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Ende 1989/Anfang 1990: Die Mauer war gefallen und in Berlin verhandelte man über die Zukunft der DDR. Währenddessen erledigten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit einen geheimen Auftrag: Sie sollten die über Jahrzehnte pedantisch angelegten Akten und Spitzelberichte vernichten. Insbesondere von den verdeckten Spionageangriffen aufs Bonner Kanzleramt, diesen Stichen ins Herz des Klassenfeindes, durfte es keine Spuren geben. Um ein Haar wäre das Verdunkelungsmanöver gelungen. Doch aller Gründlichkeit zum Trotz blieb so manches Dokument erhalten.

Heribert Schwan hat über 81.000 Blatt Aktenmaterial ausgewertet, um die systematische Unterwanderung der Bonner Regierungen von 1949 bis 1989 nachzuzeichnen. Wie konnte es der Stasi gelingen, ihre Spitzel selbst im Kanzleramt einzuschleusen? Wie wurden die Inoffiziellen Mitarbeiter angeworben und ausgebildet – und was hat sie zu ihrem Verrat bewogen? Auf welchen Wegen wurden die geheimen Berichte und Unterlagen übermittelt? An zahlreichen Beispielen zeigt Schwan, mit welchem gewaltigen Aufwand das Ministerium für Staatssicherheit die gesamte Führungsriege der BRD ins Visier nahm: von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, von Herbert Wehner bis Hans-Dietrich Genscher.

Heribert Schwan

Spione

im Zentrum

der Macht

Wie die Stasi alle Regierungen seit Adenauer bespitzelt hat

Wilhelm Heyne Verlag München

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Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Tilman Jens

Redaktion: Heike Wolter

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © picture-alliance / Sven Simon Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-22928-3
V003

www.heyne.de

Inhalt

Vorbemerkung

1. Auf den Kanzler kommt es an

2. Feindbild Adenauer

3. Adenauers Kabinettsriege

4. Ludwig Erhards Kanzlerschaft

5. Kanzler Kiesinger und sein Minister Wehner

6. Willy Brandt im Visier

7. Die Guillaume-Affäre

8. Verschärfte Observation: Helmut Schmidt unter Beobachtung

9. Alte und neue Minister

10. Aktion »Dialog« – Das Treffen zwischen Honecker und Schmidt

11. Affären im Auswärtigen Amt: Die Akte Genscher

12. Das Spinnennetz der Bonner Diplomaten

13. Helmut Kohl – umzingelt von Verrätern

14. Kohl und seine Kabinette

15. Militärspionage in den Achtzigern

Nachbemerkung

Literaturhinweise

Personenregister

Sachregister

Vorbemerkung

Verdammt lang her! Im März 2005 stellte ich beim »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR« einen Antrag auf Herausgabe von Aktenkopien, die über die Ausspähung der Bundeskanzler und Kabinettsmitglieder von 1949 bis 1989 durch die Staatssicherheit der DDR Auskunft geben. In insgesamt 66 Fällen wurden ehemalige Kanzler, Bundesministerinnen und Bundesminister über mein Forschungsprojekt in Kenntnis gesetzt. Keiner hatte Einwände. Im September 2008 waren die Nachfragen der Behörde abgeschlossen. Mir wurde ein schwindelerregender Berg von über 81.000 Blatt Aktenmaterial übergegeben.

197 Inoffiziellen Mitarbeitern konnte eine »wissentliche und willentliche Zusammenarbeit« mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nachgewiesen werden. Sie waren auf die Bonner Kabinette von Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl angesetzt. Diese wahre Heerschar von Spitzeln versorgte Ost-Berlin mit Informationen über die Bonner Regierungen und die Politprominenz in der provisorischen Hauptstadt am Rhein. Die tatsächliche Zahl der Spitzel war vermutlich etwas höher, da mancher nicht entschlüsselt werden konnte. Bekanntlich wurden die meisten Dokumente der DDR-Auslandsspionage (HVA) in den Wendemonaten 1989/90 vernichtet. Bei den in diesem Buch geschilderten Fällen werden die Klarnamen in der Regel genannt; auch wo – aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen – nur ein Initial angeführt wird, sind die Namen dem Verfasser bekannt.

Dieses Buch handelt von den Mitteln und Methoden des Ministeriums für Staatssicherheit mit denen das Kanzleramt und die Bonner Ministerien ausspioniert wurden, und vor allem von den erstmalig erlangten Inhalten der erbeuteten Informationen.

Wo waren die Spitzel platziert? Wie gelangten sie an ihre Informationen, die dem SED-Staat so wichtig erschienen? Wie war der Transport der geheimen Berichte und Unterlagen organisiert? Wie wurden die IMs im »Operationsgebiet« – wie die Bundesrepublik hieß – rekrutiert, angeworben und ausgebildet? Aus welchen Milieus stammten sie, und was hat sie zu ihrem Verrat bewogen? Wie gelang es den MfS-Offizieren, zu den »Kundschaftern für den Frieden« – so wurden die Westspione im Stasijargon genannt – ein Vertrauensverhältnis aufzubauen? Fragen über Fragen!

»Spione im Zentrum der Macht« verknüpft die Erkenntnisse der spät entschlüsselten und ungemein aufschlussreichen Datenträger des DDR-Geheimdienstes mit den Ermittlungsergebnissen und Urteilen der bundesdeutschen Justiz. Diese Verflechtung ermöglicht es, die Geschichte der ersten 40 Jahre der Bundesrepublik aus gänzlich ungewohnter Perspektive, anhand der Spionagetätigkeit Ost-Berlins zu beschreiben – und zugleich einen zeitgeschichtlichen Einblick in die mit raffiniertesten Mitteln betriebene Arbeit des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit zu gewinnen. Dabei habe ich viel sachkundige Unterstützung erfahren.

