Titel
Widmung
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
Danksagung
Impressum
Richelle Mead
Schicksalsbande
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Michaela Link
Dieses Buch widme ich Richard Bailey und Alan Doty,
denjenigen meiner Lehrer, die den größten Einfluss
auf mein Schreiben hatten, und ebenso all meinen Lehrerfreunden
dort draußen, die es sich jetzt zur Aufgabe gemacht haben,
jungen Schriftstellern zu helfen. Kämpft weiter für die gute Sache -
ihr alle.
1
Ich mag keine Käfige.
Ich gehe nicht mal gern in Zoos. Bei meinem ersten Zoobesuch erlitt ich, während mein Blick auf diese armen Tiere fiel, beinahe einen klaustrophobischen Anfall. Es war mir unvorstellbar, dass ein Geschöpf so leben sollte. Manchmal hatte ich ja sogar ein kleines bisschen Mitleid mit Verbrechern, die zu einem Leben in einer Zelle verurteilt waren. Gewiss aber hatte ich niemals damit gerechnet, mein eigenes Leben in einer zu verbringen.
Doch in letzter Zeit brachte mich das Leben mit so einigem, das ich zuvor nie erwartet hatte, aus der Fassung – denn nun war ich selber hier. Eingesperrt.
„He!“, brüllte ich und umklammerte die stählernen Gitterstäbe, die mich von der Welt trennten. „Wie lange soll ich denn noch hierbleiben? Wann ist endlich meine Verhandlung? Ihr könnt mich doch nicht ewig in diesem Kerker festhalten!“
Okay, es war nicht direkt ein Kerker, jedenfalls nicht im Sinne von Düsternis und rostigen Ketten. Ich befand mich in einer kleinen Zelle mit kahlen Wänden, einem kahlen Boden und … na ja, es war schon alles ziemlich kahl. Fleckenlos. Steril. Kalt. Eigentlich sogar noch deprimierender, als es irgendein modriger Kerker hätte sein können. Die Gitterstäbe in der Tür fühlten sich auf meiner Haut kühl an, dazu hart und unnachgiebig. Das Metall glänzte im Licht der Leuchtstoffröhren so grell, dass es mir in den Augen wehtat. Ich sah die Schulter eines Mannes, der stocksteif neben dem Eingang der Zelle stand, und wusste, dass im Flur, also außerhalb meines Blickfelds, aller Wahrscheinlichkeit nach vier weitere Wächter postiert waren. Außerdem wusste ich, dass mir keiner von ihnen eine Antwort geben würde, was mich während der letzten zwei Tage jedoch nicht daran gehindert hatte, auch weiter ständig Antworten von ihnen zu verlangen.
Als die gewohnte Stille eintrat, seufzte ich und ließ mich wieder auf die Pritsche in der Ecke der Zelle fallen. Wie alles andere in meinem neuen Zuhause auch war diese Pritsche farblos und kahl. Ja, ja. Allmählich wünschte ich mir tatsächlich einen echten Kerker. Dann hätte ich zumindest Ratten und Spinnweben zur Beobachtung gehabt. Ich starrte zur Decke, und sogleich überfiel mich – wie schon so oft – dieses Gefühl der Orientierungslosigkeit: dass sich die Decke und die Wände eng um mich herum schlossen. Als bekäme ich keine Luft mehr. Als drängten die Seiten der Zelle immer dichter heran, und zwar so lange, bis kein Platz mehr war. Als würde damit alle Luft hinausgedrückt werden …
Da richtete ich mich japsend auf. Nicht die Wände und die Decke anstarren, Rose, ermahnte ich mich selbst. Stattdessen blickte ich auf meine gefalteten Hände hinab und versuchte mir zusammenzureimen, wie ich eigentlich in diesen Schlamassel geraten war.
Die erste Antwort lautete: Offensichtlich hatte mir jemand ein Verbrechen in die Schuhe geschoben, das ich gar nicht begangen hatte. Und es war auch kein kleines Vergehen. Sondern Mord. Sie waren tatsächlich so dreist gewesen, mich des schlimmsten Verbrechens zu beschuldigen, das ein Moroi oder Dhampir überhaupt begehen konnte. Nun ist es aber nicht so, dass ich nicht schon früher getötet hätte. Das habe ich durchaus getan. Ich habe auch meinen Anteil an Regelverstößen (und sogar Gesetzesbrüchen) begangen. Kaltblütiger Mord gehörte jedoch nicht zu diesem Repertoire. Und schon gar nicht die Ermordung einer Königin.
Andererseits: Königin Tatiana und ich waren nie Freundinnen gewesen. Sie war die kühl kalkulierende Herrscherin der Moroi – einer Rasse lebender Vampire, die Magie nutzten und niemanden um seines Blutes willen töteten. Tatiana und ich hatten aus einer ganzen Reihe von Gründen ein schwieriges Verhältnis zueinander gehabt. Ein Grund dafür war der, dass ich mit ihrem Großneffen Adrian ausging. Ein anderer: meine Missbilligung ihrer Strategie bei der Abwehr der Strigoi – jener bösen, untoten Vampire, die uns alle so zusetzten. Tatiana hatte mich etliche Male hintergangen, aber ihren Tod hatte ich darum doch niemals gewollt. Jemand anders offenbar schon, und die Betreffenden hatten eine Spur von Beweisen gelegt, die direkt zu mir führte. Das Schlimmste daran waren meine Fingerabdrücke überall auf dem silbernen Pflock, der Tatiana getötet hatte. Natürlich war es mein Pflock gewesen, also sollten ja auch ganz selbstverständlich meine Fingerabdrücke darauf zu finden sein. Was allerdings niemand für relevant zu halten schien.
Ich seufzte abermals und zog einen zerknitterten Fetzen Papier aus der Tasche. Meine einzige Lektüre. Ich hielt ihn fest in der Hand, denn ich brauchte eigentlich keinen Blick mehr auf die Worte zu werfen. Ich hatte sie schon lange auswendig gelernt. Der Inhalt des Briefes ließ mich an dem zweifeln, was ich über Tatiana gewusst hatte. Er ließ mich überhaupt an vielen Dingen zweifeln.
Allmählich an meiner eigenen Umgebung irre werdend, glitt ich aus der Zelle hinüber in die Umgebung einer anderen Frau: die meiner besten Freundin Lissa. Lissa war eine Moroi, und wir teilten ein übersinnliches Band, das mir erlaubte, in ihren Geist einzutreten und die Welt mit ihren Augen zu sehen. Alle Moroi verfügten über irgendeine Art von Elementarmagie. Lissas Magie war Geist, ein Element, das an übersinnliche und heilende Kräfte gebunden war. Unter den Moroi, die normalerweise handfestere Elemente verwendeten, geschah dies selten, und wir verstanden kaum, wozu Geist imstande war: Er zeigte schier unglaubliche Fähigkeiten. Mit Geist hatte sie mich vor einigen Jahren von den Toten zurückgeholt, und das hatte dann unser Band geschmiedet.
