Helmut Ortner

OHNE GNADE

Eine Geschichte der Todesstrafe

Mit einem Nachwort von
Prof. Dr. Thomas Fischer

INHALT

Prolog

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Einleitung

Wenn der Staat tötet – Das lange Warten des Troy Davis

RITUALE

Die archaischen Strafen

Katalog des Tötens – Macht, Ehre und Tod

Töten mit Gottes Hand – Vergeltung und Versöhnung

Das letzte Mahl – Ein Friedensangebot

INSTRUMENTE

Die Technisierung des Tötens

Alle Macht der Maschine – Die Guillotine

Tod durch die Kugel – Das Erschießen

Strom im Körper – Der elektrische Stuhl

Sterben im „Aquarium“ – Die Gaskammer

Tod durch die Vene – Die Giftspritze

VOLLSTRECKER

Die Hände des Gesetzes

Das Amt des Henkers – Der Verfemte

Der Carnifex – Ein Dossier

„Ich war ein guter Henker“ – Ein Scharfrichter erzählt

Der Mann am Fallbeil – Johann Reichhart

VERMARKTER

Der Preis des Tötens

Amerikas Kampf gegen das Böse

VERKÜNDER

Die öffentliche Inszenierung

Theater des Schreckens – Volkskultur und Todesstrafe

Last Statement – Die letzten Worte Hingerichteter

Epilog

Nachdenken über die Todesstrafe – Ein Plädoyer

Ausblick

Zeit der Hoffnung? – Todesstrafe, die globale Realität

Wider die Todesstrafe – ein Nachwort

Von Prof. Dr. Thomas Fischer

Anhang

Dossier Tötungsmethoden – Vom Erdrosseln bis zur Giftspritze

Staaten, die seit 1976 die Todesstrafe abgeschafft haben

Quellen

Anmerkungen

Literatur

Editorische Anmerkung

Dank

»Die Todesstrafe ist für den größten Teil der Zuschauer weiter nichts als ein blutiger Aufzug, ein Menschenopfer, ein Schauspiel für Müßige und etliche die Veranlassung eines mit Unwillen vermischten Mitleidens. Diese beiden Leidenschaften beschäftigen den Zuschauer weit mehr, als dass sie ihm den heilsamen Schrecken einjagen sollten, welchen die Gesetze durch Lebensstrafen zu bewirken suchen.«

Cesare Beccaria, 1764

»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Hinrichtungen zwecklos sind. Sie sind lediglich ein antiquiertes Relikt eines primitiven Verlangens nach Rache, das es sich einfach macht und die Verantwortung für die Rache auf andere überträgt.«

Albert Pierrepoint
Englischer Henker, 1974

»Die Todesstrafe rettet Leben!«

George W. Bush
US-Präsident, 2000

PROLOG

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Im Mai 2019 feierte Deutschland sich selbst. Das Grundgesetz wurde siebzig. Und tatsächlich durften die Deutschen diesen Geburtstag mit Freuden feiern. Grundrechte wie Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, auch Religionsfreiheit – alle diese und andere Grundrechte sind alles andere als selbstverständlich. Die Deutschen können sich glücklich schätzen – und sollten die Grundrechte schützen. Auch Artikel 102: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“. Auch das ist keine Selbstverständlichkeit

Als das Hinrichten in Deutschland abgeschafft wurde, da dachten die allermeisten Deutschen noch anders. Laut einer 1949 von den Stuttgarter Nachrichten veröffentlichten Umfrage des Allensbach-Instituts befürworteten damals 74 Prozent der westdeutschen Bevölkerung die Todesstrafe. Viele fanden die Todesstrafe nicht per se schlecht, meinten aber, die Nazis hätten es damit in den zurückliegenden Jahren doch allzu arg getrieben.

Ein irritierendes Ergebnis, nur wenig Jahre, nachdem das „Tausendjährige Reich“ unter Schutt, Schuld und Scham ein Ende gefunden hatte. Hatten die Nazis nicht genug barbarische Urteile gesprochen, immer öfter und immer schneller gegen Kriegsende, auch für immer geringere Vergehen? Hingerichtet wurde per Handbeil, Guillotine, Strang. Mehr als 16 000 Hinrichtungen insgesamt, ausgeführt von einem Dutzend ehrgeiziger Nazi-Henker, die gut dotiert ihr blutiges Handwerk bis zum bitteren Ende ausführten, so allein in der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee 2891 Exekutionen zwischen 1933 und 1945. Der Nazi-Staat mordete nicht nur an der Front. Der Volksgerichtshof und Sondergerichte fällten Todesurteile, Scharfrichter und ihre Helfer vollstreckten – bis zum bitteren Ende.

Doch auch nach der „Stunde Null“ wurde in Deutschland noch hingerichtet. Allein zwischen Kriegsende und der Gründung der Bundesrepublik wurden über 1000 Todesurteile verhängt, davon 128 in Gerichtssälen der Westzonen, wovon 24 dieser Urteile auch vollstreckt wurden. Die übrigen Todesurteile wurden von alliierten Gerichten gegen Kriegs- und NS-Verbrecher verhängt. So in den „Dachauer Prozessen“, die zwischen 1945 und 1948 im Internierungslager Dachau stattfanden, wo sich bis Ende April 1945 das KZ Dachau befand. 1672 Personen waren aufgrund des Verfahrensgegenstandes „Konzentrationslagerverbrechen“ angeklagt; 268 der insgesamt 426 verhängten Todesurteile wurden im Kriegsverbrechergefängnis im bayerischen Landsberg durch Hängen vollstreckt, einige vom vormaligen NS-Henker Johann Reichhardt, der nun für die amerikanischen Sieger Exekutionen durchführte. Von ihm wird in diesem Buch noch die Rede sein.

Im September 1948 kamen im Bonner Museum Koenig die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates zusammen, um mit der Arbeit am Grundgesetz zu beginnen. Die Abschaffung der Todesstrafe wollten sie als sichtbares Zeichen im Sinne einer wiedergefundenen Humanität verstanden wissen. Freilich, nicht alle – vor allem konservativ-nationale Politiker – waren damit einverstanden. Das genaue Ergebnis ist nicht protokolliert. Historiker rekonstruierten aber später eine deutliche Mehrheit von 47 zu 15 Stimmen. Damit war die Todesstrafe abgeschafft. Das stand damals europaweit nur in den Verfassungen von San Marino und Island.

