Gottfried Keller

Frau Regel Amrain und ihr Jüngster

Novelle

Gottfried Keller

Frau Regel Amrain und ihr Jüngster

Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-75-1

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Inhaltsverzeichnis

Frau Re­gel Am­rain und ihr Jüngs­ter

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Frau Regel Amrain und ihr Jüngster

Re­gu­la Am­rain war die Frau ei­nes ab­we­sen­den Seld­wy­lers; die­ser hat­te einen großen Stein­bruch hin­ter dem Städt­chen be­ses­sen und sei­ne Zeit lang aus­ge­beu­tet, und zwar auf Seld­wy­ler Art. Das gan­ze Nest war bei­na­he aus dem gu­ten Sand­stein ge­baut, aus wel­chem der Berg be­stand; aber das Schul­den­we­sen, das auf den Häu­sern ruh­te, hat­te von je­her recht ei­gent­lich schon mit den Stei­nen be­gon­nen, aus de­nen sie ge­baut wa­ren; denn nichts schi­en den Seld­wy­lern so wohl ge­eig­net als Stoff und Ge­gen­stand ei­nes mun­tern Ver­kehrs als ein sol­cher Stein­bruch, und der­sel­be glich ei­ner in Fel­sen ge­haue­nen rö­mi­schen Schau­büh­ne, über wel­che die Be­sit­zer em­sig hin­weg­lie­fen, ei­ner den an­dern ja­gend.

Herr Am­rain, ein an­sehn­li­cher Mann, der eine an­sehn­li­che Men­ge Fleisch, Fi­sche und Wein ver­zeh­ren muss­te und mäch­ti­ge Stücke Sei­den­zeug zu sei­nen brei­ten schö­nen Wes­ten brauch­te, him­melblaue, kirsch­ro­te und groß­ar­tig ge­wür­fel­te, war ur­sprüng­lich ein Knopf­ma­cher ge­we­sen und hat­te auch die eine und an­de­re Stun­de des Ta­ges Knöp­fe be­spon­nen. Als er aber mit den Jah­ren gar so fest und breit wur­de, sag­te ihm die sit­zen­de Le­bens­art nicht mehr zu, und als er über­haupt den rech­ten Phä­aken­auf­schwung ge­nom­men: die rote Sam­met­wes­te, die gol­de­ne Uhr­ket­te und den Sie­gel­ring, li­qui­dier­te er die Knopf­ma­che­rei und über­nahm in ei­ner wich­ti­gen Haupt­sit­zung der Seld­wy­ler Spe­ku­lan­ten je­nen Stein­bruch. Nun hat­te er die an­ge­mes­se­ne be­weg­li­che Le­bens­wei­se ge­fun­den, in­dem er mit ei­ner ro­ten Brief­ta­sche voll Pa­pie­re und ei­nem ele­gan­ten Spa­zier­stock, auf wel­chem mit sil­ber­nen Stif­ten ein Zoll­maß an­ge­bracht war, etwa in den Stein­bruch hin­aus lust­wan­del­te, wenn das Wet­ter lieb­lich war, und dort mit dem be­sag­ten Sto­cke an den ver­pfän­de­ten Stein­la­gern her­um­sto­cher­te, den Schweiß von der Stirn wisch­te, in die schö­ne Ge­gend hin­aus­schau­te und dann schleu­nigst in die Stadt zu­rück­kehr­te, um den ei­gent­li­chen Ge­schäf­ten nach­zu­ge­hen, dem Um­satz der ver­schie­de­nen Pa­pie­re in der Brief­ta­sche, was in den küh­len Gast­stu­ben auf das bes­te vor sich ging. Kurz, er war ein voll­kom­me­ner Seld­wy­ler bis auf die po­li­ti­sche Verän­der­lich­keit, wel­che aber die Ur­sa­che sei­nes zu frü­hen Fal­les wur­de. Denn ein kon­ser­va­ti­ver Ka­pi­ta­list aus ei­ner Finanz­stadt, wel­cher kei­nen Spaß ver­stand, hat­te auf den Stein­bruch ei­ni­ges Geld her­ge­ge­ben und da­mit ge­glaubt, ei­nem wa­ckern Par­t­ei­ge­nos­sen un­ter die Arme zu grei­fen. Als da­her Herr Am­rain in ei­nem An­fall gänz­li­cher Ge­dan­ken­lo­sig­keit ei­nes Ta­ges höchst ver­fäng­li­che li­be­ra­le Re­dens­ar­ten ver­neh­men ließ, wel­che ruch­bar wur­den, er­zürn­te sich je­ner Herr mit Recht; denn nir­gends ist po­li­ti­sche Ge­sin­nungs­lo­sig­keit wi­der­wär­ti­ger als an ei­nem großen di­cken Man­ne, der eine bun­te Sam­met­wes­te trägt! Der er­bos­te Gön­ner zog da­her jäh­lings sein Geld zu­rück, als kein Mensch dar­an dach­te, und trieb da­durch vor der Zeit den be­stürz­ten Am­rain vom Stein­bruch und in die Welt hin­aus.