Der Eintritt in ihr Bewusstsein befreite mich aus meinem Käfig, war bei meinem Problem jedoch keine große Hilfe. Seit der Anhörung, bei der alle Beweise gegen mich vorgelegt worden waren, hatte Lissa alles darangesetzt, meine Unschuld zu beweisen. Mein Pflock, der für den Mord benutzt worden war, hatte nur den Anfang gemacht. Meine Gegner waren schnell dazu übergegangen, alle Beteiligten an meine Aversion gegen die Königin zu erinnern. Und sie hatten auch einen Zeugen aufgetrieben, der aussagte, wo ich während des Mordes gewesen war. So hatte ich kein Alibi mehr. Der Rat war zu dem Schluss gekommen, dass genug Beweise vorlagen, um mir richtiggehend den Prozess zu machen – der selbstverständlich mit meiner Verurteilung enden sollte.
Lissa hatte noch verzweifelt versucht, die Leute davon zu überzeugen, dass ich hereingelegt worden war. Trotz all ihrer Bemühungen fand sie jedoch niemanden, der ihr zuhören wollte, denn der gesamte Königshof war mit den Vorbereitungen für Tatianas aufwendiges Begräbnis vollauf beschäftigt. Der Tod eines Monarchen bedeutete eine große Sache. Moroi und Dhampire – Halbvampire wie ich –, die aus allen Ecken und Enden der Welt kamen, wollten sich das Spektakel nicht entgehen lassen. Speisen, Blumen, Dekorationen, sogar Musiker … also das volle Programm. Wenn Tatiana geheiratet hätte, wäre das Ereignis wohl kaum so aufwendig ausgefallen. Bei all dem hektischen Treiben interessierte sich im Augenblick niemand für mich. Für die meisten Leute saß ich sicher hinter Schloss und Riegel und konnte kaum noch einmal töten. Tatianas Mörderin war gefunden, der Gerechtigkeit also Genüge getan worden. Der Fall schien abgeschlossen.
Bevor ich ein klares Bild von Lissas Umgebung bekommen konnte, riss mich ein Aufruhr im Gefängnis in meinen eigenen Kopf zurück. Jemand musste den Zellenbereich betreten haben und sprach nun mit den Wachen; er bat darum, mich besuchen zu dürfen. Es war mein erster Besucher seit Tagen. Mein Herz hämmerte, und ich sprang zu den Gitterstäben hin, in der Hoffnung, es wäre jemand, der mir sagen werde, dass alles nur ein schreckliches Versehen gewesen sei.
Mein Besucher war allerdings nicht ganz derjenige, den ich erwartet hatte.
„Der alte Herr“, sagte ich müde. „Was machst du denn hier?“
Vor mir stand Abe Mazur. Wie immer bot er einen unvergesslichen Anblick. Es war Hochsommer – heiß und feucht, mitten im ländlichen Pennsylvania. Was ihn jedoch keineswegs daran hinderte, sich voll in Schale zu werfen. Ein perfekt geschnittener, auffälliger Anzug mit einer leuchtend purpurfarbenen Seidenkrawatte und einem dazu passenden Tuch, das mir ein bisschen des Guten zu viel erschien. Goldschmuck blitzte auf seiner kräftig getönten Haut, und offenbar hatte er sich gerade erst seinen kurzen schwarzen Bart gestutzt. Abe war ein Moroi, und obwohl er kein Royal war, also kein Angehöriger der Familien, die königswürdig waren, besaß er doch so viel Einfluss, dass er einer hätte sein können.
Zufällig war er auch mein Vater.
„Ich bin dein Anwalt“, sagte er gutgelaunt. „Ich bin natürlich hergekommen, um dir juristischen Rat zu erteilen.“
„Du bist kein Anwalt“, rief ich ihm ins Gedächtnis zurück. „Und dein letzter Rat hat auch schon nicht besonders viel genutzt.“ Das war gemein von mir. Abe hatte mich – obwohl er nicht die geringste juristische Ausbildung besaß – bei meiner Anhörung verteidigt. Natürlich war bei der Sache nicht viel herausgekommen. Immerhin hatte man mich eingesperrt, und ich wartete auf eine Verhandlung. Aber in meiner ganzen Einsamkeit hatte ich irgendwann begriffen, dass er in einem Punkt doch recht gehabt hatte. Kein Anwalt, wie gut er auch sein mochte, hätte mich bei der Anhörung retten können. Ich musste ihm zugutehalten, dass er für eine verlorene Sache kämpfte, obwohl ich angesichts unserer oberflächlichen Beziehung immer noch nicht so genau wusste, warum er sich eigentlich dafür entschieden hatte. Die Theorien, die mir am wahrscheinlichsten erschienen, lauteten, dass er den Royals nicht traute und eine gewisse väterliche Verpflichtung verspürte. Und zwar in dieser Reihenfolge.
„Mein Auftritt war doch großartig“, wandte er ein. „Während uns deine beeindruckende Ansprache – in der du sagtest: Wenn ich die Mörderin wäre – nicht gerade weitergeholfen hat. Es war nicht unbedingt das Klügste, dem Richter dieses Bild in den Kopf zu setzen.“
Ich überhörte die spitze Bemerkung und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also, was tust du hier? Ich weiß, es ist nicht nur ein väterlicher Besuch. Du tust niemals etwas ohne Grund.“
„Natürlich nicht. Warum sollte man auch etwas ohne Grund tun?“
„Verschone mich jetzt bloß mit deinen Zirkelschlüssen!“
Er zwinkerte mir zu. „Musst nicht gleich eifersüchtig sein. Wenn du hart arbeitest und es dir fest vornimmst, dann könntest du meine brillanten logischen Fähigkeiten vielleicht eines Tages erben.“
„Abe“, warnte ich ihn. „Komm zur Sache!“
„Schön, schön“, sagte er. „Ich bin hier, um dir zu sagen, dass deine Verhandlung vielleicht vorverlegt wird.“
„W-was? Das sind ja großartige Neuigkeiten!“ Zumindest dachte ich das. Sein Gesichtsausdruck sagte allerdings etwas anderes. Nach meinen letzten Informationen konnten noch Monate bis zu meiner Verhandlung vergehen. Der bloße Gedanke daran – so lange in dieser Zelle zu sitzen – bescherte mir erneut ein Gefühl der Klaustrophobie.
