Richard Rohr
Alles trägt den einen Namen
Die Wiederentdeckung des
universalen Christus
Aus dem Englischen von
Andreas Ebert
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Originaltitel:
Richard Rohr: THE UNIVERSAL CHRIST: How a Forgotten Reality Can Change Everything We See, Hope For, and Believe
© The Crown Publishing Group, 2018.
This translation published by arrangement with Convergent Books, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC
Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlagmotiv: www.pixabay.com
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-24876-5
V004
www.gtvh.de
Ich widme dieses Buch
meiner geliebten Labradorhündin Venus.
15 Jahre hat sie mich begleitet,
und ich musste sie in Gottes Hände geben,
als ich gerade mit dem Schreiben anfing.
Ohne Selbstrechtfertigung, theologische Floskeln
oder Angst vor Häresie
kann ich mit Fug und Recht sagen,
dass auch Venus für mich Christus war.
Die biblischen Texte in diesem Buch folgen keiner einheitlich vorgegebenen Übersetzung, sondern sind zumeist Paraphrasen, bei denen der Übersetzer versucht, den bereits vom Autor paraphrasierten Inhalt wiederzugeben.
Die einzig wirklich absoluten Mysterien des Christentums sind die Selbstmitteilung Gottes in der Tiefe des Seins,
die wir Gnade nennen, und in der Geschichte,
die wir Christus nennen.
Nach Karl Rahner, Jesuitenpater und Theologe, 1904-1984
Ich bete die Materie nicht an. Ich bete den Gott der Materie an, der um meinetwillen Materie wurde und sich herabließ, der Materie innezuwohnen, der mein Heil durch die Materie wirkte. Ich werde nicht aufhören, diese Materie zu ehren,
die mein Heil bewirkt.
St. Johannes von Damaskus, 675-753
Keine Verzweiflung unsererseits kann die Dinge ändern,
wie sie sind, oder die Freude des kosmischen Tanzes beflecken, die immer vorhanden ist.
Thomas Merton, 1915-1968
INHALT
Bevor wir beginnen
TEIL 1 EIN ANDERER NAME FÜR ALLES
1 Christus ist nicht der Nachname Jesu
2 Annehmen, dass du ganz und gar angenommen bist
3 Offenbart in Uns – als Wir
4 Am Anfang war alles gut
5 Liebe ist der Sinn
6 Heilige Ganzheit
7 Unterwegs zu einem guten Ziel
TEIL 2 DAS GROSSE KOMMA
8 Handeln und Reden
9 Die Tiefe der Dinge
10 Die weibliche Inkarnation
11 Das ist mein Leib
12 Warum ist Jesus gestorben?
13 Man kann es nicht alleine tragen
14 Der Weg der Auferstehung
15 Eine Zeugin und ein Zeuge Jesu und Christi
16 Transformation und Kontemplation
17 Jenseits bloßer Theologie: Zwei praktische Übungen
Epilog
Nachwort: Die Liebe nach der Liebe
ANHÄNGE
Anhang I Die vier Weltbilder
Anhang II Das Muster der spirituellen Transformation
Zitierte und weiterführende Literatur in Auswahl
Endnoten
BEVOR WIR BEGINNEN
Caryll Houselander, eine englische Mystikerin1 des 20. Jahrhunderts, beschreibt in ihrer Autobiografie A Rocking-Horse Catholic, wie sich eine ganz gewöhnliche Metro-Fahrt in London in eine Vision wandelte, die ihr Leben verändert hat. Ich gebe Houselanders Beschreibung dieses umwälzenden Erlebnisses im Wortlaut wieder, weil es auf den Punkt bringt, was ich das Christusgeheimnis nennen werde, nämlich die Einwohnung der Göttlichen Gegenwart in allen und allem seit Anbeginn der Zeit, wie wir sie kennen.
Ich befand mich in einer Metro, in einem vollen Zug, in dem alle Sorten von Leuten zusammengepfercht waren, dasaßen oder an Haltegriffen hingen – Berufstätige jeder Branche auf dem Nachhauseweg am Feierabend. Ganz plötzlich sah ich vor meinem geistigen Auge, aber so lebensnah wie auf einem wundervollen Gemälde, in ihnen allen Christus. Aber ich sah noch mehr als das; nicht nur war Christus in jeder dieser Personen, lebte in ihnen, starb in ihnen, jubelte in ihnen, trauerte in ihnen –
sondern weil Er in ihnen war und weil sie hier waren, war auch die gesamte Welt hier, hier in dieser Metro; nicht nur die Welt, wie sie in jenem Moment war, nicht nur alle Menschen in allen Ländern der Welt, sondern all jene Menschen, die in der Vergangenheit gelebt hatten, und alle, die noch kommen würden.
Ich gelangte auf die Straße und lief lange Zeit inmitten der Menge. Es war dasselbe hier, auf allen Seiten, in jedem Passanten, überall – Christus.
Mich hatte schon lange die russische Vorstellung des erniedrigten Christus verfolgt, des lahmen Christus, der durch Russland hinkt und um Sein Brot bettelt; des Christus, der zu allen Zeitaltern auf die Erde zurückkehrt und sogar bei Sündern einkehrt, um durch seine Not ihr Mitgefühl zu wecken. Jetzt wusste ich im Bruchteil einer Sekunde, dass dieser Traum eine Tatsache ist; kein Traum, keine Fantasie oder Legende eines frommen Volkes, kein Vorrecht der Russen, sondern Christus im Menschen …
Ich sah zugleich die Ehrfurcht, die jedermann für einen Sünder aufbringen muss; anstatt seine Sünde zu missbilligen, die in Wirklichkeit seine größte Not ist, muss man Christus trösten, der in ihm leidet. Und diese Ehrfurcht muss sogar jenen Sündern erwiesen werden, deren Seelen tot zu sein scheinen, weil es Christus ist, der das Leben der Seele ist, der in ihnen tot ist; sie sind seine Gräber, und Christus im Grab ist keimhaft der auferstandene Christus …
Christus ist überall; in Ihm hat jede Lebensform eine Bedeutung und einen Einfluss auf jede andere Lebensform. Es ist nicht die törichte Sünderin wie ich, die mit Schurken durch die Welt rennt und sich edel vorkommt, die ihnen ganz nah kommt und ihnen Heilung bringt; es ist die Kontemplative in ihrer Zelle, die diese Menschen nie zu Gesicht bekommen hat, aber in der Christus für sie fastet und betet – oder es kann eine Reinigungskraft sein, in der sich Christus erneut zu einem Diener macht, oder ein König, dessen goldene Krone eine Dornenkrone verbirgt. Die Erkenntnis unseres Einsseins in Christus ist die einzige Heilung menschlicher Einsamkeit. Für mich ist sie auch der einzige Letztsinn des Lebens, das einzige, was jedem Leben Zweck und Ziel gibt.
