„Frauen können verhindern, dass sie geschlagen werden, indem sie einfach das tun, was die Männer von ihnen verlangen.“

Spanischer katholischer Erzbischof

Braulio Rodriguez Plaza

Zitat anno 2015/16

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© 2016 Bianca Oesterle

Illustration: BOe77THARA

Titelbild und Bilder: fotolia.com

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7412-4503-9

„Die Menschheit hat schon viele Kriege gesehen, über deren Auswirkungen sie lamentiert hat und danach lange Zeit brauchte, um darüber hinweg zu kommen, ehe ein neuer Krieg kam.

Schriftsteller beschrieben Kämpfe im All und unter der Erdenkrume mit und gegen Monstergestalten, doch einen, den übelsten aller Kriege, der denkbar ist, beschrieben sie vielleicht aus mangelndem Bewusstsein oder aus Angst mit keiner Silbe: Mann gegen Frau, Frau gegen Mann.

Der totale Endkampf.

Hellsichtige vorhersagten und Weise prophezeiten schon immer den einen oder anderen Kampf unter den Menschen, die unterschiedlicher Auffassung waren und es noch immer sind. Doch ihren Rat zum Einklang untereinander schlugen wir immer wieder aus, wie Staub aus dem Fußabstreifer, der die Geduld und die Liebe ist, die wir täglich auf ein Neues mit den Füßen treten.

Wenn Gewalt in Form von Hass die Oberhand über unsere Handlungen gewinnt, sind wir nicht nur am Ende der Vernunft angelangt, sondern es ist zudem ein Zeichen von gänzlicher Überforderung auf mindestens einer der drei menschlichen Lebensebenen von Körper, Geist und Seele. Dennoch muss die Gewalt manchmal geschehen, um zu erkennen, wenn etwas im Leben schiefläuft.

Korrigieren, verändern, reanimieren können wir die Liebe nur, wenn wir einmal vor uns selbst kapituliert haben. Darum sollte jeder in den Krieg gehen, der nicht weiß, was Krieg ist.“

Romana Perkins, Lieutenant der WOMEN-Force

PROLOG

Die Frage danach, wohin das alles führen wird

Sonntag, 23. August 2015; auf der griechischen Insel Kos Pausenlos skandierende Flüchtlinge: „WO-HIN? WO-HIN? WO-HIN?“ (Sie halten einander in den Ellbogen untergehakt, bilden eine Kette, hinter der eine weitere, noch eine und noch eine Reihe auf der Stelle tretend marschiert).

(Die Kamera schwenkt von den Flüchtlingen ab auf einen Reporter eines weltweit anerkannt seriösen Fernsehsenders). TV-Reporter vor Ort: „Diese Frage stellen sich seit Jahren Flüchtlinge und Politiker, aber, wie Sie sehen, tritt die Situation für die unzähligen geflohenen Menschen aus Syrien, Libyen und anderen Mittelmeernationen, die sich hier auf Kos Freiheit und Rettung aus Krieg und Elend erhoffen, nicht nur sinnbildlich auf der Stelle – die Lage für diese Menschen ist seit einem Jahrzehnt so gut wie festgefahren. Boko Haram und IS wollen ihren Machtanspruch mit Terrorakte gegen ihr eigenes Volk durchsetzen; und dem soll nicht genug sein. Diese Menschen hier (der Reporter deutet hinter sich auf die Flüchtlinge, Kamera schwenkt mit) sind vor Unterdrückung und Gewalt aus ihren Heimatländern, ihren angestammten Orten, teils allein in haarsträubenden Aktionen oder durch Personenschlepper mit ihrer ganzen Familie, nur mit schmutzigen Kleidern am Leib, übers Meer geflohen. Viele überlebten diese Strapazen nicht, und die Leute hier sind entkräftet, leben im Schmutz, und sie wissen in ihrer Angst nicht … (der Tonmeister verlagert die Aufnahmeintensität vom Vordergrund des erklärenden Reporters in den Hintergrund der im Sprechchor rufenden Flüchtlinge).

Flüchtlinge: „WO-HIN? WO-HIN? WO-HIN? WO-HIN?“

Reporter: (Kamerafokus und Tonausrichtung verlagern sich wieder auf den TV-Reporter). „Kein Drehbuch für ein Film-Drama dies ist. Dies war eine Dokumentation der Realität zu diesem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte, mitten in Europa und tagtäglich, die aus den dunkelsten Kapiteln scheinbar in den kommenden zwanzig bis dreißig Jahren danach auch noch nichts gelernt haben wird. In der EU-Politik wir viel diskutiert, wie man zu einer Lösung des Problems kommen kann, aber das Problem an sich beinhaltet tausende Probleme, da es sich um Menschen, um Einzelschicksale handelt, die in ein gemeinsames Schicksal – die Flucht aus dem Krieg ins friedlichere Europa – hineingezwungen werden. Ihre Hoffnung auf ein friedvolles Leben in Italien, Griechenland oder Deutschland, welche die Länder mit der höchsten Flüchtlingsaufnahmerate EU-weit sind, ist dennoch ein Trugschluss, der sich für viele von ihnen nie erfüllen wird. Raum und Aufnahmemöglichkeiten sind begrenzt und schwer in Zentraleuropa erweiterbar, da Finanzmittel und Hilfsgüter zu langsam oder gar nicht locker gemacht werden können oder wollen. Zwangszinserhebungen, Beschlagnahmen und Aufforderungen zur freiwilligen Unterstützung der Flüchtenden stößt in vielen Ländern auf Unverständnis, gleichermaßen wie auf Hilfsbereitschaft in hohem Maße; der Flüchtlingsstrom polarisiert die Europäer, die ihren augenscheinlich gefestigten Wohlstand dadurch, dass fremdländische Bürger zu ihnen übersiedeln sollen, gefährdet sehen. Die eigentliche Gefahr geht von zwei Seiten zugleich aus, die nicht nur die Zuflucht suchenden beeinflusst, sondern auch auf die hilfsbereiten Menschen in den Flüchtlingsaufnahmeländern gleichermaßen in Zukunft maßgeblich Wirkung zeigen wird. Der Terrorismus wandert mit, verfolgt die Flüchtenden weiter und verbreitet sich unter den unschuldigen Helfern, was die Utopie, die Hoffnung auf weltweiten Frieden an den glaubhaften Rand der Verwirklichung drückt. Die meisten Menschen wünschen sich einen Frieden, der zu ihrer Harmonie und ihrem Wohlstand dient, doch auch das ist eine unhaltbare Utopie, die wir uns im Geiste erschaffen. Hier wird die Politik wieder einmal vor die Frage gestellt werden, wie das Problem der steigenden Bevölkerungszahlen in Europa kontrolliert in den Griff zu bekommen ist, um den psychischen Druck durch die räumlich zunehmende Einengung auf die Bürger zu erleichtern und Terror zu verhindern. Geburtenregelung - Zwangssterilisation? Die nahe Zukunft wird es zeigen! Dann - eine gute Zeit!“

Inhaltsverzeichnis

EIN FUNKELN VON MACHT

Die Suche nach dem Goldenen Vlies – mehr als 2400 Jahre vor dem modernen Heute

Was ist Zeit?

