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Sam & Ilsa – Ein legendärer Abend

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Aus dem Amerikanischen
von Bernadette Ott

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© 2018 by Rachel Cohn & David Levithan

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Sam & Ilsa’s Last Hurrah«

bei Alfred A. Knopf, einem Imprint von Random House Children’s Books,

einer Sparte von Penguin Random House LLC, New York.

© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Bernadette Ott

Lektorat: Sabine Rahnfeld

Covergestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

Covermotive: © Christine Blackburne Photography Inc.

KH · Herstellung: MJ

Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-24552-8
V001

www.cbj-verlag.de

Für meine Bubbe und meine Bebe –
meine beiden Großmütter
RC

Für Grandma Grace und Grandma Alice
DL

»Menschen brauchen, ja verlangen nach Fantasiewelten. Ich versuche, ihnen dieses Bedürfnis für eine Weile zu erfüllen, ihnen dabei zu helfen, ihre Arbeit und ihre Probleme zu vergessen. Bei mir können sie ein Potpourri aus Spaß, guter Musik und extravaganter Kleidung genießen. Ich schenke ihnen ein wenig Erholung vom Alltagseinerlei.«

LIBERACE

EINLADUNG

Motto: Erholung vom Alltagseinerlei!

Was: Dinnerparty

Wer: Sam & Ilsa

Wann: 16. Mai, 20 Uhr

Anlass: letzte Dinnerparty in Czarinas Palast der Mietpreisbindung! Screenshot

Außerdem Liberaces Geburtstag.* Screenshot

Wo: Wohnung der Grandma von Sam & Ilsa**

(Karte beigefügt)

Dresscode: knallig***

* Wenn du nicht weißt, wer Liberace ist, wissen wir nicht, wie du es zu dieser Einladung gebracht hast. Falls du Hilfe brauchst, frag Mr Google.

** Keine Sorge, Czarina ist nicht in der Stadt und überlässt uns an diesem Abend ihre Wohnung!

*** Frag dich einfach WWLT: Was würde Liberace tragen?

eins

Ilsa

Mein Bruder beschäftigt sich viel zu besessen mit dem Sexleben unserer Grandma.

»Ich glaube, Czarina hat einen Liebhaber«, sagt Sam, während er mir seine Hand hinhält. »Wender. Schnell.«

Meine Aufgabe ist es, die chirurgische Präzision und Effizienz seiner Kochtätigkeit zu einem Maximum zu steigern, indem ich ihm die Instrumente reiche, die er benötigt. Ich greife nach dem Wender.

»Das ist ein Eierwender. Den Pfannenwender bitte!«, ermahnt er mich, als wäre die Sache mit den Wendern für jeden superklar. »Pass doch auf, Ilsa!«

Ich werfe einen Blick auf die Schüssel mit Käse und Spinat. Sieht für mich so aus, als könnte hier egal welcher Kochlöffel gute Arbeit tun, aber wenn es nach mir ginge, dann würden wir uns sowieso alles von Zabar’s liefern lassen und uns nicht lange mit Do-it-yourself-Kochen aufhalten. Sam ist ein großartiger Koch. Aber die viele Arbeit? Nein danke. Nichts für mich. Eine halbe Stunde unter ihm als Küchenchef Hilfstätigkeiten verrichten, mehr ist bei mir nicht drin. Den Rest muss er allein schaffen. Mein Job ist es, Extravaganzen zu planen, nicht für deren Ausführung zu sorgen. Ich hätte bei uns der schwule Mann sein müssen, nicht mein Zwillingsbruder.

Ich reiche Sam den Pfannenwender. »Wie kommst du darauf, dass Czarina sich einen Lover zugelegt hat?«

»Sie ist in den letzten sechs Wochen dreimal nach Paris geflogen.«

»Aber sie ist Modeeinkäuferin. Das ist ihr Job.«

»Bei diesen drei Trips ging es um was anderes. Das spüre ich genau. Ist dir aufgefallen, wie … wie nett sie zu uns allen war, als sie zurückgekommen ist? Geradezu empörend nett.«

»Worüber regst du dich denn auf? Dass sie nett zu uns war oder dass sie Mom und Dad und nicht dich übers Wochenende nach Paris mitgenommen hat?« Ich mag es, wenn Czarina nicht da ist und uns ihre Wohnung überlässt. Dann bin ich die Königin in ihrem Schloss und muss Sam nicht mit ihr teilen.

