IMPRESSUM
Mein sündiger Herzensbrecher erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: kundenservice@cora.de |
Geschäftsführung: | Katja Berger, Jürgen Welte |
Leitung: | Miran Bilic (v. i. S. d. P.) |
Produktion: | Christina Seeger |
Grafik: | Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto) |
© 2017 by Susan Merritt
Originaltitel: „A Warriner To Protect Her“
erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe Historical Saison, Band 60
Übersetzung: Renate Körting
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A., LiuSol, HbrH, seamartini/GettyImages
Veröffentlicht im ePub Format in 08/2021
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751512824
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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1. Dezember 1813
Noch ein Monat, drei Tage und ungefähr achtzehn Stunden …
Schmerzhaft drückte sich ihr die dünne Kordel in die Handgelenke. Letty versuchte es nicht zu beachten und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Umgebung. Sie öffnete ein Auge zu einem schmalen Spalt und blinzelte durch die Wimpern. Der grauhaarige Kopf des Earl of Bainbridge hing locker zur Seite und bewegte sich ein wenig bei jeder Erschütterung der Kutsche. Seine Augen waren geschlossen, das Kinn hing schlaff nach unten. Erleichtert stellte sie fest, dass er endlich eingeschlafen war. Nun riskierte sie zum ersten Mal seit fast einer Stunde, die Augen ganz zu öffnen und vorsichtig den Kopf zu heben, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen.
Draußen war es stockfinster.
Ein gutes Zeichen.
Es bedeutete nämlich, dass sie durch menschenleeres Gebiet fuhren und meilenweit von jeder Siedlung entfernt waren. Nicht einmal Sterne konnte sie sehen, also war dieser Teil der Great North Road vermutlich von Bäumen gesäumt. Außerdem war die klapprige Kutsche von Lord Bainbridge mit großer Geschwindigkeit unterwegs, ein weiterer Hinweis darauf, dass sie weit entfernt waren vom nächsten Dorf oder einem Gasthaus. Bisher war es stets auf die gleiche Weise abgelaufen: Wenn sie sich einem Gasthof näherten, klopfte der Kutscher laut auf das Dach. Dann packte der Earl sie brutal und presste ihr zusätzlich eine knotige Hand auf den ohnehin geknebelten Mund. Mit der anderen hielt er ihr drohend ein Messer an die Kehle, bis man eilig die Pferde gewechselt hatte.
Nun schlief er, aber das Messer lag immer noch locker in der Hand auf seinem Schoß. Es würde nicht viel nutzen, wenn sie den Versuch wagte, es ihm zu entringen. Ihr wichtigstes Ziel war die Flucht. Bei ihrem letzten Versuch, sich zu wehren, hatte Bainbridge sie mit dem Handrücken so heftig auf die Wange geschlagen, dass ein blutiger Abdruck seines Siegelrings zurückgeblieben war. Nun war die Stelle neben dem Knebel geschwollen und tat weh. Sie hatte eine Ohnmacht vorgetäuscht, um sich vor weiteren Schlägen zu schützen, und sich seitdem nicht mehr gerührt. Auch wenn sie sonst nicht viel damit gewonnen hatte, gab es ihr wenigstens Zeit zum Nachdenken.
So leise und vorsichtig wie möglich, setzte sie sich auf und rückte millimeterweise immer näher an die Tür heran. Wenn sie den Griff erreichte, konnte sie sich auf die Straße fallen lassen. Falls sie das überlebte, würde sich alles Weitere finden, denn einen Plan hatte sie nicht. Doch sie wollte lieber sterben, als nach Gretna Green weiterzufahren und dort Bainbridge zu heiraten.
Der Earl begann zu schnarchen. Das Geräusch war unregelmäßig, und er konnte jederzeit erwachen. Sie durfte keine Zeit verlieren. Letty streckte die gefesselten Arme aus und warf sich verzweifelt gegen den Türgriff. Wie durch eine wunderbare Fügung gelang es ihr, die Tür zu öffnen, als die Kutsche sich gerade ein wenig zur Seite neigte. Plötzlich sprang die Tür krachend auf, und Letty wurde nach draußen geschleudert.
