Wadim S. Rogowin
Trotzkismus
Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Georgi und Harald Schubärth
Mehring Verlag
Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Georgi und Harald Schubärth
Mehring Verlag
Lesehinweis: »Gab es eine Alternative?«
Einführung
1. Kapitel: Die Bolschewiki an der Macht
2. Kapitel: Der Kampf gegen die Privilegien
3. Kapitel: Garantien für die Rechte der andersdenkenden Minderheit
4. Kapitel: »Belagerungszustand« oder Arbeiterdemokratie?
5. Kapitel: Die alte Parteigarde: die Gefahr einer Spaltung
6. Kapitel: Der Generalsekretär: Organisator und Ziehvater der Bürokratie
7. Kapitel: Das Testament
8. Kapitel: Zur sofortigen Veröffentlichung
9. Kapitel: Der »georgische Zwischenfall« und das »Dershimorda-Regime«
10. Kapitel: Schicksalsträchtige Tage
11. Kapitel: Trotzkis Fehler
12. Kapitel: Der Sieg des Triumvirats
13. Kapitel: Die ersten Repressalien und das Machtmonopol
14. Kapitel: Trotzki geht zum Angriff über
15. Kapitel: Der Gegenangriff
16. Kapitel: Der Kampf geht weiter
17. Kapitel: Zwei Diskussionen
18. Kapitel: Der »Neue Kurs«
19. Kapitel: »Die Krankheit kam ungelegener denn je«
20. Kapitel: Wie sollte das Parteiregime sein?
21. Kapitel: Welche Antwort erhielt die Opposition von der »Mehrheit«?
22. Kapitel: Eine stalinsche Fälschung
Bildteil
23. Kapitel: Nach den Funktionsgesetzen des Apparat-Mechanismus
24. Kapitel: »Die Beseitigung jeglicher Diskussion und jeglicher Demokratie«
25. Kapitel: »Psychologischer Mord«
26. Kapitel: »Der Überborgia im Kreml«
27. Kapitel: »Die Siebenergruppe«
28. Kapitel: Als Stalins Schicksal entschieden wurde
29. Kapitel: Die Taktik der Einheitsfront
30. Kapitel: »Die Lehren des Oktober«
31. Kapitel: Die Entstehung des Mythos vom »Trotzkismus«
32. Kapitel: Der Kampf innerhalb der »Siebenergruppe«
33. Kapitel: Das Duumvirat
34. Kapitel: Eine Wende in der Politik
35. Kapitel: Eine neue Spaltung
36. Kapitel: Die »Neue Opposition«
37. Kapitel: »Hier hat sich die Partei vereinigt«
38. Kapitel: Die »Vereinigte Opposition«
39. Kapitel: Ist der Sieg des Sozialismus in einem einzelnen Land möglich?
40. Kapitel: Trotzkis Entwicklungsprognosen
41. Kapitel: Hoffnung auf die Weltrevolution
42. Kapitel: Die »Idylle« der NÖP
43. Kapitel: »Überindustrialisierung«, »Ausplünderung der Bauernschaft« und populäre Maßnahmen
44. Kapitel: Das Proletariat »entwickelt sich zurück«
45. Kapitel: Methoden des Kampfs gegen die Opposition
46. Kapitel: Die letzte Phase des legalen Kampfs
47. Kapitel: Die Krise ist ausgebrochen
48. Kapitel: Theorie und Praxis
49. Kapitel: Der »Parteitag der Kollektivierung« macht der Opposition den Garaus
Schlussbemerkungen
Impressum
Der vorliegende Band ist Band 1 der sechsbändigen Edition der Publikationen Wadim S. Rogowins unter dem Titel »Gab es eine Alternative?«.
Alle diese Bände sind sowohl einzeln als Buch oder als ePublikation sowie als Gesamtedition erhältlich.
Jede große Revolution stellt Zeitgenossen und Nachfahren vor historische Kardinalfragen, über die noch jahrzehntelang Streit geführt wird. Die grundlegendste Frage, die von der Oktoberrevolution und ihren Folgeerscheinungen aufgeworfen wurde, betrifft den Zusammenhang zwischen Bolschewismus und Stalinismus.
Die sowjetische Geschichtsschreibung der 1930er bis 1980er Jahre, die mehr als jede andere Geisteswissenschaft erstickendem administrativen Druck ausgesetzt war, gab auf diese Frage eine eindeutige Antwort. Sie vermied den Begriff »Stalinismus« und stellte die gesamte Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft nach der Oktoberrevolution als Umsetzung der Ausgangsprinzipien des Marxismus-Leninismus dar. Jegliche Äußerung, die dieses Postulat in Zweifel zog, wurde als Ausdruck von Antikommunismus und Sowjetfeindlichkeit stigmatisiert. Es wurden so viele Mythen und Fälschungen hervorgebracht, dass man keine der seit Ende der zwanziger Jahre in der UdSSR erschienenen zusammenfassenden Untersuchungen über die Zeit nach dem Oktober als wirklich wissenschaftlich bezeichnen kann.
Die Neubewertung der gesamten sowjetischen Geschichte in den letzten Jahren stellte die Forscher vor eine Grundfrage: Warum entstand auf dem von der Oktoberrevolution bereiteten Boden ein so monströses Phänomen wie der Stalinismus, der die Idee des Sozialismus in den Augen von Millionen Menschen weltweit in Misskredit brachte?