»Genau das ist es ja! Sie nimmt Mom und Dad nie irgendwohin mit. Behauptet immer, dass sie bürgerliche Spießer und Langweiler sind.«

»Ich mag die beiden wirklich, aber ich befürchte, das sind sie eben.«

»Sei nicht so gemein.«

»Verlang nicht von mir, etwas anderes zu sein, als ich bin.«

Sam lacht und zieht dann eine Augenbraue hoch. »Kümmert dich das wirklich gar nicht? Czarina hat sogar ausdrücklich gesagt, dass wir die Tür zu ihrem Schlafzimmer diesmal nicht abzuschließen brauchen. Bei allen Dinnerpartys, die sie uns hier in ihrer Wohnung hat abhalten lassen, war ihre einzige strikteste Bedingung immer«, Sam ahmt Czarinas gangsterbossartiges Knurren nach: »In meinem Schlafzimmer sollen keine jugendlichen Missetäter ihr Unwesen treiben.«

»Ja, und deshalb kreuzt sie auch immer während des Nachtischs auf, obwohl sie vorher behauptet, dass sie den ganzen Abend ausgehen will. Sie ist und bleibt ein Kontrollfreak und glaubt uns einfach nicht, dass wir niemanden in ihr Schlafzimmer oder an ihre Bar lassen.« Ich denke kurz nach und mildere dann meine Behauptung ab. »Ich will damit sagen, mir glaubt sie nicht. Anders ist es bei Sam the Saint. Bei ihm weiß sie, dass er niemals gegen eine ihrer Regeln verstoßen würde.«

»Stimmt überhaupt nicht. Erinnerst du dich noch daran, wie #Stantastic damals unbedingt Czarinas Vintage-Dior-Kleider sehen wollte?«

»Du hast Czarina vorher eine Nachricht geschrieben, und sie hat dir erlaubt, an ihren Schrank zu gehen. Das ist kein Regelverstoß.«

»#Stantastic hat ein Bier getrunken!«

Ich stoße einen Seufzer aus. »Skandal!«

Was für mich als ernst zu nehmender Regelverstoß zählt? Wie wär’s mit der Party vor zwei Jahren, als Parker und ich uns Zugang zu Czarinas Brandysammlung verschafft und die Party mit Rumknutschen auf ihrem Bett beendet hatten, die Tür zum Schlafzimmer fest verschlossen, damit keiner reinkam. Der beste Digestif ever. Missetäter – und stolz darauf! Czarina war damals in Mailand, deshalb war ich mir sicher, dass sie nicht hereinplatzen würde. Meine Eltern behaupten immer, ich sei viel zu waghalsig, aber sogar ich weiß, dass es besser ist, Czarinas Zorn nicht auf sich zu ziehen. Besser, er trifft dich nicht. Ich weiß genau, wie brutal er sich Bahn bricht, schließlich habe ich ihn von ihr geerbt. Ich teile mit ihr die unbändige Wut, die uns beide befallen kann – und die Tatsache, dass uns fast jede Sorte Hut umwerfend gut steht.

Ich hätte gern noch mehr von Czarina, nicht nur das aufbrausende Wesen. Zum Beispiel wäre ich lieber wie sie eine Herzensbrecherin, statt immer mit gebrochenem Herzen zurückgelassen zu werden. Ich würde gern so wie sie jede Situation mit Grandezza meistern. Wie Czarina will ich die ganze Welt bereisen und überall wilde Affären haben. Mit einer großen Wohnung in Manhattan als festem Hafen. (Bitte hier das zynische Gelächter meiner Eltern einfügen.) Anders als Czarina habe ich allerdings nicht vor, als mein modisches Markenzeichen Boubous in leuchtenden Farben und riesige Modeschmuck-Klunker zu tragen. Außer bei Dinnerpartys werde ich mich mit Skinny Jeans und extrem süßen, knappen T-Shirts begnügen, genau der richtige Alltagslook hier in der Stadt.

Sam antwortet mit einem Seufzer auf meinen. Könnte gut sein, dass es das Einzige ist, was wir als Zwillinge gemeinsam haben: das solidarische Seufzen. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass das unsere letzte Party hier sein soll. Unfassbar, dass sie jetzt doch auszieht.«

Wo Sam und ich wohnen – gemeinsam mit unseren Eltern, ein paar Blocks weiter, nullachtfünfzehnmäßig, wie für Manhattan typisch alles viel zu klein, mit einer Nische, die provisorisch in Sams Zimmer verwandelt wurde –, herrscht das total normale Leben. Czarinas Wohnsitz? Spektakulär. Unsere Großmutter lebt in einem überaus prächtigen Apartment in einem historischen Gebäude namens Stanwyck Building an der Upper West Side von Manhattan. Riesengroß. Mit zwei Schlafzimmern sowie einem weitläufigen Salon mitsamt Esstisch und genug Platz für Sams Flügel, von dessen Fenstern man auf der einen Seite einen Blick auf die Skyline der Stadt und auf der anderen Seite auf den Hudson hat. (Allen, die Mitleid mit Sam haben, weil er in der Wohnung unserer Eltern mit einer Nische vorliebnehmen muss, sei gesagt: Czarinas zweites Schlafzimmer ist mehr oder weniger ein Schrein, den sie Sam gewidmet hat: ausgeschmückt mit seinen Musikpreisen, Fotos von Sam bei jedem Auftritt, seit er mit dem Klavierspielen angefangen hat, und nicht zu vergessen auch noch mit dem bequemsten Bett der Welt, ausgewählt von Sam. Die Steppdecke – ebenfalls von Sam ausgewählt – könnte von Czarina höchstpersönlich genäht worden sein, mit jedem Stich als Ausrufzeichen, der die Botschaft verkündet: SAM! SAM IST MEIN LIEBLING!)