Unwillkürlich rollte sie sich zusammen, bevor sie aufschlug, um Kopf und Glieder zu schützen. Doch trotzdem war der Aufprall stark und schmerzvoll. Sie schnappte nach Luft und konnte vor Schmerz kaum etwas sehen. Scharfkantige Steine bohrten sich ihr in die Haut, als sie sich zur Seite rollte. Schmutziges Wasser rann ihr in die Nase und die geschlossenen Augen, die davon heftig brannten. Aus der Ferne hörte sie einen gedämpften Schrei aus der Kutsche, dann quietschten laut die Bremsen.
Sie erhob sich auf die Knie und zwang ihren geschundenen Körper, sich aufzurichten und zu bewegen. Mit letzter Kraft schleppte sie sich in den Schutz der dunklen Bäume. Dann rannte sie los, ohne auf die Richtung zu achten. Solange sie sich von der Straße wegbewegte, war es ihr unwichtig, wohin sie lief. Sie achtete nicht auf die Zweige, die ihr die Kleider zerfetzten, und es war ihr gleichgültig, dass es im Wald immer dunkler und bedrohlicher aussah. Nichts war so schrecklich wie der Gedanke, von diesem entsetzlichen Mann wieder eingefangen zu werden.
Hinter sich hörte sie immer noch wütend klingende Stimmen, doch je weiter sie sich entfernte, desto leiser wurden sie. Ohne nachzudenken, hinkte sie immer weiter, bis ihr die Lungen brannten und die Muskeln so wehtaten, dass sie kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte.
Jack hätte besser direkt nach Hause gehen sollen. Rückblickend weiß man immer alles besser. Aber es führt dazu, dass man Dinge bereut, und Jack Warriner bereute bereits genug. Was machte es schon, dass er nun nass war bis auf die Haut und kalt bis ins Mark? Im Gasthof war es schön warm gewesen, das Ale hatte geschmeckt, und er war ausnahmsweise in netter Gesellschaft gewesen. Er hatte nur auf einen Drink bleiben wollen. Nur, um den Staub der Straße aus der Kehle zu spülen und für ein paar Minuten all die Pflichten zu vergessen, die auf ihm lasteten. Danach hatte er die letzten drei Meilen nach Hause reiten wollen. Doch aus einem Drink waren drei geworden, und aus drei wurden sechs. Dann hatte der Gastwirt den Whisky hervorgeholt und irgendjemand hatte plötzlich eine Fiedel in der Hand gehabt. Bevor er sich dessen bewusst geworden war, hatte er laut mit den übrigen Gästen gesungen, mit den Füßen gestampft, in die Hände geklatscht und sich wie ein Jüngling benommen, der nicht die Last der ganzen Welt auf den Schultern trägt.
Und nun musste er für diesen seltenen Augenblick der Schwäche bezahlen. Der Regen war ungewöhnlich stark, selbst für Dezember, aber um Jacks Elend noch zu vergrößern, wurden die dicken Regentropfen vom unerbittlichen Nordostwind fast horizontal auf ihn zu gepeitscht. Direkt in sein Gesicht. Außerdem kämpfte er noch mit den unvermeidlichen Nachwirkungen von zu viel Alkohol in zu kurzer Zeit.
Zum Glück war er nur noch eine halbe Meile von zu Hause entfernt. Bald würde er sicher in dem Haus sitzen, welches sein Geld zum Frühstück verspeiste. Es war eigentlich ein stattliches Anwesen, das zu seinem vornehmen Titel gehörte. Allerdings hing es ihm auch wie ein knarrender, undichter Mühlstein um den Hals. Es war der Ort, an dem all seine Hoffnungen und Träume gnadenlos unter den schweren Stiefeln der Verantwortung zertreten wurden. Von Jahr zu Jahr versank Jack immer tiefer in Schulden. Der bloße Gedanke daran lähmte ihn und verursachte ihm leichte Übelkeit.