„Rose, dir ist doch klar, dass deine Verhandlung fast genauso verlaufen wird wie deine Anhörung. Dieselben Beweise und am Ende ein Schuldspruch.“
„Ja, aber es muss doch irgendetwas geben, das wir vorher tun können, oder nicht? Beweise finden, die mich reinwaschen?“ Plötzlich ging mir ein Licht auf, worin das Problem bestand. „Wenn du vorverlegt sagst, was genau bedeutet das?“
„Im Idealfall würden sie die Verhandlung ansetzen, nachdem ein neuer König oder eine neue Königin gekrönt wurde. Du weißt schon, als Teil der Feierlichkeiten nach der Krönung.“
Sein Tonfall war schnodderig, aber als ich ihm in die dunklen Augen sah, begriff ich die volle Bedeutung seiner Worte. Zahlen ratterten in meinem Kopf herunter. „Die Beerdigung ist diese Woche, und die Wahlen finden gleich danach statt … also willst du damit sagen, dass ich in, na ja, sozusagen in zwei Wochen vor Gericht gestellt und verurteilt werden könnte?“
Abe nickte.
Ich flog wieder zu den Gitterstäben hinüber, das Herz hämmerte mir in der Brust. „Zwei Wochen? Ist das dein Ernst?“
Als er gesagt hatte, die Verhandlung sei vorverlegt worden, war ich davon ausgegangen, dass er vielleicht von einem Monat sprach. Genug Zeit also, um neue Beweise zu finden. Wie? Das wusste ich auch nicht. Jetzt lief mir die Zeit davon. Zwei Wochen reichten auf keinen Fall aus, erst recht nicht angesichts des hektischen Treibens bei Hof. Noch vor wenigen Sekunden hatte mir die lange Zeitspanne, die mir vielleicht bevorstand, zutiefst missfallen. Jetzt aber empfand ich das ohne Zweifel als zu wenig Zeit, und die Antwort auf meine nächste Frage konnte sogar alles noch einmal verschlimmern.
„Wie lange?“, fragte ich und versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu beherrschen. „Wie lange vergeht dann nach der Verkündung des Urteils bis zur … Vollstreckung?“
Ich wusste noch immer nicht genau, was ich alles von Abe geerbt hatte, aber eine Eigenschaft teilten wir offenbar ohne jeden Zweifel: die Fähigkeit, schlechte Nachrichten zu überbringen, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Wahrscheinlich sofort.“
„Sofort.“ Ich ging rückwärts, setzte mich halb aufs Bett und spürte dann eine neue Welle von Adrenalin. „Sofort? Also, zwei Wochen. In zwei Wochen könnte ich … tot sein.“
Denn das war es – das, was über meinem Kopf geschwebt hatte, sobald klar wurde, dass jemand genug Beweise hinterlassen hatte, die mich verdächtig machten. Leute, die Königinnen töteten, wurden nicht ins Gefängnis geschickt. Sie wurden hingerichtet. Nur auf wenige Verbrechen, die unter Moroi und Dhampiren auftraten, stand diese Bestrafung. Wir versuchten, in unserer Rechtsprechung zivilisiert zu sein und zu zeigen, dass wir besser waren als die blutrünstigen Strigoi. Aber gewisse Verbrechen verdienten in den Augen des Gesetzes eben doch den Tod. Gewisse Leute verdienten ihn ebenfalls – sagen wir zum Beispiel hochverräterische Mörder. Als mich die volle Wucht dessen traf, was mir in unmittelbarer Zukunft bevorstand, begann ich zu zittern, und Tränen waren gefährlich nahe daran, mir aus den Augen zu fließen.
„Das ist nicht richtig!“, sagte ich zu Abe. „Das ist einfach nicht richtig, und du weißt es!“
„Es spielt keine Rolle, was ich denke“, erwiderte er gelassen. „Ich überbringe lediglich die Tatsachen.“
„Zwei Wochen“, wiederholte ich. „Was können wir in zwei Wochen tun? Ich meine … du hast doch irgendeinen Hinweis, nicht wahr? Oder … oder … kannst du bis dahin etwas finden? Das ist ja deine Spezialität.“ Ich schwafelte und wusste, dass ich verzweifelt und hysterisch klang. Was natürlich daran lag, dass ich auch verzweifelt und hysterisch war.
„Ich werde schwerlich viel erreichen können“, erklärte er. „Der Hof ist mit dem Begräbnis und den Wahlen beschäftigt. Es herrscht völliges Durcheinander – was gleichzeitig gut und schlecht ist.“
Ich wusste von den Vorbereitungen, weil ich Lissa beobachtet hatte. Ich hatte das Chaos gesehen, das sich bereits zusammenbraute. In diesem Schlamassel irgendwelche Beweise zu finden, wäre nicht nur schwierig. Es konnte durchaus unmöglich sein.
Zwei Wochen. Zwei Wochen, und dann könnte ich tot sein.
„Ich kann aber nicht“, sagte ich mit brechender Stimme zu Abe. „Ich bin nicht … dazu bestimmt, so zu sterben.“
„Oh?“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Du weißt, wie du sterben solltest?“
„Im Kampf.“ Einer einzigen Träne gelang es zu entkommen, und die wischte ich hastig weg. Ich hatte mein Leben lang das Image verbreitet, hart im Nehmen zu sein. Dieses Image sollte nicht in die Brüche gehen, nicht jetzt, da es am wichtigsten war. „Im Kampf. Bei der Verteidigung jener, die ich liebe. Nicht … nicht durch irgendeine geplante Hinrichtung.“
„Das ist eine Art Kampf“, überlegte er laut. „Nicht nur ein körperlicher. Zwei Wochen sind aber immer noch zwei Wochen. Ist es schlimm? Ja. Aber es ist besser als eine Woche. Und nichts ist unmöglich. Vielleicht tauchen neue Beweise auf. Du musst einfach abwarten.“
„Ich hasse es zu warten. Dieser Raum … er ist so klein. Ich kriege keine Luft. Er wird mich umbringen, bevor irgendein Henker es tut.“
„Das möchte ich stark bezweifeln.“ Abes Ausdruck war immer noch kühl und ohne ein Anzeichen von Mitgefühl. Liebevolle Strenge. „Du hast furchtlos gegen ganze Banden von Strigoi gekämpft und wirst mit einem kleinen Raum nicht fertig?“
„Es ist doch mehr als das! Jetzt muss ich hier in diesem Loch Tag um Tag warten, immer in dem Wissen, dass die Uhr tickt und mein Tod näher rückt und dass es sich fast unmöglich verhindern lässt.“
„Manchmal sind die größten Prüfungen unserer Stärke diejenigen Situationen, die gar nicht so augenfällig gefährlich erscheinen. Manchmal ist das Überleben das Schwerste von allem.“
„Oh. Nein. Nein!“ Ich stolzierte davon und drehte kleine Kreise in meiner Zelle. „Fang bloß nicht mit diesem ganzen erhabenen Quatsch an. Du hörst dich ja wie Dimitri an, wenn er mir früher seine tiefschürfenden Lektionen über das Leben erteilte.“
„Er hat genau diese Situation überlebt. Er überlebt auch andere Dinge.“
Dimitri.