Nach ein paar Tagen verflüchtigte sich die »Vision«. Die Menschen sahen wieder so aus wie früher, es gab nicht mehr jene schockierende Einsicht für mich, wenn ich einem Mitmenschen von Angesicht zu Angesicht begegnete. Christus war wieder verborgen; in den folgenden Jahren musste ich geradezu nach Ihm suchen, und in der Regel fand ich Ihn nur durch einen bewussten und blinden Akt des Glaubens in anderen – und insbesondere in mir selbst.
Für mich – und für uns – stellt sich die Frage: Wer ist dieser »Christus«, den Caryll Houselander als den erkannte, der all ihre Mitfahrerinnen und Mitfahrer durchdrang und von ihnen ausstrahlte? Christus war für sie eindeutig nicht nur Jesus von Nazareth, sondern etwas, dessen Bedeutung viel gewaltiger und sogar kosmisch war. Thema dieses Buches ist, wie das kommt und weshalb das wichtig ist. Sobald wir diese Vision begriffen haben, hat sie meines Erachtens die Kraft, all das radikal zu ändern, was wir glauben, wie wir andere sehen und uns zu ihnen verhalten, wie wir die Größe Gottes erspüren und wie wir verstehen, was der Schöpfer in unserer Welt wirkt.2
Klingt das wie ein Zuviel von Hoffnung? Schauen wir noch einmal die Begriffe an, die Houselander bei ihrem Bemühen verwendet, die schiere Reichweite dessen zu erfassen, was sich für sie nach ihrer Vision verändert hat:
Überall – Christus
Erkenntnis des Einsseins
Ehrfurcht
Jede Art von Leben hat Sinn.
Jedes Leben hat einen Einfluss auf jede andere Lebensform.
Wer würde so etwas nicht erleben wollen? Und wenn uns Houselanders Vision heutzutage irgendwie exotisch vorkommt, dann wäre dies für die frühen Christen gewiss nicht so gewesen. Die Offenbarung, dass der auferstandene Christus allgegenwärtig und ewig ist, wurde in der Heiligen Schrift (Kolosser 1, Epheser 1, Johannes 1, Hebräer 1) und in der frühen Kirche einhellig bestätigt, solange die Euphorie des christlichen Glaubens noch existierte und expandierte. In unserer Zeit jedoch muss man sich dieser tiefen Sicht in einer Art Rückeroberungsprojekt wieder annähern. Als sich die westliche Kirche im Großen Schisma von 1054 vom Osten getrennt hat, verloren wir nach und nach diese profunde Kenntnis darüber, wie Gott von jeher alles, was ist, befreit und liebt. Im Gegenzug haben wir die Göttliche Gegenwart nach und nach auf den individuellen Leib des historischen Jesus reduziert, obwohl sie vielleicht ebenso allgegenwärtig ist wie das Licht selbst – und durch menschliche Schranken nicht abgegrenzt werden kann.
Man könnte sagen: Das Tor des Glaubens verschloss sich für jene umfassende und wunderschöne Erkenntnis, die die frühen Christen als »Kundgebung«, Epiphanie oder vor allem als »Menschwerdung« bezeichnet haben – und auch für ihre endgültige Vollgestalt, die wir bis heute »Auferstehung« nennen. Die östlichen und orthodoxen Kirchen hingegen hatten ursprünglich ein wesentlich breiter angelegtes Verständnis von alldem, eine Einsicht, die wir in den westlichen Kirchen, katholisch wie protestantisch, erst jetzt neu zu erahnen beginnen. Das sicherlich ist es, was Johannes gemeint hat, wenn er in seinem Evangelium schrieb: »Das Wort wurde Fleisch« (1, 14) und dabei auf einen universell gängigen Allgemeinbegriff (sarx) zurückgriff, anstatt einen individuellen menschlichen Leib zum Thema zu machen.3 Tatsächlich wird der isolierte Name »Jesus« im gesamten Johannesprolog nirgends erwähnt! Ist das nicht auffällig? Nur der Doppelname »Jesus Christus« taucht am Ende auf, allerdings erst im vorletzten Vers.
Man kann den Schaden gar nicht zu hoch bewerten, der der Botschaft des Evangeliums zugefügt wurde, als sich die östlichen (»griechischen«) und westlichen (»lateinischen«) Kirchen trennten, was mit der gegenseitigen Exkommunikation ihrer Patriarchen im Jahr 1054 anfing. Seit über 1000 Jahren kennen wir die »Eine, Heilige, Ungetrennte« Kirche nicht mehr.
Aber gemeinsam könnten wir mit einem bestimmten Schlüssel jenes uralte Glaubens-Tor wieder öffnen, und dieser Schlüssel ist die angemessene Deutung eines Wortes, das zwar viele von uns häufig verwenden, aber oftmals unreflektiert. Das Wort ist Christus.
Was, wenn Christus ein Name für das Transzendente in jedem »Ding« im Universum ist?
Was, wenn Christus ein Name für die ungeheure Tragweite jeder wahren Liebe ist?
Was, wenn sich Christus auf einen grenzenlosen Horizont bezieht, der uns innerlich anzieht und gleichzeitig vorwärtstreibt?
Was, wenn Christus ein anderer Name für alles ist – in seiner ganzen Fülle?
Ich glaube, genau das versuchte die »Große Tradition« zu sagen, womöglich sogar, ohne es selbst zu wissen. Aber die meisten von uns sind mit dieser Vollen und Großen Tradition nie in Berührung gekommen. Ich verstehe darunter die immerwährende Tradition, die »ewige Philosophie«4, die Weisheit und »Schwarmintelligenz« des gesamten »Leibes Christi« (1. Korinther 12,27) – und speziell für dieses Buch die Zusammenschau der sich gegenseitig korrigierenden Themen, die in der Orthodoxie, im Katholizismus und in den zahllosen Verästelungen des Protestantismus ständig wieder auftauchen und einander befruchten. Ich weiß, dass dies ein gewaltiges Vorhaben ist, aber haben wir derzeit eine andere Wahl? Wenn wir die Kernmerkmale des Glaubens herauskristallisieren wollen, anstatt auf zahllosen Nebenkriegsschauplätzen zu streiten, ist dies letztlich dennoch kein allzu schwieriges Unterfangen.
