaft anzugehören, aber ich mache mir keine Illusion darüber, dass die Scouts mir die Tür einrennen werden. Nur eine Handvoll Mädchen haben es bisher in die College-Auswahl geschafft und beinah alle von ihnen sind Ersatzspieler ohne ein Stipendium. Bis auf Katie Calhoun. Sie war die erste Frau, die ein Erstliga-Football-Stipendium bekommen hat. Ich würde alles dafür geben, so zu sein wie Katie.

Ich habe mit meinem Vater Football geguckt, seit ich denken kann. Selbst nachdem meine Mom uns verlassen und mein Dad die Elternrolle an den Nagel gehängt hatte, guckten wir immer noch die Spiele der Chicago Bears zusammen. Vor vierzig Jahren war er der Kicker der Fremont High. In dem Jahr hat unsere Highschool zum ersten und letzten Mal die Landesmeisterschaft gewonnen. Das einsame Meisterschaftsbanner hängt an der Wand der Sporthalle.

Ich schätze, mich dem Football zuzuwenden, war ein Versuch, eine Beziehung zu meinem Vater aufzubauen … vielleicht würde er beeindruckt sein, wenn er mich genug Tore kicken sähe. Damals, in meinem Frehsman-Jahr, hoffte ich noch, mein Vater würde zu den Spielen kommen und mich anfeuern. Er hat es nie getan – er hat es bis heute nicht getan, und im Herbst werde ich Senior sein. Meine Mutter hat mich ebenfalls nie spielen sehen. Ich glaube, sie lebt in irgendeiner Wolkenkratzerwohnung in New York, aber ich habe seit beinah einem Jahr nichts von ihr gehört. Eines Tages werde ich meinen Eltern beweisen, dass sie etwas verpassen, denn das Gefühl zu haben, deiner Familie ist es egal, dass es dich gibt, ist echt beschissen.

Zum Glück habe ich Landon.

Während Dieter seine Mischung aus Anfeuerungsrede und Standpauke zu einem Ende bringt, reicht ihm einer seiner Assistenten das Abstimmungsergebnis. Er liest schweigend den Namen, nickt zustimmend und schreibt ihn dann auf das Whiteboard.

Captain

Ashtyn Parker

Moment mal … wie bitte?

Das kann nicht sein. Ich muss mich verlesen haben.

Ich blinzle ein paar Mal, während ich spüre, wie meine Mannschaftskameraden mir auf den Rücken schlagen. Mein Name steht groß und deutlich da, Irrtum ausgeschlossen.

Jet Thacker, unser Stamm-Wide-Receiver, johlt: »Gut gemacht, Parker!«

Die anderen Jungs beginnen, meinen Nachnamen zu rufen: »Parker! Parker! Parker!«

Ich werfe Landon einen Blick zu. Er starrt das Whiteboard an. Ich wünschte, er würde mich ansehen, mir gratulieren oder mir das Gefühl geben, dass es schon in Ordnung geht. Geht es nicht. Ich weiß, dass er am Boden zerstört ist. Ich bin es auch. Ich habe das Gefühl, als stünde die Welt Kopf.

Dieter bläst in seine Trillerpfeife. »Parker, komm in mein Büro. Der Rest von euch kann gehen«, sagt er.

»Glückwunsch, Ash«, murmelt Landon, ohne sich die Mühe zu machen, stehen zu bleiben, als er an mir vorbei zur Tür geht. Ich will ihn zurückzerren, damit ich ihm sagen kann, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wie das passieren konnte, aber er ist verschwunden, bevor ich die Gelegenheit dazu habe.

Ich folge dem Trainer in sein Büro. »Glückwunsch, Parker«, sagt er und wirft mir den Flicken mit dem C hin, den ich auf mein Letterman Jacket nähen kann. Ein zweiter wird auf mein Trikot genäht werden. »Von August an wirst du dich einmal wöchentlich mit mir und dem Trainerstab zusammensetzen. Du wirst dafür Sorge tragen, deinen Notendurchschnitt über einer 3,0 zu halten und diese Mannschaft auf dem Spielfeld und abseits davon anzuführen.« Er redet noch länger mit mir über meine Pflichten und endet mit den Worten: »Die Mannschaft zählt auf dich und ich ebenso.«