„Die Zukunft ist so schnell da, dass sie permanent die Gegenwart daran erinnert, dermaßen rasant zur Vergangenheit zu werden, wenn wir uns weiterhin der Illusion der Vergänglichkeit hingeben. In Wahrheit ist alles eins. Nichts wird verschwendet, solange jede Kreatur nach seiner Art, nach seiner Bestimmung von den vom Thron des Olymp regierenden Göttern leben kann. Der Tod wird entmachtet, da die Regeln des Lebens in einer Gemeinschaft längst auf dem Goldenen Vlies festgeschrieben worden sind und in der Vergangenheit, gegenwärtig und künftig wirken werden.

Machtvoll ist die Angst über den Kämpfern der Argo, auf ihrer gefahrvollen Seereise das zappelnde Leben an die schnappenden Giftzähne der Schlange der Vergeblichkeit zu opfern, weshalb sie sich ihr schlängelndes Abbild auf die Schilde malen. So dient uns das irdische Sterben rein als Wandlung, wie die Schlange sich selbst aus der zu eng gewordenen Haut heraus in ein neues Leben gebiert. Der Funke des Lebens war da, ist da und wird immer da sein. Lediglich die Veränderlichkeit als festgestellte Tatsache und die bewegte Veränderung der Dinge sind es, was wir als Begriff von Zeit wahrnehmen.

Argos, mein Freund, hat es gebaut, ein Schiff, das schneller zu segeln vermag als die Zeit rudern kann. Geführt von Jason, einem Zögling des lehrenden Kentauren Cheiron, von titanischer Abstammung und Hingabe an den Glauben der weisen Vorausschau der Götter. Weisheit, Disziplin, Großmut und Kampfgeschicklichkeit lehrte er Jason, auf dessen breiten Schultern die Hoffnung jedes armen Ziegenhirten und jeder tüchtigen Weberin ruht; eine Hoffnung, die sich durch das Auffinden des Goldenen Vlies zum Wohlstand für jeden wandeln wird. Doch meine innere Stimme flüstert mir verheißungsvoll, dass wir nicht die einzigen sein werden, die es danach treibt, den unbeschränkten Überfluss zu finden und für die Dauer der Ewigkeit die Versorgung aller Menschen zu mehren und zu sichern. Drei Jahrhunderte später wird man wieder nach dem verschollenen Vlies suchen, das sich einst Unwissende, Habgierige unter den Nagel gerissen hatten, es aber nicht einzusetzen verstanden, denn zum Selbstnutzen dient es nicht. All das wird geschehen, wenn wir längst zu Staub zerfallen sind – die Vergangenheit, die gegenwärtig noch existiert und für die Zukunft der Nährboden sein wird, bevor die Gegenwärtigen erneut zu Vergangene werden, um der Hüterin der Zukunft zu dienen.

Pelias, Onkel des Jason und Halbbruder des Aison ich bin, König von Iolkos.“

Alles freiwillig

Thessalien, 397 v. Chr.

„Seid Ihr euch wirklich sicher, solch einen ungewissen Seeweg über die Meere zu bereisen, um einer Sage von Generationsmund zu Generationsmund verfälscht weitererzählt hinterherzujagen, Jason?“ Gut meinte er es mit ihm, seinem besten Freund, weshalb er nicht länger mit seiner Frage hinter den Bergen von Thessos warten wollte, bis sich ein Spalt im Fels öffnete und ein Orakel ihm tief aus dem Erdherzen, von Schwefeldünsten in den Stirnhöhlen begast, Worte entgegensäuselte, die er von einem Weisen deuten und in Volksmund übersetzen lassen musste, wenn er daraus die Essenz der Bedeutung in Erfahrung bringen wollte. Meistens konnte man diesen Beleuchteten kaum Glauben schenken, denn oft sie verlangten einen Gegenwert in Geschenke, Essen und in barer Münze, wenn man ihre Dienste beanspruchte.

„Warum redest du so verworren um den heißen Brei herum, Alex, oder willst du, dass ich dich Askalaphos in aller Förmlichkeit nenne?“ Jason hatte sich in sein Uniformgewand gekleidet, denn es war Zeit für die Vorbereitung zur Sichtung der Argo, das Schiff, welches Argos erdacht und erbaut hatte, um ihm ein Wassergefährt für die lange Reise nach Übersee zu ermöglichen. Dorthin wollte er segeln und rudern, wo er das verschollen geglaubte Vlies mit den Regeln des Lebens wiederfinden und in die Heimat Thessaliens zurückbringen wollte. Es gehörte nach Iolkos und zu seinem König! Heute sollte die erste Zusammenkunft der Mannschaft der Argo, die zugleich unter seiner strategischen Führung seine Söldner waren, gefeiert werden.

„Jass, wollen wir uns in kleinen Silben verlieren oder sprichst du endlich das große Wort zum Aufbruch?“, fragte der titanenhaft große Askalaphos spöttisch zurück. Bequem setzte er sich auf einer Sitzbank voller Kissen an den gedeckten Tisch, auf dem kalter Braten und Obst in gewohnter Fülle dargeboten wurden. Er aß schmatzend und kostete Wein. „Diese Völlerei werde ich vermissen!“

Jason hatte anderes im Kopf als Wein, Weib und Gesang, aber er setzte sich zu Askalaphos, der ihm das Tablett mit dem Braten darauf näher hinschob. „An mir ist es nicht gelegen, denn Argos wird mir sagen, wann das Schiff wassern kann, und Idas ist aufgerufen, den Weg zu uns zu finden und als Kapitän die Argo unter seiner Hand und seinem Kommando zu segeln – solange sind wir zur Untätigkeit verdammt, die wir für das Straffen unsrer Körper, das Dehnen unsrer Sehnen und für das Klären unsrer Hirnsphären nutzen müssen.“

Askalaphos rülpste. „Genau! Und das dauert! So iss, Jass!“ Er stach mit der Zwei-Zinken-Gabel in ein Stück abgeschnittenes Lamm-Fleisch, das auf dem Tablett in seinem eigenen fettigen Safte lag, hob es Jason vor den Mund, darauf dass er es mit den bloßen Fingern nehmen und verspeisen würde, wie zu guten alten Zeiten mitten in einer ausschweifenden Orgie. Bratensaft tropfte auf die saubere Uniform nieder, da sprang Jason wütend von der gemütlichen Bank auf, schnappte sich die Gabel samt Lammbraten und schleuderte das daran haftende Fleischstück in ein Raumeck des bis auf sie leeren Palastsaals. „Tausend Jahre Völlerei - Frauen überrennen uns. Hast du nur Fressen und Saufen im Kopf, Alex?“

„Nein, auch die Frauen“, gestand Askalaphos grinsend. „Wo ist mein geliebtes Roxáni-Weib? Jass, lass auch Medea zu uns kommen! Sie wird bei dir unter der Uniform nach dem Rechten sehen!“

