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© 2010
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at

Bernhard Aichner

Die Schöne
und
der Tod

Krimi

Bernhard Aichner

Die Schöne und der Tod

Null

– Wir haben sie.

– Wen habt ihr?

– Marga.

– Max, was soll das?

– Wir haben sie gefunden, Baroni und ich. Und du weißt auch, wo wir sind.

– Das weiß ich nicht. Woher auch?

– Doch, Tilda, du weißt es. Er war es.

– Was machst du nur schon wieder, Max?

– Es ist genau so, wie ich es immer gesagt habe.

– Du sollst deine Finger davon lassen, wie oft soll ich dir das noch sagen. Er kann nichts damit zu tun haben.

– Doch, hat er.

– Du sagst mir jetzt sofort, was passiert ist.

– Rede mit mir.

– Er wollte mich umbringen.

– Bist du in Sicherheit? Geht es dir gut, Max?

– Nein.

– Ich komme zu dir, Max, ich bin schon unterwegs.

– Er wollte mich erschlagen, mit einer Axt. Sie steckt vor mir im Tisch.

– Bist du verletzt? Was fehlt dir? Was ist mit Marga? Was ist mit Baroni?

– Max?

– Ich werde ihm jetzt weh tun, Tilda.

– Gar nichts wirst du. Ich komme jetzt zu dir, ich bin gleich da, Max, mach jetzt bitte keinen Blödsinn.

– Du sollst mit mir reden, Max.

– Dass er das mit uns gemacht hat.

– Baroni, geht es ihm gut, was ist mit ihm?

– Er atmet. Gottseidank atmet er.

– Max?

– Was?

– Bitte versprich mir, dass du vernünftig bist.

– Nein.

Eins

Drei nackte Leiber, wie sie einfach daliegen und sich nicht rühren, nur die Körper im frischen Schnee. Wie die Sonne auf sie fällt, wie sie sich räkeln, ihre Haut am Boden. Um sie herum die Friedhofsmauer, dahinter hunderte Gräber. Der kleine Garten, das Friedhofswärterhaus, das Pfarramt, Baronis Villa. Wie sie ihre Glieder wohlig von sich strecken, Hanni, der Lehrer und Max. Es ist kalt, die Tür der Blocksauna steht offen. Ein kleiner Holzbau, aus einem Kamin kommt Rauch.

Max genießt die Kälte, die Wärme in sich, sein Herz, wie es rast, er genießt den Sonntagvormittag in seinem Garten. Hannis Brüste neben ihm, das alt gewordene Fleisch seines Volksschullehrers, der blasse, schmächtige Körper. Zusammen haben sie die Blocksauna gebaut, nachdem das Hallenbad geschlossen hatte. Zuerst war es nur ein Selbstbausatz auf ebay, dann ein LKW voll Holz, dann das Paradies, in das sie sich bei jeder Gelegenheit flüchteten. Die Saunarunde. In nur zwei Tagen hatten sie ihr neues Glück errichtet, hatten Bohlen über Bohlen gelegt, genagelt, gesägt, zusammen getrunken und gelacht, wenn Stein aus seinem Fenster schrie.

Stein war gegen die Sauna. Als er begriff, was unter seinem Schlafzimmerfenster vor sich ging, war das Fundament bereits fertig. Max schlug einen Nagel tief in die Polarfichte, Stein stand plötzlich hinter ihm.

– Was soll das, Broll?

– Guten Tag, Herr Pfarrer.

– Was machen Sie da?

– Ich nagle.

– Das Fundament, das ganze Holz, ich will nicht annehmen, dass es das wird, was ich mir denke.

– Ein kleiner Tipp: Es hat nichts mit Jesus zu tun.

– Broll.

– Stein.

– Sie bauen eine Sauna.

– Korrekt.

– Im Friedhofsgarten.

– Und?

– Das ist pietätlos, Broll.

– Pietätlos?

– Die Toten, Broll.

– Liegen da drüben.

– Sie hören sofort damit auf.

– Sie sollten jetzt besser gehen, Stein.

– Sie werden sich hier nicht entblößen, vielleicht gar nackt durch den Friedhofsgarten laufen. Das werden Sie nicht tun, Broll.

– Das ist mein Garten, Stein, mein Garten.

– Und mein Friedhof.

– Meine Sauna.

– Keine Sauna, Broll. Nicht hier.

– Doch, Stein, hier.

– Das werden wir ja noch sehen.

Stein ging. Max hämmerte weiter, die anderen hatten schmunzelnd zugehört und dabei weiter ein Stück Holz nach dem anderen an seinen Platz gelegt. 36 Stunden später goss Hanni das erste Mal auf, nackt liefen sie durch den Garten, tranken, lachten. Stein stand oben hinter seinem Vorhang und schaute nach unten. Damals. Auch jetzt wieder. Zwei Jahre später sind ihm die nackten Körper unten im Schnee immer noch Dornen in den Augen. Wie er das Fenster aufreißt und mit wütenden Augen nach unten schreit: Nicht am Sonntagvormittag, Broll.

Er lehnt sich weit aus dem Fenster, sein Kopf ist rot vom Sonntagsmesswein. Er starrt die Beine an, die Hände, Arme, Schenkel. Immer wieder schaut er weg, kippt seinen Kopf Richtung Himmel, immer wieder kehren seine Augen zu den Nackten zurück, zu Hanni, sie bleiben auf ihr liegen, auf ihrer Haut.