Einmal noch wurde vollstreckt: am Morgen des 18. Februar 1949. Der Raubmörder Richard Schuh war vom Landgericht Tübingen zum Tode verurteilt worden. Und in der DDR, wo die Todesstrafe bis 1981 per Guillotine oder „Nahschuss“ 164 Mal vollstreckt worden war, wurde sie 1987 endgültig abgeschafft. Der letzte Todeskandidat, Werner Teske, war wegen „schwerwiegenden Landesverrats“ am 26. Juni 1981 durch „unerwarteten Nahschuss in das Hinterhaupt“ in Leipzig hingerichtet worden. Ob Ost oder West: Deutschland, einig Vaterland – die Todesstrafe ist abgeschafft.

Heute kann ein Staat nur dann Mitglied der EU sein, wenn er dem staatlichen Hinrichten abgeschworen hat. Eine übergroße Mehrheit der Deutschen lehnt – anders als 1949 – heute die Todesstrafe ab. Ein Grundgesetz ohne Artikel 102 ist undenkbar geworden.

Berlin, im April 2020: Jahr für Jahr gibt es eine sehr traurige Pressekonferenz in der deutschen Hauptstadt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International legt ihren Bericht über Todesurteile und Hinrichtungen vor: eine irritierende Bilanz der Inhumanität, ein Dokument des Schreckens. Immerhin: der aktuelle Bericht für das Jahr 2019 beginnt diesmal mit einem Hoffnungsschimmer. Die Zahl der offiziell vollstreckten Todesstrafen ist im vergangenen Jahr im Vorjahresvergleich deutlich zurückgegangen. Von (mindestens) 690 Hinrichtungen im Jahr 2018 sank die Zahl auf 657. Doch beim Weiterlesen trübt sich der helle Schein der Statistik sogleich wieder. Auch wenn es weniger registrierte Hinrichtungen gab: das wahre Ausmaß der weltweiten Anwendung bleibt unbekannt. Es ist davon auszugehen, dass die mit Abstand meisten Hinrichtungen in China stattfanden. Zahlen gibt es keine, da diese Informationen als Staatsgeheimnis behandelt werden. China unberücksichtigt, fanden 86 Prozent der weltweiten Hinrichtungen in nur vier Ländern statt: Iran, Saudi-Arabien, Irak und Ägypten. Zusammenfassend bilanziert der Bericht: Am Ende des Jahres 2019 hatten 106 Länder (die Mehrheit der Staaten weltweit) die Todesstrafe im Gesetz für alle Verbrechen abgeschafft und 142 Länder (mehr als zwei Drittel aller Staaten weltweit) sie per Gesetz oder in der Praxis nicht mehr vollstreckt. Eine erfreuliche Tatsache. Darf man sich Hoffnung machen? Im letzten Kapitel dieses Buches wird darauf noch einmal detailliert Bezug genommen.

Um staatliches Töten – geschichtlich wie aktuell – geht es in diesem Buch. Es ist keine wissenschaftliche Studie, keine historisch stringente Abhandlung, keine politische Streitschrift. Gleichwohl will der Autor nicht verhehlen, dass er gegen die Todesstrafe ist: Sie ist barbarisch, anachronistisch – und wirkungslos. Unter den vielen Argumenten, die von Befürwortern der Todesstrafe vorgebracht werden, stehen Abschreckung und Schutz der Gesellschaft an oberster Stelle. Doch sind diese Gründe immer wieder angezweifelt worden. Das tatsächlich zentrale Motiv ist die Vergeltung, die Ansicht, „dass nur der Tod die Sühne für gewisse Verbrechen sein kann. Das Gefühl, dass mildere Strafen unzureichend sind. Die Überzeugung, dass, wer schwerste Verbrechen begeht, dafür die äußerste Strafe erleiden muss: den Tod“, wie Richard J. Evans konstatiert. In der Volkskultur – oder in Volkes Meinung – ist diese Einstellung zu allen Zeiten die vorherrschende.

Dieses Buch beschreibt und dokumentiert verschiedene Aspekte der Todesstrafe. Vom römischen Carnifex bis zur Giftspritze in amerikanischen Todeszellen: Aberglaube, Gottesfurcht, Staatsmacht, Technikglaube, Humanitätsgedanke – die Geschichte der Todesstrafe ist immer auch eine Reformgeschichte. Einst eine öffentlich-sakrale Inszenierung – eine Versöhnung zwischen dem Sterbenden und seiner Seele und Gott –, ist es heute ein kollektives Vergeltungs- und Selbstreinigungsritual, das sich allenfalls über die Medien mitteilt.

Keine Frage: Die Technologie des 21. Jahrhunderts hat das Töten effizienter und hygienischer gemacht. Meist ein nüchterner Raum, darin ein schlichter OP-Tisch, so sieht die Hinrichtungskammer von heute in amerikanischen Hinrichtungsgefängnissen aus. Die Hände derjenigen, die den Schalter umlegen, damit das tödliche Gift in die Venen fließt, bleiben sauber. Die biblische Losung „Auge um Auge, Zahn und Zahn“ wird in die Tat umgesetzt, nicht wie in primitiven Stammeskulturen schmerzvoll, stinkend und laut, sondern durch eine Distanz-Technologie: anonym, steril, lautlos. „Das Problem scheint nicht mehr die Todesstrafe an sich zu sein, sondern sie möglichst ‚human‘ zu gestalten“, schreibt die US-Autorin Barbara Rose.

In den USA ist die Todesstrafe – so zynisch das klingen mag – Teil des politischen Arsenals, mit dem die Glaubenskriege ausgetragen werden. Das Recht des Staates, ein schweres Verbrechen mit der Hinrichtung des Täters zu sühnen – hier scheidet sich das liberale vom konservativen Amerika.

Mehr als 2500 Menschen warten in den Todeszellen der US-Bundesstaaten auf ihre Hinrichtung, in den nationalen Todestrakten zusätzlich 61 Verurteilte (2019). Präsident Obama hatte den Vollzug der Todesstrafe auf Bundesebene 2014 ausgesetzt. Bereits zuvor waren Hinrichtungen durch die Bundesregierung selten gewesen: seit der Wiedereinführung der nationalen Todesstrafe 1988 wurden drei zum Tode Verurteilte hingerichtet. Der bekannteste war der rechtsextreme Terrorist Timothy McVeigh, der 1995 bei einem Bombenanschlag in Oklahoma 168 Menschen tötete. Letztmals vollstreckt wurde die Todesstrafe auf Bundesebene 2003. Damals wurde ein Veteran der US-Armee wegen Mordes an einer Soldatin hingerichtet.