Seine Augen waren von leuchtendem Sternenblau, heller als Idas Augenleuchten, das es in ihrer Welt nur durch das Anrühren von Malfarben gab, die aus einer Pflanze gewonnen wurde, die teuer aus einem weit entfernten Land nach Thessalien gebracht werden musste; das Indikon, ein sattes Blau war es in Idas Augen, durch deren Augenhintergrund die Sonne seiner Seele leuchtete. Zornig rammte Jason die Gabelzinken vor Askalaphos in die Holztischplatte, wo sie, von seiner linksseitigen Faustwucht reingetrieben, zitternd stecken blieb. „Idas und ich werden an Bord der Argos solch Gelage nicht dulden – und das unbeständige Wetter der Meere wird uns das Schlemmen verwässern. Froh wirst du sein, wenn du im wirbelnden Sturmauge nicht den Verstand verlierst, den du mitsamt deinem Magen durch ein Loch in der Bordwand in den Ozean speist! So zügle dich und dein übermäßiges Verlangen jeglicher Fleischesgelüste! Die See wird dich läutern! So sei deiner selbst treu und entsage, bis wir siegreich wiederkehren!“

„So, wie du Medea als deine Evanthia, deine Eva, deine erste Frau genommen hast?“, spöttelte Askalaphos über Jasons Sorgen. „Sie wird nicht dein einziges Weib bleiben in diesem Leben, sage ich dir!“ Seine außergewöhnlich honighellen Augen lachten ihn aus, aber um seinen Mund spielte ein grausamer Zug, der das Drama der Wahrheit formte. „Wer ist schon treu?“

„Versuche deine Ablenkungsmanöver nicht an mir aus!“, wurde Jason plötzlich ganz leise und hebelte die Gabel aus der Tischplatte, mit der er ein anderes Stück Fleisch aufgabelte und damit Askalaphos` Mund stopfte. „Kann ein Mann überhaupt treu sein, wenn er Freiheit sucht und für die Liebe zugleich kämpft? Kannst du ihr, deiner roten Roxáni, aufrichtig in die moosgrünen Katzenaugen blicken?“

„Kann ich, denn sie weiß, dass ich gerne bei anderen Frauenlenden liege, so, wie sie keine Gelegenheit bei einer Orgie auslässt, hier und da anderes Mannesfleisch zu kosten! Was, wenn ich dir für die Zukunft sage, du wirst die Treue zur unfruchtbaren Medea brechen, um mit einer anderen, die endlich fleißig gebären kann, eine neue Familie zu gründen, die sie dir im Rausch der Eifersucht eines Tages vergiften wird, und die Verzweiflung wird über dir zusammenbrechen und dich von einem Weinkrug zum nächsten taumeln lassen, bis du in tiefer Trauer eines Tages entscheidest, den Weinbecher mit mehr Mohn- als vergorenem Traubensaft zu füllen.“

„Lass das Orakeln den Priester-Weibern und weisen Sehern! Wir sind für den Kampf bestimmt – nicht für ein Leben gehüllt in indigofarbige Leinen!“, sagte Jason so scharf, wie eine Messerklinge geschliffen sein konnte.

„Rege dich weniger auf, Jass, bevor dein Haar noch weißer wird als es bereits seit deiner Geburt ist!“, riet ihm eine andere Männerstimme, die sich unvermittelt in die Diskussion der beiden Freunde einmischte. „Seht, wer eingetroffen ist!“ König Pelias selbst führte den Argo-Kapitän in den Palastsaal. „Idas ist hier, und Zetes ist im Anmarsch mit der Mannschaft – so gebt Frieden! Ehe ihr von euren Lieben und eurem Leben Abschied nehmen müsst, reicht euch die Hände und redet in Milde!“

Kommentar zu Seite 2

Die Äußerung des katholischen Theologen ist Anlass, um über Menschlichkeit und Gleichberechtigung im Christentum nachzudenken, das sich durch Kreuzzüge ihre heutige Macht einst gewaltsam unter der heidnischen Bevölkerung verbreitet hatte, was mit Raub und Mord, Vergewaltigung und Brandschatzung durchgesetzt worden war.

Wie kann eine Religion zweitausend Jahre lang überleben, die von Männern geführt wird, die Leib und Wesen einer Frau nicht kennen und lieben lernen dürfen, ohne das Weibliche an Gott zu lieben und zu leben?

Regelrecht verteufelt wurde und wird das Frausein, das in Inquisition und Studierverbot sich geäußert hatte.

Vermutlich hatte er, Erzbischof Braulio Rodriguez Plaza, nicht gut genug im Theologie-Studium aufgepasst, als die Schöpfungsgeschichte an der Reihe gewesen war:

„Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.“

Genesis; 1. Buch MOSE; 1, 27

Vater-Mutter-Gott ist ein Zwitter, ein Janus, und liebt bedingungslos.

Somit wurden wir nicht von einem einseitig männlich geprägten Herr-Gott erschaffen, sondern von Ersie, das ein Wesen von Weiblichkeit und Männlichkeit zu gleichen Anteilen ist, wurden wir zum Menschen erweckt. Kaum eine Religion hat diese zweigeschlechtliche Form beibehalten, welche die Wahrheit im Universum ist. Nur der Doppelbegriff aus dem Hinduismus Shiva-Shakti, welche das göttliche Paar darstellen, was Christen als Adam und Eva aus den biblischen Schriften kennen, ist geblieben, was bis heute in Indien große Verehrung findet. Doch auch dort herrschen im Alltag mannigfaltige Grausamkeiten gegen Mädchen und Frauen, die als Freiwild gelten und misshandelt oder gar getötet werden, nur weil sie weiblichen Geschlechts sind.

In Zukunft sollten Menschen ihren Gott mit Ersie rufen!

Shiva-Shakti

Gottespaar; Vater-Mutter-Gott

Pendant zu Adam und Eva

Kräfte von Yin und Yang vereinend.

KAPITEL 8 – Abschiednehmen Teil II

Frauen leiden still, Männer leiden anders

USA, Oregon, New Oakridge; 1. November 2031

Genervt blies Romana Wallace die Wangen dick auf und legte das handliche Elektro-Akupunktier-Gerät auf das niedrige Nachtkästchen neben dem Gästebett im Haus ihrer Zieheltern. Sie fand nicht in den erholsamen Schlaf, denn die Ereignisse vor einer knappen Stunde hatten sie innerlich so sehr aufgewühlt und erhitzt, dass sie nicht zur Ruhe kam. Vierundzwanzig Jahre war sie erst alt – es war eine Farce, ein dramatisches Bühnenstück, in dem sie die hassgeliebte Hauptrolle spielen sollte, doch diesem irren Schauspiel war sie fürs erste entkommen. Romana griff sich an die brennende rechte Wange, auf die Alexander ihr eine Ohrfeige geschmettert hatte. Die Behandlung mit dem Massagekopf des elektrischen Akupunktierers hatte ein wenig gegen den Schmerz geholfen. Greisenhaft gebeugt schlurfte sie aus dem Gästezimmer, das früher ihr Jugendzimmer gewesen war, und schleppte ihre 1,82m ins angrenzende Wohnzimmer, wo sie seufzend in den nächstbesten Ledersessel sank. Mit einer müden Geste gab sie ihren Eltern zu verstehen, dass sie mit sich selbst im Reinen war, aber ihre Ehe zu und mit Alexander ein Ende mit Schrecken gefunden hatte, den sie ganz allein für sich bewältigen musste. „Ich kapituliere, Dad.“ Das hatte sie in diesem Leben noch nie gesagt, denn sie war ganz und gar nicht der Typ Frau, welcher in Depressionen verfällt, wenn sich die Hürden des Lebens einem stetig höher werdend in den geplanten Weg stellten.