Max dreht leicht seinen Kopf, schaut nach oben. Langsam hebt er seine Hand und winkt, ein kleines Lächeln ist auf seinen Lippen, die Wintersonne in seinem Gesicht. Er blinzelt, streckt sich, Hanni schaut ihn an. Max erinnert sich daran, an die gemeinsame Zeit, er sieht es in ihren Augen, wie sie sich immer noch danach zurücksehnt, ihn zurückhaben will. Gestern, auch jetzt noch, immer. Hanni und Max.

Wie sie lächelt, wie Max beiläufig zurücklächelt, wie sein Blick wieder nach oben zum Pfarrer geht. Er überlegt, ob er ihn ignorieren soll, er bleibt liegen, spürt, wie sein Körper langsam auskühlt, er weiß, dass er es ihr wieder sagen muss. Dass sie damit aufhören soll, dass es nichts bringt, dass es nicht gut ist, wenn alles wieder von vorne anfängt, dass es vorbei ist. Er spürt ihre Blicke, die von Stein. Max steht auf.

Stein ist der zweite Pfarrer, den Max begleitet, den er erträgt, von dem er sich erklären lassen muss, was sich gehört und was nicht. Steins Vorgänger hat zumindest an manchen Tagen Spaß verstanden, Stein selbst tut das nicht. Er ist der Vollstrecker des Herrn, der Richter über Gut und Böse. Max spürt seine Verwünschungen täglich in seinem Rücken, den Hass, der aus dem kleinen dicken Mann kommt. Max schreit nackt zu ihm hinauf.

– Was gibt es heute zu Mittag, Stein?

– Broll, ziehen Sie sich an.

– Wie war die Messe?

– Ich kann das nicht länger dulden, Broll. Es reicht. Sie ziehen sich sofort an, alle ziehen sich an.

– Hanni, es reicht.

– Das ist mein Ernst, Broll, das hat jetzt ein Ende.

– Hanni, du sollst dich jetzt anziehen, der Herr Pfarrer hat für heute genug gesehen.

Max lacht. Das Fenster geht zu wie immer, die Drohungen sind leer wie immer. Nichts passiert, nur drei Nackte im Garten, die Sonne, Hanni, wie sie nicht aufhört, Max anzusehen, seinen Körper, sein Gesicht. Wie sie die Männer mit zärtlichen Klapsen zurück in die Sauna treibt. Wie Baroni zum Essen ruft.

Es ist nicht Baronis Stimme, die Max hört, es ist Musik, mit der Baroni ihn nach oben lockt, weg von den anderen. Baroni steht auf der Terrasse, er hat einen Hühnerflügel in der Hand, winkt und grinst. Max steht im Garten und schaut nach oben, er tritt von einem Bein auf das andere, ignoriert die Kälte, er liebt dieses Klavierkonzert, er will nur die Sonne in seinem Gesicht, die Musik, er will sie spüren, kalt auf seinen Fußsohlen. Er beginnt zu laufen, rennt durch den Garten, wärmt sich, laut die Musik von oben, Max kennt jeden Ton, er rennt, Baroni lacht. Sein nackter Freund läuft durch den kalten Garten, er ist glücklich. Einfach so.

Fünf Jahre ist es her, dass Baroni am Discoparkplatz verzweifelt versucht hat, sich vor den Dorfproleten zu retten, ihren Schlägen zu entkommen. Max hat ihm geholfen, hat ihn gehört, keine Hilferufe, sondern Beschimpfungen. Mit jedem Tritt, den Baroni einstecken musste, wurden sie lauter, er schrie die Dörfler an, machte sie noch wütender, mit jedem Wort, mit jedem Stöhnen, das er unterdrückte. Anstatt sich zu unterwerfen, bellte er, kläffte, kratzte, biss.

Max schaute zuerst nur zu. Er wusste, wer es war, der da eine Abreibung bekam, wer da herumschrie, anstatt still und verwundet liegen zu bleiben. Johann Baroni, großer Sohn des Dorfes, Bundesligafußballer in Österreich, Deutschland, Spanien, ein Star, Torschützenkönig, Held, Mythos fast, dann zur Ruhe gesetzt, Pensionist mit Zweitwohnsitz in seiner alten Heimat, zurückgekehrt zu den Wurzeln. Im Dorf geboren, im Dorf aufgewachsen, seine ersten Tore beim kleinen Provinzverein gefeiert, dann die große weite Welt entdeckt und das Dorf vergessen, schließlich ins Dorf zurückgekehrt, als ob nichts gewesen wäre. Das rieben sie ihm unter die Nase, immer wenn er ihnen unterkam. Er war keiner mehr von ihnen, egal, ob sie ihm zugejubelt hatten früher, er bekam Schläge, denn heute tat er nichts mehr für sie, erinnerte sie nur daran, wie erfolglos sie waren, wie klein.

Sie schlugen auf ihn ein. Weil sein Mund zu weit aufging, wenn er betrunken war, weil er das blöde Gerede nicht einfach hinnahm, weil er sich wehrte. Baroni war Stürmer, kein Verteidiger, er holte aus, anstatt einzustecken. Vor fünf Jahren vor der Disco, sein Gesicht, schmerzverzerrt, wütend. Max beschloss zu helfen.