Ich holte tief Luft und beruhigte mich, bevor ich antwortete. Bis zu diesem Mordschlamassel war Dimitri die größte Komplikation in meinem Leben gewesen. Vor einem Jahr erst – obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorkam – war er an der St. Vladimir’s Academy noch mein Lehrer gewesen und hatte mich zu einer der Dhampir-Wächterinnen ausgebildet, die die Moroi beschützten. Das war ihm auch gelungen – und noch viel mehr. Wir hatten uns ineinander verliebt, was natürlich verboten war. Wir hatten die Sache so gut gehandhabt, wie wir konnten, und am Ende sogar eine Möglichkeit gefunden, zusammen zu sein. Diese Hoffnung hatte sich jedoch in Luft aufgelöst, als er gebissen und zu einem Strigoi geworden war. Für mich war dies alles ein fleischgewordener Albtraum gewesen. Dann hatte ihn Lissa – ein Wunder, das niemand für möglich gehalten hätte – mithilfe von Geist wieder in einen Dhampir verwandelt. Aber danach war es leider nicht wieder so geworden, wie es vor dem Strigoi-Angriff gewesen war.
Ich funkelte Abe an. „Dimitri hat es überlebt, hat deswegen jedoch schreckliche Depressionen bekommen! Bekommt sie immer noch. Wegen alldem.“
Die Auswirkungen der Gräueltaten, die er als Strigoi begangen hatte, lasteten schwer auf Dimitri. Er konnte sich nicht verzeihen und schwor, er werde jetzt niemals wieder jemanden lieben. Dass ich inzwischen mit Adrian ging, machte es auch nicht gerade besser. Nach einer Anzahl nutzloser Bemühungen meinerseits hatte ich akzeptiert, dass es zwischen Dimitri und mir aus war. Ich hatte mich Adrian zugewandt und gehofft, dass ich jetzt eine echte Beziehung mit ihm aufbauen könnte.
„Stimmt“, sagte Abe trocken. „Er ist deprimiert, aber du bist der Inbegriff von Glück und Freude.“
Ich seufzte. „Manchmal ist ein Gespräch mit dir wie ein Selbstgespräch: verdammt ärgerlich. Bist du vielleicht auch noch aus einem anderen Grund hier? Abgesehen davon, dass du mir diese schrecklichen Neuigkeiten überbringen wolltest? Ich wäre glücklicher gewesen, hätte ich in Unwissenheit leben können.“
Ich sollte nicht so sterben. Ich sollte es nicht kommen sehen. Mein Tod ist nicht irgendein Eintrag in einem Kalender, ein Termin.
Er zuckte die Achseln. „Ich wollte dich einfach sehen. Und feststellen, was du vorhast.“
Ja, es war wirklich so, begriff ich. Abes Blick war während unseres Gesprächs immer wieder zu mir zurückgekehrt; es stand außer Frage, dass ich seine Aufmerksamkeit fesselte. An unserem Geplänkel war nichts, das meine Wachen hätte beunruhigen können. Doch ab und zu sah ich Abes Blick umherflackern; er schaute sich den Flur, meine Zelle und was er sonst an Einzelheiten interessant fand, genau an. Er hatte sich seinen Ruf als Zmey – die Schlange – nicht umsonst verdient. Er war immer berechnend, immer auf der Suche nach seinem Vorteil. Offenbar lag mein Hang zu verrückten Plänen also in der Familie.
„Außerdem wollte ich dir dabei helfen, die Zeit totzuschlagen.“ Er lächelte und reichte mir einige Zeitschriften, die er unter dem Arm gehalten hatte, zusammen mit einem Buch durch die Gitterstäbe. „Vielleicht wird das hier deine Lage etwas erleichtern.“
Ich bezweifelte, dass mir irgendeine Art von Unterhaltung meinen zweiwöchigen Todescountdown erträglicher machen könnte. Bei den Zeitschriften ging es um Mode und Frisuren. Bei dem Buch handelte es sich um Der Graf von Monte Christo. Ich hielt es hoch, weil ich einen Scherz machen … oder irgendetwas tun musste, damit das hier nicht so schrecklich wirklich erschien.
„Ich hab den Film gesehen. Dein subtiler Symbolismus ist nicht wirklich so subtil. Es sei denn, du hast eine Feile darin versteckt.“
„Das Buch ist immer besser als der Film.“ Er machte Anstalten, sich umzudrehen. „Vielleicht führen wir beim nächsten Mal eine literarische Debatte.“
„Warte!“ Ich warf den Lesestoff aufs Bett. „Bevor du gehst … in diesem ganzen Schlamassel hat doch noch nie jemand die Frage aufgeworfen, wer sie tatsächlich getötet haben könnte.“ Als Abe nicht sofort antwortete, warf ich ihm einen scharfen Blick zu. „Du glaubst doch nicht, dass ich es war, oder?“ Wie ich ihn kannte, hielt er mich durchaus für schuldig und versuchte nur, mir trotzdem zu helfen. Untypisch wäre es jedenfalls nicht für ihn gewesen.
„Ich glaube schon, dass meine süße Tochter eines Mordes fähig ist“, erwiderte er schließlich. „Aber nicht dieses Mordes.“
„Wer hat es dann getan?“
„Das herauszubekommen“, antwortete er, bevor er ging, „daran arbeite ich.“
„Aber du hast gerade gesagt, dass uns die Zeit davonläuft! Abe!“ Ich wollte nicht, dass er jetzt ging. Ich wollte mit meiner Angst nicht allein sein. „Das schaffen wir nicht mehr! Unmöglich!“
„Denk einfach an das, was ich im Gerichtssaal gesagt habe!“, rief er über die Schulter.
Er verschwand aus meinem Gesichtsfeld, und ich setzte mich wieder aufs Bett und dachte an diesen Tag bei Gericht zurück. Am Ende der Anhörung hatte er mir – ziemlich nachdrücklich – erklärt, dass ich nicht hingerichtet werden würde. Oder auch nur vor Gericht gestellt werden würde. Dabei war Abe Mazur eigentlich nicht der Typ, der müßige Versprechen machte, aber ich kam allmählich zu der Überzeugung, dass selbst ihm Grenzen gesetzt waren, vor allem, da unser Fahrplan soeben neu aufgestellt worden war.
Erneut holte ich den zerknüllten Papierfetzen hervor und öffnete ihn. Auch er stammte aus dem Gerichtssaal, heimlich überreicht von Ambrose – Tatianas Diener und Lustknabe.
Rose,
wenn Sie dies lesen, dann ist etwas Schreckliches geschehen. Sie hassen mich wahrscheinlich, und ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus. Ich kann Sie nur bitten, darauf zu vertrauen, dass das, was ich mit dem Alterserlass getan habe, für Ihre Leute weitaus besser war als das, was andere geplant hatten. Es gibt einige Moroi, die alle Dhampire zum Dienst zwingen wollen, ob sie dazu bereit sind oder nicht, und zwar indem sie Zwang einsetzen. Der Alterserlass hat diese Gruppe vorläufig gebremst.