Wenn man mir gestattet, würde ich auf den folgenden Seiten gern die Rolle eines Reiseleiters einnehmen bei der Erforschung all der Fragen über Christus und über das wahre Wesen der Wirklichkeit, die sich vor uns auftut und ausbreitet. Das ist eine Suchbewegung, die mich seit über fünfzig Jahren fasziniert und inspiriert. Meiner franziskanischen Tradition folgend, will ich ein Gespräch von so gewaltiger Tragweite ganz unten, gleichsam vom Wurzelgrund der Erde her, in Angriff nehmen, so dass wir diesem Diskurs wie einem Pfad aus Brotkrumen folgen können, der uns durch den Wald führt: Er beginnt mit der Natur, passiert ein neugeborenes Kind mit Vater und Mutter in einem schäbigen Stall, führt unter anderem zu einer Frau, die in der Metro sitzt, und gelangt schließlich zum Sinn und Mysterium eines Namens, der auch unser aller Name sein könnte.
Falls meine eigene Erfahrung ein Indiz ist, kann die Botschaft dieses Buches die Art und Weise verwandeln, wie wir all diese Dinge wahrnehmen und in unserer Alltagswelt praktisch umsetzen können. Diese Botschaft könnte vielleicht den tiefen universellen Sinn erschließen, der der westlichen Zivilisation derzeit wohl abhandengekommen ist und nach dem sie sich doch zu sehnen scheint. Diese Botschaft hat das Zeug dazu, das Christentum als natürliche Religion neu zu begründen und nicht als eine Religion, die auf einer Spezialoffenbarung fußt und ausschließlich ein paar glücklichen Erwählten und Erleuchteten zugänglich ist.
Aber um dieses neue Verständnis zu erleben, müssen wir uns zeitweilig auf Umwegen bewegen und behutsam und achtsam vorgehen. Vor allem am Anfang bitte ich darum, dass man hinnimmt, dass einige meiner Ausführungen teilweise rätselhaft bleiben dürfen, zumindest für eine gewisse Zeit. Ich weiß, dass das für unseren egozentrischen Geist unbefriedigend und beunruhigend sein kann, der auf jedem Schritt des Weges schon im Voraus die Übersicht und Aufsicht über das Ganze behalten will. Aber es geht in dieser Sache darum, sich auf jene kontemplative Weise des Lesens und Lauschens einzulassen, die uns ein großes und weites Feld erschließen wird.
G. K. Chesterton hat einmal geschrieben: »Deine Religion ist nicht die Kirche, zu der du gehörst, sondern der Kosmos, in dem du lebst.« Sobald wir wissen, dass die gesamte physische Welt um uns herum und die ganze Schöpfung das Versteck und gleichzeitig der Offenbarungsort Gottes sind, wird uns diese Welt zur Heimat, schenkt Geborgenheit, verzaubert und hält Gnade für alle die bereit, die den Blick in die Tiefe wagen. Ich nenne dieses tiefe gesammelte Schauen »Kontemplation«.
Die wesentliche Funktion von Religion besteht darin, uns mit allem zu verbinden (Re-ligio = sich neu verbünden oder verbinden). Sie soll uns helfen, die Welt und uns selbst in einer Gesamtschau zu sehen und nicht nur in isolierten Fragmenten. Wahrhaft Erleuchtete können deshalb die Einheit sehen, weil sie von ihrer inneren Einheitserfahrung her nach außen und auf das Ganze schauen, statt alles sofort als überlegen oder unterlegen, drinnen oder draußen zu definieren. Wenn du meinst, du könntest individuell und privat »erlöst« oder erleuchtet werden, dann bist du nach meinem Dafürhalten weder erlöst noch erleuchtet!
Eine kosmische Sichtweise des Christus konkurriert mit niemandem und grenzt niemanden aus, sondern schließt alle und alles ein (Apostelgeschichte 10,15.35) und erlaubt Jesus Christus schließlich und endlich, eine Manifestation Gottes zu sein, die das gesamte Universum in sich birgt und trägt. Wenn man die christliche Botschaft so versteht, schlagen die Liebe und Gegenwart des Schöpfers in der geschaffenen Welt Wurzeln, und die theoretische Unterscheidung von »natürlich« und »übernatürlich« wird sozusagen hinfällig. Albert Einstein soll gesagt haben: »Es gibt nur zwei Weisen, dein Leben zu leben. Entweder so, als sei nichts ein Wunder, die andere, als sei alles ein Wunder.« Auf den kommenden Seiten werde ich mich für die zweite Option starkmachen!
Obwohl von der Ausbildung her Philosophie und biblische Theologie meine Schwerpunkte sind, werde ich auch auf spezifische Erkenntnisse aus Psychologie, Naturwissenschaft, Geschichte und Anthropologie zurückgreifen, um meinen Thesen eine umfassendere Basis zu geben. Ich möchte nicht, dass dies ein rein »theologisches« Buch ist, sofern ich das vermag, auch wenn es jede Menge expliziter Theologie enthält. Jesus kam nicht auf die Erde, damit das ausschließlich Theologen verstehen und ihre mehr oder weniger sinnvollen Unterscheidungen vornehmen können, sondern damit »sie alle eins sind« (Johannes 17,21). Er kam, um zu vereinen und »um alle Dinge in sich zu versöhnen, alles im Himmel und auf Erden« (Kolosser 1,19). Jede Frau und jeder Mann auf der Straße – oder in einem Zug – sollte fähig sein, das zu verstehen und sich darüber zu freuen!
Im gesamten Buch wird man Sätze oder Passagen finden, die von den übrigen Abschnitten etwas abgesetzt sind. Wie folgende, die sich auf die anfangs zitierte Geschichte Caryll Houselanders beziehen:
Christus ist überall.
In Ihm hat jede Art von Leben Sinn
und steht mit allen anderen Lebensformen in einer festen Verbindung.
Ich verstehe diese Unterbrechungen als Einladung, bei einem Gedanken zu verweilen und sich auf ihn so lange einzulassen, bis er Körper, Herz und Wahrnehmung der Außenwelt durchdringt und dabei vor allem mit einem immer umfassenderen Raum in Kontakt kommt. Setz dich bei jedem kursiv gedruckten Satz hin und lies ihn, wenn nötig, nochmals durch – bis du seine Wirkung und seine umfassenderen Konsequenzen für die Welt und ihren Verlauf und für dich selbst wahrnimmst (mit anderen Worten: bis »das Wort« für dich »Fleisch wird«!). Spring nicht zu rasch zur nächsten Zeile!