Wie verwundert sie waren, als er plötzlich auf sie zustürmte und um sich schlug. Baroni löste sich aus den Umklammerungen, lief zur Höchstform auf, gemeinsam mit Max schlug er sie in die Flucht. Sie prügelten in Gesichter, Bäuche, Rücken, überall hin. Wie Max aus der Nase blutete. Wie seine Schulter weh tat, wie Baronis Gesicht blau war, seine Rippen schmerzten. Wie wild waren sie, rasend, mit Leidenschaft. Max und Baroni, Freunde seit dieser Nacht. Sie lachten verletzt und holten sich Bier. Am Parkplatz saßen sie und tranken. Damals, wortlos. Jetzt die Musik von oben.

Max, wie er durch den Garten rennt, dann durch die kleine Tür in der Mauer. Max will nach oben, zu Baroni, zu der Musik, zum Essen, er will unter die Dusche, das warme Wasser. Zufrieden geht er ins Bad und wärmt sich, er mag diesen Sonntag, er mag sein Leben, alles stimmt, nichts sollte anders sein.

Agnes serviert auf der Terrasse. Die Pfarrersköchin, die heimlich für ihn kocht, die sich immer wieder über den Kirchplatz schleicht mit Plastikdosen und Töpfen, Agnes, die liebevoll Mahlzeit sagt. So wie sie es schon vor zwanzig Jahren getan hat, vor dreißig, wie sie immer schon das Essen gebracht hat, für Max, für seinen Vater. Wie sie sich um die beiden gekümmert hat, nachdem die Mutter tot war. Egal, ob es die Pfarrer guthießen oder nicht. Vier hat sie hinter sich, Stein ist ihr fünfter. Sie ignoriert sein Verbot, für Max zu kochen, sie betrachtet es als ihre Pflicht, dass der Junge zumindest dreimal in der Woche etwas Vernünftiges auf den Teller bekommt. Sie macht den Salat an, gießt Sauce über das Huhn, scherzt mit Baroni, als Max aus dem Bad kommt. Agnes ist alt, überall in ihrem Gesicht sind Falten, schon als Max ein Kind war, waren sie da, immer, wenn er zu ihr kam und um Kuchen bettelte.

Der gedeckte Tisch, Baroni und Max. Es ist Ende Jänner, es hat drei Grad, Agnes zwinkert ihnen zu und geht. Neben ihnen stehen drei Heizpilze, man hört leise das Gas, das sie wärmt. Max hasst den Winter. Also hat er unter dem Terrassenboden eine Fußbodenheizung eingebaut, der Schnee schmilzt, die Heizpilze geben ein Gefühl von Frühling.

Baroni öffnet die Weinflasche und erzählt von einer Benefizveranstaltung in Wien, er schlingt, trinkt, schenkt nach. Die Sonne scheint noch mindestens drei Stunden, so lange werden sie sitzen bleiben, mindestens. Sie essen, es gibt nichts zu tun sonst, keine Arbeit, nur Sonntag und Freundschaft, Wein auf der Terrasse, blauer Himmel über dem Friedhof. Wie Max die Nachspeise löffelt, unten Hanni und der Lehrer. Max, wie er hinüber zu Baronis Haus schaut, zu Baronis Putzfrau, die den Schnee von der Terrasse schaufelt.

– Du solltest dir auch eine Heizung einbauen.

– Wenn es schneit, komme ich ja zu dir.

– Die arme Frau schaufelt sich kaputt da drüben.

– Sie bekommt 13 Euro in der Stunde.

– Das ist ein Argument. Aber nicht vergleichbar mit meiner Heizung. Wie lange das dauert. Schau mal, sie macht schon wieder Pause.

– Stimmt. Unverschämtheit.

– Schneefrei in Sekunden, er bekommt gar keine Chance, er ist Geschichte in dem Moment, in dem er auf die Zirbe fällt.

– Super.

– Du solltest dankbar sein, dass du hier sein darfst.

– Bin ich, Max, bin ich.

– Schau, jetzt macht die schon wieder eine Pause.

– Ist schon in Ordnung.

– Jetzt raucht sie auch noch. Wie lange hast du die schon?

– Drei Monate.

– Ganz hübsch.

– Stimmt. Sie ist Rumänin.

– Hast du was mit ihr?

– Du musst nicht alles wissen.

– Hast du?

– Manchmal.

– Unglaublich.

– Was?

– Du und deine Frauen.

– Ach.

– Wieso kommst du eigentlich nicht mit in die Sauna? Das würde dir gefallen, ich bin mir ganz sicher.

– Wie oft denn noch, Max.

– Was denn?

– Du weißt, dass ich Sauna nicht mag.

– Dann solltest du Wein holen, schnell.

Baroni geht in die Küche, Max schaut der Putzfrau zu. Baroni ist für ihn genau rechtzeitig gekommen, nach der Trennung von Hanni war er dankbar für jede Abwechslung, für jeden Grund, der ihn von ihr abhielt. Die Freundschaft zu dem Fußballer wurde von Tag zu Tag größer, die Sehnsucht nach Hanni kleiner. Baroni und Max haben dasselbe Tempo, einen ähnlichen Blick auf die Welt, sie können sich zuwinken am Morgen, mit der Zahnbürste im Mund.