Ihr Adoptier-Vater stand an der Durchgangstür zum Wohnzimmer und hörte ihr aufmerksam zu. Er wollte es nicht hinnehmen, dass seine Ziehtochter vor ihren Problemen zurückprallte und sich selbst als gescheitert erklärte. „Aber ich nicht! Ich zieh ihm den Biberschwanz lang! Dem werde ich zeigen, wo der Holzschlägel hängt!“ Er war nicht aufzuhalten. Niemand hätte nun ihren Ziehvater, den alternden, hünenhaften Holzfäller aufhalten können. Wie ein massiver Mammutbaum war er, der lange geduldig sämtlichen Stürmen standhielt, doch wer Beil, Keil und Säge an seinem tief verwurzelten Stamm ansetzte, konnte nicht mehr aufhalten, dass er irgendwann gefällt fiel und dann in jene Richtung umkippte, wo derjenige mit dem Holzfällerwerkzeug stand. Seine fallende Wucht war dann nicht mehr aufzuhalten und der Aufprall nicht abzuwenden. Sein Schwiegersohn hatte bereits zum zweiten Mal seine Tochter geschlagen, die er in väterlicher Liebe großgezogen hatte. Während Alexander unter Alkoholeinfluss gestanden hatte, war er im Rausch in die Kerbe der Unberechenbarkeit abgerutscht, die er mit seinem brutalen Verhalten noch tiefer eingeschlagen hatte. Romanas rechte Wange war von seinem harten Handschlag gerötet, den sie sich von ihm eingefangen hatte, als sie ihm wegen seinem Vollrausch daheim ihre Meinung direkt auf den Kopf zu gegeigt hatte. Der Unfalltod von Alexanders Eltern begann den jungen Mann in die Sucht zu treiben.

„Es ist gut, dass du sofort zu uns gekommen bist!“, war ihre Ziehmutter Barbara in ehrlicher Erschütterung über diesen Vorfall auf Romanas Seite. Ein trostvolles Lächeln schenkte sie ihr, das Romana mit einem dankbaren Blick aus ihren moosgrünen Augen annahm.

„Wie lange willst du dieses Theater durchhalten, Romana?“, fragte Larry aufgebracht. Heute war er nicht der geduldige Weihnachtsmann, den man hinter seinem weißen Rauschebart zu kennen glaubte. Larry Perkins hatte die Geduld mit seinem überdrehenden Schwiegersohn endgültig verloren. Kurz verschwand er, um sich an der Garderobe seine winterwarme Holzfällerjacke zu holen.

„Gar nicht, Dad! Ich werde mir schleunigst eine andere Bleibe suchen. Ich ziehe in ein Hotel in Eugene, bis ich dort meine Angelegenheiten soweit geklärt habe.“

„Dort wird er dich finden“, warf Larry ein, der zum Wohnzimmer zurück kam und Romanas Worte im Flur gehört hatte. „Und wenn er dich gefunden hat, geht das Drama mit euch erst richtig los.“ Larry ging zu Romana, zog sich die Jacke über und streckte seine Arbeiterpranke aus. „Gib mir euren Hausschlüssel! Ich werde ihn ausnüchtern.“

Romana nahm vom Wohnzimmertisch ihren Schlüsselbund auf und drückte ihn Larry in die Pranke. „Ich glaube, Alex wird Schwierigkeiten haben, mich zu finden.“ Boshaft war ihr Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielte, dass es Ziehmutter Barbara eiskalt ums Herz unter dem lindgrünen Hausmantel wurde. „Vielleicht werde ich die Vereinigten Staaten bald auf unbestimmte Zeit verlassen.“

Darüber war Barbara erstaunt und fragte wie eine überbesorgte Mutter eines kränkelnden Kleinkindes: „Hat dir der EltronMED-Konzern angeboten, für eine Weile im Ausland zu arbeiten?“

Einen gedehnten Augenblick lang kämpfte Romana mit ihrem Gewissen, ehe sie ihren Adoptiveltern die Wahrheit über ihren künftigen Verbleib offen ins Gesicht sagen konnte. „Es hat gar nichts mit der EltronMED zu tun, Mum. Ich habe meine Kündigung heute eingereicht, nachdem das mit Jenny passiert war. Ich kann und will dort nicht länger arbeiten. Mit meinem Gewissen kann ich es nicht länger vereinbaren, dass wir für den Missbrauch von wehrlosen Tieren verantwortlich sind, die in der Forschung zu unsren Zwecken regelrecht misshandelt werden. Ihr – wir alle - leben in einer Utopie. Alles schöngeredet, selbst die Naturmedizin, für die ich Leib und Leben einsetzen würde, um für kranke Menschen die beste Hilfe zu finden. Ich habe mich entschieden, meinen Doktortitel abzulegen.“

„Bist du wahnsinnig?“, entfuhr es Larry erschüttert.

„Was willst du dann machen? Ohne Job, ohne Doktorgrad und ohne Alexander, meine liebe Tochter, wirst du schnell aufgeschmissen sein!“, gab ihr Barbara zu bedenken, deren Mutterherz brach, als sie Romanas gebrochenen Blick sah.

Romana lächelte auf abgedrehte Weise, die ihren Eltern noch mehr Sorgen bereitete. Sie hatte sich zu einem einschneidenden Abschied durchgerungen, der sie zur abtrünnigen Tochter, an der Gerechtigkeit der Welt vollkommen zweifelnd, machen würde, aber sie hatte sich entschieden und würde entschlossen nicht mehr davon abrücken. „Ich rücke ein – in die WOMEN-Force.“

Jeder muss irgendwann irgendeinen Tod sterben, doch so hatte er es sich nicht vorgestellt. Er glaubte, sein verletzliches Innerstes qualvoll nach außen kehren zu müssen. Alexander zog sich am Rand der weiß emaillierten Badewanne hoch, kämpfte sich auf die Knie und beugte sich leichenblass über das aufgeklappte Toilettenbecken. Heiße Tränen verschleierten seinen Blick. Am Toilettenrand klammerte er sich mit aller Kraft fest, die mit jeder verstreichenden Minute schwächer in seinem über alle Maßen alkoholisierten Körper nachließ. Ihm war so schlecht, dass er am liebsten auf der Stelle gestorben wäre, doch dieser inbrünstige Wunsch nach irdischem Ableben und Eintreten ins angeblich schmerzlose Jenseits gewährte ihm der Todesengel nicht. Trotz der fürchterlichen Plage in seinem Magen, wo sich eine steinerne Faust hartnäckig verkeilt hatte und ihn maßlos quälte, konnte er sich nicht erbrechen, wovon er sich die große Erleichterung erhofft hatte.