Mein allererster Dank gilt Roberto Welzel, der als Sachgebietsleiter des Referats Forschung und Medien in der Stasiunterlagenbehörde, nicht nur für dieses Projekt, bei Recherche und fachlicher Beratung wahrlich Herausragendes geleistet hat. Vor allem in den letzten Monaten, als der Abgabetermin des Manuskripts näherrückte, war er unverzichtbarer Ansprechpartner, auf dessen fachliche Kompetenz ich immer wieder bauen konnte. Ohne seine himmlische Geduld, ohne Welzels Bereitschaft, sein über die Jahre erworbenes Wissen über den militärischen Apparat des MfS mit mir zu teilen, hätte dieses Buch so, wie es nun ist, kaum entstehen können.

Großer Dank auch an den ehemaligen Bundesanwalt Joachim Lampe. Ich hatte die Möglichkeit, bei der Karlsruher Bundesanwaltschaft, in rechtlich zulässigem Rahmen, Einsicht in Urteile, Urkunden und richtungsweisende Entscheidungen und Urkunden zu nehmen. Dabei stand mir der heutige Anwalt und langjährige Experte für die deutsch-deutsche Spionage im Kalten Krieg verlässlich und mit hoher juristischer Kompetenz zur Seite.

Heinz Fehlauer, Sachbearbeiter beim Bundesarchiv in der Abteilung Bereitstellung, überprüfte über 50 Bonner Minister und Ministerinnen nach einer möglichen Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer Unterorganisationen. Dank seiner großen Kenntnis konnten die Angaben der Stasi-Rechercheure über vermutete Verstrickungen Bonner Spitzenpolitiker in nationalsozialistische Verbrechen gegengeprüft werden.

Roswitha Schwan-Michels, seit meiner Dissertation vor fast einem halben Jahrhundert stets meine erste Lektorin, war mir – wie bei allen Publikationen zuvor – einmal mehr eine kritische und kluge Ratgeberin. Auch ihr gebührt besonderer Dank.

Last, but not least Tilman Jens – diesmal in der Rolle des Lektors. Meinem Freund und Kollegen verdanke ich so manchen hilfreichen und gelegentlich unumgänglichen Änderungsvorschlag. Ihm gelang es auch, die Sprache des Geheimdienstes auf ein möglichst erträgliches Maß zu reduzieren und Juristendeutsch, wo immer möglich, zu vermeiden. Großes Lob!

Während der langen Arbeit am Schreibtisch, die meinem Rücken zusetzte, verhalf mir der Physiotherapeut Alexander Finzel von der PhysioSport zu einem nahezu schmerzfreien Zehn-Stunden-Tag am heimischen Computer. Auch bei ihm möchte ich mich an dieser Stelle bedanken.

Köln, im Juli 2019

1. Auf den Kanzler kommt es an

Ende 1989/Anfang 1990: Die Mauer war gefallen und in Berlin verhandelte man über die Zukunft der DDR. Währenddessen hatten zahlreiche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit einen geheimen Auftrag zu erledigen: Sie sollten all die pedantisch angelegten Akten und Spitzelberichte vernichten. Keine Operation der HVA, der mit dem Auslandsnachrichtendienst befassten Hauptverwaltung Aufklärung, sollte ans Licht kommen. Die verdeckten Spionage-Angriffe aufs Bonner Kanzleramt, diese Stiche ins Herz des Klassenfeindes, sollten schon gar nicht publik werden.

Um ein Haar wäre das generalstabsmäßig durchgeführte Verdunklungsmanöver in Gänze gelungen und eine zentrale Hinterlassenschaft des Kalten Krieges für immer ausgelöscht worden. Doch aller Gründlichkeit und allen Vertuschungsversuchen im Zuge der Selbstauflösung zum Trotz: Der Versuch, Tabula rasa zu machen, hatte, wie wir heute wissen, Schwachstellen. In Parteiakten, in Rechenschaftsberichten an andere Abteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit blieb so manches Aktenstück erhalten.

Dann lieferte 2003 der amerikanische Geheimdienst CIA die sogenannten Rosenholz-Dateien an die Bundesrepublik aus: 381 CD-ROMs, auf denen vor allem mikroverfilmte Karteikarten der HVA festgehalten waren: persönliche Angaben zu den IMs, der Heerschar der Inoffiziellen Mitarbeiter, ihr Auftrag, das Datum der Anwerbung. Insgesamt 350.000 Dateien! Nur zu deutschen Staatsangehörigen. Die Originale hatten die Mitarbeiter auf Weisung vernichtet, eine Sicherungs-Kopie aber blieb unter bis heute mysteriösen Umständen erhalten. Noch mysteriöser ist, dass gerade die CIA diese mikroverfilmte Sicherungskopie erhalten hat.

Ein hochexplosiver Schatz, dokumentieren diese Karteikarten – obwohl aufgrund vernichteter Aktenvorgänge häufig keine konkrete Zuordnung zu einem Klarnamen möglich ist – doch das gewaltige Ausmaß der DDR-Auslandsspionage auf dem Gebiet der Bundesrepublik.

Schon zuvor war es dem Spezialisten Stephan Konopatzky von der Stasiunterlagenbehörde 1998 nach jahrelanger Kärrnerarbeit gelungen, das elektronische Datenbanksystem der HVA zu dechiffrieren: SIRA, das »System zur Informations-Recherche der HVA«. Hier fanden sich weitere wichtige Details zu Personen und verdeckten Operationen, die – nach dem Willen der Geheimdienstler der untergegangenen DDR – unter keinen Umständen öffentlich werden sollten. Ganz aufgegangen ist die Rechnung nicht.