Czarina hat eine gute, aber finanziell nicht wahnsinnig einträgliche Karriere hinter sich, weshalb sie sich normalerweise nie und nimmer diesen Typ von Immobilie in Manhattan leisten könnte. Nach den Standards der Makler in New York City ist sie arm wie eine Kirchenmaus. Aber sie hat hier gelebt wie eine Königin, und das alles nur deshalb, weil sie als junge, geldmäßig klamme Modejournalistin damals zu ihren Großeltern gezogen ist, in deren mietpreisgebundene Wohnung. Und dort seither nicht mehr ausgezogen ist. Ihre Wohnung ist die einzige in dem Gebäude mit einhundert Einheiten, die bisher noch nicht in eine Eigentumswohnung umgewandelt wurde (dank Czarinas Bulldoggen-Anwalt). Das Gebäude wird inzwischen zu 99 Prozent von Reichen bewohnt – und von Czarina. Sie ist das restliche eine Prozent.

Genauer gesagt: Sie war es. Nach zwanzig Jahren vergeblicher Angebote hat Czarina endlich zugestimmt, aus ihrem Palast auszuziehen. Alles, was es dafür brauchte, war eine Extranull am Ende der finanziellen Vereinbarung – vor dem Komma, versteht sich. Praktisch so was wie der Hauptgewinn in der Lotterie. Sie war fünfmal verheiratet, und wir dachten damals alle, sie hätte das große Los gezogen, als sie sich von dem brasilianischen Tierpräparator scheiden ließ. Aber was für sie dabei rausgesprungen ist, war ein Witz gegen die Rauskaufsumme, außerdem hat sie den warmen Geldregen dieses völlig gestörten, auf ausgestopfte Elchköpfe spezialisierten Mannes dafür benutzt, einen Stutzflügel für ihr heiß geliebtes musikalisches Wunderkind Sam zu kaufen und einen Herd mit allem technischen Schnickschnack für ihren Sternekoch Sam. Damit ihr kostbarer Enkel ihre Gäste mit seinen kulinarischen und musikalischen Köstlichkeiten verwöhnen kann. Aber an einem Abend wie heute profitiere ich davon auch.

Ich hätte allen Grund, total sauer auf Czarina zu sein, weil sie mir meinen Bruder immer schon vorgezogen hat, aber sogar ich bin dazu in der Lage, anzuerkennen, dass Sam einfach ein besserer Mensch ist als ich. Er ist alles, was ich nicht bin. Geduldig, nett, süß, begabt. Ich würde ihn mir auch vorziehen, wenn ich Czarina wäre. Um ehrlich zu sein, ist es für mich sogar eine Erleichterung, dass Sam der unangefochtene Star in der Familie ist. Mit der Rolle der rebellischen Bitch kenne ich mich aus. Sie passt mir wie angegossen, besser als meine Lieblingsjeans.

Ich bemerke die steile Falte zwischen Sams Augenbrauen. Er wirkt angespannt. Das übliche Lampenfieber vor einer Party. »Wo ist der Spiralschneider?«

»Was ist das denn?«

»Ein Instrument, um Gemüsenudeln zu schneiden. Ich hab mir gedacht, dass ich ein paar Zucchini unter die –«

»Tu’s nicht. Dein Menü ist perfekt, so wie es ist.«

»Hast du den Tisch eingedeckt? Mit dem Silberbesteck?«

»Ja, hab ich. Der Tisch sieht wunderschön aus. Ich hab sogar die Servietten zu Schwänen gefaltet.«

»Und die Gl–«

»Ja, die Kristallgläser, die Czarina mal aus Dublin mitgebracht hat. Ich versichere dir, dass du deine Kocherei nicht unterbrechen musst, um eine Last-Minute-Inspektion des Salons vorzunehmen. Der Tisch ist gedeckt, die Dekoration ist angebracht und dein kleiner gebastelter Tafelaufsatz für Liberace in der Mitte sieht besser aus als jeder Blumenstrauß.«

»Kerzen!«

»Erledigt.«

»Dessertteller und Kuchengabeln auf dem Buffet bereit?«

»Erledigt.«

Ich muss ihn unbedingt davon abbringen, sich noch mehr in seine Nervosität, was den Zustand des Salons betrifft, hineinzusteigern. »Gib mir einen kleinen Hinweis, wen du alles eingeladen hast.« Sams Zimmer – ähm, ich meine, das Gästezimmer – ist übersät mit meinen Paillettentops, Federboas, karierten Polyester-Schlaghosen und 20er-Jahre-Fransenkleidern. Woher soll ich wissen, welches das beste Outfit für unsere Party ist, wenn ich keine Ahnung habe, wer die Gäste sind?

»Nein. Du kennst die Regeln. Du wählst drei Leute, ich wähle drei Leute. Die Zusammensetzung ist eine Überraschung – für uns und für die Gäste.«

»Du wirst dich aber nicht noch mal wie Ray Charles anziehen, oder?« Ich liebe den klassischen schwarzen Anzug mit Krawatte meines Bruders. Aber er zieht immer dasselbe an. Ich habe Lust, meinen Bruder einmal in einem paillettenbesetzten Cape oder in einer Wildlederjacke mit aufgedrucktem Sternenbanner und Perlenfransen an den Ärmeln zu sehen. Ich möchte, dass er dresscodemäßig einmal so richtig ausflippt.