Obamas Moratorium ging zurück auf mehrere missglückte Hinrichtungen, bei denen die Verurteilten erst nach qualvollem Todeskampf starben. Der damalige Justizminister Holder forderte deshalb auch, die Strafvollzugsbehörden sollten Exekutionen nicht länger mit einer Mischung aus drei verschiedenen Giftstoffen durchführen, sondern mit einer Injektion des Präparats Pentobarbital durchführen. Dies sei mit der US-Verfassung vereinbar.

Von den massiven Problemen bei Hinrichtungen mit Giftstoffen wird auf den folgenden Seiten noch die Rede sein. Über die Methoden und Präparate, die einen „humanen“ Tod der Verurteilten herbeiführen, wird weiterhin heftig diskutiert, mitunter mit bizarren Vorschlägen.

So hat der Generalstaatsanwalt von Oklahoma angekündigt, künftig Hinrichtungen mit Stickstoffgas durchführen zu wollen. Auch die US-Bundesstaaten Louisiana und Alabama denken über derartige Hinrichtungs-Methoden nach. „Die Exekution durch Gas ist eine barbarische Praxis, es gibt keinen Grund zu glauben, diese sei sicherer oder humaner als andere Verfahren“, kritisiert der Menschenrechtler und Anwalt Dale Baich. Im Juli 2019 brachte Justizminister Barr die Wiederaufnahme auf die politische Agenda. Die Absicht steht im Widerspruch zur Entwicklung in den Bundesstaaten.

Beispiel Colorado: als 22. US-Bundesstaat schafft es die Todesstrafe für Straftaten ab, die ab dem 1. Juli 2020 zur Todesstrafe geführt hätten. Gouverneur Jared Polis hatte am 23. März 2020 die Gesetzesänderung unterschrieben und die verhängten Todesstrafen dreier Gefangener in lebenslange Haftstrafen umgewandelt. Er begründete die Gesetzesänderung damit, dass die Todesstrafe in Colorado niemals gerecht verhängt wurde und verhängt würde.

Mittlerweile haben 50 Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft, die Zahl der Hinrichtungen ist von 98 im Jahr 1999 auf 22 im Jahr 2019 gesunken. Eine erfreuliche Entwicklung. Doch trotz Rückgang: noch immer ist die Hälfte der Amerikaner für die Vollstreckung der Todesstrafe. Das wissen auch Politiker, die gewählt werden wollen. Und das weiß auch Donald Trump, einer der glühendsten Anhänger der Todesstrafe.

Von archaischen Todesstrafen bis hin zur Giftspritze – die Bilanz ist ambivalent und es stellt sich die Frage: Ist eine Enthauptung in Saudi-Arabien barbarisch, eine Exekution mit einer Giftspritze „modern“? In den USA gilt der Tod durch eine Giftspritze tatsächlich als „moderne“, weil „humane“, weil „saubere“ Hinrichtungsart, als wegweisender Fortschritt, als Akt der Humanität. Die Notwendigkeit der Todesstrafe wird von vielen US-Bürgern kaum angezweifelt, doch rechtsstaatlich-modern soll sie vollstreckt werden. Mit den grausamen Hinrichtungsritualen der Vergangenheit freilich sollen sie nichts mehr gemein haben – aber mit der Abschaffung der Todesstrafe tun sich einige Bundesstaaten in den USA noch immer schwer. Im zurückliegenden US-Wahlkampf trat nicht nur der Republikaner Donald Trump für die Beibehaltung der Todesstrafe ein.

Immerhin: Deren Gegner dürften es begrüßen, dass die USA erstmals seit 2006 nicht mehr zu den fünf Staaten mit den meisten Exekutionen zählen. Das ist allerdings nicht unbedingt Ausdruck eines Sinneswandels. In manchen Staaten wurden Hinrichtungen mit Klagen gestoppt, die sich auf die Vorschriften für Exekutionen bezogen. Und manche Bundesstaaten haben schlicht Probleme, Medikamente für Hinrichtungen zu beschaffen.

Tatsache ist: Ein Pharmaunternehmen nach dem anderen hat in den vergangenen Jahren die Lieferung von tödlichen Wirkstoffen gestoppt. Die Europäische Union hat den Export sogar verboten. Europa ist auf der Karte der Todesstrafen-Staaten ein nahezu vollständig weißer Fleck. Auch hier gab es eine jahrhundertelange Tradition staatlichen Tötens. Dies gehört der Vergangenheit an.

Um Versuche, die Todessstrafe jeweils „zeitgemäß“, „modern“ und „human“ zur Durchführung zu bringen, darum geht es auf den folgenden Seiten. Wenn dabei immer wieder das amerikanische Rechtssystem und seine Justiz Gegenstand der Betrachtung ist, dann auch deshalb, weil die USA die einzige westliche Demokratie sind, die bis heute in einigen ihrer Bundesstaaten an der Todesstrafe festhält. Präsident Trump hat sich wiederholt als glühender Verfechter der Todesstrafe geoutet, zuletzt als Befürworter für die Wieder einführung der Todesstrafe auf Bundesebene ausgesprochen. Auch Terroristen und Drogendealer gehörten hingerichtet, forderte er mehrmals.

Dass die Todesstrafe nun auf Bundesebene wieder vollzogen werden soll, steht im Weg der Gut-Böse-Denklogik der Trump-Präsidentschaft. Die Wiederaufnahme von Hinrichtungen auch für Verurteilte in den Bundesgefängnissen stellt die USA auf eine Ebene mit China, Iran und Regimen ähnlicher Qualität, auch für den Preis, dass ihre rechtstaatliche Glaubwürdigkeit schweren Schaden nimmt.

Nicht nur hier wird sichtbar: Hinrichtungen sind nicht allein ein Instrument des Strafrechts, sondern immer auch Ausdruck der Gesellschaftsordnung und ihrer politischen, religiösen und juristischen Weltbilder. Oder deutlicher: des stillschweigenden Einverständnisses der Mehrheit der Bürger mit dem System staatlichen Tötens.

Aufklären will das Buch. Das ist das Mindeste.

Helmut Ortner,
im Juli 2020

EINLEITUNG

Wenn der Staat tötet – Das lange Warten des Troy Davis

Kurz bevor Troy Davis das Gift in die Armvenen gespritzt wird, hebt der 42-jährige Afroamerikaner, festgeschnallt auf der Liege der Exekutionskammer, noch einmal seinen Kopf. Seine Blicke wandeln durch den Raum. Ein letztes Mal will er seine Unschuld beteuern, den Anwesenden seiner Hinrichtung sagen, dass nicht er es war, der den Polizisten Mark Allen MacPhail erschossen hat: „Ihr sollt wissen, dass ich nicht derjenige bin, der euren Sohn, euren Vater, euren Bruder getötet hat. Ich bin unschuldig. Ich hatte keine Waffen.“ Wenige Sekunden später wirkt das Schlafmittel, dann das tödliche Gift. Am 21. September 2011 um 23.08 Uhr Ortszeit stirbt Troy Davis im Gefängnis von Jackson im US-Bundesstaat Georgia. Zwei Jahrzehnte hat Davis im Todestrakt auf seine Hinrichtung gewartet. Warten müssen.