Vielleicht lag es aber auch an zu viel Whisky und Ale. Jack wischte sich mit dem Ärmel das tropfnasse Gesicht ab. Beinahe wäre er aus dem Sattel gestürzt, als sein Pferd sich jäh aufbäumte. Er kämpfte noch damit, das Tier wieder unter Kontrolle zu bringen, als er plötzlich die Frau sah. Geisterhaft trat sie zwischen den Bäumen hervor. Ihre Haut schimmerte gespenstisch bleich im blassen Mondlicht, und die Augen erschienen ihm riesig in ihrem Gesicht. Sie starrte ihn wortlos an. Dann floh sie, wurde allerdings am Fortkommen gehindert durch die nassen Röcke und ihr auffälliges Hinken.
In seinem durch Alkohol benebelten Zustand brauchte Jack mehrere Sekunden, bis er begriff, was er außerdem noch gesehen hatte. Einen Knebel in ihrem Mund. Gefesselte Hände. Blankes Grauen im Blick.
Sie stolperte hinkend vor ihm her auf dem schmalen holperigen Weg, der zu seinem Haus führte. Offensichtlich hatte sie Angst um ihr Leben. Wenn man ihren Zustand bedachte, hatte sie wohl nicht unrecht damit. Endlich überwand Jack seine Trunkenheit so weit, dass er sein Pferd gezielt auf sie zu lenkte.
„Miss! Warten Sie! Ich will Ihnen nichts tun.“ Der Wind riss ihm die Worte aus dem Mund.
Als er bei ihr war, beugte sich Jack tief aus dem Sattel und fasste sie am Arm. Sie drehte sich um und versuchte verzweifelt, sich aus seinem Griff zu befreien. Wie ein in die Enge gedrängtes kleines Tier suchte sie einen Ausweg.
„Ich will Ihnen nichts antun.“
Ihre Gegenwehr wurde schwächer, und er merkte, dass ihr die Kräfte schwanden. Es würde ihr nicht helfen, wenn er sie anschrie.
„Ich will Ihnen helfen“, sagte er ruhig und sah, dass sie die Augen zukniff bei seinen Worten. Zum Beweis für seine Aufrichtigkeit ließ er ihren Arm los und hielt die Hände hoch, als ergäbe er sich. Auf der Stelle versuchte sie zu entkommen, aber er machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. Er hatte das Richtige getan, denn sie zögerte. Drehte sich um. Mit ihren großen Augen schaute sie ihn intensiv an. Sie schien tief in sein Inneres zu blicken, um herauszufinden, ob er vertrauenswürdig war. Dann verlor sie offenbar alle Kraft und Entschlossenheit und glitt zu Boden.
Gerade noch gelang es Jack, ihren Arm wieder zu ergreifen, bevor sie ganz zusammenbrach. Er musste seine gesamte, nicht unbeträchtliche Kraft aufwenden, um ihr lebloses Gewicht vor sich auf den Sattel zu ziehen. Er hielt sie schützend umfangen. Ihre feuchte Haut war eiskalt und er fragte sich, wie lange sie wohl schon hier draußen dem kalten Winterwetter ausgesetzt gewesen war. Sie fühlte sich so zerbrechlich in seinen Armen an. So kostbar.
Er versuchte, ihr den Knebel aus dem Mund zu ziehen, aber er schaffte es nicht. Vollgesogen mit Regenwasser hatte sich der Knoten noch fester zusammengezogen. Derjenige, der ihr das angetan hatte, war sehr brutal vorgegangen. Aus der Nähe sah Jack jetzt auch die Schwellungen in ihrem Gesicht. Ihre Lippe blutete und war geschwollen. Offenbar war sie misshandelt und gefesselt worden.