»Coach«, sagte ich, während meine Fingerspitzen über die weiche Stickerei auf dem Flicken fahren. Ich lege ihn auf seinen Schreibtisch und weiche einen Schritt zurück. »Landon hat es verdient, Captain zu sein, nicht ich. Ich mache den Platz frei und lasse ihn …«

Dieter hebt die Hand. »Kein weiteres Wort, Parker. Du bist zum Captain gewählt worden, nicht McKnight. Du hast mehr Stimmen bekommen als jeder andere Spieler. Ich respektiere keine Spieler, die sich drücken, wenn sie von ihren Mannschaftskameraden gebeten werden, Verantwortung zu übernehmen. Bist du ein Drückeberger?«

»Nein, Sir.«

Er schleudert den Flicken zu mir zurück. »Dann raus hier.«

Ich nicke, dann verlasse ich sein Büro. Zurück in der Umkleide lehne ich mich an einen Spind und blicke auf den Flicken mit dem großen C hinunter. Captain. Ich atme tief durch, als ich realisiere, dass es tatsächlich wahr ist. Ich bin zum Captain des Footballteams gewählt worden. Ich, Ashtyn Parker. Ich fühle mich geehrt und bin meinen Mannschaftskameraden dankbar, dass sie für mich gestimmt haben, aber ich stehe immer noch unter Schock.

Als ich nach draußen komme, hoffe ich, Landon bei meinem Wagen warten zu sehen. Stattdessen stehen da Victor Salazar und Jet Thacker vor meinem alten verbeulten Dodge, der eine neue Lackierung gebrauchen könnte … und einen neuen Motor, wenn wir schon mal dabei sind.

Victor, unser Middle Linebacker mit mehr Sacks als jeder andere Spieler im Staate Illinois, macht nicht viele Worte. Seinem Dad gehört praktisch die Stadt, und von Vic wird erwartet zu tun, was immer sein Vater befiehlt. Hinter dem Rücken seines Dads ist Vic waghalsig und ein Draufgänger. Fast so, als wäre es ihm egal, ob er lebt oder stirbt – was auch der Grund dafür ist, warum er auf dem Spielfeld so gefährlich ist.

Jet schlingt einen Arm um meine Schulter. »Du weißt, die Fairfielder werden sich freuen wie die Schneekönige, wenn ihnen zu Ohren kommt, dass ihre Erzrivalen ein Mädchen als Captain haben. Diese Ärsche haben Chad Youngs Haus an dem Tag, als er letztes Jahr zum Captain gewählt wurde, mit Eiern beworfen, also haben wir uns gerächt und das Haus ihres Kapitäns mit Klopapier umwickelt. Pass gut auch dich auf, Parker. Sobald sich die Nachricht verbreitet, wirst du zur Zielscheibe werden.«

»Ich halte dir den Rücken frei«, brummt Vic. Und er meint es auch so.

»Das werden wir alle«, sagt Jet. »Denk nur immer daran.«

Zielscheibe? Ich rede mir ein, dass ich damit umgehen kann, eine Zielscheibe zu sein. Ich bin stark, taff und an mir werden sie sich die Zähne ausbeißen.

Ich bin kein Drückeberger.

Ich bin der Captain der Fremont-High-Footballmannschaft!

3

Derek

Ich bin total verspannt, als wir in die Einfahrt des Hauses biegen, in dem meine Stiefmutter aufgewachsen ist und das in einem kleinen Vorort von Chicago steht. Ich bin den SUV meines Dads gefahren und Brandi in ihrem neuen weißen Toyota mit den Bling-Bling-Felgen gefolgt. Wir haben sechs Tage gebraucht. Sobald wir aus den Autos steigen, erscheint ein alter Mann auf der Veranda des zweigeschossigen Backsteinhauses, von dem ich annehme, dass er Brandis Vater ist. Er hat braune Haare, die an den Schläfen allmählich grau werden, und er lächelt nicht, so viel ist sicher. Der Typ starrt Brandi an, als sei sie eine Fremde. Keiner von beiden scheint bereit, den ersten Schritt zu machen.

Ich weiß nicht, was zwischen Brandi und ihrem alten Herrn vorgefallen ist. Sie hat nicht viel erzählt, nur dass sie direkt nach der Scheidung ihrer Eltern von zu Hause abgehauen und nie zurückgekehrt ist … bis heute.