Allein diesem Buch über die systematische Unterwanderung der Bonner Regierungen von 1949 bis 1989 liegen exakt 81.766 Blatt aus Akten sowie aus den Rosenholz- und SIRA-Dateien zugrunde. Lauter unfreiwillige, trotz des gewaltigen Umfangs nur rudimentäre Hinterlassenschaften der HVA zumeist, die in Erich Mielkes Ministerium für Staatssicherheit eingegliedert war und 34 Jahre vor allem einem einzigen Mann gehorchte: Markus Wolf. Lange – bis zu einem Foto, das 1979 endlich auftauchte – galt er als »Mann ohne Gesicht«, was die Arbeit seiner Hauptverwaltung umso mysteriöser machte. Seit 1952 war Wolf der Leiter des »Außenpolitischen Nachrichtendienstes« der DDR, zuletzt im Range eines Generalobersten. Er lenkte die Geschicke des riesigen Apparates von Hauptamtlichen und Inoffiziellen Mitarbeitern, deren einzige Aufgabe es war, Spionage – vor allem in der Bundesrepublik – zu betreiben.

Diese Spionage diente dem Klassenkampf. Ging es nach dem Willen von Wolf und anderen, sollte sie der DDR unmittelbare Einflussnahme beim Klassenfeind ermöglichen: in der Wirtschaft, beim Militär – und besonders in der Politik. Die Maßnahmen erwiesen sich als unterschiedlich erfolgreich. Die Abteilung A1 – »BRD-Staatsapparat« – zählte zu den »erfolgreicheren«. Immer wieder gelang es ihren Mitarbeitern, in das Machtzentrum der Bundesrepublik vorzudringen, dort brisante Informationen zu erlangen und hin und wieder gezielt Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen.

Eines der aufregendsten Dokumente über diese Abteilung, das der Zerstörung 1989/90 entging, ist eine vergilbte Dissertation aus dem Jahr 1974. Verfasser waren zwei Absolventen der einstigen Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam. Wolfs Getreue haben die Vernichtung der akademischen Schrift von Otto Wendel und Rudolf Genschow vermutlich schlichtweg vergessen. Der Titel ist so holzig wie das Papier des Typoskripts: »Probleme des Aufbaus operativer Vorgänge zum systemischen Eindringen in die exekutive Führungszentrale des westdeutschen Bundeskanzlers«. Doch die Studie, freigegeben »Nur für den Dienstgebrauch«, hat es in sich. Sie illustriert, ohne Scheu vor Details, die frühen Abenteuer der DDR-Auslandsspionage in der Ära Adenauer – und war damit die Blaupause für die Bespitzelung aller deutschen Bundeskanzler.

Markus Wolf persönlich hat die wissenschaftliche Untersuchung angeregt und befördert. Die Autoren, beide verstorben, hatten offenkundig weitreichende Einsicht in die Dokumente, die eigentlich Staatsgeheimnis waren. Geradezu detailversessen und stramm linientreu schildern sie, wie es der DDR-Auslandsspionage gelang, in die Administration des ersten Bundeskanzlers einzudringen. Garanten des Erfolges waren dabei die sogenannten Residenten – geschickt platzierte, ideologisch gestählte Undercover-Agenten auf dem Terrain des Klassenfeindes. Allesamt waren sie ausgestattet mit sorgsam gefälschten Identitäten. Spionage als Reißbrett-Arbeit, kaltes Kalkül vom ersten bis zum letzten Tag der Mission.

Einer dieser Residenten war Albert Weißbach, Oberleutnant des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Am 18. August 1961, fünf Tage nach dem Bau der Berliner Mauer, wurde er mit dem »Ehrenzeichen der Deutschen Volkspolizei«, der Medaille in Bronze für »Treue Dienste« ausgezeichnet. Über Jahre hatte er als Hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter (HIM) des MfS »wertvolle Pionierarbeit« im Operationsgebiet, so hieß die Bundespolitik Deutschland im Stasijargon, geleistet. Seine Vorgesetzten in Ost-Berlin bescheinigten ihm »hohe Einsatzbereitschaft, Klassenbewusstsein, Mut und Disziplin«. Sogar als er in Bonn schließlich unter Verdacht geriet, professioneller Zuträger des MfS zu sein, habe Weißbach »Mut und Umsicht« bewiesen und sich dem »Zugriff des Feindes« – gemeint war der bundesdeutsche Verfassungsschutz – durch Flucht entzogen und »dadurch politisch-operativen Schaden verhindert«. Im Jahr 1962 war er in die DDR zurückgekehrt. Als lebende Wanze in der Kommandozentrale der Bonner Republik, als »Resident«, hatte er für alle Tage ausgedient.

Am Ende seines Einsatzes bescheinigten ihm die Vorgesetzten, »Voraussetzungen zum Eindringen in ein feindliches Spitzenobjekt geschaffen zu haben«, in Konrad Adenauers Bundeskanzleramt, ins Palais Schaumburg. Der Mann hatte Bahnbrechendes geleistet. Ein wahrer Pionier!

Kein Geringerer als Markus Wolf, der feingeistige, aber nicht eben zimperliche Befehlshaber über eine Armada von DDR-Auslandsagenten, hatte in einem »streng geheimen« Papier vom Oktober 1952 vorgeschlagen, Weißbach unter dem Decknamen »Franz Schwarz« zu führen und ihn in langjähriger Kleinarbeit auf seine Geheimmission beim Klassenfeind vorzubereiten. Nach Wolfs Angaben wurde Weißbach 1922 im Erzgebirge geboren, besuchte acht Jahre die Volksschule und drei Jahre die Berufsschule, war Mitglied bei der Hitlerjugend und wurde 1941 zur Wehrmacht eingezogen. Soldat, Kanonier an der Ostfront, Dienstgrad: Obergefreiter. Am Tag der Kapitulation 1945 geriet er in sowjetische Gefangenschaft, wo er die Antifa-Schule besuchte. Nach seiner Heimkehr 1949 trat er der SED bei und arbeitete bei der Nationalen Front sowie der FDJ. In einer Maschinenausleihstation (MAS) war er Kulturleiter. 1950 schickte ihn die Partei zum Zweijahreslehrgang der Deutschen Verwaltungsakademie »Walter Ulbricht«. Dort wurde er von einem Genossen angesprochen und fürs MfS angeworben.