In der klösterlichen Tradition nennt man diese Praxis, bei einem Text innezuhalten und seine Tiefen auszuloten, »Lectio Divina« (göttliche Lektüre). Es handelt sich um eine kontemplative Art des Lesens, die tiefer eintaucht als das intellektuelle Verstehen von Worten oder als das Benutzen von Worten, um Antworten zu geben oder um Probleme und Sorgen unmittelbar zu beheben. Kontemplation bedeutet, geduldig darauf zu warten, dass sich Lücken schließen; sie kann auf sofortige schnelle Folgerungen oder einfache Antworten verzichten. Sie hat es nicht eilig, zu einem abschließenden Urteil zu gelangen, ja, sie vermeidet es geradezu, solch schnelle Urteile zu fällen, weil Urteile eher mit dem egozentrischen Bedürfnis zu tun haben, alles selbst zu bestimmen und zu steuern, als mit einer behutsam-liebevollen Suche nach der Wahrheit.
Das also wird unser Übungsweg sein, wenn wir uns gemeinsam ans Werk machen, um ein Verständnis von Christus zu erarbeiten, der viel mehr ist als der Nachname Jesu.
TEIL 1
EIN ANDERER NAME FÜR ALLES
1
CHRISTUS IST NICHT DER NACHNAME JESU
Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.
Die Erde aber war ohne Gestalt und leer,
finster war es über dem Antlitz des Ur-Chaos,
und die göttliche Geistkraft brütete über den Wassern.
Gott sprach: »Licht!«, und da war Licht.
Genesis /1. Mose 1,1-3
Quer durch die Reihen der etwa 30 000 existierenden Varianten des Christentums gibt es Gläubige, die Jesus lieben und (zumindest theoretisch) kein Problem damit haben, sowohl sein Menschsein als auch seine Göttlichkeit zu akzeptieren. Viele von ihnen bringen zum Ausdruck, dass sie eine persönliche Beziehung zu Jesus haben – vielleicht als Antwort auf seine Inspiration, Nähe und Gegenwart in ihrem Leben, vielleicht aber auch aus Furcht vor seinem Urteil oder Zorn. Andere vertrauen auf sein Erbarmen oder benutzen ihn als Rechtfertigung für ihre Weltanschauungen und ihre Politik. Wie aber könnte der Begriff Christus die gesamte Gleichung ändern? Ist Christus einfach der Nachname Jesu? Oder handelt es sich um einen Offenbarungstitel, der unsere ganze Aufmerksamkeit verdient? Inwiefern unterscheiden sich die Funktion und die Rolle Christi von denen, die Jesus hat? Was meint die Bibel damit, wenn Petrus nach Pfingsten in seiner ersten Ansprache an die Menschenmenge sagt: »Gott hat diesen Jesus … zum Herrn und zum Christus gemacht« (Apostelgeschichte 2,36)? Waren beide nicht schon immer ein und dasselbe, beginnend mit der Geburt Jesu?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir weit ausholen und fragen: Was hatte Gott in den ersten Augenblicken der Schöpfung im Sinn? War Gott völlig unsichtbar, bevor das Universum seinen Anfang nahm? Gibt es denn so etwas wie ein »Davor«? Weshalb hat Gott überhaupt etwas erschaffen? Was war Gottes Absicht mit der Schöpfung? Ist das Universum selbst ewig? Oder ist das Universum eine Schöpfung innerhalb der Zeit – wie auch Jesus?
Wir müssen zugeben, dass wir vermutlich nie das »Wie« oder auch nur das »Wann« der Schöpfung ergründen werden. Die Frage, die jede Religion zu beantworten versucht, ist meist das »Warum«. Gibt es einen Hinweis darauf, warum und wozu Gott den Himmel und die Erde gemacht hat? Lag dabei irgendeine göttliche Absicht vor, gab es ein Ziel? Und brauchen wir wirklich einen »Schöpfergott«, um die Existenz des Universums zu erklären?
Die meisten Traditionen, die sich lange Zeit behaupten konnten, haben auf diese Fragen Antworten gegeben, und für gewöhnlich lauten die etwa so: Alle existierende Materie ist Ausfluss einer Ersten Quelle, die ursprünglich nur als Geist existierte. Diese unerschöpfliche Primärquelle verströmte sich irgendwie in endliche, sichtbare Formen, erschuf alles vom Felsgestein bis hin zum Wasser, zu Pflanzen, Organismen, Tieren und Menschen – alles, was wir mit dem Auge sehen können. Dieser Selbsterweis jener ewigen Quelle, den man Gott nennt, war die erste Inkarnation (der gebräuchliche Begriff für die Materialisierung oder »Fleischwerdung« des Geistes). Sie fand lange vor der zweiten Inkarnation statt, die personalen Charakter hatte und sich, wie Christen glauben, in und mit Jesus ereignete. Die franziskanische Tradition sagt: Die Schöpfung ist die erste Bibel, und sie existierte bereits 13, 7 Milliarden Jahre, bevor die zweite Bibel geschrieben wurde.5
Wenn Christenmenschen das Wort »Inkarnation« hören, denken die meisten von uns sofort an die Geburt Jesu, die Gottes totale und persönliche Vereinigung mit der Menschheit manifestiert hat. Aber in diesem Buch möchte ich den Vorschlag machen, dass die allererste Inkarnation jener Moment war, der in Genesis/1. Mose 1 beschrieben wird, wo sich Gott mit dem physischen Universum vereinigt und zum Licht wird, das in allem leuchtet. (Dies ist meines Erachtens der Grund, weshalb das Licht Gegenstand des ersten Schöpfungstages ist. Seine Geschwindigkeit ist inzwischen als die einzige universale Konstante anerkannt.) Die Inkarnation ist dann eben nicht ausschließlich »Gott, der irgendwann zu Jesus wird«. Es handelt sich um ein wesentlich umfassenderes Ereignis, weshalb Johannes Gottes Präsenz zunächst mit dem Allgemeinbegriff »Fleisch« umschreibt (Johannes 1,14). Johannes spricht von jenem allgegenwärtigen Christus, den Caryll Houselander so hautnah erfahren hat, von dem Christus, dem auch wir anderen alle ständig in unseren Mitmenschen, in einem Berg, in einem Grashalm oder in einem Vogel begegnen.