Brandi nimmt Julian an der Hand und zieht das müde Kind die Verandastufen hinauf. »Das ist mein Sohn. Julian, sag Grandpa guten Tag.«

Brandis Sohn ist ein cooler kleiner Mann, der einem das Ohr abquasseln kann. Aber jetzt windet er sich schüchtern und sagt seinem Großvater nicht Guten Tag. Stattdessen hält er den Blick auf seine Turnschuhe gesenkt. Brandis Vater macht dasselbe.

»Und das ist mein Stiefsohn, Derek«, sagt Brandi schließlich mit einem Winken in meine Richtung.

Ihr Vater hebt den Kopf. »Du hast nichts von einem Stiefsohn gesagt, als du angerufen hast.«

Es überrascht mich nicht, dass Brandi ihren Vater nicht auf mich vorbereitet hat. Gesunder Menschenverstand ist nicht gerade ihre Stärke.

Brandi legt den Kopf auf die Seite, ihre großen roten Kreolen erinnern mich an diese Wurfringdinger auf der Kirmes. Ich glaube, sie hat passend zu jeder Farbe ihrer Garderobe ein Paar. »Hab ich nicht? Ich bin so ein Schussel. Ich muss über den Umzug und das Packen und … alles andere vergessen haben, es dir zu erzählen. Derek kann im Hobbyraum schlafen.«

»Der Hobbyraum steht voller Kartons«, sagt er zu ihr. »Und ich habe das alte Sofa, das darin stand, vor einer Weile einer Wohlfahrtsorganisation überlassen.«

»Wenn es Ihnen lieber ist, Sir«, sage ich schleppend, »kann ich auf der Veranda schlafen. Geben Sie mir einfach eine Decke und werfen mir ab und zu ein paar Essensreste hin und ich komme wunderbar klar.« In Momenten wie diesen, in denen ich so angespannt bin, gelingt es mir nicht, meinen näselnden texanischen Singsang abzustellen, selbst wenn ich es wollte.

Brandis Vater mustert mich aus schmalen Augen. Ich habe den Eindruck, wenn ich drei mit Fett eingeschmierte Schweine in seinem Hof freiließe, würde er sie erschießen, aufessen und dann versuchen, mir bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen.

»Unsinn«, sagt Brandi. »Derek kann auch mit Julian in meinem alten Zimmer schlafen und ich übernachte auf der Wohnzimmercouch.«

»Ich werde die Kartons wegräumen und ein aufblasbares Bett in das Zimmer stellen«, sagte ihr Dad, der widerwillig nachgibt, als ihm klar wird, dass ich nicht wieder nach Kalifornien verschwinden werde.

»Damit kann ich leben«, sage ich.

Es ist schließlich nicht so, als hätte ich vor, allzu viel Zeit in diesem Haus zu verbringen.

»Derek, kannst du mit meinem Vater unsere Sachen ins Haus tragen, während ich Julian zum Mittagsschlaf hinlege?«, fragt Brandi. »Ich bin erschöpft von der Fahrt und brauche selbst ein Nickerchen.« Sie scheint nicht vorzuhaben, ihrem Vater etwas von der Schwangerschaft zu verraten, obwohl es nicht so ist, als könnte sie dieses Geheimnis noch lange für sich behalten.

Ehe ich etwas erwidern kann, schlüpft sie mit Julian durch die Tür ins Haus und lässt mich mit ihrem miesepetrigen alten Herrn allein.

Ihr Vater mustert mich prüfend von oben bis unten. Er wirkt nicht besonders beeindruckt.

»Wie alt bist du?« Seine raue Stimme schallt die Stufen hinunter und quer über den Hof bis zu mir, wo ich neben dem vollgepackten SUV stehe.

»Siebzehn.«

»Ich erwarte nicht von dir, dass du mich Grandpa nennst.«

»Hatte ich auch nicht vor.«

»Gut. Ich schätze, du kannst mich Gus nennen.« Er seufzt genervt. Ich bin ungefähr genauso begeistert, hier zu sein, wie er darüber, mich hier zu haben. »Hast du vor reinzukommen oder willst du den ganzen Tag da stehen bleiben und auf eine Einladung warten?«

Er verschwindet im Haus. Ich bin versucht, ihm nicht zu folgen, aber mir bleibt keine Wahl. Das Haus ist alt, mit dunklen Holzböden und abgewohnten Möbeln. Die Dielenbretter knarzen, als ich darüberlaufe, und lassen mich an ein Spukhaus denken.