Markus Wolf kümmerte sich persönlich um Weißbach. In einer abermals »streng geheimen« Notiz schrieb er: »Obwohl Schwarz (Albert Weißbach) von Beruf Bäcker ist und aus einem kleinen Dorf im Erzgebirge stammt, macht er jetzt den Eindruck eines gut gebildeten, intelligenten und redegewandten Menschen. Er hat ein solides politisches Grundwissen, neigt allerdings nach Besuch der Verwaltungsakademie ein wenig zum rein theoretischen Herangehen an die Fragen. Seine gesamte Familie befindet sich auf dem Gebiet der DDR, sodass er beim Einsatz in Westdeutschland unter anderem Namen gehen müsste, zumal die Tatsache seines Studiums an der Verwaltungsakademie dem Gegner bekannt sein kann. Schwarz erkennt die Bedeutung des Kampfes um die Einheit Deutschlands und ist bereit, seinen Beitrag zur Durchführung dieser Aufgabe auf besonderem Gebiet zu leisten.« Wolf schlug vor, »Schwarz« zum Residenten auszubilden und ihn systematisch auf seinen Einsatz vorzubereiten.

Der Stasiunterlagenbehörde zufolge verfügte die Ost-Berliner Auslandsspionage HVA noch 1988 über 32 Residenten in der Bundesrepublik. Genosse Albert Weißbach alias Franz Schwarz war einer der ersten. Anfang Oktober 1952 wurde mit seiner systematischen Schulung begonnen. Sie dauerte bis zum Januar 1953. Weißbach erhielt seinen Decknamen »Franz«. Bei der Polizei und beim Wohnungsamt hingegen wurde er unter dem Namen »Albert Nagel« geführt. Noch während der Ausbildung zum Agenten fiel die Entscheidung, ihn unter falschem Namen in die Bundesrepublik zu schleusen. Dabei galt es zunächst, einige Hürden zu überwinden: So hatte der künftige Resident keine Verwandten in Westdeutschland, die eine erste Möglichkeit zur Kontaktaufnahme geboten hätten. Mehrere Versuche, Verbindung zu Bekannten in der Bundesrepublik aufzunehmen, schlugen fehl. Und selbst an einem »gangbaren Beruf« fehlte es.

Schließlich entwickelten die Verantwortlichen einen Plan, der vielversprechend schien. Denn »Franz« konnte sich eines Stiefbruders entsinnen, der in der Fremdenlegion gefallen war. Auf Geheiß des Ministeriums für Staatssicherheit setzte sich »Franz« umgehend mit der französischen Militärbehörde West-Berlin in Verbindung, unter dem Vorwand, er wolle in der Bundesrepublik seinen gefallenen Bruder suchen. Er glaube nicht an dessen Tod. Über einen Bekannten aus sowjetischer Gefangenschaft bekam »Franz« eine Aufenthaltsgenehmigung in Solingen. Da er keinesfalls unter seinem richtigen Namen nach Westdeutschland einreisen konnte, wurde er von seinem Stiefvater pro forma adoptiert, nahm den Namen Gläser an und machte sich im April 1953, rundum getarnt, auf ins Bergische Land. Alles von langer Hand geplant!

Dank der Unterstützung eines Geschäftsmanns, den er zufällig kennengelernt hatte, fand »Franz« bald einen Posten im Interzonenhandel und bekam damit die für seine Mission so wichtige unbefristete Aufenthaltsgenehmigung im Westen. Den Einsatzbefehl aus Ost-Berlin befolgend, gelang es ihm binnen kürzester Frist, in Bonn eine Wohnung zu mieten, in der er fortan als Resident für den DDR-Geheimdienst tätig werden konnte. Das war die Grundvoraussetzung für seinen zentralen Auftrag: Adenauers Kanzleramt auszuspähen. Es sollte allerdings mehr als drei Jahre dauern, bis dem Inoffiziellen Mitarbeiter »Franz« ein erster Erfolg beschieden war: eine Angestellte im Bonner Bundeskanzleramt als Spionin für die DDR zu gewinnen. Die näheren Umstände sind wegen der großangelegten Dokumentenvernichtung weitestgehend unbekannt. Gesichert ist allerdings, dass es sich bei der Angeworbenen um die 1922 in Bonn geborene Erna K. handelte. Für sie wurden im Mai 1956, MfS-intern, Karteikarten angelegt. In den Rosenholz-Dateien sind unter dem Decknamen »Knorr« die Grunddaten zur Person, zum vorgangsführenden Mitarbeiter, das Datum, an dem die Kartei angelegt wurde sowie eine Archiv- und Registriernummer vermerkt. Der Karteikarte zu entnehmen ist auch, dass Frau »Knorr« mehr als zehn Jahre lang für den Ost-Berliner Geheimdienst tätig war. Aber über den tatsächlichen Umfang und den konkreten Inhalt des jahrelangen Verrats existieren keinerlei Dokumente mehr. Unklar bleibt auch, wie »Franz« die damalige Mitzwanzigerin erst für sich eingenommen, dann für das MfS angeworben und für eine Zusammenarbeit mit dem Ost-Berliner Geheimdienst gewonnen hat. Ebenso wenig wissen wir, wann und warum »Knorr« sich von ihrem Residenten »Franz« trennte, und doch weiterhin der DDR-Auslandsspionage zu Diensten stand.

Unzweifelhaft ist: Der zeitliche wie ökonomische Aufwand der Aktion war beträchtlich. Die Quelle »Knorr« muss in den Augen der DDR-Staatssicherheit von großer Bedeutung gewesen sein. Ob Aufwand und Ertrag in angemessenem Verhältnis standen, ist allerdings keineswegs sicher. In der Hysterie der deutsch-deutschen Eiszeit wurden auch ausgekundschaftete Banalitäten, insbesondere aus dem Zentrum der Macht, als wertvolle Beutestücke, als Pretiosen, gehandelt.