Ich schreibe Ihnen jedoch, um Ihnen ein Geheimnis mitzuteilen, das Sie in Ordnung bringen müssen, und zwar ist es ein Geheimnis, das Sie mit so wenigen Personen wie möglich teilen dürfen. Vasilisa braucht ihren Platz im Rat, und es lässt sich auch machen. Sie ist nicht die letzte Dragomir. Es gibt noch ein weiteres Familienmitglied der Dragomirs, das außereheliche Kind von Eric Dragomir. Ich weiß sonst nichts, aber wenn Sie diesen Sohn oder diese Tochter finden können, dann werden Sie Vasilisa die Macht verschaffen, die sie verdient. Ungeachtet Ihrer Fehler und Ihres gefährlichen Temperaments sind Sie die Einzige, von der ich das Gefühl habe, dass sie dieser Aufgabe gewachsen wäre. Verschwenden Sie bei der Erfüllung dieser Aufgabe keine Zeit.
Tatiana Ivashkov
Die Worte hatten sich seit den letzten hundert Malen, da ich sie gelesen hatte, nicht verändert, ebenso wenig wie die Fragen, die sie immer wieder aufwarfen. War der Brief echt? Hatte Tatiana ihn wirklich geschrieben? Hatte sie mir – trotz ihrer nach außen gezeigten Feindseligkeit – dieses gefährliche Wissen anvertraut? Insgesamt zwölf königliche Familien sollten Entscheidungen für die Moroi treffen, aber in der Praxis hätten es geradeso gut nur elf sein können. Lissa war die Letzte ihrer Linie, und das Gesetz der Moroi besagte, dass sie ohne ein weiteres Mitglied der Familie Dragomir keine Macht hatte und somit nicht im Rat, der unsere Entscheidungen traf, sitzen und abstimmen durfte. Es waren schon ziemlich schlimme Gesetze verabschiedet worden, und wenn der Brief tatsächlich echt war, würden auch noch weitere folgen. Lissa konnte gegen diese Gesetze zwar kämpfen, doch einigen würde das keineswegs gefallen, und zwar solchen, die ihre Bereitschaft zu töten bereits gezeigt hatten.
Ein weiterer Dragomir.
Ein weiterer Dragomir bedeutete, dass Lissa abstimmen konnte. Eine weitere Stimme im Rat konnte so vieles verändern. Sie konnte die Welt der Moroi verändern. Sie konnte auch meine Welt verändern – sagen wir: zum Beispiel die Frage entscheiden, ob ich für schuldig befunden wurde oder nicht. Und gewiss konnte es Lissas Welt verändern. Die ganze Zeit über hatte sie geglaubt, allein zu sein. Und doch … beklommen fragte ich mich, ob sie einen Halbbruder oder eine Halbschwester überhaupt willkommen hieße. Ich akzeptierte, dass mein Vater ein Schurke war, aber Lissa hatte ihren Vater immer auf den Sockel gehoben und nur das Beste von ihm geglaubt. Diese Neuigkeit wäre bestimmt ein Schock für sie, und obwohl ich mein ganzes Leben dafür trainiert hatte, sie vor körperlichen Bedrohungen zu beschützen, kam mir allmählich in den Sinn, dass es vielleicht auch noch anderes gab, vor dem sie beschützt werden musste.
Aber zunächst musste ich die Wahrheit kennen. Ich musste wissen, ob dieser Brief wirklich von Tatiana gekommen war. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich es herausfinden konnte, aber dazu musste ich etwas tun, das mir verhasst war.
Na ja, warum nicht? Es war ja nicht gerade so, als hätte ich im Augenblick etwas anderes zu tun.
Also stand ich vom Bett auf, wandte den Gitterstäben den Rücken zu, starrte auf die leere Wand und nutzte sie als Fokus. Dann wappnete ich mich, rief mir ins Gedächtnis, dass ich stark genug war, nicht die Kontrolle zu verlieren, und ließ die mentalen Barrieren sinken, mit denen ich mich immer wieder unbewusst umgab. Ein großer Druck fiel von mir ab, wie Luft, die aus einem Ballon entwich.
Und plötzlich war ich von Geistern umringt.
2
Wie immer verlor ich die Orientierung. Gesichter und Schädel, durchscheinend und leuchtend, umschwebten mich. Sie wurden zu mir hingezogen und drängelten sich in einer Wolke an mich heran, als müssten sie mir alle unbedingt etwas sagen. Und wahrscheinlich war es auch so – wirklich. Die Geister, die in dieser Welt verblieben, waren rastlos, Seelen, die aus ganz bestimmten Gründen nicht weiterzogen. Als mich Lissa von den Toten zurückgeholt hatte, hatte ich eine Verbindung zur Welt der Geister bewahrt. Es hatte mich viel Arbeit und Selbstbeherrschung gekostet zu lernen, wie ich die Phantome ausblenden konnte, die mir folgten. Die magischen Zeichen, die den Hof der Moroi beschützten, hielten tatsächlich die meisten Geister von mir fern, aber diesmal wollte ich sie hier haben. Ihnen diesen Zugang aber zu gewähren, sie einzulassen … na ja, es war gefährlich.
Irgendetwas sagte mir, dass es, wenn es jemals einen rastlosen Geist gegeben hatte, dann eine Königin wäre, die in ihrem eigenen Bett ermordet worden war. In dieser Schar sah ich zwar keine vertrauten Gesichter, doch ich gab die Hoffnung nicht auf.
„Tatiana“, murmelte ich und konzentrierte mich auf das Gesicht der toten Königin. „Tatiana, kommen Sie zu mir.“
Früher war ich schon einmal in der Lage gewesen, einen bestimmten Geist mühelos heraufzubeschwören: meinen Freund Mason nämlich, den die Strigoi getötet hatten. Obwohl Tatiana und ich einander nicht so nah waren wie Mason und ich, hatte aber trotzdem eine gewisse Verbindung zwischen uns bestanden. Für eine Weile geschah nichts. Derselbe Nebel von Gesichtern kreiste immerzu vor mir in der Zelle, und allmählich geriet ich in Verzweiflung. Dann aber war sie plötzlich da.
Sie stand in der Kleidung vor mir, in der sie auch ermordet worden war: einem langen Nachthemd sowie einem blutbefleckten Morgenmantel. Ihre Farben waren blass und flackerten wie auf einem defekten Fernsehbildschirm. Dennoch verliehen ihr die Krone auf dem Kopf und die vornehme Haltung die gleiche königliche Ausstrahlung, an die ich mich erinnerte. Sobald sie erschienen war, sagte und tat sie erst einmal gar nichts. Sie sah mich einfach nur an, und der Blick ihrer dunklen Augen durchbohrte praktisch meine Seele. Mich überkamen die widerstreitendsten Gefühle, dabei wurde mir die Brust eng. Die übliche, rein gefühlsmäßige Reaktion auf Tatianas Nähe – Ärger und Groll – flammte auf, wurde jedoch bald schon von einer überraschenden Woge des Mitleids überschwemmt. Kein Leben sollte ein solches Ende finden wie das ihre.