Warme Hände berührten plötzlich seinen geplagten Körper, hielten seinen nach vorne über gebeugten Kopf und packten ihn sicher an der linken Hüftseite. Eine ihm vertraute Stimme murmelte tröstende Worte in sein Gehör, das durch seine Seufzer, sein Stöhnen und Ächzen seine Eigenwahrnehmung irritierte. Nein, nicht nur gutgemeinte Worte waren es, die ihn in die Realität zurückholen wollten – sein Schwiegervater stauchte ihn deftig fluchend zusammen, machte verbales Kleinholz aus ihm.

„Daddy-in-Law!“, schrie er, sein Schluchzen war nahe an der Grenze zur Rückentwicklung zum pflegeabhängigen Säugling. Der Schmerz in ihm war von seelischer Natur; es war weniger der Körper, der sich gegen den Alkoholexzess zu wehren versuchte. Der Griff des Mannes, der ihn über die Toilettenschüssel geneigt festhielt, war sanft und zugleich kontrollierend sicher. Ihn kannte er als Lee-Jay.

Der Sanitäter, der zwischen Bekannter, Freund und Erstretter in der Funktion ihm gegenüber schwankte, war in seiner Handlungsabsicht überhaupt nicht wankelmütig, als das Mittel, das er ihm zuvor verabreicht hatte, um das Steigen des Blutalkoholpegels auszubremsen, auf die Körpergröße des überaus groß und kräftig gewachsenen Holzfällers nicht prompt die zu erwartende Wirkung entfaltete. Jemand steckte ihm den Finger in den weit aufgerissenen Mund, und Alexander stieß gurgelnde Laute aus, als er sich in die Badezimmerkeramik erbrach. Er wusste für Sekunden nicht mehr, wo vorne und wo hinten an seinem Körper war. Noch mehr angenehm warme Hände betasteten ihn, nachdem er sich nicht mehr übergeben konnte, denn er drohte wie ein nasser Sack voll Sägemehl auf den gefliesten Badezimmerboden niederzugehen. Dann beförderten diese vielen Hände ihn irgendwohin, wo sie ihn auf eine weiche, kühle Unterlage betten.

Ein Weißbärtiger – er musste der Gesandte aus dem hohen Norden mit den Weihnachtsgeschenken für die braven Kinder sein – beugte sich kurz über ihn, sagte dabei etwas zu einer Person hinter sich, die mit einem länglichen Gegenstand vortrat und sich neben Alexander auf der Bettkante niederließ. Pulsierend prickelnde Schmerzen jagten unvermittelt durch seinen linken, kleinen Finger, was seltsamerweise nicht unangenehm war, je länger dieses Gefühl andauerte. Geschenke gab es für ihn keine, denn er war nicht artig gewesen, doch das Übelsein schwand.

Doch dann kam Angst und Panik über ihn. Von einem Augenblick zum anderen stand eine weiße Wand vor seinen honiggoldenen Augen, kippte rasch auf ihn zu und wollte ihn unter einer für Alexander unbestimmbaren Masse begraben. Er wollte vor Entsetzen laut aufschreien, aber die bleierne Erschöpfung, die in seinem verausgabten Körper hauste, knipste ihm rechtzeitig die Erntemaschinenpositionslampen aus. In die unergründlichen Tiefen eines Brunnenschachts fiel und stürzte er endlos. Die in Rotbrandziegel gefasste Wandung war von glitschigen Schmier-Algen unerklimmbar rutschig, da fiel der Deckel auf die Brunnenrandfassung und schloss ihn in seinem Körpergelass ein, bis irgendwann am anderen Tag er von novemberkühlen Sonnenlicht und Entzugserscheinungen hart geweckt und in die Realität gebombt wurde. Er blieb im Schlafzimmer allein zurück, denn seine Frau war Soldat geworden.

Ein Waisen-Mädchen ruft: „Ahoi!“

New Oakridge, 24. November 2031; früher Nachmittag

Auf dem kurzen Weg von ihrer Villa, die sie bald an ein altes Ehepaar samt Hund vermieten würde, das sich um das kleine Anwesen kümmern würde, solange sie ihren Wehrdienst an der Waffe leistete, begegnete sie Sheriff Arnold Wisemann, der allein in seinem Dienstwagen saß und von den Docks am Willamette-River langsam Richtung Ortseingang New Oakridge zurückfuhr. Grüßend nickte er ihr zu und Jennifer Allison Eve Gordon winkte ihm hinter dem Steuer ihres Wagens sitzend freundlich lächelnd zu.

„Wenn der wüsste“, murmelte sie finster. Jennifer verfolgte eine kriminelle Absicht unter ihrem kornblonden Langhaarschopf, den sie für einen Sekundenbruchteil lang in Richtung Beifahrersitz wandte, auf dem sie neben sich, säuberlich in eine Plastikhülle verpackt, ein Handbeil dabei hatte. „Jetzt gibt es gleich Kleinholz, Sheriff! Ich war erst in der Klinik, dann will ich auch noch die Knastzelle von innen sehen! Schluss mit lustig! Das wird Fred kielholen, dieser verlogene Mistkerl von einem Verlobten! Verarschen kann er wen anderes, nicht mich!“ Ihren Geburtstag hatte sie sich für heute anders vorgestellt, aber Vorstellung und Realität klaffen oftmals weit auseinander oder liefen gegensätzlich. Wütend auf ihren Verlobten Frederick Ian Steven Taylor, der sie für seine Abenteuerlust sitzen gelassen hatte, war sie und redete sich selbst in Rage, was zumindest die Kälte in ihren Gliedern vertrieb, die der polarkalte Nordwind aus Kanada über die Grenze von Oregon ins herbstlich nebelverhangene Flusstal des Willamette herein blies.

