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Derek
Erwischt zu werden hatte nicht zu unserem Plan gehört. Einen grandiosen Streich auf die Beine zu stellen, der noch Jahrzehnte lang in aller Munde sein würde, dagegen schon. Ich stehe mit fünf meiner Freunde im Büro von Schuldirektor Crowe und höre ihn nun schon seit einer Stunde darüber schwadronieren, dass unser letzter Streich nicht nur ihn, sondern auch die Förderer und Lehrer dieses altehrwürdigen Internats in Verlegenheit gebracht habe.
»Will irgendwer gestehen?«, fragt Crowe.
Jack und Sam machen sich vor Angst in die Hose. David, Jason und Rich bemühen sich, nicht loszuwiehern. Ich bin mehr als ein Mal ins Büro des Direktors zitiert worden, seit ich an dieser Schule bin, also ist das hier nichts Neues für mich.
Während ihrer letzten Woche an der Regents Preparatory Academy, Kalifornien spielen die Seniors den Juniors einen Streich. Das ist so Tradition. Dieses Jahr haben die Seniors es geschafft, blaue Farbe in unsere Duschköpfe zu füllen und sämtliche Glühbirnen aus den Gemeinschaftsräumen unserer Wohnheime zu entfernen. Es war nur fair, diese Herausforderung zu erwidern, wenn auch in etwas extremerem Ausmaß. Die Seniors haben erwartet, dass wir ihre Wohnheime verwüsten, und waren sichtlich die ganze Woche in höchster Alarmbereitschaft. Sie postierten rund um die Uhr Wachen, bereit, ihr Territorium zu verteidigen.
Mein Zimmergenosse, Jack, hatte den genialen Einfall, drei Ferkel von der Farm seines Onkels mit Fett einzuschmieren und sie im Wohnheim der Seniors freizulassen. Sam meinte, wir sollten die Schweine stattdessen lieber während der Abschlussfeier ins Rennen schicken. Ich gestehe, es war meine Idee, die Schweine zu nummerieren … 1, 3 und 4. Es waren sechs von uns nötig, um die Chose durchzuziehen. Das Einsetzen der Musik zum feierlichen Einzug der Absolventen war unser Zeichen, die Schweine freizulassen.
Ich hatte angenommen, damit durchgekommen zu sein, bis wir vor einer Stunde alle in Crowes Büro zitiert wurden.
Crowes Sekretärin, Martha, steckt den Kopf zur Tür herein. »Mr Crowe, Nummer 2 ist noch immer nicht gefunden worden.«
Der Direktor knurrt frustriert. Wenn Crowe nicht so ein Arsch wäre, würde ich ihm sagen, er solle die Suche abblasen, weil es kein Schwein Nummer 2 gibt – das ist Teil des Streichs. Aber er gehört zu der Sorte Mensch, dem die Schüler scheißegal sind. Ihm ist wichtig zu zeigen, dass er die Macht hat; er liebt es, Verweise zu erteilen und Lehrer nach eigenem Gutdünken zu feuern. Ich habe im Lauf des vergangenen Jahres mehr als einmal miterlebt, wie er diese Macht missbraucht hat.
»Ich war’s«, stoße ich mit übertriebenem texanischen Zungenschlag hervor, weil ich weiß, dass Crowe bei dem Gedanken, einen Redneck an seiner edlen Schule zu haben, insgeheim mit den Zähnen knirscht. Er hat mich mehr als ein Mal für meine nicht gerade geschliffene Ausdrucksweise und das schnoddrige Vokalverschlucken zurechtgewiesen. Ich schätze, ich hab’s gemacht, um dem Typen auf die Eier zu gehen.
Crowe steht dicht vor mir. »Welcher Ihrer Freundchen hier hat Ihnen geholfen?«
»Keiner von ihnen, Sir. Ich bin ganz allein dafür verantwortlich.«
Er fuchtelt drohend mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum. »Wenn Ihr Vater hiervon erfährt, wird er garantiert sehr enttäuscht von Ihnen sein, Derek.«
Durch meinen Körper geht ein Ruck. Mein Dad, auch bekannt als Commander Steven Fitzpatrick, ist mal wieder im Einsatz. Die nächsten sechs Monate wird er auf einem U-Boot verbringen, komplett abgeschnitten vom Rest der Welt.