»Doch«, sagt Sam. »Aber ich werde mich am Anblick der anderen erfreuen. Lass uns kurz ein Gedenken an Brother Ray einlegen. Möge er in Frieden ruhen.« Er schweigt kurz. Dann sagt er: »Bitte schwöre mir, dass du nicht KK eingeladen hast.«

»Ich schwöre«, sage ich.

Natürlich habe ich KK eingeladen!

Meine Gästeliste lautet:

Kirby Kingsley: Erbin, Party-Girl, BFF (als wäre sie mein Zwilling und nicht mein Bruder). Keiner außer mir mag sie. Aber ohne Kirby ist eine Party keine richtige Party. Sie wohnt im Penthouse-Apartment des Stanwyck mit Panoramablick über den Central Park bis zum East River sowie Richtung Midtown und Uptown zum Hudson, und wahrscheinlich können sie von dort oben sogar Gott sehen, wenn sie das Teleskop unter der Glaskuppel des großen Atelierraums nach oben richten.

Li Zhang: meine Chemielabor-Partnerin. Meisterin sämtlicher Brettspiele. Großartig in allen Arten von Konversation. Kreuzt nie auf einer Party auf, ohne für die Gastgeberin wunderschöne Schachteln mit Süßigkeiten aus Taiwan mitzubringen. Sollte zu jeder Party eingeladen werden.

Frederyk Podhalanski alias Freddie: die Wild Card. Austauschstudent aus Polen, wohnt bei einer Familie an der Upper East Side. Ich habe ihn kennengelernt, als ich mit KK im Central Park unterwegs war, wo wir wie immer den sexy Jungs beim Basketballspielen zugeschaut haben. Groß, blond, muskulös, tiefblaue Augen, unkompliziert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Freddie der Junge ist, nach dem ich gesucht habe – derjenige, der meinem Bruder das Herz brechen wird.

Sam hat sich immer noch nicht davon erholt, dass er es nicht an die Juilliard School geschafft hat. Er geht im Moment in die Fiorello LaGuardia High School of Music & Art and Performing Arts, nur ein paar Blocks von Czarinas Palast der Mietpreisbindung entfernt. Sam hätte begeistert sein sollen, dass sie ihn an der Juilliard nicht genommen haben. Viel zu nah! Dafür hat er es aufs Berklee College of Music in Boston geschafft. Eine neue Stadt, neue Abenteuer und eine auch sehr renommierte Musikhochschule! Aber nein. Mein Bruder hat sich stattdessen dafür entschieden, nächstes Jahr ans Hunter College zu gehen, um nicht von zu Hause wegzumüssen, um ja auf Nummer sicher zu gehen.

Ich finde zwar, dass Sam sich für das Berklee hätte entscheiden sollen, aber er selbst will unbedingt auf die Juilliard – und deshalb wünsche ich es mir für ihn natürlich auch. Nächstes Jahr will er sich dort noch mal bewerben. Sie hätten ihn echt schon beim ersten Mal nehmen sollen! Meine Lösung für das Problem: Sam muss trotzdem aus seiner Komfortzone raus. Was definitiv der Fall ist, wenn er sich total in den falschen Jungen verliebt. Er braucht etwas Abstand zum ruhig dahinplätschernden Strom der durchschaubaren Durchschnittsjungs, mit denen er sonst so seine Beziehungen hat. Das Herz meines Bruders braucht mal etwas Abwechslung. Mein Rezept dafür: absolute Verknalltheit in jemanden, der völlig aus dem Rahmen fällt. Einfach in einer anderen Liga spielt. Damit das klar ist: Freddie spielt nicht in einer besseren Liga als Sam (keiner spielt in einer besseren Liga als mein Bruder). Nur in einer anderen. Ich werde sie die Liga-der-geradezu-lächerlich-attraktiven-Jungs-die-nicht-so-helle-im-Kopf-sind-und-meinem-Bruder-genau-das-richtige-Maß-an-Abwechslung-und-Spaß-bieten-bevor-sie-ihn-verlassen-weil-sie-erkennen-dass-er-zu-klug-und-zu-gut-für-sie-ist nennen. Mein Bruder braucht ein sinnloses, vergnügliches Techtelmechtel mit jemandem, der easy going und wahnsinnig attraktiv ist.

Wenn Freddie ihn dann verlässt, was unweigerlich nach einer Weile der Fall sein wird, wird der Schmerz bei Sam heftig, aber kurz sein. Schmerz lässt alle bedeutenden Menschen über sich hinauswachsen. Macht sie erst richtig groß, bekannte Tatsache. Wenn es also die richtige Portion Liebesschmerz braucht, um Sam in das Pantheon der Juilliard zu verhelfen, dann kommt diese Dinnerparty gerade richtig, um seinem System diesen notwendigen Schock zu verpassen. Und davor wird er mit Freddie jede Menge Spaß haben. Mal was anderes als sein üblicher hyperreflektierter und hypergestresster Stil. Genieß es, Bruder!