Er führt mich einen Flur hinunter zu einem Hinterzimmer und schwingt die Tür auf. »Das hier wird dein Zimmer sein. Ich erwartete von dir, es sauber zu halten, deine eigene Wäsche zu waschen und dich nützlich zu machen.«

»Bekomme ich dann auch ein Taschengeld?«, scherze ich.

Der Typ sieht mich mit todernster Miene an. »Du bist ein echter Komödiant, was?«

»Das behaupten zumindest Leute mit Sinn für Humor. Yeah.«

Als Antwort erhalte ich ein abfälliges Schnauben.

Ich folge ihm erneut, als er ein Abteilung kehrt-Gesicht zieht und zurück zum Auto marschiert. Ich rechne nicht damit, dass er mir helfen wird, die Kartons auszuladen, aber so ist es. Es dauert nicht lange, bis wir alles ins Haus geschafft haben. Wir bringen Brandis und Julians Sachen in ihr Zimmer im ersten Stock und meine in den Hobbyraum. Geredet wird dabei nicht. Das hier wird zweifellos eine interessante Lebenserfahrung – wenn auch nicht eine der guten Art.

Ich schiebe gerade die Kartons in eine Zimmerecke, um Platz zu schaffen, als Gus noch einmal auftaucht. Ohne ein Wort reicht er mir eine Luftmatratze und überlässt es mir herauszufinden, wie sie sich aufblasen lässt. Ich habe keine Ahnung, warum Brandi den Wunsch verspürt hat, zurückzukommen und bei einem Vater zu leben, der sie offensichtlich nicht hier haben will.

Mein Dad ist das komplette Gegenteil von Brandis. Als ich noch jünger war und mein Dad von einem Einsatz nach Hause kam, strahlte er über das ganze Gesicht, sobald er uns sah. Er umarmte mich und meine Mutter so fest, dass wir so taten, als bekämen wir keine Luft mehr.

Brandis Vater hat keinerlei Anstalten gemacht, sie zu umarmen, obwohl ich weiß, dass sie sich seit Jahren nicht gesehen haben. Verflucht, sie haben sich noch nicht einmal die Hand geschüttelt oder sich auf den Rücken geklopft. Und er hat seinen eigenen Enkelsohn kaum eines Blickes gewürdigt.

Ich schiebe meinen Koffer hinter die Tür und sehe mich in meinem neuen Zimmer mit der verblichenen Holzverkleidung an den Wänden um. Überall sind Kartons verteilt. In der Ecke gibt es einen alten Kamin, der so aussieht, als wäre er seit dem Bürgerkrieg nicht mehr in Gebrauch gewesen. Wenigstens gibt es zwei Fenster, durch die Licht in den Raum fällt. Dieser Ort fühlt sich nicht wie ein Zuhause an – nicht im Entferntesten. Er erinnert mich auch nicht an die Regents Academy, wo ich von Freunden umgeben war. Ich rufe mir ins Gedächtnis, dass ich nur hier bin, weil ich muss.

Plötzlich gibt mir dieses Haus das Gefühl zu ersticken.

Ich gehe in den Garten. Es ist heiß und die Sonne scheint, daher ziehe ich mein T-Shirt aus und stopfe es in den Hosenbund meiner Jeans. Das Gras ist so hoch, dass ich mich frage, ob es jemals gemäht worden ist. Ich stapfe durch einen kleinen Unkrautgarten zu einem großen Holzschuppen. Die Farbe blättert ab, offenbar wird er seit Jahren vernachlässigt. Ein altes Vorhängeschloss baumelt geöffnet am Türriegel und ich stoße die Schuppentür auf. Rostige Gartengeräte hängen an Wandhaken, Farbsprühdosen und Unkrautvernichtungsmittel verteilen sich über die Werkbank, kleine Metalleimer liegen auf dem Boden verstreut. Ich trete einen Eimer beiseite, dann hebe ich einen zweiten auf, während ich über alles nachdenke, was sich im Laufe der letzten zwei Jahren verändert hat.

Ich fluche lautlos und pfeffere den Eimer quer durch den Schuppen. Das Scheppern, als Metall auf Wand trifft, dröhnt durch den kleinen Raum.

»Aufhören oder ich rufe die Polizei!«, befiehlt die Stimme eines Mädchens hinter mir.