Man wird sel­ten se­hen, dass es großen schwe­ren Män­nern schlecht er­geht, weil sie eine durch­grei­fen­de und über­zeu­gen­de Gabe be­sit­zen, für ih­ren an­spruchs­vol­len Kör­per­bau zu sor­gen, und die Nah­rungs­mit­tel kön­nen sich dem­sel­ben nicht lan­ge ent­zie­hen, son­dern wer­den von dem Ma­gnet­ge­bir­ge des Bau­ches mäch­tig an­ge­zo­gen. So fraß sich der land­flüch­ti­ge Am­rain auch glück­lich durch die Fer­nen; und ob­gleich er nichts Gro­ßes mehr wur­de, aß und trank er doch ir­gend­wo in der Frem­de so weid­lich wie zu Hau­se.

Doch den Seld­wy­lern, wel­che jetzt rat­schlag­ten, wel­cher von ih­nen nun am taug­lichs­ten wäre, eine Zeit lang die Hon­neurs am Stein­bruch zu ma­chen, wur­de aber­mals ein Strich durch die Rech­nung ge­zo­gen, als die zu­rück­ge­blie­be­ne Ehe­frau des Herrn Am­rain un­er­war­tet ih­ren Fuß auf den Sand­stein setz­te und kraft ih­res her­zu­ge­brach­ten Wei­ber­gu­tes den Stein­bruch an sich zog und er­klär­te, das Ge­schäft fort­set­zen und mög­li­cher­wei­se die Gläu­bi­ger ih­res Man­nes be­frie­di­gen zu wol­len. Sie tat dies erst, als der­sel­be schon jen­seits des At­lan­ti­schen Welt­meers war und nicht mehr zu­rück­kom­men konn­te. Man such­te sie auf jede Wei­se von die­sem Vor­ha­ben ab­zu­brin­gen und zu hin­dern; al­lein sie zeig­te eine sol­che Ent­schlos­sen­heit, Rüh­rig­keit und Be­son­nen­heit, dass nichts ge­gen sie aus­zu­rich­ten war und sie wirk­lich die Be­sit­ze­rin des Stein­bru­ches wur­de. Sie ließ flei­ßig und or­dent­lich dar­in ar­bei­ten un­ter der Lei­tung ei­nes gu­ten frem­den Werk­füh­rers und grün­de­te zum ers­ten Mal die Un­ter­neh­mung, statt auf den Schein­ver­kehr, auf wirk­li­che Pro­duk­ti­on. Hieran woll­te man sie nun erst recht be­hin­dern; al­lein es war nicht ge­gen sie auf­zu­kom­men, da sie als Frau und spar­sa­me Mut­ter kei­ne Aus­ga­ben hat­te, im Ver­gleich zu den Her­ren von Seld­wy­la, und da­her auf die ein­fachs­te Wei­se im­stan­de war, alle Stür­me ab­zu­schla­gen und alle be­grün­de­ten For­de­run­gen zu be­zah­len. Aber den­noch hielt es schwer, und sie muss­te Tag und Nacht mit Mut, List und Kraft bei der Hand sein, sin­nen und sor­gen, um sich zu be­haup­ten.