Auf diese Frage gibt es, wie es scheint, nur zwei Antworten. Die eine besagt, dass die Entwicklung von der sozialistischen Revolution zur Terrordiktatur Stalins historisch gesetzmäßig und unvermeidlich gewesen sei und dass es im Rahmen des Bolschewismus keine politische Alternative dazu gegeben habe. Wenn es so wäre, müsste man alle Stadien zwischen der Oktoberrevolution 1917 und der Konsolidierung des stalinistischen Regimes als bedeutungslose Zickzackbewegungen auf dem von der Oktoberrevolution verhängnisvoll vorgezeichneten Kurs betrachten, und der innerparteiliche Kampf der zwanziger Jahre wäre eine historische Episode, die in jedem Fall zu einem ähnlichen Ergebnis wie dem Stalinismus geführt hätte.
Die andere Antwort geht davon aus, dass der Stalinismus nicht das unvermeidliche logische Ergebnis der Oktoberrevolution und dass Stalins Sieg in gewissem Sinne ein historischer Zufall gewesen sei, dass es innerhalb des Bolschewismus eine starke Strömung gegeben habe, die eine reale Alternative zum Stalinismus bot, und dass im Kampf gegen diese Strömung die Hauptfunktion des stalinschen Terrors bestanden habe.
Zur wissenschaftlichen Untermauerung der jeweiligen These ist es vor allem erforderlich, sich auf eine möglichst vollständige Sammlung der historischen Fakten zu stützen. »Unrichtige Vorstellungen in jeder Wissenschaft sind schließlich, wenn wir von Beobachtungsfehlern absehen, unrichtige Vorstellungen von richtigen Tatsachen. Die Letzteren bleiben, wenn wir auch die Ersteren als falsch nachgewiesen.«[[1]]
In der Geschichtswissenschaft kam es häufiger als in anderen Wissenschaften vor, dass eine falsche Interpretation wahrer Tatsachen weniger aus einem ehrlichen Irrtum herrührte als vielmehr eine bewusste oder unbewusste Bedienung politischer Forderungen darstellte. Dennoch kann man ohne Übertreibung sagen, dass es vor dem 20. Jahrhundert noch nie so zahlreiche Fälschungen gegeben hat, die auf einer tendenziösen Überbetonung und Interpretation bestimmter Fakten und dem Verschweigen anderer beruhten. Noch niemals haben historische Geschichtsfälschungen in solchem Maße als ideologisches Instrument gedient, um ein Volk zwecks Durchsetzung einer reaktionären Politik zu täuschen. Nie zuvor waren so viele ideologische Amalgame erschaffen worden, die auf einer willkürlichen Gleichsetzung völlig unterschiedlicher, räumlich und zeitlich voneinander getrennter historischer Phänomene basierten.
Der Begriff »Amalgam« (im wörtlichen Sinne eine Legierung unterschiedlicher Metalle) hatte seine erste Anwendung auf das politische Leben während der Großen Französischen Revolution erfahren. Nach dem konterrevolutionären Staatsstreich am 27. Juli 1794 (nach dem Kalender der Republik der 9. Thermidor des Jahres II) bezeichnete man damit die von den Thermidorianern praktizierte Methode, die verschiedensten »Verschwörungen« zu konstruieren: Monarchisten, revolutionäre Jakobiner, Kriminelle usw. wurden nebeneinander auf die Anklagebank gesetzt. Der Zweck bestand darin, Schuldige und Unschuldige miteinander zu vermengen und letztlich das Volk zu täuschen, indem man Hysterie gegen die Jakobiner schürte.
Bereits Ende der zwanziger Jahre versuchte die linke Opposition nachzuweisen, dass Stalin und seine Anhänger sich der Methode des Amalgams bedienten, um Oppositionelle der Zusammenarbeit mit antisowjetischen Kräften zu bezichtigen. In den dreißiger Jahren sprach Trotzki von stalinistischen Amalgamen im weiteren Sinne; er meinte damit die provokative Gleichsetzung der Bolschewiki – Gegner Stalins – mit konterrevolutionären Verschwörern, Terroristen, Diversanten und Spionen ausländischer Geheimdienste. Diese Methode diente als Hauptinstrument zur Täuschung des Sowjetvolkes und der fortschrittlichen Öffentlichkeit, um sich ihres Vertrauens in die furchtbaren Unterdrückungsmaßnahmen gegen »Volksfeinde« zu versichern. Später wurden völlig unterschiedliche Gruppen auf diese Weise »amalgamisiert«, d.h. zusammengeworfen: auf der einen Seite Beteiligte an Verschwörungen der Weißen und auf der anderen normale Bürger, die es gewagt hatten, ein falsches Wort zu sagen; zum einen Beteiligte an den Bauernaufständen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre und zum anderen Mittelbauern, die im Rahmen entsprechender Kontingentpläne »entkulakisiert« wurden; ehemalige besitzende Schichten aus dem zaristischen Russland, die die Oktoberrevolution hassten, weil sie ihnen ihre Privilegien genommen hatte, und Kommunisten, die sich kritisch über das Stalin-Regime geäußert hatten; Wlassow-Leute oder Überläufer zur Nazi-Polizei und Kriegsgefangene, die ihren Namen nicht durch Kollaboration mit den Faschisten beschmutzt hatten und durch die Hölle der faschistischen Lager gegangen waren; Organisatoren und Mitglieder nationalistischer Banden und ganze Völker, die gnadenlos deportiert wurden.
Ebenso willkürlich waren auch die »auf den Kopf gestellten stalinistischen Amalgame« der Antikommunisten. Sie führten sämtliche tragischen Ereignisse in der Geschichte nach der Oktoberrevolution auf bestimmte, der bolschewistischen Partei angeblich von Anfang an innewohnende Eigenschaften und Mängel zurück. Bereits Trotzki hatte derartige in den dreißiger Jahre bei Diskussionen über die Ursprünge und das Wesen des Stalinismus aufgekommenen Geschichtsauffassungen widerlegt und aufgezeigt, dass Amalgame dieser Art auf idealistischen Vorstellungen beruhten, wonach die bolschewistische Partei eine gewissermaßen allmächtige Kraft der Geschichte sei, die in einem luftleeren Raum bzw. mit einer amorphen Masse agiere und keinem Widerstand des sozialen Umfelds oder Druck von außen ausgesetzt sei.
Eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung dieser Auffassungen spielten ehemalige orthodoxe Kommunisten, die unter dem Eindruck der tragischen Ereignisse der dreißiger Jahren mit der kommunistischen Bewegung gebrochen und dem Marxismus abgeschworen hatten. Ihre Argumente wurden von der Berufssowjetologie aufgegriffen, die im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. In den vierziger und fünfziger Jahren erschienen Hunderte von Arbeiten, in denen die Idee verbreitet wurde, dass der Stalinismus durch den Charakter der bolschewistischen Partei und der Oktoberrevolution schicksalhaft vorbestimmt gewesen sei. Die »frühen« westlichen Sowjetologen legten bei der Interpretation der Beziehung zwischen Bolschewismus und Stalinismus eine erstaunliche Einmütigkeit an den Tag. »Diese Einmütigkeit überdauerte den Aufstieg und den Niedergang verschiedener Methodologien und Ansätze und bekräftigte folgende simplifizierende Schlussfolgerung: Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied, keine logische Inkongruenz zwischen Bolschewismus und Stalinismus, die in politischer und ideologischer Hinsicht ein und dasselbe sind.[[2]]
Dass dieser Mythos jahrzehntelang Bestand hatte, lässt sich damit erklären, dass historische Verallgemeinerungen, die aus einer unvoreingenommenen Analyse zahlreicher unbestreitbarer und unumkehrbarer Fakten erwachsen sollten, in Zeiten extremer politischer Spannungen in der Regel von den politischen Sympathien der Wissenschaftler geprägt sind. Obwohl die westliche akademische Sowjetologie weitaus mehr Faktenmaterial einsetzte als die sowjetische Geschichtsschreibung, erfüllte sie im »Kalten Krieg« auch einen bestimmten »sozialen Auftrag« und litt infolgedessen unter ihren eigenen ideologischen Scheuklappen. Erst seit den siebziger Jahren nahmen die seriösesten Forscher Abstand von der »vorherrschenden Auffassung, der Stalinismus sei das logische, unvermeidliche Ergebnis der bolschewistischen Revolution«.[[3]]
Man sollte meinen, die Aufdeckung von Stalins Verbrechen in der UdSSR hätte zu einem ähnlich produktiven Prozess bei der Zerstörung historischer Mythen – etwa solcher, die von der stalinschen Fälscherschule in Umlauf gebracht worden waren – führen müssen. Aber die ersten beiden Wellen der Kritik am Stalinismus in der UdSSR (nach dem zwanzigsten und dem zweiundzwanzigsten Parteitag), die Chrustschow – einst einer der eingeschworensten Stalin-Anhänger – auslöste, ließen die wichtigsten Mythen aus dieser Schule unangetastet. In seiner Rede »Über den Personenkult und seine Folgen« auf dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU schätzte Chrustschow den Kampf »gegen Trotzkisten … und Rechte, gegen bürgerliche Nationalisten«, deren Kurs angeblich »zur Restauration des Kapitalismus, zur Kapitulation vor der Weltbourgeoisie« geführt hatte, positiv ein. Ebenso bewertete er die Rolle Stalins in diesem »unabdingbaren« Kampf gegen die, »die versuchten, das Land vom einzig richtigen, dem leninschen Weg abzubringen«.[[4]] Entsprechend dieser Interpretation des innerparteilichen Kampfs erklärte Chrustschow den Ursprung des Personenkults lediglich aus den negativen persönlichen Eigenschaften Stalins, die sich angeblich erst nach 1934 entwickelt hätten.
Diese Version wurde in der offiziellen Propaganda während der gesamten »Tauwetter«-Zeit unter Chrustschow beibehalten. Nach Chrustschows Absetzung verbot die Breshnew-Suslow-Führung jede offizielle Kritik am Stalinismus und ließ bei diesem Thema nur die Erwähnung »einzelner Fehler« Stalins zu. Eine kritische Neubewertung der sowjetischen Geschichte konnte unter diesen Bedingungen nur durch illegale Veröffentlichungen (im Untergrund als »Samisdat« oder im Ausland als »Tamisdat«) erfolgen. Die Fäulnis des Breshnew-Regimes, in vielem dadurch bedingt, dass die neue unabsetzbare Führung weder fähig noch bereit war, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, nahm den sowjetischen Menschen die nach dem zwanzigsten Parteitag aufgekeimten Hoffnungen auf eine Wiedergeburt der sozialistischen Prinzipien in Politik und Ideologie.
Das erstickende ideologische Klima, das sich in den Jahren der Stagnation ständig verschlimmerte, bewog zahlreiche Vertreter der sowjetischen Intelligenz dazu, die Vergangenheit wieder auf der Grundlage der traditionellen Amalgame zu bewerten, d.h. sie ließen die These »Stalin ist der Fortführer der Sache Lenins und der Oktoberrevolution« wieder aufleben, allerdings mit negativem Vorzeichen. Hatte die Stalin-Propaganda die Sache Lenins und deren »Fortführung« als ununterbrochene Kette historischer Siege im Kampf gegen die »Feinde des Leninismus« dargestellt, so betrachteten die Dissidenten der siebziger und achtziger Jahre sowie die Ideologen der »dritten russischen Emigrationswelle« die gesamte sowjetische Geschichte als ununterbrochene Kette von Verbrechen und Gewalttaten der Bolschewiki gegen das Volk.