Seine Hinrichtung war eine der umstrittensten der an fragwürdigen Exekutionen nicht armen US-Justizgeschichte. Nur aufgrund von Zeugenaussagen hatte ihn ein Geschworenengericht bereits 1991 wegen des Mordes an dem weißen Polizisten zum Tode verurteilt. Eine Tatwaffe, DNA-Spuren oder konkrete Beweise wurden nie gefunden. Dreimal stand das Vollstreckungsdatum fest, dreimal gelang es den Anwälten, Aufschub zu erwirken. Schließlich hatten sieben der neun Hauptbelastungszeugen ihre Aussagen zurückgezogen und erklärt, den Angeklagten nur auf Druck der Polizei belastet zu haben. Der achte Zeuge war psychisch krank und der neunte – letztlich einzig verbleibende Zeuge – war der zweite Hauptverdächtige für den Mord.

Trotzdem bestätigte Richter William Moore im August 2010 das Todesurteil: „Der Fall ist zwar nicht vollkommen wasserdicht, die meisten Mitglieder einer Jury würden jedoch Mister Davis wieder wegen Mordes an dem Officer MacPhail verurteilen. Ein Bundesgericht kann sich nicht anmaßen, das Urteil einer Jury zu missachten, wenn die Unschuld des Angeklagten nicht zweifellos bewiesen ist.“

Über lange Jahre hatte sich die Menschenrechtsorganisation Amnesty international für Davis’ Begnadigung eingesetzt. Weltweit unterzeichneten fast eine Million Menschen eine Petition gegen die drohende Hinrichtung. Auch Abgeordnete der Europäischen Union, der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, ja selbst Papst Benedikt XVI. richteten Gnadenappelle an die US-Behörden. Ohne Erfolg. Troy Davis wurde mit Gift im Namen des Gesetzes aus dem Leben befördert, wie viele vor ihm. Und die Mehrzahl der Amerikaner war auch nach dieser Hinrichtung der Meinung, dass damit der Gerechtigkeit einmal mehr Genüge getan wurde. Schließlich gilt die legale Injektion, so der Fachbegriff für den Tod durch die Giftspritze, als die humanste aller Hinrichtungsmethoden – und als die modernste. „Modern“ ist in diesem Zusammenhang, was als „human“ angesehen wird. Im Zirkelschluss: Was als human gilt, was also den ethisch-kulturellen Standards einer Gesellschaft entspricht, das wird gerne als „modern“ bezeichnet.

In den USA wird der Tod durch eine Giftspritze bis heute als moderne, weil humane, weil „saubere“ Hinrichtungsart verstanden. Als wegweisender Fortschritt, als Akt der Humanität – trotz der Komplikationen und damit verbundenen Debatten, die es gibt, seit die USA keinen Nachschub mehr für ihren Giftspritzen-Cocktail von Pharmafirmen aus Europa bekommen. Nicht nur vor dem Hintergrund der skandalösen Vorkommnisse bei Giftspritzen-Exekutionen wird in den USA – wieder einmal – grundsätzlich über die Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit der Todesstrafe gestritten. Das gesamte Verfahren der angeblich so humanen und schmerzfreien Hinrichtungen steht damit mehr denn je in Frage.

Die Hoffnung war deshalb groß, als parallel zur Präsidentenwahl im November 2016 in gleich drei Bundesstaaten – Kalifornien, Nebraska und Oklahoma – die Bürger aufgerufen wurden, über die Zukunft der Death Penalty abzustimmen. Und das nur wenige Wochen nachdem das anerkannte Pew Research Center die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht hatte, die Todesstrafen-Befürworter in der Minderheit sah: nur noch 49 Prozent der Befragten sprachen sich dafür aus. Ein Jahr zuvor waren es noch 56 Prozent gewesen – und noch 1994 hatten acht von zehn Amerikanern für die Todesstrafe plädiert.

Doch in allen drei Bundesstaaten fielen die Ergebnisse ernüchternd und eindeutig aus: In Kalifornien wurde die Todesstrafe beibehalten, in Nebraska wieder eingeführt – nachdem sie 2015 abgeschafft worden war. In Oklahoma stimmten die Bürger dafür, die Todesstrafe sogar in der Verfassung des Landes zu verankern. Ein herber Rückschlag für die Gegner der Todesstrafe, die in den letzten Jahren immerhin erreicht hatten, dass acht US-Bundesstaaten diese Strafe abschafften.

Vor allem in Kalifornien, wo seit 2006 wegen der anhaltenden Debatten über die Chemikalien für Giftspritzen niemand mehr hingerichtet worden war, bedeutete das Wählervotum einen Rückschritt. Eine knappe Mehrheit von 52,7 Prozent sprach sich für die Beibehaltung der Todesstrafe aus. Bei einer weiteren Abstimmung, ebenfalls im November 2016, wurde erneut ein Antrag, der darauf abzielte, die Todesstrafe durch eine lebenslange Haft ohne Bewährung zu ersetzen, mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.

In Kaliforniens Gefängnissen warten 741 (Anfang 2017) zum Tode Verurteilte auf ihre Exekution. Landesweit waren es im Juli 2016 in den USA 2905 Verurteilte. Es folgen zahlenmäßig Florida (396) und Texas (254). Der Südstaat hält seit Jahren den Rekord, was die Vollstreckungen betrifft. Schon Rick Perry, von 2000 bis 2015 republikanischer Gouverneur, war darauf mächtig stolz. „Texas hat 234 Todeszellen-Insassen hingerichtet“, bilanzierte der NBC-Moderator Brian Williams bei der Kandidaten-Debatte der Republikanischen Partei 2011. Damit habe Perry mehr Menschen exekutieren lassen „als sonst ein Gouverneur in modernen Zeiten“. Und schon damals strahlte Perry über das ganze Gesicht. Auch dessen Nachfolger Greg Abbott, ebenfalls Republikaner, scheint fest entschlossen, den zweifelhaften Spitzenplatz zu verteidigen. Die Richter in Texas gelten als kompromisslose Hardliner: Seit 1982 wurden 538 Menschen hingerichtet (Dezember 2016). Ein trauriger, ein beschämender Rekord.