Frau Re­gel hat­te von aus­wärts in das Städt­chen ge­hei­ra­tet und war eine sehr fri­sche, große und hand­fes­te Dame mit kräf­ti­gen schwar­zen Haar­flech­ten und ei­nem fes­ten dunklen Blick. Von ih­rem Man­ne hat­te sie drei Bu­ben von un­ge­fähr zehn, acht und fünf Jah­ren, wel­che sie oft­mals auf­merk­sam und ernst­haft be­trach­te­te, dar­über sin­nend, ob die­sel­ben auch wert sei­en, dass sie das Haus für sie auf­recht­hal­te, da sie ja doch Seld­wy­ler wä­ren und blei­ben wür­den. Doch weil die Bur­schen ein­mal ihre Kin­der wa­ren, so ließ die Ei­gen­lie­be und die Mut­ter­lie­be sie im­mer wie­der einen gu­ten Mut fas­sen, und sie trau­te sich zu, auch in die­ser Sa­che das Steu­er am Ende an­ders zu len­ken, als es zu Seld­wyl Mode war.

In sol­che Ge­dan­ken ver­sun­ken, saß sie einst nach dem Nachtes­sen am Ti­sche und hat­te das Ge­schäfts­buch und eine Men­ge Rech­nun­gen vor sich lie­gen. Die Bu­ben la­gen im Bet­te und schlie­fen in der Kam­mer, de­ren Türe of­fen­stand, und sie hat­te eben die drei schla­fen­den klei­nen Ge­sel­len mit der Lam­pe in der Hand be­trach­tet und be­son­ders den kleins­ten Kerl ins Auge ge­fasst, der ihr am we­nigs­ten glich. Er war blond, hat­te ein keckes Stumpf­näs­chen, wäh­rend sie eine ernst­haf­te gra­de lan­ge Nase be­saß, und statt ih­res streng ge­schnit­te­nen Mun­des zeig­te der klei­ne Fritz trot­zig auf­ge­wor­fe­ne Lip­pen, selbst wenn er schlief. Dies hat­te er al­les vom Va­ter, und es war das ge­we­sen, was ihr eben so wohl ge­fal­len hat­te, als sie ihn hei­ra­te­te, und was ihr jetzt auch an dem klei­nen Bur­schen so wohl ge­fiel und doch so schwe­re Sor­gen mach­te. Wenn eine Ge­sichts­art ei­nem ein­mal wohl­ge­fällt, so hilft hie­ge­gen kein Kraut; des­we­gen war Frau Am­rain froh, dass der Alte weg war und sie ihn nicht mehr sah; aber er hat­te ihr in dem jüngs­ten Kin­de ein treu­es Ab­bild sei­ner äu­ße­ren Art hin­ter­las­sen, wel­ches sie nie ge­nug an­se­hen konn­te.

Über die­sen Sor­gen traf sie der Werk­füh­rer oder obers­te Ar­bei­ter, der jetzt ein­trat, um mit ihr die An­ge­le­gen­hei­ten und den Be­stand der Ge­schäf­te durch­zu­se­hen und man­che wich­ti­ge Din­ge zu be­spre­chen. Es war ein hüb­scher und un­ter­neh­men­der Bur­sche von schlan­kem kräf­ti­gem Kör­per­bau, mä­ßig in sei­ner Le­bens­wei­se, flei­ßig und aus­dau­ernd und da­bei in sei­nen Ge­dan­ken von ei­ner ge­wis­sen ein­fa­chen Schlau­heit, wel­che zu­sam­men mit den er­kleck­li­chen Ei­gen­schaf­ten sei­ner Meis­te­rin eben das Ge­schäft in gu­tem Gan­ge er­hielt und die ge­dan­ken­lo­sen Spitz­fin­dig­kei­ten der Seld­wy­ler zu­schan­den wer­den ließ. In­zwi­schen war er aber ein Mensch und dach­te da­her vor al­lem an sich sel­ber, und in die­sem Den­ken hat­te er es nicht übel ge­fun­den, sel­ber der Herr und Meis­ter hier zu sein und sich eine blei­ben­de Stät­te zu grün­den, da­her auch in al­ler Ehr­er­bie­tung der Frau Re­gu­la wie­der­holt na­he­ge­legt, eine ge­setz­li­che Schei­dung von ih­rem ab­we­sen­den Man­ne her­bei­zu­füh­ren.