Zur weiten Verbreitung dieser Geschichtsauffassung trug das Schaffen Alexander Solschenizyns und vor allem seine künstlerische Dokumentation »Der Archipel GULAG« bei. Dieses literarische Genre, das weniger an das Geschichtsbewusstsein, als an die Gefühle der Leser appellierte, das sich weniger auf Dokumente, als auf individuelle Zeitzeugenaussagen stützte und das den Autor somit davon enthob, Fakten in ihrem tatsächlichen historischen Ablauf darzustellen – dieses Genre, kombiniert mit der künstlerischen Begabung Solschenizyns, ließ diese Version sowohl in »rechten« als auch »linken« Kreisen der sowjetischen Intelligenz Anerkennung finden. Die offizielle Sowjetpropaganda jedoch reagierte auf Solschenizyns Buch nur mit groben und kraftlosen Schimpftiraden, die eine Trennung wahrheitsgemäßer Feststellungen des Autors von offenkundigen Geschichtsverfälschungen und unbegründeten Verallgemeinerungen verhinderten. Das Fortbestehen zahlreicher »weißer Flecken« und verfälschender Klischees in der offiziellen Geschichtsschreibung trug dazu bei, dass Solschenizyns auf viele überzeugend wirkende Auffassung Ende der achtziger Jahre die sowjetische Presse überflutete, die Vorherrschaft gewann und allen anderen Ansichten über die Geschichte nach der Oktoberrevolution mit aggressiver Unversöhnlichkeit begegnete.
Nach der kurzen Phase, in der die Neue Ökonomische Politik (NÖP) und die so genannte »bucharinsche Alternative« hochgelobt wurden, folgte eine Zeit der Wiederbelebung des alten Mythos vom stalinschen Sozialismus-Modell als einzig möglicher Form zur Durchsetzung der marxistischen Lehre. Die Kritik am Stalinismus wich der Kritik am Marxismus und Bolschewismus. Letztere traf nun die Schuld an allen Erschütterungen und Schwierigkeiten, die unser Land von 1917 bis zur heutigen allumfassenden ökonomischen und politischen Krise heimsuchten. Von Jahr zu Jahr wuchs die Flut der Artikel, in denen die Wurzeln und Quellen des Stalinismus in den »Lehrsätzen« des Marxismus, in der Ideologie und Politik des revolutionären Bolschewismus und schließlich in der angeblich von Anfang an vorhandenen Fehlerhaftigkeit der sozialistischen Idee gesucht wurden. Zur Unterstützung dieser Geschichtsauffassung wurden jedoch keinerlei neue Fakten, Argumente oder Beweise generell vorgelegt. Sie beruhte prinzipiell nicht auf neuen historischen Forschungen, sondern war lediglich eine Wiederholung der Grundgedanken aus der Publizistik der Weißemigranten und der Antikommunisten. Die objektive historische Analyse wurde immer mehr politischen Zielen geopfert, bis dahin, dass die tragischen Folgen des Zerfalls der UdSSR und die Hinwendung der ehemaligen Unionsrepubliken zu einem rückständigen halbkolonialen Kapitalismus als Erbe des »sowjetisch-kommunistischen Systems« dargestellt wurden.
Diese Interpretation beruht auf der traditionellen antikommunistischen Auffassung, wonach sich die Geschichte nach dem Oktober 1917 »kontinuierlich« entwickelt habe und die jeweiligen – ihrem sozialpolitischen Charakter nach grundverschiedenen – Phänomene, wie etwa Oktoberrevolution und Bürgerkrieg, Zwangskollektivierung und Massendeportation der Bauern sowie schließlich die gefälschten Gerichtsprozesse und der Staatsterror von den späten dreißiger bis zu den frühen fünfziger Jahren – aufeinanderfolgende Glieder einer einzigen historischen Kette bilden würden. Bei einer solchen Interpretation bleiben wichtige historische Umstände außer Acht, die dieses Konstrukt zum Einsturz bringen würden. Oktoberrevolution und Bürgerkrieg waren bewaffnete Kämpfe des Volks zur Unterstützung der Bolschewiki gegen die Koalition jener Kräfte, die eine nationale konterrevolutionäre Restauration anstrebten, und gegen die Kräfte der ausländischen Intervention. Die Kollektivierung ging einher mit zahlreichen bewaffneten Bauernaufständen, die zu einer »russischen Vendée« hinüberzuwachsen drohten (dies enthebt die Organisatoren der Zwangskollektivierung und der brutalen Maßnahmen, die unter der Losung »Liquidierung der Kulaken als Klasse« durchgesetzt wurden, selbstverständlich nicht ihrer historischen Verantwortung). Der Staatsterror der späten dreißiger bis zu Beginn der fünfziger Jahre richtete sich gegen Millionen unbewaffneter Menschen und wurde mit Methoden der Inquisition verübt, indem Gerichtsfälschungen begangen, »Affären« konstruiert und Menschen unter der Folter gezwungen wurden zu »gestehen«, kriminelle Handlungen begangen zu haben, die es in Wirklichkeit gar nicht gab.
Die Amalgamierung all dieser Phänomene beruht auf einem einzigen formalen Merkmal – der Anwendung von Gewalt; das Wesen dieser Gewalt, die historischen Bedingungen dafür und der Klassencharakter jener Kräfte, gegen die die Gewalt sich richtete, blieben dabei jedoch unberücksichtigt.