Ich drehe mich um und entdecke eine heiße Braut in meinem Alter. Ihre blonden Haare sind zu einem langen Zopf geflochten, der sich über ihre Brust schlängelt. Sie blockiert die Tür, in der Hand hält sie eine rostige Mistgabel. Wie es aussieht, ist sie bereit, mich damit zu erstechen, was ihren Wert auf der Erotik-Skala verringert, wenn auch nicht um viel.

»Wer bist du?«, frage ich, während ich gleichzeitig ihr schwarzes T-Shirt und den dazu passenden Kapuzenpulli mustere. Wenn sie nicht drohte, mich aufzuspießen, könnte ich sie mir gut als eine dieser sexy Kriegerinnen in einem Videospiel oder Actionfilm vorstellen. Und obgleich es verdammt cool wäre, in einem Videospiel gegen sie anzutreten, wird es im realen Leben niemals passieren.

Neben ihr steht eine Monstrosität von einem Hund mit kurzem grauen Fell und metallisch blitzenden Augen, die ihren erstaunlich ähneln. Die Bestie bellt mich an, als wäre ich Frischfleisch und sie hätte seit Monaten nichts gegessen. Spuckefetzen spritzen bei jedem Bellen von ihrem Maul.

»Falkor, aus!«, befiehlt die Amazone. Der Köter verstummt, aber seine Lippen verziehen sich zu einem drohenden Knurren, während er neben ihr steht wie ein Soldat, bereit, auf ihr Kommando hin zum Sprung anzusetzen. »Ihr kriminellen Schufte aus Fairfield denkt, ihr könnt hierherkommen und …«

Ich hebe die Hand, um ihrer Tirade Einhalt zu gebieten. Ich, ein Schuft? Das ist zum Schießen. Der Schuft-Alarm dieses Mädchens liegt dermaßen daneben. Ich glaube, ich bin noch nie zuvor als Schuft bezeichnet worden. »Ich möchte dich nur ungern enttäuschen, Zuckerschnecke, aber ich habe keinen Schimmer, wo Fairfield liegt.«

»Ja, klar. Ich bin doch nicht blöd. Und ich bin nicht deine Zuckerschnecke. Ich falle noch nicht mal auf deinen echt miesen, falschen Südstaatendialekt rein.« Geraschel im Garten erweckt die Aufmerksamkeit des Hundes. Er gibt seinen Posten auf und springt auf irgendein unglückliches Kriechtier zu. »Falkor, komm sofort zurück!«, befiehlt sie, aber die Töle ignoriert sie.

»Leg die Mistgabel aus der Hand, Engelchen.« Ich mache einen Schritt auf sie und die Tür zu.

»Nur über meine Leiche. Ich warne dich … einen Schritt näher und ich steche zu.« Ein Blick auf ihre zitternden Hände verrät mir, dass sie nicht die Nerven hat, ihre Drohung wahr zu machen.

Ich hebe die Hände und ergebe mich gespielt.

Ich wünschte, diese Braut hätte einen An- und Ausschalter, damit ich sie dauerhaft ruhigstellen könnte. Ich stehe jetzt direkt vor ihr, die Zinken der Mistgabel sind nur wenige Zentimeter von meiner Brust entfernt. »Du willst mich auf gar keinen Fall damit stechen, glaub mir«, eröffne ich ihr.

»Doch, ich denke schon.« Die Amazone blinzelt entschlossen. Einen Moment lang bin ich überzeugt, dass sie im Begriff ist, ihre Waffe zu senken, bis ich etwas hinter mir quietschen höre. Als ich über die Schulter blicke, kracht ein Winkel, mit dem eine Menge Werkzeuge an der Wand befestigt sind, mit allem, was dranhängt, zu Boden. Das Geräusch erschreckt das Mädchen und sie lässt die Mistgabel fallen. Auf meinen Fuß.

Was zum …

Sie starrt den Zinken an, der aus meinem linken Schuh ragt, und ihr Mund verzieht sich zu einem geschockten O. Ehe ich weiß, wie mir geschieht, stolpert sie zurück und knallt die Tür zu. Dunkelheit verschluckt mich, als ich das Vorhängeschloss zuschnappen höre. Zwei Gedanken schießen mir durch den Kopf: Sie hält mich für einen Schuft, ich halte sie für eine durchgeknallte Irre.

Einer von uns beiden liegt richtig, und sie ist es nicht.