Alles, was sichtbar ist, ist Selbstmitteilung Gottes. Ohne Ausnahme. Was sonst könnte es sein? »Christus« ist eine Bezeichnung für die ursprüngliche Matrix (den »Logos«), durch die »alle Dinge entstanden sind. Und kein einziges Ding ist ohne den Logos da« (Johannes 1,3). Die Dinge so sehen zu können hat meinem eigenen Glauben eine neue Dimension gegeben, ihn mit neuer Energie erfüllt und ihn weiter gemacht, und ich glaube, genau dies könnte der ganz besondere Beitrag des Christentums unter den Weltreligionen sein.6
Wenn man darüber hinwegsehen kann, dass Johannes ein männliches Pronomen benutzt, um etwas zu beschreiben, was eindeutig jenseits von Geschlechterdefinitionen existiert, kann man sehen, dass er uns in seinem Prolog (1,1-18) eine heilige Kosmologie7 anbietet und nicht nur eine Theologie. Lange vor der Inkarnation in der Person Jesus war Christus zutiefst in alle Dinge eingebettet – als alle Dinge! Die ersten Zeilen der Bibel betonen, dass »die göttliche Geistkraft über den Wassern der Urflut« beziehungsweise der gestaltlosen Leere »brütete«, und schlagartig wurde das materielle Universum in seiner gesamten Tiefe und Bedeutung sichtbar (Genesis 1,1ff.). »Zeit« bedeutet an dieser Stelle selbstverständlich noch nichts. Das Christusgeheimnis ist der neutestamentliche Versuch, jener Greifbarkeit und Anschaulichkeit einen Namen zu geben, die sich bereits am ersten Schöpfungstag ereignet hat.
Ich erinnere daran: Licht ist nicht so sehr das, was man sieht, sondern das, wodurch man alles andere sieht. Deswegen macht Jesus Christus im Johannesevangelium die fast überheblich klingende Aussage: »Ich bin das Licht der Welt« (Johannes 8,12): Jesus Christus ist das Verschmelzen von Materie und Geist an einem konkreten Ort, damit auch wir fähig werden, beides immer und überall zusammenzufügen und die Dinge in ihrer ganzen Fülle wahrzunehmen und zu genießen. Das kann so weit gehen, dass wir fähig werden, so zu sehen, wie Gott sieht, falls das keine allzu hochfliegende Erwartung ist.
Naturwissenschaftler haben entdeckt, dass alles, was für das menschliche Auge wie Finsternis aussieht, in Wahrheit von winzigen Teilchen erfüllt ist, die »Neutrinos« genannt werden. Es handelt sich um Lichtpartikel, die im gesamten Universum unterwegs sind. Offenbar gibt es nirgends so etwas wie absolute Dunkelheit, obwohl das menschliche Auge meint, dass es so sei. Das Johannesevangelium ist genauer als unsere Vorstellungen, wenn es Christus »ein Licht« nennt, »das von der Finsternis nicht überwältigt werden kann« (1,5). Zu wissen, dass jenes innere Licht nicht ausgeknipst oder eliminiert werden kann, stimmt zutiefst hoffnungsvoll. Und als sei das nicht genug, zeigt das aktive Verb, das Johannes benutzt (»Das wahre Licht … kam in die Welt«, 1,9), dass das Christusgeheimnis kein einmaliges Ereignis ist, sondern ein Prozess, der im Lauf der Zeit fortdauert – ebenso konstant wie das Licht, das das All erfüllt. Und »Gott sah, dass das Licht gut war« (Genesis 1,3). Ich bitte darum, das festzuhalten!
Aber die Metaphorik wird noch tiefsinniger und dichter. Christinnen und Christen gehen davon aus, dass diese universale Präsenz zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt »von einer Frau unter dem Gesetz« geboren wurde (Galater 4,4). Dies ist der gewaltige christliche Sprung des Glaubens, den nicht alle nachvollziehen können oder wollen. Wir behaupten mit einer gewissen Dreistigkeit, dass ein konkretes Individuum so von der Gegenwart Gottes erfüllt wurde, dass man an und in ihm ablesen kann, wie Menschheit und Gottheit vereint zusammenwirken können – und deshalb auch in uns! Anstatt allerdings zu sagen, dass Gott durch Jesus in die Welt kam, wäre es vielleicht richtiger zu sagen, dass Jesus aus einer von Christus erfüllten Welt kam. Die zweite Inkarnation war Ausfluss der ersten und entsprang Gottes Liebesvereinigung mit der physischen Schöpfung. Für wen sich das noch immer schräg anhört, möge mir noch ein Weilchen Vertrauen vorschießen. Ich verspreche, dass meine Ausführungen den Glauben an Jesus und den an Christus vertiefen und erweitern wird. Es handelt sich um eine gewichtige neue Umschreibung dafür, wer oder was Gott sein könnte und was ein so verstandener Gott tut. Möglicherweise brauchen wir einen solchen Gott, um angemessener auf jene Fragen eingehen zu können, die Ausgangspunkt dieses Kapitels gewesen sind.
Der springende Punkt ist für mich folgender: Wenn ich weiß, dass die mich umgebende Welt zugleich Versteck und Offenbarung Gottes ist, kann ich nicht mehr behaupten, dass es einen wichtigen Unterschied zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, dem Heiligen und dem Profanen gibt. (Eine göttliche »Stimme« macht in Apostelgeschichte 10 einem ziemlich widerborstigen Petrus ebendies klar.) Alles, was ich sehe und erkenne, ist in der Tat ein »Uni-Versum« (wörtlich: »das in Eins Gekehrte«), das sich um ein kohärentes Zentrum bewegt. Die göttliche Gegenwart sehnt sich nach Verbindung und Gemeinschaft, nicht nach Trennung und Teilung – es sei denn, um einer noch tieferen künftigen Ebene von Einheit willen.
Was für einen Unterschied macht das aus für die Art und Weise, wie ich durch die Welt gehe und wie ich alle meine Mitmenschen sehe, denen ich im Lauf des Tages begegne! Es ist jetzt so, als könne alles, was bisher enttäuschend und »verfallen« gewirkt hat, einschließlich all der riesigen Rückschläge im Blick auf einen positiven Verlauf der Geschichte, als Teil einer Gesamtbewegung gesehen werden, die nach wie vor begeistern kann und durch Gottes Liebe eine dienende Funktion hat. Das alles muss irgendwie brauchbar und voll von ungenutztem Potenzial sein, einschließlich jener Dinge, die sich wie Betrug oder gar wie Kreuzigung anfühlen. Weshalb und wie könnten wir die Welt sonst lieben? Nichts und niemand muss außen vor bleiben.