Die Autoren der jüngsten mythologischen Motive, die in der gesamten Geschichte nach der Oktoberrevolution nichts außer Gewalt sehen wollen, konstruieren eine scheinbar konsequente Abfolge von Tätern und deren Opfern. Zu Ersteren zählen sie Lenin, Trotzki, Swerdlow und Dzershinski als angeblich direkte Vorgänger von Stalin, Jagoda, Jeshow, Wyschinski und Berija. Der zweiten Gruppe ordnen sie – neben den unschuldigen Opfern des stalinschen Terrors – auch die wirklichen Feinde der Oktoberrevolution zu, deren Tätigkeit in militärischen Aktionen und bewaffneten Verschwörungen zum Ausdruck kam. Schließlich wird noch eine dritte Kategorie konstruiert – Täter, die zu Opfern wurden. Gemeint sind Bolschewiki, die in den Jahren des Stalinismus ums Leben kamen, aber angeblich durch ihre Mitwirkung an der Oktoberrevolution und am Bürgerkrieg ihr nachfolgendes tragisches Schicksal unabwendbar selbst vorbereitet hatten.
In der gleichen Weise wird ein weiteres altes Dogma der Sowjetologen wieder neu aufgelegt: Es wird behauptet, der Stalinismus sei die gesetzmäßige Kulmination der bolschewistischen Tradition. Diese ideologische Operation (die Gleichsetzung der von der Oktoberrevolution errichteten politischen Herrschaft mit dem Regime des Stalinismus) beruht ebenfalls auf der Heranziehung eines einzigen gemeinsamen formalen Merkmals: des Einparteiensystems. Die Unterschiedlichkeit der Partei unter Lenin beziehungsweise unter Stalin bleibt dabei jedoch unberücksichtigt.
Die Autoren dieser mythologischen Motive ignorieren die offenkundigen Unterschiede zwischen der Ideologie und Politik des Bolschewismus und jener des Stalinismus. Letzterer bewahrte zwar die traditionelle marxistische Terminologie und bekundete nach außen hin ein Festhalten am Bolschewismus, trat aber die Grundgedanken des Bolschewismus in den Schmutz und zerstörte die wichtigsten bolschewistischen Prinzipien und Werte: soziale Gleichheit, sozialistischer Internationalismus und unmittelbare Machtausübung durch das Volk. Indem der Stalinismus die Idee der Gleichheit als »linksabweichlerische Gleichmacherei« hinstellte, schuf er ein neues System von Privilegien und neue, im Vergleich zu den früheren nicht weniger krasse Systeme der Ungleichheit. Die Idee des Internationalismus ersetzte er durch die Ideologie und Praxis des Großmachtchauvinismus und Vormachtstrebens, die Idee vom Absterben des Staats durch die Idee von der Stärkung des Staatssystems und durch die Praxis von totalem Zwang und Gewalt.
Die Urheber der jüngsten historischen Amalgame verschließen die Augen auch vor einer der wichtigsten Tendenzen des stalinschen Bonapartismus: der Beständigkeit, mit der eine bestimmte Gruppe von Feinden verfolgt wurde. Erinnern wir uns: In den zweieinhalb Jahrzehnten stalinistischer Herrschaft richteten sich die Schläge einmal gegen die eine, dann wieder gegen eine andere gesellschaftliche Gruppe, und manche zunächst verfolgten sozialen Gruppen und Institutionen wurden plötzlich zu Begünstigten erhoben. Die Politik der »Zerschlagung« der alten Intelligenz, die zu Beginn der dreißiger Jahre in mehreren konstruierten politischen Schauprozessen gegen »Schädlinge« aus den Reihen der wissenschaftlichen, technischen und militärischen Kader ihren Höhepunkt gefunden hatte, wich – in der Sprache der Stalinisten – einer Politik der »Heranziehung und Fürsorge« gegenüber den parteilosen Fachleuten. An die Stelle der Verfolgung der Kirche trat deren Umwandlung in eine Stütze des stalinschen Regimes. Selbst die Schrecken der »Entkulakisierung« wurden Mitte der dreißiger Jahre abgelöst durch die Wiederherstellung der bürgerlichen und politischen Rechte der so genannten »Lischenzy«,[*] unter denen sich auch »Entkulakisierte« befanden. Es existierte unter den Opfern des Stalinismus nur eine Kategorie, gegen die die Terrorpolitik unablässig verschärft wurde: die Kommunisten, die in irgendeiner Berührung zu den innerparteilichen Oppositionen der zwanziger und dreißiger Jahre standen.
Bekanntlich wurde während der gesamten Stalinzeit jeder, der es wagte, auch nur ein Werk von Trotzki oder anderen Oppositionellen aufzubewahren, oder der »überführt« war, »Verbindung zu Trotzkisten zu haben«, d.h. mit einem »Trotzkisten« zusammenzuarbeiten oder kameradschaftliche Beziehungen zu unterhalten, mit absoluter Sicherheit nach dem härtesten Artikel der Stalin-Justiz – wegen »KRTD« (konterrevolutionäre trotzkistische Tätigkeit) – bestraft. Da dieses Phänomen massenweise auftrat, kann es nicht mit persönlicher Antipathie Stalins erklärt werden. Es lag offenbar etwas Existenzbedrohendes für das Stalin-Regime in der Ideologie, die in jenen Jahren »Trotzkismus« genannt wurde. Stalins Furcht vor dieser Ideologie war so groß, dass er im Laufe der Kampagne zur »Liquidierung der trotzkistischen und anderen Doppelzüngler« die gesamte herrschende Schicht vernichtete: Dies waren Menschen, die sich ihre Erinnerung an andere, leninsche Methoden in Partei und Staat bewahrt hatten. Infolge dieser präventiven Säuberung wurden nicht nur diejenigen ausradiert, die es irgendwann einmal gewagt hatten, für das Programm der linken Opposition zu stimmen. Als »Trotzkismus« galt jede auch nur in irgendeiner Weise (selbst in einem Privatgespräch) wohlwollende Erwähnung Trotzkis und jeder Einwand gegen eine konkrete Aktion der stalinschen Führung. Millionen Menschen, die keiner innerparteilichen Opposition angehörten, sondern entweder aufrichtigen Herzens oder gezwungenermaßen am Kampf gegen sie teilgenommen hatten, starben dennoch als »Trotzkist« gebrandmarkt – das denkbar schlimmste Stigma, das noch jahrzehntelang in der Partei und im Land vorherrschte.