Ein Umdenken ist nicht zu erwarten: Am 7. März 2017, 23.06 Uhr Ortszeit, wurde der 44-jährige Rolando Ruiz in Huntsville mit der Giftspritze hingerichtet, nachdem er ein Vierteljahrhundert in der Todeszelle verbracht hatte. Weitere Exekutionen sind terminiert. Mit öffentlichen Protesten muss nicht gerechnet werden. In Texas bekennen sich rechtschaffene Bürger offen und gerne zur Todesstrafe. Wer als Politiker dort gewählt werden möchte, sollte als überzeugter Befürworter der Todesstrafe in Erscheinung treten, sonst ist er im Südstaat chancenlos. Der Wähler will, dass dem Rechtsfrieden Genüge getan wird, selbstredend „zivilisiert“ und „human“, ganz so, wie es die texanische Justiz vorgibt – mittels einer Giftspritze.

„Human“ soll exekutiert werden – das beanspruchten alle Reformer, wenn es um die Neu- oder Weiterentwicklung von Hinrichtungsinstrumenten ging. Die ersten Überlegungen zur „Humanisierung“ der Todesstrafe reichen weit zurück. Schon der Arzt Joseph-Ignace Guillotin legte im Dezember 1789 der französischen Nationalversammlung einen „Reformvorschlag zum Hinrichtungsproblem“ vor. Daraufhin wurde in Frankreich die Enthauptung durch das Fallbeil, die Guillotine, bei der dem Verurteilten im Liegen der Kopf durch ein fallendes Beil abgetrennt wird, als einheitliche Hinrichtungsmethode festgelegt. Das „Prinzip der Gleichheit vor dem Tode“ und die zuverlässige Tötung waren die ersten Folgen dieser „Humanisierung“ der Todesstrafe. Die modernen Hinrichtungsmethoden sind deren Weiterentwicklung.

Während es bei der heutigen Diskussion über die Todesstrafe fast immer um deren Abschaffung geht, versuchten die Reformer seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vor allem „humanere“ Formen der Vollstreckung zu entwickeln. Zwar wurde die Notwendigkeit der Todesstrafe kaum angezweifelt, doch entsprachen die grausamen Hinrichtungsrituale der Vergangenheit nicht mehr den kulturellen Standards der Gesellschaft.

Von den archaischen Strafen bis zur Giftspritze – die Geschichte staatlichen Tötens ist immer auch eine, wenn auch ambivalente, gesellschaftliche Reformgeschichte. Es geht dabei nur vordergründig um die Achtung der Menschenwürde, die auch dem Delinquenten zugebilligt wird. Vor allem handelt es sich um den Versuch, die Hinrichtung für den Verurteilten und die Gesellschaft erträglicher zu gestalten. Ein Schlusspunkt eines zivilisierten juristischen Aktes soll es sein – für alle Beteiligten: für den Ankläger, der das Urteil gefordert hat; den Richter, der das Urteil verhängt; für den Henker, der das Urteil vollstreckt; die Augenzeugen, die der Hinrichtung beiwohnen müssen; die Angehörigen des Opfers und des Verurteilten. Ein besonderes Interesse staatlicher Definitionsmacht gilt der Art und Weise, wie eine Exekution in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.

In diesem Buch geht es um staatliches Töten. Zu allen Zeiten und in beinahe jeder menschlichen Gesellschaft wurde die Todesstrafe vollstreckt. So unterschiedlich die Rituale und Instrumente sind, die dafür entwickelt wurden, lassen sich doch Gemeinsamkeiten feststellen. So ist stets eine Legitimation erforderlich, um das staatliche Töten als unausweichliche Notwendigkeit erscheinen zu lassen, weil sonst der Gemeinschaft großes Übel drohe – sei es durch göttliche Vergeltung, sei es durch den Zusammenbruch der sozialen Ordnung. Gesetzestexte und Verurteilungsrhetorik haben sich ebenso geändert wie die Exekutionsmethoden und Hinrichtungsinszenierungen; geblieben ist der Glaube, etwas „Gerechtes“ zu tun – im Namen des Volkes.

Eine zweite zentrale Fragestellung des Buches ist, wie sich die gesellschaftliche Wahrnehmung und Stellung der Vollstrecker des Todesurteils darstellt, wie ein Richter und Henker mit der persönlichen Schuld umzugehen vermag. Eine Möglichkeit, diese persönliche Schuld zu verringern, besteht darin, den Vorgang gewissermaßen zu entpersönlichen, die Hinrichtung durch die gesamte Gesellschaft vollstrecken zu lassen. Dieser Gedanke findet sich bereits in einer der ältesten Formen der Todesstrafe, der Steinigung, die nicht nur im Alten Testament Erwähnung findet, sondern in einigen Ländern mit islamischer Rechtsprechung – der Scharia – noch heute praktiziert wird. Doch nicht nur bei den archaischen Strafen zeigt sich der Doppelcharakter des Vollstreckers. Einerseits nimmt der Henker eine herausgehobene Rolle ein, andererseits agiert er als anonymer Schütze eines staatlichen Erschießungskommandos oder als Mitglied eines Exekutionsteams, das die letale Injektion (Giftspritze) vorbereitet, die unweigerlich zum Tod des Verurteilten führt.

Des Weiteren geht es um die immensen Kosten für das staatliche Töten. Sind diese überhaupt zu rechtfertigen? Allein Kalifornien muss mehr als 100 Millionen Dollar im Jahr für die Kosten der Todesstrafe aufbringen. Eine Untersuchung der amerikanischen Wissenschaftler Arthur Alarcon und Paula Mitchell ergab, dass im Pazifikstaat seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1978 fast vier Milliarden Dollar für die death penalty ausgegeben wurden. Da seitdem 13 Verurteilte hingerichtet wurden, bezifferten die beiden Wissenschaftler die Kosten für jede Exekution auf über 300 Millionen Dollar. Die Kosten summieren sich unter anderem auch aufgrund der langen Wartezeit zwischen Verurteilung und Hinrichtung, die sich durch Berufungsverfahren in Kalifornien auf durchschnittlich 25 Jahre erstreckt.

Eine knappe Mehrheit von 51,1 Prozent votierte bei dem bereits zitierten Referendum dafür, die Todesstrafen schneller zu vollstrecken. Das spare der Allgemeinheit Kosten. Und auch hier machte Paula Mitchell eine einfache Rechnung auf: Selbst wenn jedes Jahr 30 Hinrichtungen in Kalifornien vorgenommen würden und lediglich 20 neue zum Tode Verurteilte hinzukämen, säßen 2040 noch immer 4755 Häftlinge in den Todestrakten der kalifornischen Gefängnisse. Für viele von ihnen bedeutet dies, dass sie noch lange Jahre, mitunter Jahrzehnte, in ihren Todeszellen auf den Tag ihrer Exekution warten werden – meist ohne Aussicht auf Begnadigung.