Was sie natürlich nicht wissen konnte, war, was in jenem Moment der Sheriff gedacht oder halblaut vor sich hin gemurmelt hatte, als sie sich auf der Straße bei den Docks begegnet waren: „Lass es krachen, Mädel! Dein Verlobter hat es nicht anders verdient – lässt der die fesche Tochter vom reichsten Anwalt von ganz Oregon sausen, nur weil ihn das Abenteuer in den Krieg nach Europa lockt!“

Ob Jennifer entdeckt und an die Polizei gemeldet wurde, war ihr schlichtweg sowas von egal, dass es ihr die eine oder andere Nacht in der Arrestzelle vom Sheriff-Büro zu verbringen wert gewesen wäre. Bei der EltronMED hatte sie das, besser als jemals zuvor bezahlte Jobangebot für die Abteilungsleitung des Tropenforschungslabors vom neuen Konzernleiter Thomas Mack ausgeschlagen, der nach Dexters Tod in den Boss-Sessel geklettert war. Sie hatte noch in der Klinik von Eugene das Kündigungsschreiben aufgesetzt und eingereicht. Jennifer spürte noch immer die langsam schwindenden Nachwirkungen der Explosion im Tropenlabor: Ihr dröhnten die Ohren, wenn sie sich körperlich mehr anstrengte, sich bücken musste oder einen Gegenstand trug, der mehr als zehn Kilogramm wog oder schlecht zu greifen, von unförmigem Korpusumfang war. Gleich am Morgen war sie in den Reitstall gefahren, um bei ihren Pferden zu sein, mit ihnen auszureiten, aber sie hatte es nur mit Sturheit fertig gebracht, die Reitpferde zu versorgen, zu satteln und auszureiten. Das Ausmisten der Stallboxen war sie normalerweise gewohnt, beide Boxen schaffte sie sonst locker aus dem Handgelenk von Stroh und Pferdemist zu säubern, doch das hatte sie diesmal lieber einem der kräftigen Stalljungen überlassen, die sie mit ihrem jährlichen, in gönnerhafter Höhe bemessenen Mitgliederbeitrag sponserte. Eine junge Frau, die selbst beherzt anpackte, war sie. Sie delegierte ungern anstrengende und unliebsame Arbeit an andere, die nicht auf ein reiches Einkommen oder ein wohlhabendes Elternhaus zurückgreifen konnten und sich auf diese Art der schmutzigen Dienstleistung ein mageres Taschengeld dazu verdienten. Nicht immer hatte für sie in diesem Leben der blankpolierte Silberlöffel auf dem Serviertablett greifbar parat gelegen, wenngleich ihre ganze Familie aus Millionären bestand: die Verwandten geizten.

Am Kai, das mit einem läppischen Lattenhandlauf für die Besucher zum Anleger unzureichend gesichert war, hielt sie mit dem Auto an, das sie dort parkte. Lange würde es sicher nicht dauern, was sie vorhatte. Entweder kam der Sheriff in Kürze zurück und nahm sie in Gewahrsam oder der einsetzende Nieselregen würde sie schneller von ihrem hundsgemeinen Vorhaben abbringen als sie es sich in ihrem erhitzten Gemüt eisern vorgenommen hatte. Jennifer griff sich die Handaxt mit dem kurzen Stiel, die sie daheim normalerweise für das Scheitspalten verwendete, um schmale Spane zum Anheizen für den Kamin im Wohn-Salon der Gordon-Villa zu hacken, wenn das ihr freundlicher älterer Nachbar, Mister Morrof, nicht für sie erledigen konnte. Ihr Alltag würde sich bald vollkommen ändern, so sehr, dass es für sie ein gänzlich neuer Lebensabschnitt werden würde – in wenigen Tagen schon verließ sie New Oakridge, und Jennifer wusste nicht, ob sie es jemals wieder sehen würde.

Ob sie das Segelboot ihres Ex-Verlobten überhaupt wiedersehen wollte, war ihr plötzlich nicht mehr ganz klar. Hier in den Docks, wo die Orphan Girl über die Dauer des Winters aufgebockt stand und zuvor von Frederick und Alexander für die Ruhezeit bis ins kommende Frühjahr eingemottet worden war, hatte sie oft einen Teil ihrer Freizeit gemeinsam verbracht. Jennifer fühlte sich genötigt, in dieser Situation sich von einem Teil ihres bisherigen Lebens für immer verabschieden zu müssen, und dies musste sie auf eine gewaltsame Weise tun, wie sie es niemals zuvor getan hatte oder bloß gedacht hatte, imstande zu sein, sich auf solch zerstörende Art beim Abschied auszudrücken, denn sie wollte kein Wiedersehen, sondern einen Schlussstrich unter ein Lebenskapitel setzen. Es tat einfach weh, das in blattgrüner Schutzfolie eingeschlagene Boot zu sehen, auf dem sie ihre Wiederbelebung nach einem Badeunfall durch Fredericks Erste Hilfe erlebt gehabt hatte, und jetzt war es nur noch ein Fall für die von Jennifer wütend geschwungene Beilhand am eingepassten Holzstiel.

„So, mein lieber Ex-Verlobter und Lebensretter! Du meinst, dass alles wieder gut sein wird und wir dann heiraten und Kinder miteinander in diese Welt züchten werden, wenn du aus dem Krieg wieder kommst! Aber vorher muss ich hier noch ein paar Verschönerungsarbeiten an der Orphan Girl vornehmen, damit wir auf ihr unsere rauschende Hochzeit feiern können!“

Lang griffen ihre Schritte aus, als sie sich vom Schotterparkplatz dem Abschnitt des Kleinstadthafens näherte, wo die Boote auf Trockendockgestelle hoch gehievt aus dem Gewässer des Willamette-River aufgebockt standen – Jennifer konnte bereits beim Herannahen die Orphan Girl nicht unter den reparaturbedürftigen Motor- und Segelbooten sichten. Mit dem Handbeil in der Plastiktüte bewaffnet, wurde Jennifer mit jedem Schritt langsamer, aber ihr sondierender Blick suchte umso schneller das Hafenareal ab, das im Augenblick verlassen autumnal, in sich eintrübender Nebelsuppe vor ihren schlanken Reiterfüßen schläfrig lag. Sie selbst war ein Novemberkind, aber ihre Seele war von sonnigem Gemüt, das sich nicht von einer melancholischdepressiven November-Nebel-Novelle in die herbstwinterlich feuchtkalte Suppe der Traurigkeit und der verzweifelten Apokalypsen-Stimmung treiben ließ, die das unaufhaltsam näher rückende Jahresende mit sich brachte. Hellwach blickte sie sich auf dem Hafengelände um, das ein überschaubares, ihr seit der Kindheit vertrautes Areal war. Er hatte also dafür gesorgt, dass die Orphan Girl verschwunden war. Frederick hatte das Segelboot weggeschleppt.

Halt, nein! Sie glaubte, am Rande des verschwimmenden Nebels Fredericks Boot am Anleger für die Segelboote entdeckt zu haben und machte vom Trockendock kehrt. Sie lief in unauffälliger Geschwindigkeit weiter, was sich Jennifer hätte sparen können, denn niemand war außer ihr hier im kleinen Yachthafen, und der wabernde Nebel suggerierte mitunter Trägheit, was den eventuell doch anwesenden Betrachter sicherlich in der Geschwindigkeitswahrnehmung getäuscht hätte. Hastig schritt Jennifer auf den Holzbohlenanleger in der ersten Segelbootreihe und glitt beinahe auf dem feuchtrutschigen Steg aus, fing sich glücklicherweise ab, bevor sie auf die Bretter nieder ging und sich mit dem mitgeführten Beil im Plastiksack verletzt hätte. Uff! Das waren die Momente, in denen man kurz darüber nachdachte, ob es nicht doch eine riesige Dummheit war, die man vorhatte, ehe der Zorn der verletzten Seele über die Vernunft siegte. Ihre wutentbrannte Aktion >>kleine Rache am Ex-Verlobten<< war mit Sicherheit eine solche Dummheit, die sie vorhatte zu begehen, aber dieser unbedeutende Ausrutscher war nicht der große Ausbremser gewesen, der sie tatsächlich von ihrem Vorhaben abgebracht hätte.