Der offenkundig abservierte »Franz«, damals Mitte 30, sah blendend aus, pflegte Umgang mit der besseren Gesellschaft der Hauptstadt und machte schon bald nach »Knorrs« Abgang erneut die Bekanntschaft einer Sekretärin, die im Palais Schaumburg, also direkt im Bundeskanzleramt, arbeitete. Wie ein Geschenk des Himmels muss er den abermaligen Kontakt zu einer Insiderin des Bonner Machtzentrums empfunden haben. Als empfindsamer Spion schätzte er die Bedeutung dieser Verbindung richtig ein. Nach Rücksprache mit der Ost-Berliner Zentrale legte ihm sein damaliger Führungsoffizier Helmut Reinhold dringlich nahe, am Ball zu bleiben. Auftragsgemäß organisierte IM »Franz« eine Wochenend-Sause mit mehreren Bekannten, zu der, versteht sich, auch die Sekretärin eingeladen wurde. »Aus Gründen der Konspiration«, so heißt es in der Dissertation aus dem Hause Wolf, ließ »Franz« zunächst kein besonderes Interesse an der attraktiven Frau erkennen. Dem Spionageprofi kam es zunächst lediglich darauf an, mehr zur Person der Adenauer-Bediensteten in Erfahrung zu bringen und erste »Bearbeitungsmöglichkeiten« zu erkunden.

Unterdessen wurde der Bonnerin stasi-intern der Deckname »Gudrun« verpasst. Der Resident hatte mittlerweile einiges herausbekommen und meldete der Zentrale in Ost-Berlin: »Gudrun ist Sekretärin beim Referenten des Bundeskanzlers Adenauer. Sie ist 34 Jahre alt, ledig, ohne festen Freund. Ihr Vater ist verstorben. Zu ihrer Mutter unterhält sie enge Verbindung. Näheres über ihre Geschwister wurde nicht bekannt. ›Gudrun‹ legt viel Wert auf gute Garderobe.« Sie zeige Interesse für politische Tagesfragen, ohne dass man daraus auf ihre politische Grundhaltung schließen könne. »Gudrun ist intelligent, besitzt eine gute Allgemeinbildung und ein sicheres Auftreten. Sie ist gesellig und tanzfreudig.« Allerdings habe sie während des Kontaktes zu IM »Franz« keinerlei Angaben über ihren Chef, einen Referenten des Bundeskanzlers, gemacht.

Im Ost-Berliner Hauptsitz des MfS wurden nun augenblicklich die Angaben zu Person und Arbeitsstelle überprüft. Hinter dieser »Gudrun« verbarg sich Grete B., 1922 in Boppard am Rhein geboren, wohnhaft in Bad Godesberg. Sie besaß aus Sicht der DDR-Auslandsspionage wiederum »einen hohen nachrichtendienstlichen Wert«. Die Einschätzung erwies sich als zutreffend.

Umgehend jedenfalls folgte die Weisung, mit der »operativen Bearbeitung« – also mit der Anwerbung – zu beginnen. Doch, leider, es gab Probleme: »Gudrun« ließ keinerlei Sympathien für den gleichaltrigen Mann aus dem Erzgebirge erkennen. Die HVA reagierte schnell, um den vermeintlich dicken Fisch nicht vom Haken zu lassen.

Also begab sich der für »Gudrun« zuständige Ost-Berliner Führungsoffizier Helmut Reinhold auf die Suche nach Ersatz. Beizuschaffen war ein verlässlicher Inoffizieller Mitarbeiter mit ausgeprägten Werberqualitäten und der Fähigkeit, einen stabilen Kontakt zu »Gudrun« herzustellen. So schlug die Stunde von IM »Astor«, dessen Klarname nicht mehr zu ermitteln ist. Wir wissen: Er war 56 Jahre alt und entstammte einer gutbürgerlichen Hamburger Familie. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg – so vermerkt es die von Markus Wolf geförderte Dissertation – war er leidenschaftlicher Flieger, während des Krieges dann Offizier im Generalstab. Bei Kampfhandlungen geriet er in sowjetische Gefangenschaft, wo er, so die akademische Erhebung, »politisch progressiv« beeinflusst werden konnte »und sich die marxistisch-leninistische Weltanschauung aneignete«. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft hielt er sich kurzfristig in der DDR auf und wurde auf politisch-ideologischer Basis als IM des MfS verpflichtet. Danach kehrte er in seine Heimatstadt Hamburg zurück.

»Astor« war geschieden, ungebunden, also auch willens und in der Lage, spezielle Dienste im Auftrag der DDR-Auslandsspionage zu leisten. Er schien für die kommende Aufgabe geradezu prädestiniert, »weil er über große Lebenserfahrungen und eine attraktive gesellschaftliche Position verfügte, um bei einer ledigen weiblichen Person Interesse für eine Bekanntschaft zu wecken«. Er hatte »Gudrun« etwas zu bieten. Und bei eventuellen Sicherheitsüberprüfungen waren keine Gefahren zu befürchten. Aber hatte »Astor« bei »Gudrun« eine Chance? Würde sich die Mitarbeiterin des Kanzlers tatsächlich in den Agenten verlieben?

Noch hatte sich »Franz« nicht ganz aus der Operation zurückgezogen und gab »Astor« den Hinweis, »Gudrun« werde bald zu einem Kuraufenthalt in die Nähe von Frankfurt am Main reisen. Die beiden IM entwickelten den Plan, »Gudruns« Kuraufenthalt zur direkten Kontaktaufnahme zu nutzen. Beide waren sie – nicht frei von männlichem Chauvinismus – der festen Überzeugung, dass ledige Frauen auf Kur besonders empfänglich für eine Anwerbung seien.