Heute können alle Opfer aus der Zeit nach der Oktoberrevolution, ganz gleich ob offene Gegner des Bolschewismus oder unschuldige Häftlinge des Stalinismus, in den sowjetischen Publikationen das Wort ergreifen. Doch in der gewaltigen Flut der Memoirenliteratur und Belletristik, die in den letzten Jahren erschienen ist und das Schicksal von Opfern des Stalinismus beschreibt, finden wir in der Regel das Schicksal der wirklichen »Trotzkisten«, d.h. der Anhänger der linken Opposition, nicht erwähnt. Diese Menschen wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, lange vor Stalins Tod vernichtet, der einer ersten Neubewertung unserer tragischen Vergangenheit erst den Weg ebnete. Deshalb konnten sie keine dokumentarischen Zeugnisse ihrer Ansichten und ihrer Tätigkeit hinterlassen. Doch selbst die wenigen Ausführungen, die erhalten geblieben sind – etwa die Aufsätze Trotzkis und der »Trotzkisten« in den 80 Ausgaben des »Bulletins der Opposition«, das von 1929 bis 1941 im Ausland erschien, sowie die meisten ihrer Reden, die in den zwanziger Jahren in der sowjetischen Presse veröffentlicht wurden – sind dem sowjetischen Leser nach wie vor unbekannt. In der vorliegenden Arbeit versuchen wir diese Lücke zu schließen, die sowjetische Wirklichkeit der zwanziger Jahre mit den Augen dieser Menschen zu betrachten und ihre Analysen, Bewertungen und Prognosen mit dem objektiven Zeugnis historischer Dokumente zu vergleichen.
Eine solche Ausrichtung der Untersuchungen schließt endgültige Argumente sowie vorweggenommene Schlussfolgerungen aus. Sie setzt voraus, dass die historischen Ereignisse in ihrer tatsächlichen Abfolge beleuchtet werden – eine Qualität, die in den zeitgenössischen historischen Studien, in denen leichtfertig ganze Jahrzehnte übersprungen werden, recht häufig vernachlässigt wird: Vom »Kriegskommunismus« geht es sofort zur Stalin- oder Breshnew-Ära und wieder zurück. Jedoch nur, wenn man die historischen Ereignisse in der richtigen Aufeinanderfolge beleuchtet, kann man sowohl die stalinistischen als auch die antikommunistischen Amalgame widerlegen und die wirkliche Funktionsweise der größten politischen Provokation in der Geschichte aufdecken, die mit ihrem Erfolg dem gewaltigsten System des Staatsterrors den Weg geebnet hat.
Bei dieser Betrachtungsweise werden wir zwangsläufig politischer und moralischer Degeneration von Menschen begegnen, die zum Sieg der Oktoberrevolution beigetragen hatten und in den ersten Jahren danach als engste Verbündete Lenins aufgetreten waren. Neben der tragischen Schuld dieser Menschen, d.h. ihren historischen Irrwegen, werden wir auch auf bewusste, verwerfliche Absichten und Aktivitäten stoßen, die eine Abkehr von den Traditionen, der Ideologie sowie den politischen und moralischen Prinzipien des Bolschewismus widerspiegeln. Jedoch selbst unsere Gegner werden sicherlich zugeben müssen, dass die Degeneration einzelner Personen (die selbstverständlich nicht nur individuelle, sondern auch soziale Gründe hat) ein grundlegend anderes Phänomen ist als eine von Anfang an vorhandene Fehlerhaftigkeit und Falschheit der kommunistischen Ideologie oder der Praxis des revolutionären Bolschewismus.
Unsere Untersuchungen werden dadurch erleichtert, dass es in den letzten Jahren zur Offenlegung einer Vielzahl historischer Dokumente gekommen ist, die in den sowjetischen Archiven zum ersten Mal eingesehen werden konnten. Es zeigte sich, dass unter dem bürokratischen Regime wichtige Dokumente (bis hin zum persönlichen Schriftwechsel der Parteiführer) sorgfältig aufbewahrt wurden, wenngleich unter strengster Geheimhaltung. Sie ermöglichen es nunmehr, unser Verständnis von den realen Widersprüchen und der Dramatik auf den gewundenen Wegen vom Bolschewismus zum Stalinismus wesentlich zu bereichern.
Um meine Darstellung stringenter zu gestalten, führe ich in diesem Buch keine unmittelbare Polemik gegen die zahlreichen historischen Fälschungen älteren oder jüngeren Datums, wenngleich eine Aufgabe darin bestand, die Stichhaltigkeit jeder historischen Interpretation durch die Analyse wahrer Fakten und originaler historischer Dokumente zu prüfen.
[*] »Nichtwahlberechtigte« (Vertreter der ehemals herrschenden Klasse, denen das Wahlrecht und damit die bürgerlichen Rechte aberkannt wurden)
1 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 20, Berlin 1983, S. 435.
2 Stephen F. Cohen: Rethinking the Soviet Experience, Oxford University Press 1985, S. 39.
3 Stephen F. Cohen: Bukharin and the Bolshevik Revolution. A Political Biography 1888–1938, Oxford University Press 1980, S. xxvi–xxvii.