Der Baugrund hat Baronis Eltern gehört. Schon lange wollte ihn die Gemeinde haben, um den Friedhof zu erweitern, aber Johann Baroni wollte nicht verkaufen, um keinen Preis. Er wollte sich nach seiner aktiven Zeit aufs Land zurückziehen, sich ein Domizil der Ruhe schaffen, abseits der Seitenblickewelt. Und dann wurde gebaut, kein Friedhof, sondern ein Glaswürfel, versteckt in einer Art Bauernhaus, Beton und Stahl im Holzmantel, ein alter Stadel über dem Luxuskörper. Es gab Architekturpreise und Anfeindungen. Er hatte die Baufirma aus dem Dorf übergangen, Polen und Tschechen für sich arbeiten lassen, sie beschimpften ihn dafür, beschmierten seine Fassade. Baroni war es egal.

Was soll ich mit den Bauern, sagte er.

Arrogantes Arschloch, sagten die Bauern.

Baroni hieß eigentlich Johann Walder. Bevor er berühmt wurde, bevor sie mit Geld nach ihm warfen, bevor er in Wien viermal Meister wurde, bevor er nach Deutschland ging und dort zur Ikone wurde. Johann Walder, Sohn braver Bauern, Hauptschulabschluss, goldene Beine. Als seine Eltern tot waren und er merkte, dass er nicht mehr zu stoppen war, änderte er seinen Namen.

Ein Walder wird kein Star, sagte er, ein Baroni schon.

Baroni behielt Recht. Seinen Namen kannte man überall, sein Gesicht war auf den Bildschirmen, der Torschützenkönig mit dem Alpencharme, immer witzig, schnell und zielstrebig. Er schaffte es bis ganz nach oben und blieb dort, bis ans Ende seiner Karriere. Dann ließ er sich scheiden, seine Frau bekam die Kinder, ein paar Wohnungen und Geld, viel Geld. Die Schlammschlacht zog sich über Monate. Max hörte im Würstelstand davon, Baroni war wochenlang Dorfgespräch. Einer von ihnen hatte es zu etwas gebracht, war erfolgreicher geworden als der Rest, deshalb mochten sie es, wenn sie hörten, dass es ihm schlecht ging, dass auch die Reichen sich in den Haaren lagen, dass der ganze Erfolg letztendlich auch zu nichts führte. Sie mochten es, dass auch ein Baroni von der Leiter wieder herunterfiel. Das war Genugtuung für das Dorf. Ist es immer noch.

Baroni leckt sich die Lippen. Max leert Wein aus der Flasche. Die Sonne ist immer noch da, die Heizpilze täuschen immer noch Frühling vor, die Hühnerflügel von Agnes liegen in zufriedenen Bäuchen. Alles ist, wie es sein soll, nur das Telefon in der Hosentasche von Max stört. Max zögert, er will nichts wissen von der Welt, wer ruft ihn am Sonntag an? Der Pfarrer? Er will nicht, aber es hört nicht auf zu läuten, er nimmt es heraus. Die Nummer kennt er nicht. Immer noch zögert er, er ist neugierig. Dann hebt er ab.

Mit einem Schlag verschwindet das Sonntagsglück aus seinem Gesicht, ein großes Stück Vergangenheit fällt plötzlich auf ihn, in sein Ohr, mitten auf seine Terrasse. Wie sein Mund offen steht. Wie er ihre Stimme hört.

– Max?

– Max?

– Emma, bist du das?

– Ich brauche dich.

– Hörst du mich? Max?

– Warum rufst du mich an?

– Du musst ein Loch graben.

– Was soll ich?

– Du musst jetzt zum zweiten Mal ein Loch für mich graben.

– Was ist passiert, Emma? Geht es dir gut?

– Marga ist gesprungen. In Wien, gestern.

– Marga ist tot?

– Ich bin am Flughafen, sie bringen sie am Nachmittag ins Dorf.

– Das kann nicht sein. Marga, gesprungen. Warum? Emma?

– Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal brauchen würde.

– Sie hat sich umgebracht?

– Ja. Endgültig.

– Du kommst her?

– Ja.

– Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

– Jetzt kannst du deine Arbeit machen. Max Broll, der Totengräber. Bravo, Max, fang schon mal an zu graben.

– Emma, lass das, bitte.

– Sie bringen dir die Leiche mit dem Auto. Ich fliege in zwei Stunden nach Wien. Dann weiter zu dir.

– Das tut mir sehr leid.

– Emma? Komm schon, sag was.

– Nein.

– Ich hol dich vom Flughafen ab, wann kommst du?

– Du sollst nur das Loch graben, sonst nichts, Max.

Wie ihre Stimme plötzlich da war. Wie sie wieder verschwand. Emma. Mit ihr hat er nicht gerechnet, nicht mit ihr. Plötzlich am Telefon, plötzlich wieder da, in seinem Leben, auf seiner Terrasse, in seinem Ohr. Max sitzt da und sagt nichts, blass, sein Mund ist offen.

– Wer war das?

– Eine Freundin von früher.

– Freundin oder Freundin?

– Freundin.

– Wow.

– Emma. Sie ist von hier, vielleicht kennst du sie noch, Emma Huber, die Tochter von der Greißlerin.

– Lange her.