»Astor« ließ sich also eine Heilbehandlung just in jenem Ort verschreiben, an dem sich »Gudrun« aufhielt. Der gewiefte Spion bekam ihre Anschrift heraus und mietete sich im Kurhotel ein, in dem auch sie logierte. Damit waren alle Voraussetzungen geschaffen, um sich unauffällig der Zielperson zu nähern. Zwei Tage lang beobachtete der Agent ihr Verhalten, ihren Umgang. Schließlich sprach er sie in einem Tanzlokal an. Er wurde erhört. Zu fortgeschrittener Stunde vertraute sie »Astor« ein Geheimnis an und gab zu verstehen, dass sie Sekretärin eines Referenten des Bundeskanzlers sei. »Astor« gab vor, das nicht zu glauben und forderte so ihre Mitteilsamkeit heraus. Dabei erfuhr er Namen und Wohnort von »Gudrun« und ihrem Chef. In gelöster Stimmung plaudernd bis in die frühen Morgenstunden, nahm die nichts Böses ahnende Frau »Astors« Angebot an, sie am Ende des Kuraufenthalts mit seinem Pkw nach Mannheim zu fahren, wo sie mit ihrem Chef verabredet war.

Die Begegnung im Kurort war zwar nur kurz, dennoch hatte der neue Resident erste wichtige Erkenntnisse gewonnen. Die Sekretärin im Bonner Zentrum der Macht war unzufrieden und klagte über das Missverhältnis zwischen intensiver Arbeit und geringer Entlohnung. Außerdem ließ sie durchblicken, dass sie den Umgang mit seriösen, materiell gesicherten älteren Herren schätze. All das haben die Verfasser der Dissertation, dieser einzigartigen Quelle, minutiös dokumentiert.

»Astor« hatte in der Zwischenzeit für seine Geschäfte in Köln ein Büro eingerichtet und baute seinen repräsentativen Freundeskreis weiter aus. Er war im Kölner Luftwaffenring, einem Verein von Freunden der alten und der neuen Luftwaffe, aktiv und wurde Mitglied im Internationalen Aero-Club, ebenso im Godesberger Luftsportclub. Er erneuerte seine Flugscheine und verkehrte, besonders in Godesberg, mit der Prominenz – mit Ministern der Bonner Regierung, mit Diplomaten und Industriellen. Kurzum: Der Stasi-Resident war blendend vernetzt.

Von »Gudrun« aber kannte er zunächst nur Vor- und Zunamen. Und er wusste, dass sie in Bonn-Bad Godesberg wohnte. Ihre Adresse stand nicht im Telefonbuch. Ein älterer Herr, den »Astor« während des Kuraufenthalts kennengelernt hatte, half weiter. »Astor« zögerte keinen Moment und besuchte »Gudrun« überraschend in ihrer Wohnung. Er übermittelte artig Grüße ihres Bekannten. Vor allem aber wolle er sein Versprechen aus der Kur einlösen und sie zu einer Flugsportveranstaltung einladen. »Gudrun« zeigte sich erstaunt, aber keineswegs abweisend. Sie klagte über Einsamkeit. Außer ihren Verwandten habe sie niemanden und würde deshalb kaum ausgehen.

Scheinbar spontan, aber natürlich wohlüberlegt lud »Astor« die Frau aus dem Kanzleramt »zu einem vergnüglichen Spaß« nach Düsseldorf ein. Sie nahm dankend an und willigte auch ein, ihn zum Flugfest des Clubs zu begleiten. Während der Spion in »Gudruns« Wohnung war, brachte ein Godesberger CDU-Mitglied eine Einladung für eine Wahlversammlung vorbei, auf der Bundeskanzler Adenauer sprechen sollte. »Astor« bekundete größtes Interesse, den Kanzler einmal aus der Nähe zu erleben. »Gudrun« versprach, ihm eine Karte zu besorgen. Gleichzeitig gab sie ihm ihre Telefonnummer am Arbeitsplatz, um für ihn auch kurzfristig erreichbar zu sein. Das nennt man einen Volltreffer!

Schon am nächsten Tag erhielt »Astor« tatsächlich die gewünschte Eintrittskarte. Es war sogar ein Ehrenplatz. Nach der Veranstaltung trafen sie sich wieder; »Gudrun« stellte ihm ihren Chef aus dem Kanzleramt vor. In Ost-Berlin war man rundum zufrieden mit dem Beginn der Aktion.

»Astor« blieb am Ball, führte die neue Bekanntschaft beim Godesberger Luftsportclub ein und machte »Gudrun« mit seinen Freunden bekannt. Wie versprochen, unternahm er mit ihr einen Rundflug, was die heftig hofierte Sekretärin offensichtlich genoss. Sie äußerte den Wunsch, bald auch einmal den Wohnort ihrer Mutter zu überfliegen.

Die HVA des Markus Wolf hatte mit der Verpflichtung von IM »Astor« auf die goldrichtige Karte gesetzt. Der Hanseat erfüllte alle Anforderungen, um mit der Angestellten des Bundeskanzleramtes in näheren Kontakt zu treten. Hinzu kam, dass er als Bürger der Bundesrepublik eine gesicherte materielle Existenz nachweisen konnte und einen guten Leumund hatte. Seine Vorgesetzten in Ost-Berlin waren des Lobes voll. Er sei ihren Instruktionen exakt gefolgt, ohne auf einen voreilig schnellen Erfolg bedacht gewesen zu sein. »Astor« wurde bescheinigt, Psyche und Mentalität der zu kontaktierenden Person genau beobachtet und analysiert zu haben.

In den folgenden Wochen entwickelte sich ein zunehmend enges freundschaftliches Verhältnis zwischen »Astor« und »Gudrun«. Er konnte sie im Amt jederzeit anrufen oder von dort abholen. »Gudrun« wiederum besuchte »Astor« wiederholt in seinem Kölner Büro. Gemeinsam fuhren sie zu Gudruns Mutter. Der clevere »Astor«, augenscheinlich mit einem recht prallen Spesensäckel ausgestattet, beschenkte die Bonner Freundin mit mehreren Einrichtungsgegenständen für ihre Godesberger Wohnung. Großen Wert legte »Gudrun« auf ihren Ruf im Wohngebiet und achtete peinlich genau darauf, dass »Astor« nicht über Gebühr lange bei ihr blieb. Herrenbesuch nach 22 Uhr: undenkbar! – Diese Agentengeschichte ist nicht zuletzt ein bundesrepublikanisches Sittengemälde aus den 1950er-Jahren. Das Autorenduo der Dissertation notiert freilich in verstocktem Geheimdienst-Jargon: »Ungeachtet dessen kam es bald zu ersten intimen Handlungen«.