Wie Sam ist auch mir der Schmerz nicht erspart geblieben, nicht an der Uni angenommen worden zu sein, die meine erste oder eine meiner ersten Wahlen gewesen wäre! Ich hab mich an der Sorbonne beworben, an der Universität in Tokio und auch an diesem College in Schottland, wo Prinz William Kate Middleton kennengelernt hat. Aber ich hatte nirgendwo eine Chance. Na ja, auch egal. Ich spreche kein Französisch oder Japanisch, und mal ehrlich, wer versteht denn die Schotten, wenn sie in ihrem merkwürdigen Dialekt etwas sagen? Ich hab’s allerdings auch nicht an die Unis geschafft, die meine zweite Wahl waren – NYU, Skidmore, Fordham. Was aber auch wieder super ist! Denn jetzt kann ich das Geld horten, das ich mir durch Babysitten bei den vielen kleinen Schreihälsen im Stanwyck hart verdient habe. Für die unsägliche Quinnipiac University, an irgendeinem bescheuerten Ort im bescheuerten Connecticut, gebe ich es jedenfalls nicht aus. (Ich hab es mir angeschaut, weil meine Eltern mich dazu gezwungen haben, und bemühe mich seither, diese Erfahrung zu vergessen.) Es ist die einzige Hochschule, an der ich genommen worden bin, und meine Eltern waren so erleichtert, dass sie mich auf ihre Kosten für den Herbst dort eingeschrieben haben. Schon allein der Name ist unaussprechlich: Quinnipiac. Also bitte!

»Bist du dir sicher, dass Czarina sich keinen Liebhaber zugelegt hat?«, fragt Sam. Davon, immer an ihrem Schürzenzipfel zu hängen, muss ich ihn auch dringend befreien. Vielleicht lässt sie ihre Wut ja an ihm aus, wenn sie herausfindet, dass wir beim Tischdecken die Ausziehplatte ihres antiken Esstischs kaputt gemacht haben. An mir natürlich auch. Aber ich bin daran gewöhnt. Sam the Saint nicht. Es wird ihm guttun. Ein Reinigungsprozess. Nicht nur für ihn, sondern für alle beide. Vielleicht werde ich mich bei meinen künftigen Reisen mal bei altehrwürdigen Freud’schen oder Jung’schen Lehrinstituten in Österreich oder sonst wo umsehen, ich glaube nämlich, dass ich ein Riesenpotenzial als psychoanalytisches Genie habe.

»Natürlich bin ich mir nicht sicher!«, sage ich. »Sie könnte jeden x-beliebigen Franzosen mit einem Croissant vögeln, was weiß ich denn!«

»Weil jeder Franzose deiner Meinung nach ein croissant hat?«

»Oui! Weißt du nicht, dass die Französische Revolution allein deswegen stattgefunden hat? Freiheit, Brüderlichkeit und das perfekte zartblättrige Croissant.«

»Zange«, sagte Sam.

»Französische Foltermethode?«

»Nein. Gib mir die Zange, damit ich die Lasagneplatten aus dem kochenden Wasser herausziehen kann.«

Ich reiche ihm hastig irgendein Gerät.

»Das ist ein Schneebesen, Ilsa.« Er langt über mich drüber, um nach der Silikonzange zu greifen. »Und ich sag dir, Czarina hat sich in Paris einen Liebhaber zugelegt.«

»Du wolltest nur noch mal ›Liebhaber zugelegt‹ sagen.«

»Ich bekenne mich schuldig. Du kennst mich einfach zu gut.«

Vielleicht hat Czarina ja tatsächlich einen Liebhaber in Paris, aber der Grund für ihre Reise ist es nicht. Sie glaubt, dass wir es nicht wissen. Aber ich weiß es trotzdem. Czarina hält zwar gerne mit den Dingen hinter dem Berg, aber sie hat offensichtlich keine Ahnung, was ein Browserverlauf ist und dass sie ihn regelmäßig löschen sollte. Unsere Großmutter ist in Paris, weil sie dort eine kleine Wohnung gekauft hat und anscheinend plant, sich zur Ruhe zu setzen. Sie will in ein kleines Studio ziehen, in dem es kein Zimmer für mich oder Sam gibt. (Unglücklicherweise bin ich zu dieser Erkenntnis nur auf Kosten einer anderen gelangt, nämlich dass Czarina mit großer Vorliebe nach Fotos von Sean Connery als James Bond sucht, und zwar immer in Badehose. Außerdem ist sie begeisterte Leserin von pornöser Fan-Fiction über dieses wahre Haarwunder unter den James-Bond-Darstellern.) (Brrr, es schüttelt mich, wenn ich daran denke, was ich da alles in ihrem Browserverlauf gefunden habe.)

Sam wird die Neuigkeit mit Paris überleben. Gibt es einen besseren Ort, um eine Großmutter zu besuchen? Was ihn wirklich aus seiner Komfortzone herausreißen wird, ist etwas ganz anderes, und er wird es bald herausfinden. Ich werde nämlich in sein Zimmer bei Czarina einziehen, als Nanny für die Kinder der neuen Wohnungseigentümer. Sam hat viel zu viel Potenzial und Talent, um immer am selben alten Ort zu bleiben. Aber für mich taugt es.