Schließlich thematisiert dieses Buch die Inszenierung der Todesstrafe. Öffentlich sichtbar oder medial verkündet, dient sie immer auch – und immer noch – der Abschreckung und der psychosozialen Reinwaschung. Sie funktioniert als säubernde, disziplinierende Projektionsfläche eigener Ängste und gesellschaftlicher Mitverantwortung. Früher brauchte es die öffentliche Hinrichtung, die grausame Zurschaustellung der Getöteten oder ihrer Körperteile. Es folgte die schrittweise Abschaffung der öffentlichen Hinrichtung. Heute setzen die Verkünder des strafenden Staates auf die Wirksamkeit moderner Medien: Journalisten berichten, Reporter interviewen, TV-Kanäle liefern die Bilder. Wer das Spektakel vor den Toren amerikanischer Gefängnisse je erlebt hat, weiß um die medienwirksame Dramaturgie des angekündigten Todes. Exekutionen faszinieren Menschen. Damals wie heute.

Drei Viertel der Menschheit leben in Staaten, die sich das Recht vorbehalten, ihre Bürger zu töten. Zur Legitimierung dieser Praxis werden die klassischen niederen Beweggründe der Rache oder Vergeltung angeführt – oder eine erhoffte Abschreckungswirkung, die allerdings noch keiner empirischen Untersuchung standhielt. Es gibt viele Statistiken zur Todesstrafe, sie beruhen auf Informationen von Menschenrechtsgruppen, Medienberichten und einigen wenigen offiziellen Zahlen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International veröffentlicht jährlich die Zahlen weltweiter Hinrichtungen. Doch sie dürften allesamt unvollständig sein, da sie sich nur auf die zur Kenntnis gelangten Fälle beziehen. Die tatsächlichen Zahlen liegen mit Sicherheit höher. Aktuelle Statistiken werden am Ende dieses Buches genannt. Die Entwicklung ist erschütternd: In den zurückliegenden Jahren wurden in der Volksrepublik China die meisten Todesurteile vollstreckt, gefolgt von Iran, Saudi-Arabien, dem Irak und Pakistan – sowie den USA.

Vor allem die amerikanische Hinrichtungswirklichkeit ist für unsere europäische Rechtskultur irritierend. Ein Land, dessen Verfassung seinen Bürgern die Menschenrechte garantiert, ein Land, das sich gerne in der Vorbildrolle als intakte Demokratie sieht, das so selbstbewusst auf seine moralischen Werte verweist und das davon überzeugt ist, vom lieben Gott mit großem Wohlwollen betrachtet zu werden, dieses Amerika setzt als einzige westliche Demokratie noch immer auf die Todesstrafe.

So hatten die acht Richter des Supreme Court Ende 2016 einmal mehr über die Rechtmäßigkeit gleich mehrerer drohender Hinrichtungen zu entscheiden, darunter auch die des 45-jährigen Ronald Smith im Staatsgefängnis Montana, der sich mit seinem letzten Einspruch an das Verfassungsgericht gewandt hatte. Doch mit einer 4:4-Entscheidung wurde dieser abgelehnt. Smith wurde noch in derselben Nacht getötet, nach einem 35-minütigen, schmerzhaften Todeskampf, wie Zeugen berichteten.

Was in der letzten halben Stunde seines Lebens genau passierte, könnte nur Ronald Smith selbst sagen. Nur er könnte erzählen, was er dachte und fühlte, als das Gift in seinem Körper zu wirken begann, als das Beruhigungsmittel, das ihn einschläfern sollte, dies offenbar nicht tat. Vielleicht hatte er grauenvolle, brennende Schmerzen, vielleicht war er bei vollem Bewusstsein. Ronald Smith starb grausam – im Namen des Volkes.

Wie zuvor Troy Davis.

Katalog des Tötens – Macht, Ehre und Tod

Beginnen wir vorne – ganz vorne. Mit einer ersten Reform. Es war der römische Kaiser Konstantin – genannt der Große –, der um das Jahr 320 nach Christus die Kreuzigung als Hinrichtungsritual abschaffte. Gerade hatte er sich dem bis dahin unterdrückten christlichen Glauben zugewandt, nun wollte er in frommer Ehrfurcht die durch den Kreuzestod des Religionsstifters geheiligte Hinrichtungsart nicht länger durch gemeine Verbrecher entweihen lassen. Es gibt kaum authentische Darstellungen von Kreuzigungen, keine detaillierten Beschreibungen, stattdessen viel Widersprüchliches. Bekannt ist, dass die Kreuzigung im gesamten Mittelmeerraum eine geläufige und häufig vollzogene Hinrichtungsart war, vorgesehen für nichtrömische Rebellen, Sklaven, Straßenräuber und ehrlose Gladiatoren. Erst später wurden auch römische Bürger ans Kreuz gehängt. Der schändliche Charakter der Strafe rührte von ihrer Besonderheit her: Der Hingerichtete durfte nach dem Tod nicht vom Kreuz genommen werden. Ein Begräbnis wurde ihm verweigert. Sein Leichnam blieb am Kreuz so lange hängen, bis er sich von selbst auflöste oder Vögel ihn schändeten. Ein Gekreuzigter wurde ständig bewacht, damit ihn seine Freunde oder Verwandten nicht vorzeitig vom Kreuz nehmen und beerdigen konnten.

Die römische Richtstätte, nahe dem heutigen Sankt-Laurentius-Tor, war von Knochen und Skeletten übersät, ein entsetzlicher Gestank hing über dem Platz. Ein Ort des Schreckens: bestimmt für niedrigste Verbrecher, gemieden von jedem ehrbaren römischen Bürger.

Während sich bei den sonstigen Todesstrafen trotz ritueller Abweichungen eine feste Vollzugsform herausbildete, blieb die Kreuzigung der Willkür der jeweiligen Henker überlassen. Es existierten kaum exakte Vorschriften, was bei einer Kreuzigung zu geschehen habe, wie der Delinquent zu behandeln sei, das Kreuz beschaffen sein müsse. Die Ursache mag darin zu finden sein, dass die Kreuzigung eine Sklavenstrafe war und die Gerichtsbarkeit damit bei seinem Besitzer lag. Dieser konnte mit ihm verfahren, wie er wollte: Er konnte ihn auspeitschen oder auch kreuzigen lassen. Niemandem hatte er darüber Rechenschaft abzulegen. Erst unter dem Cäsaren Claudius scheinen die Sklaven einen gewissen Schutz vor allzu großer Willkür genossen zu haben. Er ließ die Tötung eines Sklaven bestrafen, falls der Besitzer nicht einen ausreichenden Grund vorzuweisen hatte.