Einen kurzen Moment frage ich mich, wie meine neue Stiefmutter, Brandi, wohl klarkommt, jetzt, da Dad auf See ist. Unser Arrangement ist perfekt. Ich lebe hier, bis ich meinen Abschluss in der Tasche habe, und die neue Frau meines Vaters wohnt mit dem fünfjährigen Kind, das ihr irgendein Exfreund beschert hat, in einem gemieteten Haus in der Nähe des Marinestützpunkts.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die News über den Ferkel-Stunt bis zu meinem Vater durchdringen. Und wenn Crowe glaubt, ich würde Brandi damit enttäuschen, ist das zum Totlachen.
Crowe zieht die Schultern hoch und wirft mir einen seiner überaus erprobten, finsteren Blicke zu, die ihn aussehen lassen wie ein Oger auf Steroiden. »Sie erwarten von mir zu glauben, dass Sie ganz allein einen unserer Schultransporter gestohlen, vier Schweine zur Abschlussfeier transportiert, sie eingefettet und dann freigelassen haben?«
Ich werfe meinen Freunden einen kurzen Blick zu und signalisiere ihnen, die Klappe zu halten, denn ich sehe, dass mehr als einer kurz davor ist einzuknicken. Es gibt keinen Grund, dass wir alle Ärger bekommen, nur weil Crowe keinen Sinn für Humor hat.
Ich nicke. »Ich habe allein gehandelt, Sir. Aber genau genommen habe ich den Transporter nicht gestohlen. Ich habe ihn nur geliehen.« Es waren drei Schweine und es brauchte uns alle sechs, um das Ding durchzuziehen, aber diese Info behalte ich für mich. Ich warte darauf, dass er mich zum Arrest verdonnert und mir aufträgt, Böden zu schrubben oder Waschräume oder etwas ähnlich Demütigendes. Egal, was. Den Arrest während der Sommerferien abzusitzen wird ein Leichtes sein.
»Der Rest von Ihnen ist entlassen, Gentlemen«, verkündet Crowe. Er setzt sich in seinen breiten Ledersessel und nimmt den Telefonhörer von der Gabel, während meine Freunde einer nach dem anderen das Büro verlassen. »Martha, rufen Sie Mrs Fitzpatrick an und informiere Sie sie darüber, dass ihr Stiefsohn der Schule verwiesen wurde.«
Moment mal! Was?
»Schulverweis?« Ich drohe praktisch an dem Wort zu ersticken. Warum keine Verwarnung, kein Nachsitzen oder ein Unterrichtsausschluss? »Es war nur ein harmloser Streich.«
Er legt den Hörer mit Nachdruck zurück auf die Gabel. »Schulverweis. Handlungen haben Konsequenzen, Mr Fitzpatrick. Trotz mehrfacher Verwarnung aufgrund von Täuschungsversuchen, Drogenkonsum und Streichen haben Sie erneut unsere Regeln missachtet und bewiesen, dass Sie nicht würdig sind, die Regents Preparatory Academy zu besuchen. Es versteht sich von selbst, dass dies zugleich bedeutet, dass wir Sie nicht dazu einladen, nach den Ferien wiederzukommen und ihr Senior-Jahr bei uns zu absolvieren.«
Ich rühre keinen Muskel, sage kein Wort. Das darf einfach nicht wahr sein. Ich könnte ein Dutzend andere Schüler aufzählen, die bei Streichen erwischt wurden und mit nicht viel mehr als einer Verwarnung davongekommen sind, wenn überhaupt. Ich habe während einer Arbeit aus Versehen meine Notizen auf dem Boden liegen gelassen und Mr Rappaport hat das als Täuschungsversuch gewertet. Und der Drogenvorwurf … Zugegeben, ich bin mit ein paar Freunden auf eine Party gegangen und vollkommen breit nach Hause gekommen. Es war nicht meine Absicht, auf die Statue des Regents-Gründers zu reihern, nachdem ich herausgefunden hatte, dass jemand heimlich Ecstasy in meinen Drink geschüttet hatte. Und ich war ganz bestimmt nicht derjenige, der Bilder von meiner Reiherattacke auf die Schulwebsite gestellt hat. Ein gewisser Senior aus der Schülervertretung war dafür verantwortlich, obwohl er bis heute nicht deswegen belangt wurde, weil niemand einen Typen beschuldigen würde, dessen Vater der Schule jedes Jahr einen Haufen Kohle überweist.
»Da Sie Ihre Prüfungen bereits abgelegt haben, will ich gnädig sein und gestatten, dass Sie die volle Anerkennung für Ihr Junior-Jahr erhalten. Als Gefälligkeit Ihrem Vater gegenüber werde ich Ihnen außerdem achtundvierzig Stunden gewähren, Ihre Sachen vom Campus zu entfernen.« Er nimmt seine Unterlagen und beginnt etwas zu schreiben, blickt aber noch einmal zu mir hoch, als er bemerkt, dass ich mich nicht vom Fleck rühre. »Das wäre alles, Mr Fitzpatrick.«
Gnädig?