Heute Abend werden wir hier unser letztes Zwillingsabendessen feiern. Lasagne, Alk, Schokolade mit unseren Freundinnen und Freunden und ein paar Fremden. Heute Abend wollen wir uns an einem Kristallleuchter durchs Zimmer schwingen, als wären wir Liberace.

Morgen kümmern wir uns dann um den Herzschmerz und den Alltag.

zwei

Sam

Zu einer Dinnerparty einzuladen ist immer eine feine Sache – bis dann nur noch eine Stunde Zeit ist, bevor die Gäste kommen, und noch so viel zu tun, dass dafür eigentlich vier Stunden nötig wären. Das Leben wird ein einziger Wirbel aus Küchenchaoschoreografie, Herdstress und Tischdecktrauma. Ich will, dass alles perfekt ist, gleichzeitig weiß ich aber, dass dieser Wille zur Perfektion ein Unding ist. Unmöglich und grausam. Trotzdem sitzt da tief in mir drinnen etwas, das einfach nicht lockerlassen kann. Wenn Dinge auf dieser Welt unvollkommen sind, dann soll – darf – zumindest nicht ich daran schuld sein.

Ilsa, die Gute, versucht mir zu helfen. Unglücklicherweise kommt ihr Hilfsangebot in Form einer Frage nach dem richtigen Outfit für den Abend.

»Warum trägst du nicht deinen schwarzen Samtanzug? Es kann jeden Moment klingeln und du hast immer noch deine Jeans an.«

Ich trage noch nicht meinen schwarzen Samtanzug, weil ich in ungefähr zwei Minuten noch die Zitronentarte mit Puderzucker bestäuben muss. Aber um das Ilsa zu erklären, bräuchte ich ebenfalls zwei Minuten, deshalb versuche ich sie lieber aus der Küche zu verscheuchen. Ich empfehle ihr, sich schon mal um die Playlist für den Abend zu kümmern, wenn sie will, dass die Musik ihr auch gefällt. Mir steht der Sinn zurzeit nach Philip Glass, und wenn sie möchte, dass etwas mehr Schwung und Swing in die Bude kommt, dann sollte sie besser jetzt dafür sorgen, statt später mitten in einem Song von mir die Krise zu kriegen.

Mein Küchenstress lässt immer deutlich nach, sobald ich allein bin. Ich liebe es, ganz allein in der Küche vor mich hin zu werkeln. Meine Gedanken bewegen sich dann im Gleichklang mit den Blubber-, Brutzel- und Zischgeräuschen. Ich kann ganz der Dirigent meines kleinen Küchenorchesters sein.

Erst wenn andere Menschen sich einmischen, werde ich fahrig, und das Arrangement wird ein einziges Durcheinander.

Ich weiß nicht, wen Ilsa heute Abend eingeladen hat, aber ich vermute ganz stark, dass gleich KK bei uns vor der Tür steht, auch wenn Ilsa es soeben abgestritten hat. KK mit ihrer üblichen Aura der reichen, privilegierten Tochter. Ilsa kann KK einfach nicht widerstehen – bei KK ist der Tisch für Ilsa in Sachen Mode immer gedeckt, an ihr kann sie ihre Einfälle hemmungslos ausprobieren. Mir will bei KK überhaupt nicht in den Kopf, wie ein so reiches Mädchen gleichzeitig so voller Klagen sein kann. Aber das kann mir persönlich auch egal sein. KK hat sich nie darum bemüht, von mir oder jemand anders gemocht zu werden. Vermutlich beweist sich darin auch eine gewisse Stärke. Nur dass ich nicht weiß, wofür diese Stärke gut sein soll.

Meine eigene Gästeliste ist hoffentlich in freundschaftlicher Hinsicht etwas einladender.

Als Erstes steht darauf mein bester Freund Parker, obwohl Ilsa ihn auf die Liste-der-verbannten-Gäste gesetzt hat. Aber das kommt für mich nie und nimmer infrage, diese letzte Dinnerparty ohne ihn zu veranstalten. Ilsa behauptet, dass er ihr das Herz gebrochen hat, aber es wird Zeit, dass sie darüber hinwegkommt. Schon allein deswegen, weil es ausschließlich ihre Schuld war, dass es zu der Trennung kam. Und meine Freundschaft mit Parker wäre dabei auch fast noch draufgegangen, was total unfair war.

Der Nächste auf meiner Liste ist Jason. Wenn ich schon einen Ex von Ilsa einlade, dann brauche ich als Gegengewicht auch einen Ex von mir. Auch wenn man beides nicht vergleichen kann, denn Jason und ich haben es hingekriegt, gute Freunde zu bleiben. Er hatte den ganzen Ich-gehe-an-die-Tufts-und-du-gehst-nach-Berklee!-Plan ausgeheckt, und als ich beschlossen hatte, in Manhattan zu bleiben, war es für ihn, als hätte ich seiner eigenen Zukunftsplanung eine Abfuhr erteilt. Verständlicherweise hat sich seine Zukunft dagegen gesträubt und ist beleidigt aus dem Zimmer gestürmt. Übrig geblieben ist nur noch die Gegenwart, leichtgewichtig und verlegen stand sie zwischen uns. Jason zog daraufhin seine Bewerbung um einen Platz tief in meinem Herzen zurück, und wir machten uns beide wieder auf die Suche nach der großen Liebe, allerdings nicht mehr gemeinsam.