Die Art von Ganzheit, die ich beschreibe, ist etwas, was unsere postmoderne Welt nicht mehr zu schätzen vermag und sogar vehement leugnet. Ich frage mich immer, weshalb wir nach dem Triumph des Rationalismus während der Zeit der Aufklärung solch eine Zusammenhangslosigkeit vorziehen. Ich war einmal der Meinung, wir seien uns alle einig, dass die Suche nach Zusammenhängen und nach einer Art von letztem Sinn erstrebenswert ist. Aber im vergangenen Jahrhundert haben zahlreiche Intellektuelle die Existenz und den Erweis solch umfassender Ganzheit geleugnet – und im Christentum haben wir den Fehler begangen, die Gegenwart des Schöpfers in der gesamten Schöpfung auf eine einzige Manifestation in menschlicher Gestalt zu reduzieren, auf Jesus. Die Folgen unserer extrem selektiven Wahrnehmung für die Geschichte und die Menschheit waren geradezu desaströs. Die Schöpfung wurde als etwas Profanes hingestellt, als ein hübscher Zufall, als bloße Kulisse für das eigentliche Schauspiel der göttlichen Absicht – in dem immer und ausschließlich nur wir selbst die Hauptrolle gespielt haben. (Oder, noch prekärer, Er!) Es ist unmöglich, dass sich Menschen innerhalb eines profanen, leeren oder zufälligen Universums als spirituelle Wesen erleben. Diese Sichtweise vermittelt uns vielmehr eine Grundstimmung von Getrenntein und Konkurrenz; wir streben nach Überlegenheit, anstatt zutiefst verbunden zu sein und dieser Einheit zu erlauben, immer weitere Kreise zu ziehen.
Aber Gott liebt Dinge, indem er sie wird.
Gott liebt Dinge, indem er eins wird mit ihnen,
nicht indem er sie ausstößt.
Durch den Schöpfungsakt hat Gott gezeigt, dass und wie sich die göttliche Gegenwart in die physische und materielle Welt verströmt.8 Gewöhnliche Materie ist das Versteck des Geistes und insofern der Körper Gottes. Was könnte das denn sonst sein, wenn wir – mit allen rechtgläubigen Juden, Christen und Muslimen – annehmen, dass »ein Gott alle Dinge erschaffen hat«? Seit Anbeginn der Zeit hat Gottes Geist durch die physische Schöpfung seine Ehre und Güte offenbart. Zahlreiche Psalmen bestätigen das bereits, wenn sie davon reden, dass »Flüsse in die Hände klatschen« und »Berge singen vor Freude«. War Paulus, als er geschrieben hat: »Es gibt nur Christus. Er ist alles und er ist in allem« (Kolosser 3,11), ein naiver Pantheist, oder hat er tatsächlich schon das volle Ausmaß des Evangeliums von der Inkarnation Gottes verstanden?
Gott hat anscheinend beschlossen, dem Unsichtbaren eine Gestalt zu verleihen in dem, was wir »sichtbar« nennen, so dass alle sichtbaren Dinge Offenbarung der einen spirituellen Energie Gottes sind, die sich endlos verströmt. Sobald das ein Mensch einmal begriffen hat, ist es schwierig, je wieder einsam zu sein in dieser Welt.
EIN UNIVERSALER UND PERSÖNLICHER GOTT
Zahlreiche Bibelstellen betonen sehr deutlich, dass dieser Christus »von Anfang an« existiert hat (Johannes 1,1-18, Kolosser 1,15-20 und Epheser 1,3-14 sind die Hauptquellen), so dass Christus und Jesus nicht einfach denselben Bedeutungsraum einnehmen können. Indem Christen das Wort »Christus« an Jesus angeklebt haben, als sei dies sein Nachname und nicht jenes Mittel, durch das Gott die gesamte Materie im Verlauf der Geschichte verzaubert hat, wurde das christliche Denken ziemlich schludrig. Unser Glaube wurde zu einem theologischen Wettstreit zwischen verschiedenen kleinkarierten Erlösungstheorien anstatt zu einer universalen Kosmologie, in der wir alle mit der uns innewohnenden Würde Platz finden können.
Gerade heute brauchen wir, vielleicht mehr denn je zuvor, einen Gott, der so groß ist wie das noch immer expandierende Universum. Sonst werden gebildete Menschen Gott nach wie vor als bloßes Anhängsel an eine Welt sehen, die in sich selbst fantastisch, wunderschön und lobenswert ist. Wenn Jesus nicht auch als Christus präsentiert wird, dann prophezeie ich, dass immer weniger Menschen aktiv gegen das Christentum rebellieren werden, während es für immer mehr Menschen im Laufe der Zeit uninteressant wird. Zahlreiche naturwissenschaftliche Forscher, Biologen und Sozialarbeiter haben das Christusgeheimnis gewürdigt, ohne dass sie dafür irgendwelche Jesus-Sprache verwenden mussten. Das Göttliche war anscheinend niemals besonders erpicht darauf, dass wir seinen oder ihren exakten Namen auf die Reihe kriegen (siehe Exodus/2. Mose 3,14). Jesus selbst sagt: »Vertraut nicht denen, die ›Herr, Herr‹ sagen« (Matthäus 7,21; Lukas 6,46). Er selbst sagt, es käme auf die an, die das »Richtige tun« und nicht auf die, die »das Richtige sagen«. Aber verbale Rechtgläubigkeit ist eine Lieblingsbeschäftigung des Christentums und hat uns zu manchen Zeiten legitimiert, Menschen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, weil sie nicht »das Richtige gesagt« haben.
Das passiert, wenn wir uns auf einen exklusiven Jesus fixieren, zu dem wir eine »persönliche Beziehung« haben, und darauf, wie er dich und mich vor einer irgendwie gearteten ewigen feurigen Folter retten kann. In den ersten zwei Jahrtausenden der Christenheit haben wir unseren Glauben in Gestalt eines Problems und einer Drohung formuliert. Aber wenn du meinst, das Hauptziel Jesu bestünde darin, ein Heilmittel für deine persönliche und individuelle Erlösung zur Verfügung zu stellen, liegt der Gedanke nahe, dass er mit der Menschheitsgeschichte insgesamt rein gar nichts zu tun hätte – mit Krieg und Ungerechtigkeit, mit der Zerstörung der Natur oder mit irgendetwas, was den Begierden unserer Egos oder unseren gesellschaftlichen Vorurteilen widerspricht. Am Ende haben wir unter der Rubrik »Jesus« unsere Nationalkulturen verbreitet, anstatt im Namen Christi eine Botschaft der universellen Befreiung zu verkünden.
