3Gabriele Metzler

Der Staat
der Historiker

Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945

Suhrkamp

9Einleitung

Die Bundesrepublik entwickelte sich seit ihrer Gründung zu einem modernen, westlich geprägten Staatswesen, das Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit in sich vereinte. Das war keine selbstverständliche Entwicklung – manche haben gar von einem »Demokratiewunder« geschrieben[1] –, und es war auch keine, die schon mit der Staatsgründung von 1949 abgeschlossen gewesen wäre. Vielmehr brauchte es rund zwei Jahrzehnte, bis ein historisch-politischer Lernprozess in Westdeutschland wirklich Wurzeln geschlagen hatte, ein Lernprozess, in dessen Verlauf die Westdeutschen sich ein neues Verständnis von Demokratie, Freiheit und Staat aneignen mussten. Traditionell war das deutsche Staatsdenken seit dem 19. Jahrhundert hegelianisch geprägt gewesen, der Staat galt weithin als getrennt von der Gesellschaft, als ihr übergeordnetes, vorgeordnetes sittliches Prinzip: als die »Wirklichkeit der sittlichen Idee«.[2] Zudem hatte spätestens mit dem Neohistorismus die Nation bzw. der Nationalstaat sich als Fluchtpunkt historischen Denkens fest etabliert. Dieses Koordinatensystem war nach 1945 unwiderruflich zerbrochen. Die deutsche Nation gab es in Zeiten der Teilung nicht mehr, und das deutsche Staatsdenken sah sich unter den Umständen des Kalten Kriegs und der kulturellen Hegemonie der USA ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Die Westdeutschen lernten, sich in einer von anglo-amerikanischen Staatsvorstellungen geprägten politischen Ordnung einzurichten; sie lernten, soziale Konflikte als ›normal‹ anzuerkennen und das »Gemeinwohl« als Ergebnis eines deliberativen Prozesses zu begreifen und nicht als etwas, das von vornherein bestand und ›nur‹ erkannt zu werden brauchte. Sie erfuhren aber auch, dass der Staat umstritten, überfordert oder in seiner Bedeutung in Frage gestellt wurde. Wie Zeithistoriker an diesem Lernprozess teilhatten, wie sie 10ihn mit vorantrieben, wie sie ihrerseits aber auch aufnehmend an ihm teilnahmen, davon soll dieser Essay handeln.

Die Staatsvorstellungen von Zeithistorikern sind gleich aus mehreren Gründen spannende und lohnende Gegenstände historischen Fragens: Erstens bilden (Zeit-)Historiker eine Deutungselite, die Geschichtsbewusstsein sowie historisches Denken in der Gesellschaft maßgeblich prägt und auf diese Weise immer auch zur historischen Legitimation – oder Delegitimation – des Gemeinwesens beiträgt. Denn jedes politische Gemeinwesen benötigt auch historisch begründete Legitimation, soll es auf Dauer gestellt werden und nicht bloß für eine Übergangssituation existieren. Für den jungen westdeutschen Staat galt dies in ganz besonderem Maße, denn seine Gründung 1949 brach mit der nationalstaatlichen Tradition. Der Staatsaufbau hatte zuallererst den Katastrophen des »Zeitalters der Extreme« (E. Hobsbawm) Rechnung zu tragen. Der Erste Weltkrieg, das Scheitern der Demokratie 1933, die NS-Diktatur und die Massenvernichtung, der »totale Krieg« sowie die totale Niederlage von 1945 bildeten Erfahrungsbestände, die in den Aufbau des neuen Staates unmittelbar einflossen. Der anbrechende Kalte Krieg setzte schließlich den Rahmen, der die weitere Entwicklung maßgeblich bestimmte. Wie Zeithistoriker diese Erfahrungen zu historischem Wissen umformten – auch ihre eigenen persönlichen Erfahrungen –, ist aufregend zu beobachten und steht zugleich exemplarisch für eine ganze Gesellschaft, die sich in einer neuen Welt einzurichten hatte.