4 SED und Stalinismus. Dokumente aus dem Jahre 1956, Berlin 1990, S. 62.
Die marxistische Theorie betrachtete das Einparteiensystem niemals als notwendiges Merkmal der politischen Ordnung, die dem Sieg einer sozialistischen Revolution folgt. Die Jahre unmittelbar nach der Oktoberrevolution war die bolschewistische Partei jedoch die einzige legale, herrschende politische Partei in Russland.
In gewisser Weise war diese Situation dem Bolschewismus von den politischen Kräften aufgezwungen worden, die ihm feindlich gegenüberstanden. Alle anderen politischen Parteien, darunter auch solche, die sich sozialistisch nannten, hatten nicht nur den sozialistischen Weg, der von den Bolschewiki vorgeschlagen wurde, abgelehnt, sondern auch einen bewaffneten Kampf gegen die revolutionäre Macht begonnen. Dennoch unternahmen die Bolschewiki große Anstrengungen, um die »Sowjet«-Parteien (d.h. die Parteien, die vor dem Oktober 1917 in den Sowjets vertreten waren) im Rahmen der Sowjet-Legalität zu halten.[*] In den Jahren des Bürgerkriegs wurden Sozialrevolutionäre, Menschewiki und andere linke Parteien immer wieder zu den Sowjets zugelassen, wenn sie von einem bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht Abstand nahmen. Lenin begrüßte das Überlaufen »von den zu Koltschak und Denikin hinneigenden Menschewiki und Sozialrevolutionären auf die Seite der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, die zur Sowjetmacht streben«, und betonte, auch die Bolschewiki seien ihren Gegenspielern »einen gewissen Schritt entgegengegangen«,[[1]] sobald es reale Anzeichen dafür gegeben habe. Sogar am VIII. Sowjetkongress im Dezember 1920 nahmen die Führer dieser Parteien als geladene Gäste und Redner teil.
Am 12. November 1917 erhielten die Sozialrevolutionäre bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung 58% und die Bolschewiki 25% der Stimmen. Die Menschewiki und die ihnen nahe stehenden sozialdemokratischen Gruppen vereinigten weniger als fünf Prozent der Stimmen auf sich, die Konstitutionellen Demokraten und die anderen Parteien der Bourgeoisie und Gutsbesitzer 13%. Damit hatte die überwältigende Mehrheit der Wähler ihre Stimmen für nur zwei von Dutzenden der damals existierenden politischen Parteien abgegeben. Diese Wahlen widerspiegelten jedoch nicht das zu jenem Zeitpunkt bestehende politische Kräfteverhältnis, da sie nach veralteten Listen abliefen, die aufgestellt worden waren, noch bevor sich die Partei der Sozialrevolutionäre in linke und rechte geteilt hatte. Drei Tage nach den Wahlen stand diese Spaltung, die sich bereits während der Vorbereitung des Oktoberaufstands, an dem die linken Sozialrevolutionäre aktiv beteiligt waren, vollzogen hatte, endgültig fest. »Der größere Teil der (sozialrevolutionären – W.R.) Partei trat in eine Koalition mit den Bolschewiki und kehrte sich formal vom anderen Teil der Sozialrevolutionäre ab, die weiterhin blindwütig gegen die Bolschewiki kämpften. Die Proportion zwischen den rechten und den linken Sozialrevolutionären in der Konstituierenden Versammlung – 370 zu 40 – war zufällig. Die entsprechende Proportion zwischen den Delegierten des Bauernkongresses (gemeint ist der Außerordentliche Gesamtrussische Kongress der Sowjets der Bauernabgeordneten, der vom 11. bis 25. November 1917 stattfand – W.R.) sah ganz anders aus.«[[2]]
Damit hatte »das Volk faktisch für eine Partei gestimmt, die schon nicht mehr existierte«.[[3]] Dieser Umstand war der Grund für einen Beschluss des aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären bestehenden Gesamtrussischen Zentralen Exekutivkomitees über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, falls sie die ersten Dekrete der Sowjetmacht nicht unterstützen würde. Wenige Tage später (am 10. Dezember) wurde die Räteregierung von einer Einparteienregierung zu einer Koalitionsregierung umgestaltet, die aus elf Bolschewiki und sieben linken Sozialrevolutionären bestand. Kurz vor der Unterzeichnung des Brester Friedens diskutierte Lenin mit Proschjan, einem Führer der linken Sozialrevolutionäre, über die Möglichkeit eines Zusammenschlusses der bolschewistischen Partei mit der Partei der linken Sozialrevolutionäre.
Nach Abschluss des Brester Friedensvertrags sprengten die linken Sozialrevolutionäre die Regierungskoalition und traten aus dem Rat der Volkskommissare aus. Sie arbeiteten jedoch weiterhin im Gesamtrussischen ZEK und in den örtlichen Sowjets mit. Von den Delegierten des V. Gesamtrussischen Sowjetkongresses (Juli 1918) stellten die linken Sozialrevolutionäre etwa ein Drittel. Erst nach dem bewaffneten Putsch dieser Partei, der darauf ausgerichtet war, den Brester Friedensvertrag zum Platzen zu bringen und die Bolschewiki gewaltsam von der Macht zu verdrängen, wurde die legale Tätigkeit der Partei der linken Sozialrevolutionäre verboten.
Anfang 1921 – zu dem Zeitpunkt, als die Neue Ökonomische Politik eingeführt wurde – hatten alle früheren »Sowjet«-Parteien eine ganze Reihe von Spaltungen hinter sich. Ein Teil der Mitglieder dieser Parteien hatte sich von der politischen Tätigkeit zurückgezogen und eine loyale Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht in staatlichen Einrichtungen aufgenommen, ein anderer Teil war der bolschewistischen Partei beigetreten,[**] und ein dritter Teil befand sich in der Emigration oder agierte im Untergrund, wo er Interventionspläne gegen die Sowjetmacht schmiedete.