Wenn wir keine Ahnung davon haben, dass die Welt in sich geheiligt ist – jedes noch so winzige Bruchstück des Lebens und des Todes –, fällt es uns schwer, Gott in unserer eigenen Lebenswirklichkeit zu sehen, geschweige denn die gesamte Wirklichkeit zu achten, zu schützen oder zu lieben. Die Folgen dieser Ignoranz umgeben uns überall; sie zeigen sich darin, wie wir unsere Mitmenschen bis heute ausbeuten und ihnen Schaden zufügen, aber auch die lieben Tiere, das Gewebe all dessen, was wächst, das Land, die Gewässer und besonders die Luft. Es hat bis zum 21. Jahrhundert gedauert, bis ein Papst das so deutlich ausgesprochen hat wie Papst Franziskus in seinem prophetischen Dokument Laudato Si. Möge es nicht zu spät sein und möge der Graben zwischen praktisch-konkreter Sichtweise (Wissenschaft) und holistischer Sichtweise (Religion) vollständig überwunden werden. Beide brauchen einander noch immer.
Das, was ich in diesem Buch als inkarnatorisches Weltbild bezeichne, ist das tiefe Erkennen der göttlichen Gegenwart in buchstäblich allem und allen. Das ist der Schlüssel zu geistiger und geistlicher Gesundheit und auch zu einer bestimmten Grundzufriedenheit und Lebensfreude. Eine inkarnatorische Weltsicht ist die einzige Möglichkeit, wie wir unsere inneren Welten mit der Außenwelt versöhnen können, Einheit mit Vielfalt, das Materielle mit dem Spirituellen, das Individuelle mit Kollektivem und das Göttliche mit dem Menschlichen.
Im frühen 2. Jahrhundert fing die Kirche an, sich »katholisch« zu nennen, das so viel bedeutet wie global oder universal. Das geschah, nachdem sie den eigenen universalen Charakter und die Universalität ihrer Botschaft begriffen hatte. Erst als die Kirche das Bewusstsein dafür wieder verloren hatte, eine unteilbare und inklusive Botschaft zu verkünden, wurde der Begriff »katholisch« mit Hilfe des Adjektivs »römisch« eingefriedet. Schließlich fuhren wir nach der bitter nötigen Reformation 1517 damit fort, uns in immer kleinere, miteinander konkurrierende Fraktale aufzusplittern. Davor hatte schon Paulus die Korinther gewarnt, indem er eine Frage stellte, die uns noch immer ausbremsen sollte: »Kann Christus aufgeteilt werden?« (1. Korinther 1, 13)? Aber wir haben in den Jahren, seit diese Worte geschrieben wurden, munter weiter gespaltet.
Das Christentum ist, um es milde auszudrücken, zu einem Sammelsurium von Stammeskulturen geworden. Aber das muss es nicht bleiben. Der eigentliche und ganze christliche Sprung des Glaubens besteht darin, dass wir darauf vertrauen, dass uns Jesus gemeinsam mit Christus ein menschliches, aber dennoch völlig passgenaues Fenster in jenes Ewige Jetzt geschenkt hat, das wir Gott nennen (Johannes 8,58; Kolosser 1,15; Hebräer 1,3; 2. Petrus 3,8).
Christus ist Gott, und Jesus ist die historische Gestaltwerdung des Christus in der Zeit.
Jesus ist ein Dritter, nicht nur Gott und nicht nur Mensch, sondern Gott und Mensch vereint.
Dies ist die einzigartige und zentrale Botschaft des Christentums, und sie hat massive theologische, psychologische und politische Konsequenzen – und zwar überaus positive. Aber wenn wir unfähig sind, diese beiden scheinbaren Antipoden Gott und Mensch in Jesus Christus zusammenzudenken, können wir beides meist auch nicht in uns selbst oder im restlichen materiellen Universum vereinen. Das ist bisher unsere Hauptsackgasse gewesen. Jesus sollte den Code knacken, aber weil wir ihn nicht mit Christus verbunden haben, haben wir den Kern dessen verloren, was das Christentum hätte sein können.
Ein ausschließlich persönlicher Gott wird zum Kitschgötzen einer Stammeskultur, und ein ausschließlich universaler Gott verlässt niemals den Raum abstrakter Theorie und philosophischer Prinzipien. Aber wenn wir lernen, beide zu verbinden, dann schenken uns Jesus und Christus einen Gott, der sowohl persönlich als auch universal ist.
Das Christusgeheimnis segnet und salbt von Anfang an die gesamte physische Materie mit einer ewigen Berufung. (Es sollte nicht überraschen, dass das Wort, das wir aus dem Griechischen [Χριστός] mit Christus übersetzen, von dem Hebräischen mesach kommt, was »der Gesalbte« oder der Messias bedeutet. Er offenbart, dass alles »gesalbt« ist!) Viele beten noch immer für etwas und warten noch immer auf etwas, was uns bereits dreimal geschenkt worden ist: zunächst in der Schöpfung; zweitens in Jesus, »damit wir ihn hören konnten, ihn sehen mit eigenen Augen, ihn schauen und mit unseren Händen berühren, das Wort, das das Leben selbst ist« (1. Johannes 1,1); und drittens in jener fortwährenden Liebesgemeinschaft (von Christen als der »Leib Christi« bezeichnet), die sich im Lauf der gesamten Menschheitsgeschichte allmählich entfaltet (Römer 8,18ff.). Wir befinden uns noch immer in diesem Fluss.
Angesichts unserer gegenwärtigen Bewusstseinsentwicklung und insbesondere des historischen und technologischen Zugangs, den wir heutzutage zum »Gesamtbild« haben, frage ich mich, ob ein aufrechter Mensch eine heile und heilige »persönliche« Beziehung zu Gott haben kann, wenn ihn dieser Gott nicht zugleich mit dem Universalen verbindet. Ein persönlicher Gott, das kann ja nicht bedeuten, ein kleinerer Gott, und ebenso kann dich auch Gott auf keine Weise kleiner machen – oder es wäre nicht Gott.
Paradoxerweise haben Millionen der sehr Frommen, die auf die »Wiederkunft« warten, weitgehend das erste Kommen verpasst – und auch das dritte! Ich wiederhole: Gott liebt Dinge, indem er sie wird. Und wie wir soeben gesehen haben, hat dies Gott mit der Erschaffung des Universums und mit Jesus so gemacht, und Gott tut es noch immer im realen und menschlichen Leib Christi (1. Korinther 12,12ff.) und sogar in schlichten Elementen wie Brot und Wein. Leider Gottes gibt es im Christentum eine ganze Sektion, die nach einem Fluchtweg aus Gottes kontinuierlicher Schöpfung sucht – und sogar darum betet –, zugunsten einer Art von Harmagedon oder Entrückung. Soviel zum Thema: den springenden Punkt verpasst! Die wirkungsvollsten Lügen sind häufig die wirklich großen.