Ich zögerte, weil ich Angst bekam, die Wachen würden mich hören. Irgendwie hatte ich jedoch den Eindruck, dass die Lautstärke meiner Stimme keine Rolle spielte und niemand von ihnen sehen konnte, was ich sah. Ich hielt den Brief hoch.
„Haben Sie das geschrieben?“, hauchte ich. „Ist es wahr?“
Sie sah mich weiter an. Masons Geist hatte sich damals ganz ähnlich verhalten. Es war eine Sache, Tote heraufzubeschwören, sich mit ihnen zu verständigen aber eine ganz andere.
„Ich muss es wissen. Wenn es noch einen Dragomir gibt, werde ich ihn finden.“ Es hatte keinen Sinn, sie auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass ich gar nicht in der Lage war, etwas oder jemanden zu finden. „Aber Sie müssen es mir sagen. Haben Sie diesen Brief geschrieben? Ist es wahr?“
Nur dieser aufreizende Blick antwortete mir. Meine Verzweiflung wuchs, und der Druck, den all diese Geister ausübten, bescherte mir allmählich Kopfschmerzen. Offenbar konnte Tatiana einem im Tod genauso auf die Nerven gehen, wie sie es im Leben getan hatte.
Ich wollte gerade meine Mauern wieder hochziehen und die Geister wegdrängen, als Tatiana dann doch eine winzige Bewegung machte. Ein schwaches Nicken, kaum wahrnehmbar. Dann richtete sie den Blick auf den Brief in meiner Hand und war verschwunden – einfach so.
Ich riss meine Barrieren also wieder hoch und schirmte mich unter Aufbietung all meiner Willenskraft gegen die Toten ab. Die Kopfschmerzen ließen zwar nicht nach, aber diese Gesichter verschwanden. Ich setzte mich aufs Bett und starrte blicklos den Brief an. Ich hatte also meine Antwort. Der Brief war echt. Tatiana hatte ihn geschrieben. Irgendwie bezweifelte ich nämlich, dass ihr Geist einen Grund hatte zu lügen.
Ich streckte mich aus, legte den Kopf auf das Kissen und wartete darauf, dass dieses schreckliche Pulsieren verschwand. Ich schloss die Augen, kehrte über unser Band zu Lissa zurück und wollte feststellen, was sie getan hatte. Seit meiner Verhaftung hatte sie meinethalben unermüdlich gefleht und gestritten, also erwartete ich, dass sie jetzt das Gleiche täte. Stattdessen machte sie … einen Einkaufsbummel.
Beinahe war ich wegen der Frivolität meiner besten Freundin beleidigt, bis ich begriff, dass sie nach einem Kleid für das Begräbnis suchte. Sie befand sich in einem der versteckten Geschäfte des Hofes, das einer der Lieferanten der Royals leitete. Zu meiner Überraschung war Adrian bei ihr. Der Anblick seines vertrauten Gesichtes linderte die Angst in mir ein wenig. Ein schneller Blick in Lissas Geist verriet mir, warum er bei ihr war: Sie hatte ihn dazu überredet mitzukommen, weil sie nicht wollte, dass er allein blieb.
Das konnte ich gut verstehen. Er war nämlich vollkommen betrunken. Ein Wunder, dass er sich auf den Beinen halten konnte, und tatsächlich hatte ich den starken Verdacht, dass ihn allein die Wand, an der er lehnte, noch aufrecht hielt. Sein braunes Haar war völlig zerzaust – und zwar nicht so gewollt wie sonst üblich. Seine dunkelgrünen Augen wirkten blutunterlaufen. Wie Lissa war Adrian ein Benutzer von Geist. Er besaß eine Fähigkeit, die sie noch nicht hatte: Er konnte Leute in ihren Träumen besuchen. Seit meiner Einkerkerung hatte ich ihn erwartet, und jetzt verstand ich, warum er nicht gekommen war. Alkohol behinderte Geist. In gewisser Weise war das auch gut so. Der exzessive Gebrauch von Geist erzeugte nämlich eine Dunkelheit, die seine Benutzer in den Wahnsinn trieb. Doch darüber hinaus war es auch nicht allzu gesund, sein Leben in permanenter Trunkenheit zu verbringen.
Sein Anblick durch Lissas Augen löste eine emotionale Verwirrung in mir aus, die genauso intensiv war wie diejenige bei Tatiana. Er tat mir leid. Er machte sich offensichtlich Sorgen um mich, und die verblüffenden Ereignisse der vergangenen Woche hatten ihn ganz genauso aus heiterem Himmel getroffen wie uns andere auch. Außerdem hatte er seine Tante verloren, die er trotz ihrer Schroffheit sehr gemocht hatte.
Dennoch empfand ich … Verachtung. Es war vielleicht unfair, aber ich konnte nicht anders. Er bedeutete mir so viel, und ich konnte seine Bestürzung durchaus verstehen, aber es gab doch wesentlich bessere Möglichkeiten, mit seinem Verlust fertig zu werden. Sein Verhalten erschien mir beinahe feige. Er versteckte sich vor seinen Problemen in einer Flasche, und das ging mir völlig gegen den Strich. Ich? Ich konnte mich meinen Problemen jedenfalls nicht kampflos ergeben.
„Samt“, erklärte die Ladeninhaberin Lissa mit Überzeugung. Die verhutzelte Moroi hielt gerade ein voluminöses langärmeliges Kleid hoch. „Samt ist traditionell für die königliche Eskorte bestimmt.“
Über das übliche Tamtam hinaus würde bei Tatianas Begräbnis eine zeremonielle Eskorte neben dem Sarg hergehen, die aus je einem Repräsentanten jeder Familie bestand. Offenbar hatte niemand etwas dagegen, dass Lissa diese Rolle für ihre Familie übernahm. Aber ein Stimmrecht? Das war natürlich eine andere Geschichte.