Zweitens ist das Thema aus historiographie- und wissenschaftsgeschichtlichem Blickwinkel von Interesse. Zeitgeschichte als geschichtswissenschaftliche Subdisziplin institutionalisierte sich in Deutschland erst nach 1945, also zu genau der Zeit, als (Zeit-)Historiker als Deutungselite besonders gefragt waren. Innerwissenschaftlich galt es lange Zeit keineswegs als ausgemacht, dass man Zeitgeschichte als gegenwartsnahe Geschichte nach wissenschaftlichem Maßstab überhaupt betreiben konnte. Wie sollte es denn möglich sein, so ließe sich mit Ranke fragen, »sein Selbst gleichsam auszulöschen«, um zu zeigen, »wie es eigentlich gewesen«?[3] War 11dies schon zu Rankes Zeiten eher als Wunsch und Postulat denn als Beschreibung tatsächlichen historischen Arbeitens formuliert gewesen, so musste dies umso schwieriger oder gar unmöglich erscheinen, wenn es um die wissenschaftliche Erforschung der »Epoche der Mitlebenden«[4] ging. Weil sie in der Gegenwart verwurzelt waren, deren unmittelbare Vorgeschichte sie selbst miterlebt hatten, so der Vorwurf, konnten Zeithistoriker gar nicht wissenschaftlich arbeiten. Wir haben es also immer auch mit Kämpfen um Selbstbehauptung einer jungen Disziplin zu tun, die heute ganz selbstverständlich in den Geschichtswissenschaften verankert ist, wenn sie nicht gar den Ton angibt. Zeithistoriker waren im Übrigen keinesfalls allein, wenn es um Deutungen der jüngeren Vergangenheit und der Entwicklungsperspektiven des neuen Staates ging: Staatsrechtslehre, Soziologie und vor allem die neu begründete Politikwissenschaft[5] erwiesen sich bald als harte Konkurrenten um die Deutungshoheit. Teils wurden sie von den Historikern rezipiert, teils schrieben die Politologen selbst Studien, die wir heute als »zeithistorisch« kategorisieren würden (etwa: Karl Dietrich Bracher, Wilhelm Hennis, Hans Peter Schwarz, Arnulf Baring).

Wer sich mit der Geschichte der ›Zeitgeschichte‹ als historischer Subdisziplin nach 1945 befasst, kann auf eine ganze Reihe substantieller Studien zurückgreifen. Gerade in den letzten Jahren erlebte die Historiographiegeschichte nach 1945 einen veritablen Boom, der meinem Nachdenken über das Verhältnis von Historikern und Staat sehr zugutegekommen ist.[6] Merkwürdige – im Wortsinne – 12Kontinuitäten haben diese Studien zutage befördert, gerade auch im Hinblick auf das Innovationspotential einer NS-affinen (jedoch nicht nationalsozialistischen) Geschichtswissenschaft. Auch mit der frühen zeithistorischen NS-Forschung in der Bundesrepublik geht die aktuelle zeithistorische Forschung hart ins Gericht.[7] Für die Frage nach den geschichtspolitischen Dimensionen zeithistorischer Debatten verfügen wir ebenfalls über substantielle Arbeiten.[8] Profitieren kann diese kleine Studie auch von Arbeiten, die zur Geschichte der Staatsvorstellungen in den Nachbardisziplinen erschienen sind, insbesondere zum Wandel der Staatsrechtslehre.[9] Als gleichermaßen instruktiv erwiesen sich Studien zu den Veränderungen der Gesellschaftsvorstellungen und -theorie.[10]

So erfreulich die Literatur zur Historiographiegeschichte der 1930er bis zu den frühen 1960er Jahren angewachsen ist, so misslich ist die Forschungssituation für die späteren Dekaden. Aus den Quellen gearbeitete Monografien etwa zur Geschichte der neomarxistischen Geschichtsschreibung, zur Alltagsgeschichte oder, erst recht, zur Geschichte der feministischen Zeitgeschichte stellen Desiderate der Forschung dar.

Dieses Buch zielt auf eine Historiographiegeschichte in gesellschaftsgeschichtlicher Absicht. Es handelt von Debatten in der historischen Subdisziplin Zeitgeschichte – und zugleich immer auch von der Geschichte der westdeutschen Gesellschaft, der inneren und internationalen Politik, der Kultur. Das kann jeweils nur knapp umrissen werden, anders wäre ein Handbuch und kein Essay entstanden. Aber ich will doch zeigen, dass historisches Räsonnement und gesellschaftlich-kultureller Wandel in einer Wechselwirkung miteinander standen; dass das zeithistorische Argument, die Diskussion eines zeithistorischen Themas immer auch einen Beitrag leisteten zu tagespolitischen Auseinandersetzungen, 13wenn nicht gar zu politischen Grundsatzdebatten. Und umgekehrt wirkten gesellschaftliche Veränderungen auf die Wissenschaft zurück – wie konnte es auch anders sein in Zeiten, in denen sich die traditionelle deutsche Universität grundlegend wandelte, öffentlich kritische Fragen formuliert wurden, Formen des Politischen sich veränderten?