Sie hat­te ihn wohl ver­stan­den; doch wi­der­streb­te es ih­rem Stolz, sich öf­fent­lich und mit schimpf­li­chen Be­weis­grün­den von ei­nem Man­ne zu tren­nen, der ihr ein­mal wohl­ge­fal­len, mit dem sie ge­lebt und von dem sie drei Kin­der hat­te; und in der Sor­ge für die­se Kin­der woll­te sie auch kei­nen frem­den Mann über das Haus set­zen und we­nigs­tens die äu­ße­re Ein­heit des­sel­ben be­wah­ren, bis die Söh­ne her­an­ge­wach­sen wä­ren und ein un­zer­split­ter­tes Erbe aus ih­rer Hand emp­fan­gen könn­ten; denn ein sol­ches ge­dach­te sie trotz al­ler Schwie­rig­kei­ten zu­sam­men­zu­brin­gen und den Hie­si­gen zu zei­gen, was da Brauch sei, wo sie her­ge­kom­men. Sie hielt da­her den Werk­füh­rer knapp im Zü­gel und brach­te sich da­durch nur in grö­ße­re Ver­le­gen­heit; denn als der­sel­be ih­ren Wi­der­stand und ih­ren fes­ten Cha­rak­ter er­sah, ver­lieb­te er sich förm­lich in sie und ge­dach­te erst recht sei­ne Wün­sche zu er­rei­chen. Er än­der­te sein Be­neh­men, al­so­dass er, statt wie bis an­her ehr­bar um ihre Hand als Meis­te­rin sich zu be­wer­ben, nun um ihre Per­son schmach­te­te, wo sie ging, und sie stets mit ver­lieb­ten Au­gen an­sah, wo es im­mer tun­lich war. Dies schi­en für ihn eine zweck­dien­li­che Ver­än­de­rung, da die ei­gent­li­che Ver­liebt­heit in die Per­son ei­nes Men­schen den­sel­ben viel mehr be­sticht und be­zwingt als alle noch so ehr­ba­ren Hei­rats­ab­sich­ten. Wenn nun Frau Re­gel auch nicht die Hal­tung ver­lor und sich in ihn nicht wie­der ver­lieb­te, so wur­de es doch schwe­rer für sie, ihn ab­zu­weh­ren, ohne mit ihm zu bre­chen und ihn zu ver­lie­ren, und es ist be­kannt­lich eine Haupt­lieb­ha­be­rei der Frau­en, sich nütz­li­che Freun­de und Par­tei­gän­ger zu er­hal­ten, wenn es im­mer ge­sche­hen kann ohne große Op­fer.

Als der Werk­füh­rer in die Stu­be trat, fun­kel­ten sei­ne Au­gen mit un­ge­wöhn­li­chem Glan­ze, denn er hat­te im Ver­kehr mit ei­ni­gen Ge­schäfts­leu­ten, mit de­nen er sich zum Vor­teil der Frau wa­cker her­um­ge­schla­gen, eine Fla­sche kräf­ti­gen Wein ge­trun­ken. Wäh­rend er ihr Be­richt er­stat­te­te und dann in den Pa­pie­ren mit ihr rech­ne­te, blick­te er sie oft­mals un­ver­se­hens an und wur­de zer­streut und auf­ge­regt, wie ei­ner, der et­was vor­hat. Sie rück­te mit ih­rem Ses­sel et­was zur Sei­te und be­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­