Auf dem Weg zum Junior-Wohnheim wird mir die Absurdität des Ganzen langsam klar. Ich werde von der Regents geworfen und muss zurück nach Hause ziehen. Zu meiner Stiefmutter, die in ihrer eigenen rosaroten Welt lebt. Das ist doch absolut scheiße.
Mein Zimmergenosse Jack sitzt kopfschüttelnd auf der Bettkante. »Ich habe Crowe sagen hören, du wärst der Schule verwiesen.«
»Jau.«
»Wenn wir alle zu ihm gehen und ihm die Wahrheit sagen, denkt er vielleicht noch mal …«
»Wenn dein Dad davon erfährt, macht er dir das Leben zur Hölle. Bei den anderen Jungs wäre es dasselbe.«
»Du solltest die Schuld nicht allein auf dich nehmen, Derek.«
»Mach dir deswegen mal keine Gedanken«, sage ich. »Crowe hat es auf mich abgesehen. Das hier hat ihm nur den Vorwand geliefert, den er brauchte, um mich rauszuschmeißen.«
Eine halbe Stunde später ruft Brandi an. Meine Stiefmutter ist von Crowe informiert worden und wird morgen die drei Stunden von San Diego hierher fahren. Sie schreit mich nicht an oder hält mir eine Standpauke oder tut so, als wäre sie meine Mom. Stattdessen sagt sie, sie werde sich bemühen, Crowe zu überzeugen, seine Meinung über den Rauswurf zu ändern. Als ob das funktionieren würde. Ich bezweifle, dass Brandi ein Mitglied ihres Highschool-Debattierklubs war. Ich habe nicht viel Vertrauen in ihre Überzeugungskraft. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht mal sicher, ob sie einen Highschool-Abschluss hat.
Am Morgen grüble ich immer noch darüber nach, was zum Henker ich jetzt tun soll, als die Campus-Security an meine Tür klopft. Sie haben die ausdrückliche Order, mich auf der Stelle ins Büro des Direktors zu eskortieren.
Während ich rechts und links von Wachmännern flankiert über den Campus laufe, bin ich mir des Geraunes der anderen Schüler nur allzu bewusst. Es passiert nicht besonders oft, dass jemand von der Schule fliegt. Ich steige die Stufen zum Sekretariat hinauf, die von Fotografien ehemaliger Schüler gesäumt sind, aus denen berühmte Sportler, Astronauten, Senatoren und Business-Gurus geworden sind. Sie werden stolz an der Wall of Fame präsentiert. Vor zwei Jahren hätte ich mir vielleicht noch ausgemalt, dass mein Bild einmal hier hängen würde, aber diese Zeiten sind lange vorbei.
Als sich die Tür von Crowes Büro öffnet, fällt mein Blick auf die Frau, die vor seinem Schreibtisch sitzt. Es ist Brandi, seit acht Monaten die Frau meines Vaters. Sie ist vierzehn Jahre jünger als mein Vater (was bedeutet, dass sie fünfundzwanzig ist, nur acht Jahre älter als ich). Ihre orangefarbenen Stilettos passen farblich zu den übertrieben großen orangefarbenen Ohrringen, die über ihren Schultern baumeln. Ihr Kleid sieht aus, als wäre es ihr zwei Nummern zu groß, was so gar nicht ihre Art ist. Immer, wenn ich sie bisher gesehen habe, trug sie eng anliegende, tief ausgeschnittene Outfits, so als hätte sie vor, durch die Clubs von San Diego zu ziehen. Sie wirkt völlig deplaziert in diesem Büro voller Mahagoni und dunklem Leder.
Als ich hereinkomme, wirft mir Brandi einen kurzen Blick zu, dann widmet sie ihre volle Aufmerksamkeit wieder Crowe. »Also welche Möglichkeiten haben wir?«, fragt sie, während sie mit einem ihrer Ohrringe spielt.
Crowe schlägt die Akte zu, die auf seinem Schreibtisch liegt. »Es tut mir leid, aber ich sehe keine Möglichkeiten. Verabscheuenswürdige, kriminelle Handlungen, die Tiere mit einschließen, werden an der Regents nicht toleriert, Mrs Fitzpatrick. Ihr Sohn …«
»Stiefsohn«, korrigiere ich ihn.