Zeithistoriker schreiben selten »Staatsvorstellung«, wenn sie »Staatsvorstellung« meinen. Aufsätze oder gar Monografien der hier behandelten Zeithistoriker zum Thema »Wie ich mir den Staat vorstelle« sind nicht überliefert, gelegentlich finden wir immerhin explizite tagespolitische Stellungnahmen. Theorien formulieren sie nicht, gerade Zeithistoriker sind im Gegenteil eher als theorieavers zu charakterisieren. Das Medium, in dem Zeithistoriker ihre Staatsvorstellungen, ihre politischen Leitideen und ideologischen Affinitäten verhandeln, sind Studien zu historischen Themen. Deshalb ist es notwendig, ihre Darstellungen des Kaiserreichs, der Weimarer Republik oder des Nationalsozialismus sehr genau und gleichsam »gegen den Strich« zu lesen, um in Erfahrung zu bringen, was westdeutsche Zeithistoriker über ihren Staat, die Bundesrepublik, zum jeweiligen Zeitpunkt dachten, zumal die zeithistorische Forschung zur deutschen Geschichte nach 1945 im Grunde erst ab Ende der 1950er Jahre, Anfang der 1960er Jahre einsetzte.[11] Entsprechend fließen hier auch Debatten über den Ersten Weltkrieg und seine Vorgeschichte, ja sogar über Preußen mit ein, die man eigentlich nicht zu klassischen Themen der Zeitgeschichte rechnen würde. Aber es waren Debatten, in denen auch Zeithistoriker das Wort ergriffen und die nicht nur auf die Neuere Geschichte ausstrahlten, sondern die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik insgesamt mit beeinflussten. Sie aufzuarbeiten kann nur über einen Zugriff auf geschichtswissenschaftliche Arbeiten erfolgen, 14die als exemplarisch für bestimmte Stränge dieser Debatten gelten können. Die Literatur vollständig zu erfassen, wäre spätestens ab den späten 1950er Jahren eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Schließlich sei noch vorausgeschickt, dass es über lange Jahre tatsächlich »Zeithistoriker« waren, die den Ton angaben, Frauen haben bis vor kurzem im Fach nur vereinzelt eine Rolle gespielt, wie Karen Hagemann jüngst gezeigt hat. 1964 wurde überhaupt erstmals eine geschichtswissenschaftliche (althistorische) Professur an einer westdeutschen Universität mit einer Frau besetzt, doch in der »für die Ausformulierung der nationalen ›Meistererzählungen‹ besonders wichtigen Neueren und Neuesten deutschen Geschichte« spielten Historikerinnen noch für viele weitere Jahre keine prägende Rolle.[12]

Überlegungen dazu, wie ›die Zeitgeschichte‹ nach 1945 Staatlichkeit erinnert bzw. imaginiert hat und wie Zeithistoriker Staatlichkeit für ihre je eigene Gegenwart konzipiert haben, müssen zunächst die wirkmächtigen Traditionen deutscher Geschichtsschreibung seit dem Historismus in den Blick nehmen. An ihnen arbeiteten sich die Historiker der nachfolgenden Generationen ab, sie bildeten den Maßstab, an dem historiographische Arbeit sich messen lassen musste, gerade die sich neu etablierende zeithistorische Forschung. Demgemäß beginne ich mit einem kurzen Rückblick auf die historistischen Staatsvorstellungen, und ebenso kurz handle ich ihre Fortführung, Umdeutung, Aktualisierung während der Weimarer Republik und während der NS-Zeit ab. Einen ersten Schwerpunkt bilden dann die Neuansätze nach 1945, als es darum ging, die Deutschen gegen die Vorwürfe einer »Kollektivschuld« zu verteidigen, gleichwohl aber die »Katastrophe« des Nationalsozialismus verstehend zu erklären. Dann aber war es den führenden Zeithistorikern darum zu tun, die entscheidenden Weichenstellungen zur »doppelten Staatsgründung« (C. Kleßmann) zu verteidigen. Der Mainstream der westdeutschen Zeitgeschichte lebte sich überraschend zügig ein in die neue Republik, die in vielem doch so anders war als ihre Vorläuferin von Weimar.

Seit den 1960er Jahren bekam das offiziöse Geschichtsbild – 15und damit die Staatsvorstellungen der Zeithistoriker – zunehmend Risse. Zeithistoriker, zumal die jüngeren, positionierten sich als aktive Teilhaber einer »kritischen Öffentlichkeit«, die seit den späten 1950er Jahren das Ende der Ära Adenauer einläutete. Zugleich pluralisierte sich die zeithistorische Forschung zunehmend, was Themen, aber auch bald theoretische Prämissen, Methoden und politische Intentionen anbelangte. Kontroverse Debatten der Neueren Geschichte, vor allem über »moderne Sozialgeschichte«, haben die zeithistorische Forschung weniger berührt, als gemeinhin angenommen wird. In der Folge von 1968 bietet die Zeitgeschichte der 1970er Jahre ein diffuses, ja zutiefst gespaltenes Bild, gerade wenn es um die Frage nach Staatsvorstellungen der Zeithistoriker geht. Erst im darauffolgenden Jahrzehnt lassen sich die Frontstellungen wieder besser überblicken, ehe seit 1990 im Kontext von deutscher Wiedervereinigung, zugleich aber auch fortschreitender Globalisierung überkommene Vorstellungen von »Staat« und »(National-)Staatlichkeit« grundsätzlich in Frage gestellt werden.[13]