Was mich zu meiner Wild Card kommen lässt: dem Subway Boy. Ich bin ihm in den letzten Monaten immer wieder in der Linie 1 begegnet. Und auch anderswo in der Stadt, vor allem in der Nähe des Lincoln Center. Manchmal hat er einen Geigenkasten bei sich. Um Subway Boy habe ich mehr Fantasien gesponnen, als ich mir selber gerne eingestehen möchte. Nach einer Weile ist mir aufgefallen, dass er mich genauso wiedererkannte wie ich ihn.

Aber ich wollte es nicht ruinieren, indem ich ihn ansprach. Bis er dann letzte Woche direkt vor mir stand, als ich in den Zug einstieg, und ich gleichzeitig in meiner Hosentasche die Einladungskarte zu unserer Party spürte. Bevor ich mir ein entschiedenes Stopp, Stopp, Stopp! zurufen konnte, hatte ich sie ihm schon gegeben. »Da steht gar kein ›u. A.w. g.‹«, antwortete er, als er alles gelesen hatte.

Er schaute mich nicht an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. Er schaute mich an, als wäre ich auf die schönste und beste Weise verrückt. Tollkühn verrückt. Romantisch verrückt.

»Das gilt nur für den Fall einer Absage«, erklärte ich ihm, »und nur mit großem Bedauern.«

Er lächelte. »Zu bedauern habe ich ganz und gar nichts.«

Als wir zu der Haltestelle kamen, an der er aussteigen musste, wagte ich ein: »Sehen wir uns?«

»Aber natürlich«, antwortete er.

Und das schien es dann erst mal auch gewesen zu sein. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er kommt. Falls er kommt, wird Ilsa mich bestimmt nach seinem Namen fragen.

Ich habe keine Ahnung, wie er heißt.

Genauso wenig, wie ich weiß, ob er nicht vielleicht Veganer ist. Oder sich ausschließlich von Fleisch ernährt. Oder laktoseintolerant ist. Oder Gluten nicht verträgt. Auf Grünkohl schwört. Und weil ich so wenig weiß, habe ich von allem ein bisschen vorbereitet, was eindeutig des Guten zu viel ist.

»Bist du dir auch wirklich im Klaren darüber, dass wir nur sechs Gäste eingeladen haben?«, fragt Ilsa, die wieder in die Küche kommt, als ich gerade ein paar hart gekochte Eier garniere. Das 20er-Jahre-Fransenkleid, das sie trägt, würde selbst Clara Bow respektvoll verstummen lassen. »Und keiner von ihnen, jedenfalls nicht auf meiner Liste, ist als Vielfraß bekannt.«

Ich kann meine Schwester nie für längere Zeit aus der Küche draußen halten, wenn wir nur zu zweit sind. Nicht dass sie mir besonders gern beim Kochen zuschauen würde. Und erst recht nicht hilft sie mir gern beim Kochen. Sie kann es nur nicht aushalten, allein in einem Zimmer zu sein.

»Ich habe Rudolph Tate eingeladen«, sage ich. »Für den braucht es mindestens sechs Gänge.«

Was fies von mir ist. Rudolph Tate isst wie ein Spatz und sieht auch wie ein Vogel aus und ist nach zwei zwitschernden Dates mit mir aus dem gemachten Nest geflattert. Ilsa hatte uns miteinander verkuppeln wollen, der letzte total misslungene Versuch in dieser Richtung von ihr, weshalb ich sie danach inständig gebeten hatte, in Zukunft nie, nie, nie mehr irgendjemand für mich auszusuchen. Damit angefangen hatte es, dass Ilsa einen Jungen, der sich an ihrer Schule kurz zuvor als schwul geoutet hatte, abfing, bevor er das Weite suchen konnte, und verkündete, sie kenne da jemanden, den er unbedingt kennenlernen müsste.

»Wenn du Rudy eingeladen hättest, dann hätte ich davon gehört.« Ilsas Glaube an Klatsch und Tratsch ist unerschütterlich. »Er ist jetzt der Augapfel von #Stantastic. Und #Stantastic twittert alles, was ihn eifersüchtig macht.«

Mein Date mit #Stantastic war noch schlimmer gewesen als das mit Rudolph. Als wir beim Essen saßen und uns unterhielten, tippte er ununterbrochen in sein Handy. Ich habe versucht, ihm möglichst wenig Material für seine Tweets zu liefern, was damit endete, dass er mich #sleepyandhollow nannte, als er ringsum seine Version der Geschichte verbreitete. Erstaunlicherweise hat er dann gar nicht verstanden, warum ich mich kein zweites Mal mit ihm verabreden wollte. Das weiß ich deshalb, weil er seinen (sechsundfünfzig) Followern mitgeteilt hat, dass er #Stantagonized sei, dass ich von ihm nicht #Stantalized war.