Der Wasserstand war noch immer mager, aber es hatte wenigstens in den letzten Wochen regelmäßig und ein paar Mal seit dem Sturm heftig geregnet, was den Willamette in sein Flussbett zurückgebracht hatte, wenngleich man noch immer nicht davon reden konnte, der Fluss sei schiffbar. Allenfalls ein Bach war er, der sich durchs Tal der Berge von Oakridge schlängelte.

Fest und gewissenhaft vertäut lag die Orphan Girl im Nebel im Wasser vor Jennifer, die abrupt am Bug stehen blieb und das Segelboot genauer in Augenschein nahm: Ja, es war Fredericks Boot, wie sie deutlich in weißen Lettern auf dem klarlackierten Holzbootrumpf in weißer Farbe lesen konnte. Gelacht und gefeiert, geträumt und geliebt hatten sie hier zu zweit oder zusammen mit ihren besten beiden Freunden Romana und Alexander Wallace. Diese herrlich unbeschwerte Zeit war vorbei, war vielleicht bloß eine Illusion gewesen, die für sie in der Erinnerung kaum noch ein greifbares Bild war, das sie einst in ihrem Herzen getragen hatte. Leider war ihr Beziehungsherzbeutel ausgeblutet, nachdem sich Frederick mit einem knappen Telefonat von ihr verabschiedet hatte, was er als kurze Unterbrechung ihrer Beziehung sah, da er seinen Drang nach Abenteuer leben wollte, aber für Jennifer war es ein innerer Bruch, dessen Ursache sie nicht einmal richtig verstand, weshalb Frederick sang- und klanglos aus ihrem gemeinsamen Leben verschwunden war. Sie begriff nicht, was sich in Frederick zusammengebraut hatte, als sie in ihre Forschungsarbeit eingebunden gewesen war, ahnte nichts vom Seitensprung an Romanas Geburtstag mit Paula Ludwig.

In ihrer Jugend hatte das Leben ihr übel mitgespielt, nachdem Jennifers Mutter Patricia zu jung gestorben war, und nun erlebte sie erneut einen Verlust, den sie kompensiert bekommen musste, denn mit ihrem Vater Joel pflegte sie keinen engen Tochter-Vater-Kontakt. Joel Gordon lebte für seinen lukrativen Beruf als Anwalt, besaß die Villa in New Oakridge, in der Jennifer nun ganz allein wohnte, und ließ sich zumeist nicht bei seiner Tochter blicken und lud sie auch nicht ein, bei ihr Urlaub zu machen oder wenigstens zu einem Weihnachtsessen sich mit ihr jährlich zu treffen. Nicht einmal einen Telefonanruf oder eine E-Mail zum Geburtstag bekam sie von ihrem immerzu überbeschäftigten Vater, der ein Meister der Verdrängung war.

Die Begegnung mit Vivian Fisher im Krankenhaus, dem EMC, ein großes Hospital in Eugene, hatte in ihr die Veränderung ihrer bisherigen Sichtweise bewirkt. Bisweilen hatte Jennifer in einem harmonischen Rhythmus gelebt, der von freier Wissenschaft in den Laboren der EltronMED und ihrem reichlich sportlich aktiven Privatleben geprägt gewesen war, in welchem sie Pferdesport betrieb und eine treue Hündin hatte. Jennifer hatte beschlossen, das alles hinter sich zu lassen, die Villa, ihre geliebten Tiere und ihr altes Leben, das eigentlich mit einundzwanzig Jahren längst nicht wirklich alt war, doch so nahm sie sich derzeit wahr.

Jennifer stieg auf das Segelboot, überwand die Reling mit sportlicher Leichtigkeit, obwohl sie die neblige Feuchtigkeit in der kalten Novemberluft immer stärker an sich ziehen spürte. Keinen Moment länger verschwendete sie, sich nochmals in schwelgenden Erinnerungen an die schöne Zeit an Bord der Orphan Girl zu verschwenden. Aus der mitgebrachten Plastiktüte holte sie das Handbeil heraus und legte die enttäuscht wütende Holzfällertaktik an den Tag, die einer außer Kontrolle geratenen Baumerntemaschine gleich kam. Viel zu lange hatte sie als Wissenschaftlerin eines Tropenforschungslabors in ihren Beruf eingespannt gelebt und war das Konzernzugpferd gewesen, dem man die Todesspritze anstelle des Siegerpokals mit verschnörkelter Gravur nach einem Querfeldeinrennen verpasst hatte. Das Angebot des neuen Konzernchefs war gut gewesen, wieder in den Forschungsbereich nach ihrer vollständigen Genesung zurückzukehren, aber sie fühlte sich längst nicht als alter Gaul ohne Biss und Zähne, dem auf einem Abdecker-Hof bis zum natürlichen Tod Instanthafer und Gnadenbrot gewährt wird; dort wollte sie nicht verenden.

Das Leben eines guten Menschen sollte tagtäglich das eines wohlmeinenden Schöpfers sein, doch jetzt vergaß Jennifer ihre gute Kinderstube und ihren Glauben an die sanften Veränderungen im Leben. Sie warf all ihre Vorsätze und Bekenntnisse zum guten Willen und Handeln über Bord der Orphan Girl, als sie sich von der Raserei am Beil packen ließ und das Deck, die Aufbauten und unten im Schiffsraum alles oberflächlich verwüstete, bis sie völlig außer Atem war, wie sie es selbst nicht nach dem Jogging oder einem schnellen Querfeldeinritt jemals gewesen war, sich hoch an Deck schleppte, wo sie erschöpft auf die Knie nieder ging. Dies Gefühl, der wohligen Erhitzung im Leib, der fast ein Blutrausch war, hatte sie zwar angestrengt, aber noch immer nicht ganz verausgabt. Sie wollte mehr tun, als sich am Segelboot ihres Ex-Verlobten zu rächen, das nur ein persönlicher Gegenstand von Frederick gewesen war, immer noch war. Es musste noch gründlicher sein!