Gezielt arbeitete Astor daran, »Gudruns« Vertrauen in ihn zu vertiefen. Sie erhielt Kenntnis vom Briefwechsel mit seinem Sohn, der ein vermögender Finanzmakler in Hamburg war und mit Millionenbeträgen jonglierte. Die von der Stasi Erwählte zeigte zunehmend Interesse, den Freund bei seinen Handelsgeschäften zu unterstützen und langfristig mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Verbindung schien ihrerseits auf Dauer angelegt.

Als »Astor«, von der Genealogie seines Decknamens Spross einer der reichsten Familien der Welt, einen Dienstwagen benötigte, rief Gudrun einfach im »Auftrag des Bundeskanzleramtes« beim Generalvertreter der Mercedes-Werke in Köln an und wies darauf hin, dass das Bundeskanzleramt wünsche, dass »Astor« einen Mercedes mit allen Extras erhalte. Sie hatte im Amt augenscheinlich einen Posten mit Einfluss. Der Benz-Vertreter erschien jedenfalls prompt in »Astors« Kölner Büro, um die Details zu besprechen. Gleichfalls im »Namen des Bundeskanzleramtes« erwirkte »Gudrun« durch ein Telefonat mit dem zuständigen Beamten der Stadt Bonn für ihren Romeo eine Baugenehmigung, die den geltenden Richtlinien eigentlich widersprach.

Sie tat alles für ihn: »Gudrun« informierte »Astor«, dass seine Person von der Bonner Sicherungsgruppe überprüft werde. Aber es fand sich offenbar kein Hinweis auf seine geheime Tätigkeit als IM. Ost-Berlins Führungsagenten drängten den erfolgreichen Schnüffler auf feindlichem Territorium, nun mit der unmittelbaren Anwerbung von »Gudrun« zu beginnen. Die wachsenden finanziellen Wünsche der Bonnerin stießen bei der Stasi durchaus auf Gegenliebe. Wenn es ums Kanzleramt ging, flossen Devisen zuhauf. Der Kalte Krieg war nicht zuletzt eine Materialschlacht. Kopfzerbrechen allerdings bereiteten die intimen Beziehungen. Es schien, zumal in der sittenstrengen Adenauer-Zeit, nur eine Frage der Zeit, bis »Gudrun« die Heirat einfordern würde. In diesem Fall, so lautete die Order, solle sich »Astor« hinhaltend auf sein Alter berufen und sein Zögern mit einem Plädoyer für die freie Liebe verbinden. Offenkundig hat sich »Gudrun« damit arrangieren können. Für sie schien das, wenn auch nicht legitimierte, Verhältnis zu »Astor« gefestigt. Aus ihrer Liebe machte sie keinen Hehl. So nahm sie ihn auch zur Abschiedsfeier ihres früheren Chefs im Kanzleramt mit. Dabei lernte Markus Wolfs Kundschafter weitere Mitarbeiter der Adenauer-Administration, darunter den Sicherheitsbeauftragten, kennen.

Eines Tages erkrankte »Gudrun«. Es folgte ein längerer Klinik-Aufenthalt. »Astor« nutzte diese Situation, um das Verhältnis zu ihr noch enger zu knüpfen. Er bemühte sich um gute ärztliche Betreuung, verständigte ihre Verwandten und erledigte ihre Privatangelegenheiten: Miete und Banküberweisungen. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, holte er sie ab und brachte sie zu ihrer Mutter.

Wenige Tage später erhielt »Astor« von der Amoure überraschend einen die geheime Mission gefährdenden Brief, in dem sie ihm vorwarf, er habe zu viele Beziehungen. Das würde sie, die bekennend konservative Frau, befremden. Ihr Vertrauen sei geschwunden. Er möge sie nicht mehr besuchen. »Astor« schrieb zurück: Ihm sei ihr Verhalten unverständlich. Er wünsche ihr trotzdem alles Gute für die Zukunft. Und schloss seinen Brief mit herzlichen Grüßen. Bereits zwei Tage später rief sie wieder an und lud ihn für den nächsten Abend zu sich ein. Offenbar stand »Gudrun« zwischen dem Einfluss gewisser Kreise im Kanzleramt und ihren Gefühlen für »Astor«. Aus Sicht der Stasi musste »Gudrun« nun bald zu einer Entscheidung gezwungen werden. Erneut griff »Astor« zur Feder und fragte sie freiheraus, ob sie nun seine Partnerin sein wolle oder nicht. »Gudrun« reagierte erfreut und bat ihn, bald zu ihr zu kommen.

Doch dann durchkreuzte das Schicksal die so vielversprechend begonnene Unternehmung. Während eines Wochenendes, das der Agent mit »Gudrun« in der Schweiz verbrachte, erkältete sich »Astor« schwer. Die Sekretärin kehrte allein ins Rheinland zurück; Wolfs Spion musste zurückbleiben. Einige Tage später erfuhr er von seiner schweren Krankheit, die einen sofortigen und längeren Aufenthalt in einem Schweizer Spezialkrankenhaus erforderlich machte. Auch dies dokumentiert die akkurate Dissertation der beiden DDR-Geheimdienstler.