Die eigentliche Kreuzigung wurde vom Henker der Stadt Rom, dem carnifex, und seinen Knechten vorgenommen. Ob sie den Delinquenten mit Weidenruten an ein Kreuz banden oder ihn annagelten, in jedem Fall geriet der Verurteilte in eine Haltung extremer Wehrlosigkeit, in der er nicht nur Wind und Wetter, sondern selbst kleinsten Tieren hilflos ausgeliefert war. Auch die obligatorische Entkleidung nahm ihm jeglichen Schutz. Reduziert auf das nackte, hilflose Wesen, wurde er der Gottheit als Opfer dargeboten.

Die Kreuzigung war schon vor der römischen Zeit ein Menschenopfer – wahrscheinlich an die Gottheiten der Elemente, an den mächtigen Sonnengott oder an den Windgott. Der Missetäter, der durch seine Untat den Zorn der Götter geweckt und auf die ganze Gemeinschaft gelenkt hatte, musste aus dieser entfernt werden. Schon bei den Assyrern und Babyloniern war die Kreuzesstrafe bekannt, ebenso bei den Persern, Griechen und Karthagern. Auch wenn es unterschiedliche Vorläufer der Kreuzigung gab – etwa das Fesseln an einen Felsen oder Pfahl oder das Hängen an einem Baum –, das Strafziel, die Auslieferung des Delinquenten an die göttliche Macht der Elemente, war allen gemeinsam. Und noch eines setzte sich allerorten durch: Das strenge Tabu, das auf jeder Hinrichtung lag, verbot es, das Land durch verstreut stehende Pfähle und Hinrichtungsbäume zu verunreinigen. Schon früh bildete sich deshalb die Gepflogenheit heraus, einen bestimmten Ort für die Hinrichtungen zu wählen; einen öden Ort, an dem Wind und Wetter ungehindert toben konnten. Übrigens bezeichneten die Griechen das Kreuz immer als stauros, was nichts anderes als Pfahl bedeutet, und auch bei den Römern hieß es arbor infelix, der „Unglücksbaum“, was beides deutlich auf seine Herkunft verweist.

Im Orient wurde der Pfahl dazu verwendet, den Delinquenten aufzuspießen. „Auf das Kreuz setzen“ nannten antike Autoren diese bestialische Hinrichtungsart, bei der dem Verurteilten der zugespitzte Pfahl durch den Anus in den Leib getrieben wurde. Danach richtete man den Pfahl auf und steckte ihn in die Erde. Die unglaubliche Quälerei fand erst ein Ende, wenn der Unglückliche von den natürlichen Elementen erlöst wurde. Warum aber ein Kreuz – woher kommt es? Im alten Ägypten galt es als Symbol des ewigen Lebens, in Herculaneum, dem von der Lava des Vesuvs im Jahre 79 nach Christus verschütteten Ort, wurde es schon früh als Wandzeichen entdeckt. Ein heidnisches Symbol? Erst das Christentum aber erfüllte es mit religiösem Gehalt: ein einfaches, sinnfälliges Zeichen, das Aufbruch und Nähe zu Gott symbolisiert. So ist eines der fürchterlichsten Hinrichtungsinstrumente zum Symbol von Liebe und Vergebung geworden.

Kreuz und Galgen stammen gewissermaßen von den gleichen Wurzeln. Schon im Altertum war das Hängen als Todesstrafe weit verbreitet, denn Bäume gab es überall. Hängen galt als ehrlos und schändlich, weshalb es im Mittelalter zur meistgebrauchten Todesstrafe für Diebe wurde. Wie häufig diese Strafe ausgesprochen und vollstreckt wurde, mag ein Beispiel erhellen: Als im Jahre 1471 in Augsburg die Gruben unter dem Galgen geöffnet wurden, fand man 250 Schädel von Gehenkten, während gleichzeitig noch 32 Diebe am Galgen hingen.

Zum Hängen gebrauchte man ein Hanfseil, mitunter eine Kette. An den Galgen wurden zwei Leitern angelegt, der Henker befestigte die Schlinge am Galgenhaken, dann stiegen er und der Verurteilte die Leitern hinauf. Oben angekommen, legte der Henker dem Verurteilten die Schlinge um den Hals, stieg herab und stieß die Leiter, auf welcher der Todeskandidat stand, um, so dass dieser frei in der Luft hing. Die Schlinge zog sich durch die Körperschwere zusammen, verschloss die Luftröhre und Blutgefäße, wodurch der Tod eintrat. Noch qualvoller war das Hochziehen am Galgen. Dem am Boden stehenden Verurteilten wurde die Schlinge eines längeren Seils um den Hals gelegt, das Seil über den Galgen geworfen oder durch den Galgenhaken geführt. Dann wurde der Delinquent von den Henkersknechten oder einem Pferd in die Höhe gezogen. Der Tod trat bei dieser Methode langsamer ein als beim Herabstoßen von der Leiter.

Während Enthauptete ein Begräbnis erhielten, mussten Gehängte häufig so lange am Galgen verbleiben, bis sie von allein hinunterfielen, also der Zersetzungsprozess so weit fortgeschritten war, dass der Körper zerfiel. Die heimliche Abnahme des Leichnams vom Galgen, z. B. durch Verwandte, war verboten und galt als Eingriff in das Strafritual, denn das Hängenlassen des Leichnams am Galgen war Bestandteil der Strafe. Das war auch der Grund, weshalb Hängen als ehrlos und schändlich galt. Es gab weitere Strafverschärfungen, etwa das Aufhängen an den Füßen und das Hängen gemeinsam mit Hunden. Bei Ersterem wurde der Delinquent an den Füßen mit dem Kopf nach unten aufgehängt. Der Tod trat erst nach vielen Stunden, manchmal sogar erst nach Tagen ein. Das Hängen mit Hunden war eine schimpfliche Beigabe und sollte den schlechten Charakter des Verbrechers symbolisieren.

Der Galgen des Altertums war der Ast eines Baumes. Dafür benutzte man nach Möglichkeit abgestorbene, laubfreie Bäume. Nach den religiösen Vorstellungen der damaligen Zeit ging vom leblosen Baum lebenshemmende Kraft, also Kraft zum Töten, aus. Der zum Hängen auserwählte Baum galt als Opferbaum, denn der nordische Gott Odin, Windgott und Herr über Leben und Tod, starb an einem Baum. Auch das Kreuz, an dem Christus starb, war ein künstlich geschaffener Baum. Nach damaligem Glauben nahm der Baum oder Galgen alle geheimen Kräfte des Gehenkten in sich auf, die heiligen des Geopferten (Christus) wie die bösen des Verbrechers. Daraus ist auch die Furcht vor der Berührung des Galgens zu erklären, bestand doch die Gefahr, von den in ihm schlummernden bösen Kräften ergriffen zu werden.