Sie war allein, nur mit einem beschmutzten und tropfnassen, ärmellosen Seidenkleid bekleidet, blindlings mitten in der Nacht einen einsamen Pfad entlanggestolpert. Also war sie wahrscheinlich auf der Flucht. Und das bedeutete, die Leute, die sie gefangen gehalten hatten, waren wahrscheinlich noch auf der Suche nach ihr. Diejenigen, die diese zerbrechliche Frau geschlagen und gefesselt hatten, würden vermutlich nicht so schnell aufgeben und vor nichts haltmachen, um sie wieder in die Hände zu bekommen. Wer auch immer sie war, sie brauchte seine Hilfe.
Ohne zu zögern, trieb Jack das Pferd zum Galopp an. Mit einer Hand hielt er die Zügel, mit der anderen drückte er seinen bewusstlosen Passagier an sich. Er beachtete den stechenden Wind und Regen in seinem Gesicht nicht mehr. Es war nur noch wichtig, sie nach Hause und in Sicherheit zu bringen. Markham Manor brauchte zwar dringend ein neues Dach, aber wenigstens hatten seine missliebigen Vorfahren so viel gesunden Menschenverstand gehabt, es mit einer zwanzig Fuß hohen Mauer und zwei ebenso hohen, tonnenschweren Toren zu versehen. Er hatte das Gefühl, dass die Warriners dies zum ersten Mal seit zweihundert Jahren brauchen könnten.
Noch ein Monat, drei Tage und ungefähr sechzehn Stunden …
Jack trug den schlaffen Körper in die Eingangshalle und rief mit lauter Stimme nach seinen Brüdern. Da sie gewohnt waren, auf seinen Befehlston sofort zu reagieren, erschienen sie nacheinander auf dem Treppenabsatz. Zuerst kam Joe, der Zweitjüngste, vier Jahre jünger als Jack. Ihn wollte er besonders dringend sehen, weil er medizinische Erfahrung hatte. Sein Bruder warf nur einen Blick auf die Frau. „Ich hole meine Sachen.“ Und er verschwand wieder.
Dann kam Jacob, der Jüngste, die Treppe hinunter. Seine dunklen Haare waren zerzaust, und er rieb sich verschlafen die Augen. Dicht hinter ihm folgte Jamie, sein nächstälterer Bruder. Beide Männer eilten sofort zu Jack, als sie das Bündel in seinen Armen sahen.
„Was zum Teufel …?“
Jacob blieb auf der untersten Stufe stehen und starrte erstaunt die Frau an. Dann folgte er seinem Bruder in den großen Saal, der ihnen trotz der hohen Decken als Wohnraum diente. Jack hatte sie bereits auf ein Sofa gelegt, als Jamie endlich hinkend ankam. Bis zu seiner Verwundung war er ein hervorragender Soldat gewesen. Er erfasste die Situation sofort.
„Wo hast du sie gefunden?“
„Sie tauchte einfach so mitten auf dem Weg auf. Da war sie aber noch bei Bewusstsein.“ Er war besorgt, weil sie schon seit zwanzig Minuten ohnmächtig war. Im trüben Lampenschein hatte ihre Haut unter all dem Schmutz eine graue Färbung angenommen. Das verhieß nichts Gutes.
„Irgendwelche Hinweise darauf, wer ihr das angetan hat?“, fragte Jamie.
Jack schüttelte den Kopf. „Aber draußen wütet noch der Sturm. Wahrscheinlich hätte ich auch eine Armee nicht gehört. Sichere das Haus!“
Jamie befolgte sofort Jacks Befehl und wandte sich an Jacob. „Hol mir den Säbel und die Pistolen aus meinem Schlafzimmer und besorge dir selbst auch etwas. Wir müssen die Tore schließen.“
Die beiden Brüder waren schon gegangen, als Joe mit seiner medizinischen Ausrüstung zurückkam. Obwohl sie kein Geld gehabt hatten, um ihn dieses Jahr wieder zurück zur Universität zu schicken, hatte Joe hartnäckig weiterstudiert. Er hatte die vage Hoffnung, eines Tages doch noch seine Ausbildung zum Arzt abschließen zu können. Das war seit frühester Kindheit sein Wunsch gewesen. Es gab nichts über den menschlichen Körper, was er nicht wusste. Jack durchschnitt und entfernte vorsichtig den Knebel und die Fessel an den Handgelenken der Frau, dann kniete sich Joe neben sie, um sie zu untersuchen.