Die Einführung der NÖP wurde von den bürgerlich-liberalen und den ehemaligen »Sowjet«-Parteien als Rückkehr zur »natürlichen«, »normalen« Entwicklung der russischen Revolution aufgefasst, die ihrer Meinung nach eine bürgerlich-demokratische hätte sein müssen. Nach der Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen erwarteten sie analoge Veränderungen – d.h. die Errichtung einer bürgerlich-demokratischen Ordnung – auch im politischen Überbau. Die Vertreter der Emigration verschiedener Couleur waren, obgleich von inneren Widersprüchen zerrissen, bereit, zu einem günstigen Zeitpunkt den bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht wieder aufzunehmen, um die Bolschewiki zu stürzen und die sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution zu beseitigen. Innerhalb des Landes gab es eine so genannte »innere Emigration«, d.h. soziale Kräfte, denen die Möglichkeit entzogen war, sich auf legale Weise politisch zu formieren, die aber ebenfalls bereit waren, die kapitalistische Restauration zu unterstützen.
Unter diesen Bedingungen ließ die bolschewistische Partei, die das Land unter großen Mühen aus einem Zustand der Zerrüttung und der Wirtschaftsblockade herausgeführt hatte und auf die erwartete Unterstützung durch Revolutionen in anderen Ländern verzichten musste (da die zahlreichen revolutionären Erhebungen der Jahre 1918/19 im Westen brutal unterdrückt worden waren), keine offene politische Willensäußerung von Parteien zu, die eindeutig konterrevolutionäre Positionen einnahmen. Dabei gingen die Bolschewiki jedoch nicht von ihrem Programm ab, das darauf abzielte, das politische Leben durch die Konsolidierung der unmittelbaren Volksmacht zu demokratisieren. Lenin und andere bolschewistische Führer hoben hervor, dass Zwang und Gewalt nur eine und nicht die wichtigste Seite der Diktatur des Proletariats darstellten. Für die wichtigste Seite der proletarischen Diktatur hielten sie die Entwicklung der politischen Ordnung hin zu einem »Halbstaat«, d.h. zur sozialistischen Selbstverwaltung der Werktätigen. Aus den Erfahrungen der ersten beiden russischen Revolutionen (1905 und Februar 1917) leitete Lenin die politische Form des »Halbstaats« ab – als Ausdruck der unmittelbaren Beteiligung der Volksmassen an der Steuerung von Gesellschaft und Staat sollten demokratische Räte, Sowjets, gebildet werden.
Das extrem niedrige kulturelle Niveau der überwiegenden Bevölkerung Russlands machte ihre sofortige Einbeziehung in die Verwaltung der Staatsangelegenheiten jedoch unmöglich. Es war nötig, einen neuen speziellen Macht- und Verwaltungsapparat zu schaffen. Dies barg allerdings, wie die Bolschewiki deutlich begriffen, die Gefahr einer Wiedergeburt der Bürokratie und des privilegierten Beamtentums in sich. Dass bei einer Zentralisierung und Bürokratisierung der Macht eine Degeneration des demokratischen Zentralismus drohte, schrieb Lenin bereits im März 1918, wobei er dafür den Begriff »bürokratischer Zentralismus« gebrauchte.
In Lenins Arbeiten und den Parteidiskussionen der ersten Jahre der Sowjetmacht wurde mehrfach auch auf die Gefahr der bürokratischen Degeneration einer Partei hingewiesen, die die Macht nicht mit anderen politischen Kräften teile und nicht durch eine andere Partei abgelöst werden könne. Es könne so ein Parteibeamtentum entstehen, das sich dem Absterben des Staates widersetze – einem Prozess, durch den die Bürokratie vom Schauplatz der Geschichte verdrängt werden solle.
Um der Tendenz zur Selbstreproduktion und Selbstexpansion, wie sie jedem bürokratischen Organismus eigen ist, entgegenzuwirken, suchten die Bolschewiki intensiv nach sozialen und politischen Garantien, die verhindern sollten, dass der Parteiapparat und die darüberstehende schmale Schicht der Parteioligarchie die Macht usurpierte und dass die Partei zu einer »neuen Aristokratie«, einer »Kaste, die sich wegen persönlicher Interessen an die Macht gedrängt hat« (Dzershinski), degenerierte. Zur ersten Gruppe gehörten Garantien, die verhüten sollten, dass Mitglieder der herrschenden Partei die Macht zu ihrem eigenen Vorteil missbrauchten; zur zweiten die breite Entfaltung der innerparteilichen Demokratie, die vorsah, dass alle Parteimitglieder bei der Festlegung der politischen Parteilinie gleiche Rechte besaßen.
[*] Zahlreiche Beispiele, wie die Bolschewiki nach einem nicht gerade leichten Kompromiss suchten, der auf Toleranz gegenüber den »loyalen« Menschewiki und Sozialrevolutionären beruhte, beschreibt Edward Hallett Carr in seinem Buch: A History of Soviet Russia, volume 1: The Bolshevik revolution, London [u.a.] 1950, S. 111.
[**] Von den Delegierten des zwölften Parteitags der KPR(B) stammten 14,7 Prozent und von denen des dreizehnten Parteitags 11,6 Prozent ursprünglich aus anderen Parteien.
1 W.I. Lenin: Werke, Band 29, 3. Aufl., Berlin 1963, S. 442.
2 Edward Hallet Carr: A History of Soviet Russia, volume 1: The Bolshevik revolution, London [u.a.] 1950, S. 111–112.
3 W.I. Lenin: Werke, Band 26, Berlin 1961, S. 334–336.