Ich mustere Ilsas Gesicht, um zu sehen, ob sie Rudolph oder #Stantastic eingeladen hat. Scheint nicht so. Ich bin erleichtert … und gleichzeitig etwas besorgt, wer denn dann noch übrig bleibt.

Ich checke die Bratröhre und wenigstens da scheint alles nach Plan zu verlaufen. Das Ticken des Timers übt eine beruhigende Wirkung auf mich aus, und ich überzuckere die Zitronentarte, dann mische ich den Waldorfsalat noch einmal kräftig durch, um sicherzugehen, dass die mit Zitronensaft beträufelten Äpfel mir auch ja keinen Streich spielen und sich bräunlich verfärben. Ich weiß, dass es höchste Zeit ist, die Schürze abzunehmen und in die Rolle des Gastgebers zu wechseln … aber ich will noch ein kleines bisschen länger in der Küche bleiben. Hier drinnen fühle ich mich so viel wohler.

»Das wär’s dann also«, sage ich zu Ilsa. »Die letzte Dinnerparty unserer Highschoolzeit.«

Der Beginn der vielen Abschiede. Ich habe mich schon seit Längerem darauf eingestellt, auf meine Weise. Ich bin bereit fürs Studium. Aber ich spüre, dass ich noch nicht bereit dafür bin, dass sich in meinem Leben auf einmal alles ändert.

Über all das kann ich mit Ilsa nicht reden, weil sie es zu deprimierend finden würde. Und meine Schwester mag es nicht, deprimiert zu sein, für sie muss es immer heiter und leicht sein. Fröhlich und unbeschwert. Das Leben eine einzige große Party – das ist meine mir so unähnliche Zwillingsschwester. Authentisch in ihrer Nicht-Authentizität.

»Es ist alles plötzlich so groß«, sagt sie und betont das Wort »groß« so, als wäre sie ein kleines Mädchen, das die Schuhe seiner Mutter anprobiert.

Die Schuhe der Mutter oder besser noch: die der Großmutter. Ich denke mal, wir erproben beide unsere Schritte ins Erwachsenenleben in den großen Fußstapfen unserer Großmutter. Wenn man mich anschaut, mit all meinen kulinarischen Kreationen – ich will damit glänzen, blenden, beeindrucken. Und Ilsa in ihrem schimmernden 20er-Jahre-Fransenkleid – sie will darin glänzend, blendend, beeindruckend sein.

»Das Alltagseinerlei wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht«, verheiße ich ihr.

»Es wird nicht wagen, einen Fuß hier in diese Wohnung zu setzen. Nicht solange wir hier sind.«

»Es soll ein denkwürdiger Abend werden.«

Sie nickt. »Für die Geschichtsbücher.«

Ich überprüfe ein letztes Mal, ob alles vorschriftsmäßig kocht, simmert und brät. Noch zehn Minuten. Höchste Zeit, mich umzuziehen. Alles hängt an der Schranktür bereit. Schwarzer Anzug. Weißes Hemd. Dunkelblaue Krawatte. Mein Standardoutfit bei solchen Gelegenheiten. Aber ich glaube, dass ich darin einfach am besten aussehe. Und heute Abend will ich ganz besonders gut aussehen.

Ich fühle mich hoffnungsfroh, trotz allem.

Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob er wirklich kommt. Der Junge, von dem ich noch nicht mal weiß, wie er heißt.

Parker habe ich selbstverständlich eingeweiht. Ein Grund, warum ich es getan habe, ist, weil ich ihm beweisen will, dass ich zumindest für einen Augenblick auch mal ein bisschen mutiger sein kann. Monatelang hat er mir damit in den Ohren gelegen, dass ich den Subway Boy doch endlich ansprechen soll, hat mir angedroht, selbst zu ihm hinzugehen und zu ihm zu sagen: »Hey, mein Freund hier mag dich.« Endlich habe ich es fertiggebracht.

Und jetzt dieses Warten.

Hey, du siehst gut aus, sagt Parker mir immer wieder. Du bist jemand. Ich muss es mir manchmal innerlich vorsagen, wenn ich zu wenig oder gar kein Selbstvertrauen habe.

Acht Minuten. Ich knöpfe das Hemd zu.

Sechs Minuten. Ich binde mir die Krawatte um.

Fünf Minuten. Ich –

Ich –

Ich kann nicht da rausgehen. Ich schaff das nicht. Ich kann es nicht. Ich kann es wirklich nicht. Ich werde Ilsa sagen, dass ich mich krank fühle. Das alles hier darf sich nie und nimmer ereignen. Ich darf es nicht zulassen. Was auch immer geschehen wird, ich will nicht, dass es geschieht. Die Einladung war ein riesengroßer Fehler. Ich bin ein Hochstapler und Betrüger. Ich will in der Küche bleiben. Ich will nicht, dass irgendjemand in die Wohnung kommt. Ich will mich nicht mit anderen Menschen unterhalten müssen. Mein Körper signalisiert es mir. Mein Körper weiß das ganz genau. Er fährt sich runter, sagt mir: Das ist jetzt genug, Sam. Mehr verträgst du nicht.