Im Frühmittelalter wurde die Errichtung künstlicher Galgen von Kaiser Karl dem Großen angeordnet. Meist bestanden sie aus zwei senkrecht stehenden Pfosten mit einem Querholz darüber. Später wurden dreibeinige Galgen üblich. Drei senkrechte Pfeiler standen im Dreieck und waren durch Querbalken miteinander verbunden. Oft hatte der Galgen einen erhöhten steinernen Sockel als Unterbau, oder auch die Pfosten selbst waren Steinsäulen. Es gab auch Galgen, auf deren Querbalken nochmals ein Galgen aufgebaut war, für die verschärfte Strafe des Höherhängens. So wurde bei Aburteilung einer Räuberbande der Anführer an dem erhöhten Galgen gehenkt, seine Mittäter unter ihm.

Der Galgen war das Zeichen der Hochgerichtsbarkeit. Daraus mag es sich erklären, dass er weit sichtbar auf einer Anhöhe stand und besonders dauerhaft hergestellt war. Diese Sichtbarmachung diente auch der Abschreckung. Andere Standorte waren die Heerstraße oder die Wegscheide. Die Namen von Flurstücken oder Hügeln (Galgenwiese, Galgenberg) zeugen heute noch vom Standort des Galgens.

Die Errichtung des Galgens war Sache der Obrigkeit. Weil die Berührung des Galgens ehrlos machte, weigerten sich die Handwerker oft, die notwendigen Arbeiten auszuführen, da sie von ihren Zünften deshalb bestraft oder ausgeschlossen wurden. Es kam daher zu heute merkwürdig anmutenden Gebräuchen. Damit niemand wegen seiner Mitarbeit am Bau des Galgens von anderen verunglimpft werden konnte, hatten alle Gilden und Zünfte mitzuwirken. Unter den Klängen einer Musik zogen alle gemeinsam hinaus zur Richtstätte. Die Maurer und Zimmerleute machten zwar die Hauptarbeit, die anderen aber, z. B. die Kaufleute, leisteten symbolisch Hilfe durch Zureichen von Holz oder Steinen, selbst der Richter legte mit Hand an. Am Ende ging es zurück in die Stadt zu einem gemeinsamen Mahl. Zu den reinen Kosten für den Bau kamen somit auch die Kosten für das Mahl. Alte Abrechnungen belegen, dass die Nebenkosten für Musik und Essen häufig die eigentlichen Baukosten überschritten.

Als eine Variante des Galgens ist die Garrotte bekannt, ein Würgeeisen. Dieses Strafinstrument besteht aus einem Pfahl mit daran befestigtem Sitz und Fesselungsvorrichtungen sowie einer in Halshöhe angebrachten Eisenklammer. Der Verurteilte muss sich auf dem Sitzbrett niederlassen und wird angeschnallt. Dann legt sich die Eisenklammer um seinen Hals. Durch eine Schraubvorrichtung hinter dem Pfahl kann der Henker die Klammer anziehen, die den Delinquenten schließlich erwürgt. Die Garrotte war vor allem in Spanien und in den spanischen Kolonien in Gebrauch, aber auch in Portugal sowie einigen Ländern Mittelamerikas und auf den Philippinen. In Spanien war sie seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis hinein in die allerjüngste Vergangenheit – während der Franco-Diktatur – die am häufigsten angewandte Hinrichtungsart.

Das Hängen ist die einzige und letzte der archaischen Hinrichtungsformen, die auch heute noch in zahlreichen Ländern praktiziert wird. In diesem Buch wird darauf noch verschiedentlich Bezug genommen.

Die Unterscheidung der Enthauptung vom Hängen, Verbrennen, Ertränken und lebendig Begraben bestand darin, dass nicht den Naturkräften die Tötung des Verbrechers überlassen wurde, sondern von menschlicher Hand gefertigten und geführten Instrumenten. Die alten Todesurteile verlangten bei Enthauptung ausdrücklich, dass aus dem Verurteilten zwei Stücke zu machen seien und beide Teile so voneinander getrennt werden sollten, dass ein Zwischenraum entstand, um sicherzustellen, dass der Tod auch wirklich eingetreten war. Das hierzu meistgebrauchte Instrument war das Schwert, seit dem 16. Jahrhundert in der Ausführung als Zweihänder. Seltener wurde das Beil verwendet. Die Hinrichtung mit dem Schwert verlangte dem Scharfrichter die höchste Fertigkeit ab. Mit einem einzigen Hieb musste er zwischen zwei Halswirbeln hindurchtreffen und den Kopf vom Rumpf trennen. Wie leicht konnte er danebentreffen und musste dann ein zweites Mal zuschlagen. Das Misslingen einer Enthauptung kam öfter vor, und die Rechtsordnungen rechneten auch damit, denn sie betonten häufig die Unverletzlichkeit des Henkers und stellten ihre Missachtung unter schwere Strafe.

Zeitgenössische bildliche Darstellungen von Hinrichtungen in früheren Zeiten geben einen weitaus besseren Einblick in die gehandhabte Praxis als überlieferte schriftliche Schilderungen. Sie zeigen meist folgendes Bild: Der Verurteilte kniet auf dem Erdboden oder auf einem besonderen Gerüst, die Hände gefesselt oder zum Gebet gefaltet. Das Hemd ist weit vom Hals weggezogen, der Nacken entblößt. Diese Entblößung geschah nicht nur aus der praktischen Erwägung, dass der Stoff die Wucht des Hiebes schwächen könnte, sondern auch aus rituellen Gründen. Kleider galten als persönlichkeitsverändernde Zusätze, welche die wahre Natur des Menschen verfälschen konnten. Sehr auffallend ist bei vielen Darstellungen die völlig freie Haltung des Verurteilten: kein Anbinden, kein Festhalten durch die Gehilfen des Scharfrichters. Ob dies nun von der außerordentlichen Willenskraft des Verurteilten oder von einem durch die vorher erlittenen Folterqualen völlig gebrochenen Lebenswillen zeugt, sei dahingestellt. Nach der erfolgten Enthauptung wurde früher regelmäßig, später häufig, der abgetrennte Kopf auf einer Stange oder an den Stadttoren aufgesteckt.