Jennifer war in der Stimmung der großen Säuberung. Sie kämpfte sich auf die Stiefelsohlen hoch und stieg von der Orphan Girl, die nur noch Schrottwert besaß nach ihrer wütenden Misshandlung, und rannte über den Steg am Anleger zurück zu den Parkplätzen auf dem Hafengelände. Ihr war etwas eingefallen, das sie noch heute erledigt haben wollte: Das Doppelbett, das sie daheim in der Villa mit ihm geteilt hatte, musste raus aus dem Haus. Sofort wollte sie diese Idee verwirklicht sehen und beeilte sich zu ihrem Auto, stieg auf der Fahrerseite ein, stopfte das Beil im Plastiksack rechts neben sich runter in den Beifahrerfußraum und startete schleunigst den Wagen, scherte aus der Parkplatzanlage aus und rumpelte durch den Nebel los, zurück in den Ortsteil New Oakridge, Richtung Westfir und nach Hause, wo sie diesmal das alltägliche Bettenmachen auf räumende Weise ausführen wollte. Jetzt war für Jennifer die Zeit gekommen, weitere Taten für sich sprechen zu lassen. Oft hatte sie sich trotz ihres voranschreitenden Mutes im Leben still zurückgehalten. Vom braven Bürgertum nahm sie soeben gedanklich Abschied und begrüßte die Rache.

Niemand hatte sie bei dieser sinnlos um sich hackenden Tat auf und im Boot gesehen. Keine Menschenseele war da gewesen, um sie aufzuhalten. Sheriff Wisemann hatte absichtlich weggesehen, hatte nichts unternommen, wenngleich er geahnt hatte, was Jennifer Gordon vorgehabt hatte und schließlich zur Tat der massiven Sachbeschädigung geschritten war. Selbst ihre beste Freundin war von ihrem Zuhause fortgegangen und kam wahrscheinlich niemals wieder zurück, weil sie sich von ihrer kaputten Ehe und dem finanziell abgesicherten Berufsleben als Biochemikerin im EltronMED-Konzern bewusst verabschiedet hatte. Trotzdem wusste jeder in Oakridge, um Oakridge und um Oakridge herum, wer ihre Wut, ihre Enttäuschung in den vergangenen Minuten an dem einst herrlichen Segelboot ausgelassen hatte, und alle im Ort wussten, warum sie es getan hatte. Der menschenverachtende Krieg in Europa hatte sich in Jennifers Herzen ausgetobt; die Amazone in ihr war erwacht, die nach Rache durstete, welche sie als Gerechtigkeit auslegte, als einen Ausgleich dafür sah, was ihr das augenscheinlich gutbürgerliche, sichere Leben mit einem Umschlagen der Richtung im willentlichen Denken ihres Ex-Verlobten nicht mehr bieten konnte: vertraute Zweisamkeit, sich auf den Partner auf Gedeih und Verderb verlassen können. Sie traute keinem Mann mehr über den Weg. Schluss damit! Die Männer durften nicht länger über Frauen walten und schalten wie es ihnen in den sprunghaft veranlagten Sinn kam. Sie selbst wollte etwas daran ändern.

Wabernd einhüllende Nebelschleier wurden von unsichtbarer Wettergeisterhand tiefer übers Willamette-Tal gedrückt, wollten einen seidenen Dunst sanft über das zerstörerische Werk der Menschen legen, doch das krächzende Klagen einer Krähe berichtete von Jennifers Taten und der Saatdieb-Vogel flatterte im Nebel davon, der das Tier und sein Wissen um die Täterin auf der geschundenen Orphan Girl verschluckte.

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Springfield, Dienstag, 25. November 2031; 03:16 p. m.

Unzumutbar war es für Romanas Adoptiveltern gewesen, so hatte sie selbst entschieden, nicht länger bei ihnen wie ein Gast oder wie ein hilfsbedürftiges Kind zu wohnen, das zwar erwachsen war nach äußerem Erscheinungsbild, aber nicht in der Lage war, das Leben eigenständig zu bewältigen. Sie war es zu sehr gewohnt, auf den eigenen Füssen zu stehen. In Springfield hatte sie sich ins Stadthotel eingemietet. Ein Hotelzimmer fand sich selbst in der kleinsten Stadt; diese hier war ihr angenehm vertraut. Springfield war zudem vom Elternhaus noch immer nicht sehr weit weg gelegen, weshalb sie sich jederzeit doch anders entscheiden und zurückkehren konnte, wenn sie es wollte. Die grell-grüne Honda, ein kurvenschnittiges, leichtes Motorrad, das sie fuhr, stand in der Hotel-Tiefgarage bereit, um sie jederzeit überallhin zu fahren, wenn sie sich im Klaren darüber geworden war, was sie wirklich wollte.

Nein, Romana wollte nicht wieder zurück!

Ihre langen Zehen wiesen ihr einen neuen Weg, den sie in Kürze beschreiten wollte: Sie wollte zum militärischen Ausbildungszentrum der WOMEN-Force in Fort Coos Bay.

Unzumutbar war auch das Nebelwetter draußen, weshalb sie keine Lust oder Motivation verspürte, erneut einen Einkaufsbummel im Stadtzentrum zu unternehmen oder lediglich sich zu einem Spaziergang durch die Straßen zu überwinden. Sie gammelte im Bademantel ab.

Eine Kurzmitteilung per Handy oder via Computer zu schreiben, erschien ihr für diese Situation als nicht angemessen, fühlte sich für sie feige an; mindestens so feige wäre es gewesen, wie sich Frederick gegenüber seiner Verlobten, nun Ex-Verlobten verhalten hatte. Von ihm hatte sie keine Antwort auf ihre Fragen erhalten, die sie ihm ohne Jennifers Wissen gesendet hatte. Romana hatte sich heute klassisches Schreibzeug besorgt, hatte herbstlich freundlich gestaltetes Briefpapier mit einer Igelfamilie im Laub darauf aufgedruckt gekauft, um einen Brief an ihre beste Freundin Jennifer Gordon zu schreiben, doch es flossen ihr die Worte kaum, nur stockend aus den Fingern, die ihren Lieblingsfüller hielten. Seufzend enttäuscht steckte sie die Federhülle auf den Füller und legte ihn am Einzelbett auf das Nachttischchen weg. Romana knüllte das Kopfkissen zusammen und legte ihren schweren Kopf darauf ab.

Noch etwas empfand sie als unzumutbar: In Europa war etwas ins Rollen gekommen, das man sich nicht hatte vorstellen wollen, denn am intelligenten Können hatte es sicher nicht gelegen, dass es jetzt wieder einmal so weit gekommen war, vor der Ausbreitung eines Krieges zu stehen, der sich aus lokalen Demonstrationen heraus zu einem weltweiten Problem entwickelte. Beide Augen hatte man vor den unübersehbaren Tatsachen verschlossen und nun war der europäische Gemütskessel am Überkochen und es gab Krieg zwischen weiblichen Milizen und männlichen Militärtruppen.

Fest schloss Romana ihre Augenlider und versuchte sich in die Beweggründe der Bevölkerung, der Regierung und der Rebellinnen hinein zu fühlen, wobei sie für sich feststellte, auf der Seite der Frauen zu sein, die sich nicht vom neuen Gesetz der rigorosen Geburtenkontrolle unterjochen lassen wollten, wie das zwangsbesamte Rindvieh auf der Weide, dem Willen des profitabel wirtschaftenden Bauern unterworfen, der sie schlachten ließ, wenn das geworfene Kalb nicht den gewünschten genetischen Markern entsprach, die man bestenfalls zu vererben versucht hatte.