Das sich entfaltende allumfassende Christusgeheimnis, an dem wir alle teilhaben, ist das Thema dieses Buches. Jesus ist eine Landkarte für die zeitgebundene persönliche Lebensebene, und Christus ist die Blaupause für alle Zeiten und alle Räume und für das Leben selbst. Beide offenbaren das universale Muster von steter Selbstentäußerung und neuer Erfüllung (Christus) beziehungsweise von Tod und Auferstehung (Jesus). Das ist jener Prozess, den wir in verschiedenen Epochen unserer Geschichte »Heiligkeit«, »Erlösung« oder einfach »Wachsen und Reifen« genannt haben. Christen können sehen, wie das universale Muster auf vollkommene Weise das innere Leben der Trinität nachahmt, wie es in der christlichen Theologie9 formuliert wurde und wird. Die Trinität ist unsere Matrix dafür, wie sich die Realität insgesamt entfaltet, da alle Dinge »nach dem Bild und Gleichnis« Gottes erschaffen sind (Genesis/1. Mose 1,26-27).
Für mich ist das Begreifen des vollen Christusgeheimnisses der Schlüssel zu einer grundlegenden Reform der christlichen Religion, die uns über alle Versuche hinausführen wird, Gott in unserer exklusiven Gruppe einzusperren oder gefangen zu halten. Das Neue Testament beschreibt es dramatisch und eindeutig: »Bevor die Welt erschaffen wurde, wurden wir in Christus auserkoren, … von Gott als Eigentum beansprucht und von Anfang an auserwählt« (Epheser 1,3.11), »so dass er unter dem Oberhaupt Christus alles vereinen könnte« (1,10). Sollte das alles stimmen, dann wäre das eine theologische Grundlage für sehr natürliche Religion, die jeden und jede einschließt. Das Problem war von Anfang an gelöst. Schraub deinen christlichen Kopf ab, schüttle ihn einmal kräftig durch und setz ihn wieder auf!
JESUS CHRISTUS UND DIE LIEBESGEMEINSCHFT
Der franziskanische Philosoph und Theologe Johannes Duns Scotus (1266-1308), dessen Gedankenwelt ich vier Jahre lang gründlich studiert habe, versuchte, diese ursprüngliche und kosmische Sicht zu formulieren, als er schrieb: »Gott will Jesus Christus vor allem als das summum opus deum, das höchste Werk Gottes haben.«10 Mit anderen Worten: Gottes »erste Idee« und Gottes Priorität bestanden darin, das Wesen Gottes sowohl sichtbar als auch mitteilbar zu machen. Der Terminus, der in der Bibel für diese Idee benutzt wurde, ist Logos und entstammt der griechischen Philosophie. Ich würde den Begriff mit »Blaupause« oder »Ur-Muster der Wirklichkeit« übersetzen. Die gesamte Schöpfung – nicht nur Jesus – ist Liebesgemeinschaft, Partnerin im göttlichen Tanz. Alles ist »Kind Gottes«. Keine Ausnahmen. Wenn man es recht bedenkt – was sonst sollte alles sein? Alle Geschöpfe müssen auf irgendeine Weise die göttliche DNA ihres Schöpfers in sich tragen.
Unglücklicherweise war das Konzept von Glauben, das im Abendland Gestalt annahm, viel eher eine rationale Zustimmung dazu, dass gewisse Glaubensformeln wahr sind, als ein relaxtes und hoffnungsvolles Vertrauen darauf, dass Gott in allen Dingen wohnt und dass die gesamte Wirklichkeit unterwegs ist zu einem guten Ziel. Es war vorhersagbar, dass wir schon bald intellektuellen Glauben (der dazu neigt, zu zergliedern und einzugrenzen) von Liebe und Hoffnung getrennt haben (die verbinden und insofern verewigen). Paulus sagt in seinem grandiosen Hymnus an die Liebe: »Es gibt nur drei Dinge, die Bestand haben – Glaube, Hoffnung und Liebe« (1. Korinther 13,13). Alles andere vergeht.
Glaube, Hoffnung und Liebe sind das Wesen Gottes und demzufolge das Wesen des gesamten Seins. So etwas Gutes kann nicht sterben. (Das meinen wir, wenn wir »Himmel« sagen.)
Jede dieser Drei Großen Tugenden muss jeweils die anderen beiden enthalten, um authentisch zu sein: Liebe ist immer voller Hoffnung und treu, Hoffnung ist immer liebevoll und beständig, und Glaube ist immer von Liebe und Hoffnung erfüllt. Sie sind das Wesen Gottes und insofern das Wesen des gesamten Seins. Diese Ganzheit ist im Kosmos personifiziert als Christus und in der Menschheitsgeschichte als Jesus. Gott ist also nicht nur Liebe (1. Johannes 4,16), sondern auch die absolute Glaubenstreue und die Hoffnung in Person. Und die Kraft dieser Glaubenstreue und Hoffnung fließt vom Schöpfer aus zu allen Geschöpfen und bewirkt jedes Wachstum, jede Heilung und jeden Frühling.
Keine Einzelreligion wird je die ganze Tiefe solch eines Glaubens ganz umfassen.
Kein Volk hat ein Monopol auf solch eine Hoffnung.
Keine Nation kann den Strom solch universaler Liebe kontrollieren oder aufhalten.
Dies sind die allgegenwärtigen Gaben des Christusmysteriums, verborgen in allem, was je gelebt hat, was je gestorben ist und was wieder leben wird.
Ich hoffe, die Vision wird deutlicher. Sie ist in gewisser Weise so einfach und einleuchtend, dass man sie nur schwer lehren kann. Es handelt sich vor allem um eine Sache des Ver-Lernens, damit du lernst, deinem gesunden christlichen Menschenverstand zu trauen, wenn ich das einmal so sagen darf. Christus ist eine gute und einfache Metapher für absolute Ganzheit, vollständige Inkarnation und für die Bewahrung der Schöpfung. Jesus ist der archetypische Mensch (Hebräer 4,15), der uns gezeigt hat, wie echtes Menschsein aussehen könnte, wenn wir uns vollständig in es einleben könnten (Epheser 4,12-16). Offen gesagt ist Jesus viel eher gekommen, um uns zu zeigen, wie wir menschlich sein können, als um uns zu sagen, wie wir spirituell sein können, und dieser Prozess befindet sich, wie es scheint, noch immer in seinen frühen Phasen.
Ohne Jesus ist der schiere Umfang und Sinn unseres tief verstandenen Menschseins zu groß und zu gut, als dass sie unser Verstand sich vorstellen könnte. Aber wenn wir wieder Jesus und Christus zusammenfügen, können wir eine Große Vision und ein Großartiges Werk in Gang setzen.