„Sie ist stark unterkühlt, Jack! Wir müssen sie unbedingt aufwärmen.“ Joe wühlte in seiner Tasche, bis er eine Schere fand, und schnitt das Kleid der Frau vom Saum nach oben auf.
„Was machst du da?“, rief Jack, dem es irgendwie übertrieben vorkam, das arme Mädchen nun auch noch auszuziehen.
„Wir müssen sie aus den nassen Kleidern holen und abtrocknen, Jack, sonst können wir sie nicht aufwärmen. Hypothermie kann tödlich enden. Hol ein paar Decken.“
Dieses Mal tat Jack, was von ihm verlangt wurde. Sein jüngerer Bruder mochte sich ihm sonst in allen anderen Angelegenheiten unterordnen, aber in dieser Situation musste er Joe vertrauen. Nur er konnte der Fremden helfen. Außerdem hatte Jack nur sehr geringe medizinische Kenntnisse. Er hatte keine Ahnung, was Hyper-Was-auch-immer bedeutete. Doch er hielt es für moralisch verwerflich, daneben zu stehen, während man sie ihrer Kleidung entledigte. Joe hatte keine Zeit verschwendet und untersuchte sie bereits, als Jack zurückkam. Den Körper seiner Patientin hatte er sorgfältig mit einem Umhang bedeckt.
„Ich glaube, dass keine Knochen gebrochen sind, obwohl man es nicht mit Sicherheit sagen kann, solange sie noch bewusstlos ist. Sie hat Schnittverletzungen und Blutergüsse am ganzen Körper, siehst du?“
Jack reichte ihm die Decken und schaute sich die unbedeckten Arme und Unterschenkel des armen Mädchens an. Sein Bruder hatte recht. Verschmutzte Schnitt- und Schürfwunden bedeckten ihre bleiche Haut. „Sieh dir diese Prellungen an.“ Joe zeigte auf den linken Arm. „Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie ist irgendwo runtergestürzt und hart auf ihrer linken Seite gelandet. Wenn man die Größe und Färbung der Prellung betrachtet, ist es ein Wunder, dass ihr Arm und das Schlüsselbein bei dem Aufprall nicht zersplittert sind. Einige Wunden sind ziemlich tief. Auch der Riss in ihrer Lippe ist schlimm. Und ihre Handgelenke sind tief aufgescheuert von der Fessel. Es sind alles üble Wunden, und sie könnten sich entzünden. Sie muss stundenlang gefesselt gewesen sein. Ich muss erst einmal alles gründlich säubern.“
Jack war zum Krankenpfleger abgestiegen. Er holte einen Eimer heißen Wassers nach dem anderen, marschierte hin und her zwischen Küche und Saal und überließ es seinem Bruder, alles Notwendige zu tun, obwohl er sich dabei überflüssig fühlte. Nachdem Joe alle Schmutzschichten entfernt hatte, stellte er erstaunt fest, es sei ein Wunder, dass die Frau nicht stärker verletzt war. Doch sie hatte immer noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt, und ihre leichenblasse Farbe war auch noch nicht von ihr gewichen. Trotz der Hitze des prasselnden Feuers, und obwohl sie unter einem Haufen Decken lag, schien ihre Kerntemperatur nicht zu steigen. Ihre geschwollenen Lippen waren immer noch bläulich verfärbt, ihre Hände und Füße kalt wie Eis.