Crowe betrachtet mich angewidert. »Ihr Stiefsohn hat die Grenze überschritten. Es begann damit, wie mir berichtet wurde, dass er sämtliche Nachmittagsaktivitäten abgewählt hat. Dann kam uns zu Ohren, dass er auf Partys geht, auf denen Alkohol und Drogen kursieren. Das alles zusätzlich zu den Täuschungsversuchen bei Klassenarbeiten und der Verunreinigung von Schuleigentum mit Erbrochenem. Jetzt dieser Streich mit lebenden Nutztieren. Wir waren sehr geduldig mit Derek und haben Verständnis für die Herausforderungen, die das Leben zuletzt an ihn gestellt hat, aber das entschuldigt keinesfalls kriminelles Verhalten. Wir hier an der Regents Preparatory Academy haben die Pflicht, unsere jungen Schüler zu produktiven Staatsbürgern und künftigen Führungspersönlichkeiten zu formen, die Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen. Derek möchte offensichtlich nicht länger Teil dieser stolzen Tradition sein.«
Ich verdrehe die Augen.
»Können Sie ihn nicht einfach zu gemeinnütziger Arbeit verdonnern oder ihn so eine Art Entschuldigungsbriefdingsbums schreiben lassen?«, fragt Brandi. Ihr Armband klimpert, als sie mit den grell lackierten Fingernägeln gegen ihre Handtasche trommelt.
»Ich fürchte nein, Mrs Fitzpatrick. Derek hat mir keine andere Wahl gelassen, als ihn der Schule zu verweisen.«
»Mit der Schule zu verweisen meinen Sie, er darf nach den Sommerferien nicht wiederkommen?« Ein Sonnenstrahl bringt ihren Ehering zum Blitzen und erinnert mich daran, dass sie tatsächlich mit meinem Vater verheiratet ist.
»Das ist korrekt. Mir sind die Hände gebunden«, eröffnet Crowe ihr, was eine faustdicke Lüge ist. Er macht die Regeln und ändert sie von jetzt auf gleich, wenn es ihm nutzt. Ich werde ihn deswegen nicht zur Rede stellen. Es würde eh nichts ändern, also weshalb sich die Mühe machen? »Die Entscheidung ist gefallen«, fährt Crowe fort. »Falls Sie sich an den Schulvorstand wenden möchten, von dem ein Großteil das gestrige Debakel während der Abschlussfeier mitverfolgt hat, können Sie natürlich jederzeit die entsprechenden Formulare ausfüllen. Ich warne Sie jedoch, das Einspruchsverfahren ist langwierig und ein positiver Ausgang unwahrscheinlich. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, wir haben eines der Tiere, das Ihr Stiefsohn losgelassen hat, noch immer nicht gefunden, und ich habe alle Hände voll mit der Schadensbegrenzung zu tun.«
Brandi öffnet den Mund, in einem allerletzten Versuch, ihn doch noch zu überzeugen, schließt ihn mit einem Seufzer aber wieder, als Crowe uns mit einer Handbewegung bedeutet, sein Büro zu verlassen.
Brandi folgt mir zurück zum Wohnheim, ihre Stiletto-Absätze klackern auf dem Bürgersteig. Klack, klack, klack, klack. Vorhin im Büro ist es mir nicht aufgefallen, aber sie hat definitiv zugenommen, seit ich sie zuletzt gesehen habe. Ist es ihr egal, dass alle sie und ihr lächerliches Outfit und die auftoupierte blonde Frisur mit den überlangen Extensions anstarren? Wer sie kennt, weiß, dass ihr wahrscheinlich nicht einmal bewusst ist, was für ein Bild sie abgibt.
Mein Dad hat mich damals genötigt, Platz zu nehmen, bevor er mir eröffnete, dass sie heiraten würden. Er sagte, Brandi mache ihn glücklich. Und das ist der einzige Grund, weshalb ich sie noch nicht komplett abgeschrieben habe.
»Vielleicht«, sagt Brandi und ihr fröhlicher Tonfall schallt über den ganzen Hof, »ist es so am besten.«
»Am besten?« Ich lache auf, als ich stehen bleibe und mich zu ihr umdrehe. »Was soll daran gut sein?«
»Ich habe beschlossen, zurück nach Chicago zu ziehen, um bei meiner Familie zu leben«, sagt sie. »Da dein Vater ein halbes Jahr lang weg sein wird, denke ich, dass es das Beste für Julian ist. Er kommt im Herbst in die Vorschule, weißt du.« Brandi schenkt mir ein breites Lächeln.