– Marga hat sich umgebracht, ihre Schwester.

– Ups.

– Ja.

– Warum?

– Sie hat es schon einmal probiert. Sie war Model, sehr erfolgreich, dann ist sie abgestürzt, weit hinunter. Sie hatte nur noch 42 Kilo. Dann hat sie sich aufgeschnitten, wäre fast verblutet. Sie ist in eine Klinik gekommen und vorbei wars mit der Modelkarriere.

– Ist das nicht die, die bei Bauer sucht Frau war?

– Du hast das gesehen?

– Sicher, man muss doch wissen, was los ist in diesem Land. Und gegen hübsche Mädchen habe ich ja bekanntlich nichts.

– Durch die Sendung hat sie es wieder nach oben geschafft.

– Gut für sie.

– Sie ist tot, Baroni.

– Und jetzt musst du arbeiten, oder was? An einem Sonntag, Max, was hast du nur für einen Beruf.

– Aufhören, Baroni.

– Wegen Marga oder wegen deiner Freundin?

– Ex.

– Emma also?

– Ja.

– Ist sie hübsch?

– Sehr.

– Was war mit ihr?

– Wir sind gemeinsam nach Wien. Sie hat Mode studiert.

– Warum hast du nie von ihr erzählt?

– Ist lange vorbei.

– Du sprichst überhaupt nie über Wien.

– Warum sollte ich?

– Weil es mich interessiert. Weil es zu dir gehört.

– Was willst du wissen?

– Du hast Publizistik studiert?

– Das weißt du doch.

– Warum hast du abgebrochen?

– Auch das weißt du. Lassen wir das.

– Weil dein Vater krank war.

– Bingo.

– Du bist zurück ins Dorf und Emma blieb in Wien?

– Wieder Bingo.

– Idiot.

– Warum?

– Dorf statt Wien, Dorf statt Emma, Friedhof statt Publizistik. Idiot.

– Ich musste das tun. Für ihn. Ihn pflegen, für ihn da sein, ich hätte mir das nicht verziehen sonst. Er hat auch alles für mich getan. Ich hatte keine Wahl.

– Er hat dir nicht gesagt, dass du seine Arbeit machen sollst. Das warst du ganz allein.

– Können wir das lassen? Ich habe jetzt andere Sorgen.

– Anstatt zu studieren, anstatt Emma zu vögeln, vergräbst du jetzt Leichen. Du gehörst nach Wien und nicht auf den Friedhof.

– Wie oft denn noch, Baroni, es geht mir gut hier.

– Warum bist du geblieben, als er tot war?

– Warum, warum, warum?

– Du musst ihn wirklich sehr gemocht haben.

– Wieder Bingo.

– Du sprichst nie über ihn.

– Bert Broll, Totengräber, geboren 1944, gestorben und begraben. Da unten. Reicht das jetzt?

– Von mir aus. Und wie lange ist das mit Emma her?

– Zehn Jahre.

– Und seither habt ihr keinen Kontakt?

– Sie war hier, als ihre Mutter starb. Wir haben uns nur kurz gesehen, sie ist gleich wieder zurück nach London.

– London?

– Sie hat dort ihr eigenes Label, sehr erfolgreich. Sie hat es wohl geschafft.

– Du hast sie verlassen?

– Es hat einfach aufgehört damals.

– So etwas hört doch nicht einfach auf. Du hast darauf geschissen.

– Ich hatte keine Wahl. Und jetzt möchte ich nicht mehr darüber reden.

– Von mir aus. Aber was ist mit der Schwester?

– Was soll mit ihr sein?

– Du wirst sie eingraben.

– Und?

– Was noch?

– Sie war Model und jetzt ist sie tot. Und Ende.

– Die eine Designerin, die andere Model?

– Können wir das lassen und einfach nur trinken?

– Bitte, Max.

– Nein.

– Bitte, ich bin neugierig.

– Mit siebzehn war sie auf vielen Titelseiten, international, sie wäre ganz groß geworden, ihr Gesicht war außergewöhnlich. Aber dann hat sie versucht, sich umzubringen, ist völlig zusammengebrochen, war drei Monate in der Anstalt. Danach hat sie wieder Wurst verkauft im Lebensmittelladen der Mutter.

– Ich meinte Emma.

– Und ich rede über Marga.

– Eben.

– Das Comeback hatte sie dann nach Bauer sucht Frau. Kattnig hat sie wieder groß gemacht.

– Wer ist Kattnig?

– Ein Fotograf, er hat sie damals in der Dorfdisco gefunden, entdeckt, gecastet, sie zum Model gemacht. Er wurde ihr Manager, hat sie bis ganz nach oben gebracht. Und nach dem Absturz ein zweites Mal.

– Rührende Geschichte. Aber was ist mit Emma?

– Es kommt noch besser, hör dir das an. Sie hat sich verliebt bei den Dreharbeiten. Marga Huber hat den Bauern bekommen.

– Weiß ich doch.

– August Horak.

– Wie gesagt, ich schaue fern und ich lese Zeitung. Das Model und der Schweinebauer, stand doch überall. Ich wusste nur nicht, dass sie die Schwester deiner großen Liebe war.

– Wer redet von großer Liebe?

– Leider niemand, aber du könntest endlich damit anfangen.

– Armer Teufel.