Lissa musterte das Kleid. Es sah eher nach einem Halloween-Kostüm aus als nach einem Trauergewand. „Es ist über dreißig Grad warm da draußen“, sagte Lissa. „Und feucht.“
„Die Tradition verlangt Opfer“, sagte die Frau melodramatisch. „Das Gleiche gilt für die Tragödie.“
Adrian öffnete den Mund; zweifellos lag ihm eine unpassende, spöttische Bemerkung auf der Zunge. Lissa schüttelte jedoch heftig den Kopf, woraufhin er den Mund hielt. „Haben Sie nichts, hm, Ärmelloses da?“
Die Augen der Verkäuferin wurden groß. „Niemand hat jemals zu einer königlichen Begräbnisfeier Trägerkleider angelegt. Es wäre unpassend.“
„Was ist mit Shorts?“, fragte Adrian. „Sind die okay, wenn man dazu eine Krawatte trägt? So wollte ich nämlich hingehen.“
Die Frau wirkte entsetzt. Lissa warf Adrian einen geringschätzigen Blick zu, weniger wegen der Bemerkung – die fand sie amüsant –, sondern weil seine ständige Trunkenheit auch sie anwiderte.
„Na ja, niemand behandelt mich wie ein vollwertiges Mitglied der Königsfamilie“, sagte Lissa und drehte sich wieder zu den Kleidern um. „Also muss ich mich doch jetzt auch nicht wie eins verhalten. Zeigen Sie mir Ihre Trägerkleider mit kurzen Ärmeln.“
Die Verkäuferin verzog das Gesicht, fügte sich jedoch. Für sie war es sicher kein Problem, Royals modisch zu beraten, aber sie würde es niemals wagen, ihnen etwas zu befehlen. Das war Teil der Hierarchie in unserer Welt. Die Frau durchquerte den Laden, um die erbetenen Kleider zusammenzusuchen, und im gleichen Augenblick betraten Lissas Freund und dessen Tante das Geschäft.
Adrian, so dachte ich, sollte genauso sein wie Christian Ozera. Die Tatsache, dass ich das auch nur denken konnte, war schon verblüffend. Es war gewiss viel Zeit vergangen, seitdem ich in Christian Ozera ein Vorbild für mich gesehen hatte. Aber es war die Wahrheit. Ich hatte ihn während der vergangenen Woche mit Lissa beobachtet. Er war entschlossen und ruhig gewesen und hatte alles getan, was er nur tun konnte, um ihr nach Tatianas Tod und meiner Verhaftung zu helfen. Seine Miene verriet mir jetzt, dass er etwas Wichtiges zu berichten hatte.
Seine forsche Tante Tasha Ozera war ebenfalls der Inbegriff von Stärke und Anmut, wenn sie unter Druck stand. Sie hatte ihn großgezogen, nachdem seine Eltern zu Strigoi geworden waren – und sie angegriffen hatten. Das war ein Kampf gewesen, von dem Tasha auf der einen Seite ihres Gesichtes Narben zurückbehalten hatte. Moroi hatten sich hinsichtlich ihrer Verteidigung stets auf Wächter verlassen, aber nach diesem Angriff hatte Tasha beschlossen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sie hatte zu kämpfen gelernt und alle möglichen Methoden, mit und ohne Waffen, trainiert. Sie war wirklich ein ziemlich harter Typ geworden und drängte nun ständig darauf, dass andere Moroi ebenfalls Kampftechniken erlernen sollten.
Lissa ließ ein Kleid los, das sie gerade betrachtet hatte, und wandte sich eifrig zu Christian um. Nach mir gab es niemanden auf der Welt, dem sie mehr vertraute. Er war bei der ganzen Geschichte ihr Fels in der Brandung gewesen.
Gerade sah er sich im Laden um und schien nicht übermäßig begeistert davon zu sein, dass er von Kleidern umgeben war. „Ihr zwei macht Einkäufe?“, fragte er und schaute zwischen Lissa und Adrian hin und her. „Der Junge braucht was Neues zum Anziehen, was?“
„He, du würdest auch von einem Garderobenwechsel profitieren“, sagte Adrian. „Außerdem wette ich, dass du in einem Neckholder großartig aussehen würdest.“
Lissa ignorierte das Geplänkel der jungen Männer und konzentrierte sich auf die Ozeras. „Was habt ihr herausgefunden?“
„Sie haben beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen“, antwortete Christian. Geringschätzig verzog er die Lippen. „Na ja, jedenfalls keine Bestrafung.“
Tasha nickte. „Wir versuchen, die Vorstellung zu verbreiten, dass er einfach dachte, Rose sei in Gefahr, und sich in den Kampf gestürzt hat, bevor er begriff, was eigentlich los war.“
Mir blieb das Herz stehen. Dimitri. Sie sprachen von Dimitri.
Einen Moment lang war ich nicht länger bei Lissa. Ich war nicht mal länger in meiner Zelle. Stattdessen befand ich mich wieder am Tag meiner Verhaftung. Ich hatte mich mit Dimitri in einem Café gestritten und ihn ausgezankt, weil er sich sowohl hartnäckig weigerte, mit mir zu sprechen, als auch unsere frühere Beziehung fortzusetzen. Damals hatte ich beschlossen, dass ich mit ihm fertig war, dass es wirklich aus und vorbei sein solle und dass ich ihm nicht länger erlauben würde, mir das Herz zu zerreißen. Genau in diesem Moment waren die Wächter gekommen, die mich holen sollten, und wie sehr Dimitri auch behaupten mochte, seine Zeit als Strigoi mache ihn unfähig zu lieben, er hatte dennoch blitzschnell reagiert, um mich zu verteidigen. Wir waren hoffnungslos in der Unterzahl gewesen, aber ihn hatte das überhaupt nicht gekümmert. Der Ausdruck auf seinem Gesicht – und meine eigene unheimliche Kenntnis seines Wesens – hatten mir alles gesagt, was ich wissen musste. Ich wurde bedroht. Er musste mich verteidigen.
Und er hatte mich verteidigt. Er hatte wie der Gott gekämpft, der er in der Akademie St. Vladimir gewesen war, wo er mich gelehrt hatte, gegen Strigoi zu kämpfen. Er hatte in diesem Café mehr Wächter außer Gefecht gesetzt, als es einem einzelnen Mann hätte möglich sein dürfen. Das Einzige, was dem Kampf ein Ende bereitet hatte – und ich glaube wahrhaftig, er hätte bis zu seinem letzten Atemzug noch weitergekämpft –, war mein Eingreifen gewesen. Ich hatte damals nicht gewusst, was los war oder warum eine Schar Wächter mich verhaften sollte. Aber mir war klar gewesen, dass Dimitri in der ernsten Gefahr geschwebt hatte, seinen bereits prekären Stand völlig ins Wanken zu bringen. Ein zurückverwandelter Strigoi war noch nie da gewesen, und viele vertrauten ihm nach wie vor nicht. Ich hatte Dimitri angefleht aufzuhören, und meine Angst um ihn war größer als meine Angst um mich gewesen. Wie wenig hatte ich über das gewusst, was mich erwartete!