Ich glaube, sie erwartet von mir, vor Freude über die großen Umzugsneuigkeiten auf und ab zu hüpfen und in die Hände zu klatschen. Oder so breit zu lächeln wie sie. Nichts davon wird in nächster Zeit passieren.
»Brandi, ich werde nicht nach Chicago ziehen.«
»Red keinen Unsinn. Du wirst Chicago lieben, Derek. Dort gibt es Schnee im Winter und im Herbst haben die Blätter die coolsten Farben …«
»Komm schon«, sage ich und unterbreche damit ihre Chicago-ist-ja-so-toll-Ansprache. »Das soll keine Beleidigung sein, aber es ist nicht so, als wären wir eine echte Familie. Ihr zwei könnt gerne nach Chicago ziehen. Ich bleibe in San Diego.«
»Jaaa … also das …« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Ich habe den Mietvertrag gekündigt. Eine andere Familie zieht nächste Woche in unser Haus ein. Ich wollte es dir erzählen, aber ich wusste, deine Prüfungen stehen an, und da du sowieso vorhattest, den Sommer auf dem Campus zu verbringen, hab ich quasi nicht gedacht, dass es dringend wäre.«
Ein Gefühl des Grauens macht sich in meinem Magen breit. »Willst du damit sagen, ich habe quasi keinen Ort, an dem ich wohnen kann?«
Sie lächelt wieder. »Na, klar hast du den. In Chicago, zusammen mit mir und Julian.«
»Brandi, komm schon. Du glaubst doch nicht wirklich, ich will für mein Senior-Jahr nach Chicago ziehen.« Die Leute ziehen von Chicago nach Kalifornien, nicht andersrum.
»Ich verspreche dir, du wirst Chicago lieben«, versichert sie mir übereifrig.
Nein. Werde ich nicht. Dummerweise gibt es niemanden, bei dem ich hier in Kalifornien wohnen könnte. Die Eltern meines Vaters sind tot, und ich habe gehört, der Vater meiner Mom ist vor einer Weile gestorben. Die Mutter meiner Mom … nun, lasst uns einfach sagen, sie lebt in Texas, und es dabei belassen. Eher friert die Hölle zu, als dass ich bei ihr einziehe. »Ich habe keine Wahl, oder?«
»Nicht wirklich.« Brandi zuckt mit den Schultern. »Dein Vater hat dich in meiner Obhut gelassen. Wenn du nicht auf der Akademie bleiben kannst, wirst du mit mir zusammenleben müssen … in Chicago.«
Wenn sie noch einmal das Wort Chicago erwähnt, wird wahrscheinlich mein Kopf explodieren. Das darf einfach nicht wahr sein. Ich hoffe, ich durchleide gerade irgendeine Art realistischen Albtraum, aus dem ich jede Sekunde aufwachen werde.
»Es gibt da noch eine Sache, die ich dir nicht erzählt habe«, sagt Brandi in einem Ton, als spräche sie mit einem Kleinkind.
Ich reibe meinen Nacken, an dem sich gerade ein Knoten bildet. »Was?«
Sie legt die Hand auf ihren Bauch und sagt mit hoher, freudig erregter Stimme: »Ich bin schwanger.«
Un-fucking-believable.
Sie kann nicht schwanger sein.
Ich meine, es ist biologisch möglich, aber … der Knoten in meinem Nacken pocht jetzt ernsthaft und droht meine Haut zu sprengen. Das hier ist definitiv ein Albtraum.
Ich wünsche mir sehnsüchtig, sie sagen zu hören, das Ganze sei bloß ein Scherz, aber so viel Glück ist mir nicht vergönnt. Es war schlimm genug, dass mein Vater diese Tussi geheiratet hat. Ich warte täglich darauf, dass bei ihm der Groschen fällt und er kapiert, was für ein Fehler es war, sie zu heiraten. Aber jetzt … ein Baby besiegelt die Sache für immer.
Mir wird schlecht.
»Ich wollte es für mich behalten, bis du am vierten Juli nach Hause kommst«, erklärt sie aufgeregt. »Überraschung! Dein Vater und ich erwarten ein Baby, Derek. Ich denke, dein Schulverweis ist ein Zeichen, dass wir alle zusammen in Chicago leben sollen. Als Familie.«
Da liegt sie falsch. Mein Schulverweis ist ein Zeichen, so viel ist richtig, aber nicht, dass wir alle zusammen in Chicago leben sollen. Es ist ein Zeichen, dass mein Leben kurz davor steht zu implodieren.