– Muss hart sein.

– Hab ihn beim Fischen gesehen gestern.

– Fischen? Im Winter?

– Draußen am See, ein kleines Loch im Eis und stundenlanges Warten in der Kälte.

– Krank.

– Kalt.

– Und?

– Er hat seinen Schweinehof verkauft und ist hierher gezogen.

– Wie im Märchen.

– Aber im Märchen springen sie nicht.

– Könntest du jetzt endlich über Emma reden?

– Wir brauchen mehr Wein.

– Von mir aus.

Max trinkt, er muss trinken. Was passiert ist, ist ihm zu viel, Emmas Anruf, ihre Stimme, alles. Was sie gesagt hat, dass sie plötzlich wieder in sein Leben kommt. Der Sonntag ist eben noch gut zu ihm gewesen, jetzt drückt er ihn tief nach unten, zurück in die Vergangenheit. Max will nicht wieder darüber nachdenken, ob seine Entscheidung richtig war oder nicht. Damals ist vorüber. Jetzt ist es wieder da, alles. Er wird sie sehen, sie wird in wenigen Stunden hier sein, zu ihm kommen, vor ihm stehen, ihn anschauen, ihm dieselben Vorwürfe machen wie vor zehn Jahren, sie wird es tun, er weiß es. Er trinkt. Baroni trinkt mit ihm. Die Sonne verschwindet. Mit jedem Schluck rückt Emmas Ankunft näher, mit jedem Gedanken an sie verdunkelt sich der Himmel ein Stück mehr.

Als Max ein Kind war, untersuchte er die Knochen und die Schädel, während sein Vater die Schalung anbrachte. Knochen, die mit der Erde nach oben flogen, direkt vor seine kleinen Füße. Rippen, Wadenbeine, Fingerknöchelchen, Schlüsselbeine, alles gab es da unten in den schwarzen Löchern. Immer war das so, die Knochen gehörten dazu. Nie war die Welt bedrohlich, auch nicht, wenn der Tod ganz nah war, wenn er mit Tränen um sich schlug, wenn die traurigen Gesichter am Friedhof waren. Für Max gehörte der Tod zum Leben, der Beruf seines Vaters war so normal wie jeder andere.

Bert Broll war über 34 Jahre Totengräber im Dorf, er war der beste Vater der Welt, er war alles, was Max hatte für lange Zeit. Dann kamen Tilda und Emma, eine neue Frau an der Seite seines Vaters, eine an seiner. Tilda, die zweite Frau seines Vaters, Emma, seine erste Liebe. Mit 16 kamen sie zusammen, der erste Sex, das gemeinsame Glück, Pläne, große gemeinsame Zukunft. Bis alles auseinanderfiel, bis Max beschloss, die Arbeit seines Vaters zu übernehmen, ihn zu pflegen, Totengräber zu werden statt Journalist. Weil der Vater krank war, weil er ihn brauchte, weil er für ihn da sein musste. Er wollte, dass sein Vater bei ihm blieb. Er wollte nicht, dass er in einem der Löcher einfach verschwand.

Zwei Jahre war Max da für ihn, bevor er starb. Chemotherapien, viel Leid im Friedhofswärterhaus. Max, wie er sich kümmerte um ihn. Und Tilda, die ihn davon abhalten wollte, die ihn immer wieder drängte, sein Leben nicht wegzuwerfen im Dorf, zurück an die Uni zu gehen, zurück nach Wien, zurück zu Emma, sie würde sich gut um seinen Vater kümmern, versicherte sie. Doch Max blieb. Bis Bert Broll starb. Bis Max unendlich traurig ein Grab für ihn schaufelte, ihn vergrub, Erde auf ihn schüttete.

Max erinnert sich daran, wie sie weinten. Ob er will oder nicht, es ist wieder da, kommt in seinen Kopf, während die Sonne weggeht, Baroni und ihn auf der Terrasse alleinlässt. Bert Brolls Grab, man kann es sehen. Max erinnert sich an jede Schaufel Erde, die er nach oben warf, an jedes Stück Erde, das nach unten fiel, ihn zuschüttete, für immer verbarg. Wie das Geräusch auf dem Holz war, der Sarg, sein Geruch, der verschwand, das Gesicht seines Vaters, das einfach nicht mehr da war, seine knorrige Stimme, die nichts mehr sagte. Alles von ihm löste sich auf in dem Grab, das Max geschaufelt hatte. Max und Tilda blieben übrig. Sie standen am Grab und weinten gemeinsam, umarmt, verbunden.

Dann fragte sie, ob er jetzt endlich gehen würde, ob er jetzt endlich wieder sein Leben weiterleben würde. Max sagte nein. Einer müsse die Arbeit am Friedhof ja machen, sagte er, und Journalisten gäbe es auch ohne ihn genug auf der Welt. Also blieb er und baute sich die Wohnung aus, die Terrasse, alles so, wie er es wollte.