Er war zu meiner Anhörung gekommen – unter Bewachung –, aber weder Lissa noch ich hatten ihn seither gesehen. Lissa hatte alles unternommen, ihn von jeglichem Vorwurf reinzuwaschen, weil sie befürchtete, dass man ihn wieder einsperren würde. Und ich? Ich hatte mir einzureden versucht, dass ich sein Tun an jenem Tag nicht überbewerten dürfe. Meine Verhaftung und potenzielle Hinrichtung waren wichtiger. Trotzdem … ich dachte immer wieder darüber nach. Warum hatte er es getan? Warum hatte er sein Leben für das meine riskiert? War es die instinktive Reaktion auf eine Bedrohung gewesen? Hatte er es als Gefälligkeit für Lissa getan, der er als Gegenleistung dafür, dass sie ihn befreit hatte, jede Unterstützung geschworen hatte? Oder hatte er es getan, weil er wirklich noch immer etwas für mich empfand?
Ich kannte die Antwort nach wie vor nicht, aber ihn so zu sehen wie den grimmigen Dimitri aus meiner Vergangenheit, das hatte letztlich die Gefühle wachgerufen, die ich so verzweifelt hatte überwinden wollen. Ich versuchte, mir weiter einzureden, dass es eben eine gewisse Zeit dauere, sich von einer Beziehung zu erholen. Reste von Gefühlen waren da nur natürlich. Leider brauchte man aber länger, über einen Mann hinwegzukommen, wenn er sich für einen in Gefahr begeben hatte.
Nichtsdestoweniger schenkten mir Christians und Tashas Worte hinsichtlich Dimitris Schicksal ein wenig Hoffnung. Schließlich war ich nicht die Einzige, die auf einer dünnen Linie zwischen Leben und Tod einherschritt. Jene, die davon überzeugt waren, dass Dimitri noch immer ein Strigoi war, wollten einen Pflock in seinem Herzen sehen.
„Sie halten ihn wieder gefangen“, sagte Christian. „Aber nicht in einer Zelle. Nur in seinem Zimmer, mit zwei Wachen. Sie wollen ihn nicht bei Hofe haben, bevor sich alles wieder beruhigt hat.“
„Das ist immerhin besser als Gefängnis“, gab Lissa zu.
„Es ist trotzdem absurd“, fauchte Tasha, mehr zu sich selbst als zu den anderen. Sie und Dimitri hatten sich im Laufe der Jahre recht nah gestanden, und früher einmal hatte sie diese Beziehung auf eine andere Ebene heben wollen. Dann hatte sie sich jedoch mit Freundschaft begnügt, und ihre Entrüstung über die Ungerechtigkeit, die ihm widerfuhr, war genauso stark wie unsere. „Sie hätten ihn gehen lassen sollen, nachdem er wieder zum Dhampir geworden war. Gleich nach den Wahlen werde ich dafür sorgen, dass er freikommt.“
„Und genau das ist so seltsam …“ Christian kniff die hellblauen Augen nachdenklich zusammen. „Wir haben gehört, dass Tatiana mit anderen gesprochen hat, bevor sie – bevor sie …“ Christian zögerte und blickte unbehaglich zu Adrian hinüber. Die Pause war untypisch für Christian, der normalerweise frei von der Leber weg sprach.
„Bevor sie ermordet wurde“, sagte Adrian energisch und ohne jemanden anzusehen. „Sprich weiter!“
Christian schluckte. „Ähm, ja. Ich vermute, sie hatte – jedoch nicht in der Öffentlichkeit – verkündet, sie glaube, dass Dimitri wirklich wieder ein Dhampir sei. Sobald die andere Sache geregelt war, wollte sie dafür sorgen, dass er entschiedener anerkannt würde.“ Die andere Sache war das Altersgesetz, das Tatiana in ihrem Brief erwähnt hatte, jenes Gesetz, demzufolge Dhampire, wenn sie sechzehn Jahre alt wurden, gezwungen werden sollten, ihren Abschluss zu machen und ihren Dienst zur Verteidigung der Moroi anzutreten. Es hatte mich sehr zornig gemacht, aber wie so viele andere Dinge war es jetzt … na ja, es lag irgendwie auf Eis.
Adrian gab einen seltsamen Laut von sich, als räusperte er sich. Hat sie nicht.“
Christian zuckte die Achseln. „Viele ihrer Ratgeber haben aber gesagt, sie hätte es getan. So geht das Gerücht.“
„Es fällt mir ebenfalls schwer, das zu glauben“, sagte Tasha zu Adrian. Sie hatte Tatianas Politik niemals gutgeheißen und sich mehr als einmal vehement dagegen ausgesprochen. Adrians Ungläubigkeit war jedoch nicht politischer Natur. Sie entsprang lediglich den Vorstellungen, die er hinsichtlich seiner Tante immer gehegt hatte. Tatiana hatte niemals zu erkennen gegeben, dass sie Dimitri dabei unterstützen wollte, seinen alten Status zurückzuerlangen.
warUnrechtmäßige Einkerkerung. Anklagen. Verleumdung.
Fragen ohne Antworten. Willkommen in meiner Welt! Da mir andere Möglichkeiten ausgegangen waren, überlegte ich, dass ich mich geradeso gut etwas ausruhen könnte. Ich streckte mich auf der Pritsche aus und versuchte, diese ständigen Sorgen beiseitezudrängen. Gar nicht so einfach. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich einen Richter, der mit einem Hammer auf sein Pult schlug und mich zum Tode verurteilte. Ich sah meinen Namen in den Geschichtsbüchern, nicht als Heldin, sondern als Verräterin.
Während ich dort lag und an meiner eigenen Angst schier erstickte, dachte ich an Dimitri. Ich stellte mir seinen ruhigen Blick vor und konnte geradezu hören, wie er mir einen Vortrag hielt. Mach dir jetzt keine Sorgen um das, was du nicht ändern kannst. Ruh dich aus, wenn du kannst, damit du für die Kämpfe von morgen bereit bist. Dieser imaginäre Rat beruhigte mich. Endlich kam der Schlaf, schwer und tief. Ich hatte mich in dieser Woche oft hin und her gewälzt, also war mir eine echte Entspannung durchaus willkommen.
Dann – wachte ich auf.
Mit hämmerndem Herzen saß ich kerzengerade in meinem Bett. Ich sah mich um und hielt nach Gefahren Ausschau – nach einer Bedrohung, die mich aus diesem Schlaf aufgeschreckt haben könnte. Aber – nichts. Dunkelheit. Stille. Das schwache Knarren eines Stuhls unten im Flur sagte mir, dass meine Wächter noch immer dort waren.
Das Band, begriff ich. Das Band hatte mich geweckt. Ich hatte ein scharfes, intensives Aufflackern gespürt, ein Aufflackern von … was? Intensität. Angst. Eine Woge Adrenalin. Panik durchzuckte mich, und so tauchte ich tiefer in Lissa hinein und versuchte herauszufinden, was dieses plötzliche Aufwallen von Gefühlen ihrerseits verursacht hatte.
Doch ich fand … überhaupt nichts.
Das Band war verschwunden.