Der Kontakt zu »Gudrun« brach vorübergehend ab. Die schwere Erkrankung veranlasste die Zentrale, zu empfehlen, »Gudrun« unmittelbar anzuwerben, sobald der Liebhaber wieder reisefähig sei. Für die Ost-Berliner Hintermänner hatte »Astor« für diesen Schritt alle Voraussetzungen geschaffen, mit Geduld und Zielstrebigkeit den Kontakt zu »Gudrun« ausgebaut und seine wahren Beweggründe mit Perfektion verschleiert. Es war ihm gelungen, die persönliche Verbindung zu ihr offensiv zu nutzen. Nun sollte der Romeo »Gudrun« unter Offenlegung seiner geheimdienstlichen Tätigkeit anwerben. Als er sich ein wenig erholt hatte, lud »Astor« die Frau aus dem Kanzleramt ein, einen Teil ihres Urlaubs bei ihm in der Schweiz zu verbringen. Sie sagte zu. Umgehend mietete er ein Apartment an, das für diskrete Gespräche geeignet schien. Die ersten beiden gemeinsamen Tage verliefen rundum entspannt. Dann, am Abend des dritten Tages, kam es zur ersten entscheidenden Unterredung. »Astor« erklärte, taktisch geschickt, seine Krankheit hätte ihm mit Erschrecken vor Augen geführt, dass er noch gar nicht für ihre Zukunft gesorgt habe. Sie müsse mehr aus seinem Leben wissen.

»Astor« begann, über den 20. Juli 1944 zu sprechen, den Widerstand gegen Hitler, und deutete an, dass er damals am Rande beim gescheiterten Attentat mitgewirkt habe. Er erklärte ihr die unterschiedlichen Strömungen im Kreise der Verschwörer. Während die einen Hitler stürzen wollten, um selber an die Macht kommen und den Krieg fortzusetzen, hätten die anderen augenblicklich Frieden schließen wollen. Letzteres sei auch seine Auffassung gewesen. Er habe es nicht länger mitansehen können, wie die jungen Frontsoldaten als »Kanonenfutter« verheizt worden seien. »Gudrun« hörte ihm aufmerksam zu. Dann kam er zur Sache und offenbarte, scheinbar freimütig, seine Verbindung zum sowjetischen Geheimdienst. Er bekannte, Offizier der Roten Armee zu sein. »Gudrun« erschrak, fing an zu weinen und beklagte die Lage, in die sie nun geraten sei. Dennoch ließ sie zu, dass »Astor« sie in den Arm nahm. Sie drückte ihn selbst noch fester an sich und wiederholte immer wieder, wie sehr sie ihn liebe. – Passagenweise liest sich die Dissertation wie ein Lore-Roman aus dem Kalten Krieg. – »Astor« nannte plausible Gründe für sein Geständnis: Sollte seine Krankheit böse enden, würde sie vermutlich unvorbereitet in eine prekäre Lage kommen. Auch sei nicht auszuschließen, dass dann seine nachrichtendienstliche Tätigkeit posthum auffliegen würde. Die Sicherheitsleute hätten dann einen Beweis, wo die undichte Stelle im Bonner Kanzleramt sitze, wer den Verrat begangen habe. Dann würde sie vermutlich im Gefängnis landen. Also müsse er sie jetzt warnen. Die Argumentation war rundum durchtrieben.

»Astor« erzählte der Freundin von seinen »großen Erfolgen« und davon, dass der sowjetische Geheimdienst außerordentlich stark sei. Sollte sie sich trotz allem für ihn entscheiden, würde sie in das Sicherheitssystem der Sowjetunion einbezogen. Eher beiläufig ließ »Astor« erkennen, dass er über »Gudrun« Dinge wusste, die sie ihm nicht gesagt hatte, die er also »dienstlich« erfahren haben musste. Nach zwei Tagen, in denen sich sein Gesundheitszustand erheblich verschlechterte, wollte er das weitere Vorgehen endgültig klären. Er schlug ihr vor, gegenüber Dritten in Bonn und Godesberg die Legende einer Trennung zu konstruieren: Seine schwere Krankheit lasse sich vermutlich nicht heilen, und außerdem habe sie festgestellt, dass er zu alt sei.

»Gudrun« protestierte. Daran dächte sie nicht, denn sie habe ihn viel zu gern. Sie wollte wissen, was geschähe, wenn die Geheimdienst-Geschichte herauskäme. »Astor« schlug ihr vor, in diesem Falle in die Schweiz zu gehen. Er würde dort für sie Geld deponieren. Im Gegenzug solle sie ihm ein Schriftstück mitgeben, aus dem sein Vorgesetzter ersehen könne, dass sie ihn nicht verraten und dass ihre Liebe zu ihm selbst die misslichste Lage überwinden werde. »Gudrun« zeigte Verständnis und erklärte sich bereit. Kurz vor der Abreise aus der Schweiz gingen sie zusammen zur Bank, um ein Konto zu eröffnen. »Astor« zeigte ihr im Bankgebäude seinen Safe und stellte in Aussicht, ihr eine Vollmacht zu erteilen. Am Tag ihrer Abreise verfasste »Gudrun« den gewünschten Brief. Auf Bitten »Astors« unterschrieb sie mit einem Decknamen. Die beiden vereinbarten, dass »Gudrun« nach schriftlicher Aufforderung in die Schweiz fahren und sich eventuell auch mit einem Vertreter von »Astor« treffen solle, falls ihn seine Krankheit daran hindere, selber zu reisen. Sie verabredeten ein Erkennungszeichen. Dann trat »Gudrun« den Heimweg nach Bonn an. Schon am ersten Arbeitstag nach dem Urlaub meldete sich »Astor« aus der Schweiz telefonisch bei »Gudrun« im Kanzleramt an. Sie sei freundlich und ohne jede Verstimmung gewesen. Sie habe ihm gute Erholung gewünscht und ihn ermuntert, ihr bald zu schreiben.

In der Ost-Berliner Stasizentrale bestanden erhebliche Zweifel, ob »Astor« angesichts seiner schweren Krankheit noch die Kraft besitzen würde, seinen Auftrag zu Ende zu führen. Alle Möglichkeiten bedenkend, wie es nun einmal die Art der HVA war, hatte man schon eine neue Konzeption zur Weiterführung des Werbevorgangs erarbeitet. Sie sah vor, einen gewissen IM »Hansen« in die Operation einzubinden. So sollte weiterhin ein zügiger Verlauf der Aktion gewährleistet bleiben.