Der erste Stock des Friedhofswärterhauses wurde seine Insel, auf der er traurig war, auf der er sich langsam erholte, seine Tränen vergaß, Emma vergaß. Er schuf sich seine eigene Welt, rote Wände, Schiffsböden, großzügig alles, ein offener Kamin, sein Computer, sein Modem, seine Verbindung zur Welt, sein Himmelbett, aber keine Emma. Sie war weit weg, von Monat zu Monat weiter. Max steckte die Liebe in einen Sack und warf sie in den Bach. Er schaute zu, wie sie davonschwamm, so weit, dass er sie nicht mehr spüren musste. Max schaufelte Gräber und kümmerte sich um den Friedhof, um das Haus seines Vaters, in dem jetzt er wohnte. Er und Tilda, die Chefinspektorin mit einem beinahe ebenso großen Herzen, wie seine Mutter es gehabt hatte. Sie war verantwortlich dafür, dass er die Welt mochte, dass er keine Angst vor ihr hatte, sie war die Wärme in seinem Leben, sie war Heimat. Tilda und Max, Kirchplatz 5, Max oben, Tilda unten.

Dachterrasse, Sonntag. Baroni, wie er das Glas von Max füllt, wie Max trinkt. Seine Stimme ist traurig, er spricht über Emma, er erzählt von tausend schönen Dingen, die sie zusammen hatten, von der Zeit, als er bei der Zeitung jobbte und sie in einer kleinen Werkstatt Mode machte, weit weg in Wien, damals. Der Wein löst die Zungen, holt alte Geschichten von unten nach oben. Auch Baroni erzählt, über die Scheidung, seine Kinder, über die Frauen, mit denen er sich zum Spielen trifft. Baroni, der Fußballstar, Baroni, der Weiberheld, Frauen, die er kurz berührt und wieder loslässt. Immer eine andere Brust an seiner Seite, in den Zeitungen, im Fernsehen, junge, schöne Frauen mit weißen Zähnen.

Schwerenöter, sagt Max.

Halb so schlimm, sagt Baroni.

Max holt eine neue Flasche. Er weiß, dass sie bald da sein wird, er versucht es zu ignorieren, er will es nicht wissen, öffnet den Wein und trinkt. Er will keine Sorgen, keine Probleme, keine Beziehung, die alles in seinem Leben wieder kompliziert macht, er will frei sein, unabhängig, nichts tun, was er nicht tun will. Er will keinen Klotz am Bein, keine Frau, die ihm sagt, wo er hingehen soll und wo nicht. Keine Hanni, keine Emma, keine Marga, keine Leichen an einem Sonntag. Er will sich mit Baroni betrinken, über Brüste reden, über Frauen, sich mit Worten über sie hermachen, er will sich leicht fühlen, jung und dumm sein, das Telefonat vergessen, alles, was mit Emma zu tun hat. Max trinkt einen langen Schluck. Dann steht sie in der Tür.

Unten war offen, sagt sie.

Max und Baroni schrecken auf, fallen aus ihrem Gespräch, das Lachen bleibt ihnen im Mund stecken, betrunken starren sie Emma an. Sie steht da und schaut, sagt nichts, schaut sie nur an. Ihr Gesicht sagt, dass sie sich gerne zu ihnen setzen, sich mit ihnen betrinken würde. Max sieht es in ihren Augen, auch die Wut, immer noch, nach Jahren. Er kennt sie. Er weiß, was sie denkt, fühlt, warum sie sich nicht zu ihnen setzt, nicht auf ihn zukommt, ihn umarmt. Sie bleibt stehen, Baroni hüpft auf.

Er geht zu ihr, stellt sich vor, begrüßt sie, als wären sie alte Freunde. Max bleibt sitzen. Keiner außer Baroni redet, bis ihm die Worte ausgehen, weil sie nicht reagiert, nichts sagt, nur auf Max starrt. Max bittet Baroni mit einem Nicken zu gehen, klopft ihm auf die Schulter, schiebt ihn an Emma vorbei hinein in die Wohnung. Er hört, wie die Tür zufällt, wie Baroni die Treppe hinunterstolpert. Er trinkt aus der Flasche. Lange schaut er sie an. Dann bewegen sich seine Lippen.

– Das mit Marga tut mir leid.

– Kommst du direkt vom Flughafen?

– Emma?

– Emma? Hallo? Ich rede mit dir.

– Emma, Emma. Emmalein.

– Du bist betrunken.

– Und?

– Marga ist tot.

– Ich weiß.

– Was soll das?

– Es ist Sonntag, wir trinken Wein.

– Ist das alles?

– Das reicht mir.

– Es hat sich nichts geändert.

– Ist schon gut. Ich gehe, dann kannst du dich hier ausbreiten.

– Nein.

– Du kannst hier schlafen, fühl dich einfach wie zuhause. Ich bin schon weg.

– Sie ist tot, Max.

– Nicht jetzt, bitte.

– Doch, Max, sie liegt in einer Kiste und ist auf dem Weg zu dir.

– Ich kann das jetzt nicht, lass uns bitte morgen reden. Ich muss los.

– Du gehst jetzt nicht.

Die Tür geht zu. Max geht nach unten, er geht schnell, stolpert über den Kirchplatz, läutet. Er sieht sie vor sich, wie sie oben steht und sich ärgert, wie sie wütend im Gang steht und nicht glauben kann, dass er einfach gegangen ist. Wahrscheinlich trinkt sie die Flasche leer, wahrscheinlich öffnet sie noch eine, wahrscheinlich schaut sie hinunter auf den Friedhof und verflucht ihn, streift durch die Wohnung, stöbert in seinem Leben, schnüffelt herum, schaut, was sich verändert hat, was noch da ist von damals. Max geht nach oben, Baroni empfängt ihn mit einem Lachen.

Ich wusste, dass du kommen würdest, sagt er.

Wein, sagt Max, schnell.

Lange sitzen sie in Baronis Designerküche und trinken, reden, ignorieren Emmas Blicke, ignorieren, dass sie drüben auf der Terrasse steht und ihnen zuschaut. Max weiß, dass sie jetzt gleich Schlaftabletten nehmen wird, er kennt sie, aus den Augenwinkeln sieht er, dass sie hineingeht. Sie wird das Bett beziehen, die Schlafzimmertür absperren und sich hinlegen. Max sieht sie vor sich, ihren Körper, ihr Gesicht, ihre Lippen, die Augen. Er erzählt Baroni, wie sie leuchten manchmal, wie sie zaubern können. Er erzählt ihm von den beiden Schwestern, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Wie Marga für die Welt immer die Schönere war, wie Emma darunter gelitten hat. Wundervoll war sie, sagt Max, so schön, dass Emma sich immer gewöhnlich fühlte neben ihr, dass sie unterging neben ihrer kleinen Schwester. Immer hat sie sich an Marga gemessen, immer war sie nicht schön genug.

Max redet ununterbrochen, ein Fluss kommt aus seinem Mund, überschwemmt Baroni fast, so viel Vergangenheit plötzlich, wie sie aus ihm rinnt. Alles in ihm ist plötzlich in Unordnung, er ist wie ein Turm, der wackelt, kurz vor dem Zusammenbruch, er redet, in seiner Wohnung liegt Emma, er redet immer weiter. So gerne würde er jetzt weinen. Wie er die Tränen spürt ganz unten, wie er sie festhält in sich, sie nicht herauslässt, wie er versucht sich abzulenken. Wie das Licht ausgeht. Wie Baroni ihm die Decke in die Hand drückt, weil Max darauf besteht, im Wohnzimmer zu schlafen. Wie er auf der Couch liegt. Wie das Mondlicht in den Raum kommt. Wie er an sie denkt. An seinen Vater. Und ganz weit weg seine Mutter. Der Kopf tut weh, der Wein ist wild in ihm, er will das alles nicht, nichts von dem, was kommt am Morgen, in den nächsten Tagen, nichts davon. Er will nur noch schlafen, er will nicht mehr aufwachen. Nie mehr.

Zwei

Max gräbt. Außer den alten Weibern ist niemand am Friedhof. Wie sie zu dritt zusammenstehen und flüstern. Wie die Erde nach oben fällt. Wie sie ihm zuschauen, wie Max langsam im Grab verschwindet.

Er hat kaum geschlafen, nach vier Stunden lag er wieder wach, drehte sich hin und her, hörte Baronis Schnarchen. Dann ging er nach unten und begann zu graben. Um acht kam Dennis. Er befestigte die Schalung, die Erde war am Fußende des Grabes etwas eingebrochen, die Bretter, die sie zurückhalten sollten, hatten sich gelöst. Dennis und Max wortlos.

Wie die Erde nach oben fliegt. Wie die Schaufel wütend nach oben und unten geht, wie sie in die Erde eintaucht, wie er sie weit nach oben wirft. Dennis verkeilt die Bretter, drückt, schiebt, er weiß, was er zu tun hat, Max hat ihm alles beigebracht. Max gräbt. Dass der Junge da ist, stört ihn, er möchte das Grab alleine graben, er möchte seine Ruhe. Aber er sagt nichts, lässt Dennis seine Arbeit machen, der Junge kann nichts dafür. Dass Marga tot ist. Dass Emma in seinem Bett liegt. Wortlos graben sie. Margas Grab.

Max schwitzt. Er steht in einem Loch und schaufelt. Er will nicht an sie denken, er will sie aus seinem Kopf haben. Emma, Schaufel für Schaufel. Er will nüchtern sein, wenn er hinaufgeht zu ihr, wenn er mit ihr redet. Er hat Angst davor, vor ihr, vor ihrem Lachen, vor der Erinnerung, die nach oben kommt wie Erde, Angst vor seinem Herzen, das wieder weh tun könnte, das bereits zu schreien begonnen hat, als sie in der Tür stand am Vortag. Max gräbt tiefer, er will verschwinden, tief unten liegen bleiben, still. Damit sie ihn nicht sehen, ihn nicht finden kann.

Dennis schraubt die Zwingen fest, presst die Bretter gegen die Erde, schalt. Max, wie er ihn kurz anlächelt, seinen Kopf zur Seite dreht und in das junge, stille Gesicht schaut. Wie Dennis das Lächeln nimmt, weiterarbeitet. Zwei Männer, die graben. Max, wie er an den Einbruch denkt. Dennis, wie sein Gesicht war, damals, als sie ihn abholten. Wie Max sich für ihn eingesetzt hat, weil es sonst keiner tat, wie er ihm diese Arbeit verschafft hat. Gemeindearbeiter, Gehilfe für Max, wenn die Arbeit für einen am Friedhof zu viel war. Hilfe beim Graben, bei den Wegen, Schneeschaufeln im Winter. Immer, wenn Max ihn braucht, ist er da. Sonst kehrt er die Straßen, tut, was der Bürgermeister ihm sagt.