„Sie muss stundenlang draußen in der Kälte gewesen sein, Jack. Ich bin besorgt, dass sie tatsächlich Hypothermie hat. Sie atmet nur noch sehr flach, und ihr Puls geht sehr langsam.“
„Was kann ich tun?“ Es musste einen Weg geben. Die Vorstellung, sie könnte in dieser Nacht in seinem Hause sterben, war entsetzlich, nachdem er alles getan hatte, um sie zu retten. Er hatte das blanke Grauen in ihren Augen gesehen.
„Du kannst deine Körperwärme mit ihr teilen, Jack. In der Zwischenzeit versorge ich ihre anderen Verletzungen.“
„Meine Körperwärme teilen?“ Es hörte sich abwegig an, aber Joe hatte schon früher recht behalten. „Wie genau soll ich das tun?“
„Halte sie auf deinem Schoß wie ein Kind.“ Joe fasste vorsichtig unter ihre Achseln und entblößte ihren nackten Rücken. Sie wickelten die Decke um sie wie bei einem Baby, und Jack setzte sich so hin, dass er sie auf seinem Schoß halten konnte.
Es war gut und schön, wenn Joe ihm sagte, er solle sie wie ein Kind halten. Doch es war sehr offensichtlich, dass sie kein Kind mehr war. Sie war zu groß, darum bedeckte sein Bruder ihre Beine mit Decken, um sie anzuwärmen, während Jack ihre Arme rieb, um Wärme darin zu erzeugen. Ihr Rücken und Hinterteil waren so eisig, dass er die Kälte durch die Decken und seine Kleidung hindurch spürte. Wenn sie nicht geatmet hätte, hätte er glauben können, eine Tote im Arm zu halten. Schützend drückte er sie an sich und hielt sie fest, in der Hoffnung, dass sie die dringend benötigte Wärme aufnehmen würde. Er wiegte sie, sein Bruder trocknete ihr die nassen verfilzten Haare und wickelte ihr dann auch noch eine Decke um die Schultern.
„Wenn sie wach wäre, könnte ich ihr etwas zu trinken geben. Warme Milch oder Tee würden sie von innen erwärmen.“ Erschüttert fuhr Joe mit den Händen durch seine dichten schwarzen Haare. „Ich gehe kurz in die Küche. Vielleicht könnte ich versuchen, ihr mit dem Löffel etwas einzuflößen. Was meinst du?“
Jack zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, was man noch tun konnte. Außerdem befand er sich unter dem Mädchen und konnte seinem Bruder schwerlich helfen. Dieser hilflose Zustand gefiel ihm gar nicht. Er hasste es, sich nutzlos zu fühlen. Normalerweise hatte er immer alles unter Kontrolle. Und nun konnte er nichts anderes tun, als sie in den Armen zu halten und ihr Gesicht nach Anzeichen abzusuchen, dass sie noch lebte. Während er darauf wartete, dass Joe aus der Küche kam, kehrten seine beiden anderen Brüder zurück. Sie sahen aus, als wären sie gerade in einem Hurrikan unterwegs gewesen.
„Nur ein Irrer ist bei diesem Wetter draußen!“, sagte Jamie und schüttelte den Regen ab. „Aber die Tore sind verriegelt und wir haben niemanden auf der Straße gesehen. Wenn jemand hier auftaucht, werden wir abstreiten, je von deiner geheimnisvollen Maid gehört zu haben, bevor wir nicht wissen, was zum Teufel eigentlich hier los ist. Wie geht es ihr?“ Er humpelte, offenbar unter Schmerzen, zum Sofa und schaute auf das stille Bündel in Jacks Armen.
„Joe hat sie, so gut wie unter diesen Umständen möglich, zusammengeflickt. Nun müssen wir sie aufwärmen.“
Jamies Kommentar war nicht sehr aufbauend. „Ich habe viele Männer sterben sehen, nachdem sie den Elementen ausgesetzt waren. Wenn sie aufhören zu zittern, muss man sich wirklich Sorgen machen. Zittert sie?“
Sie tat es nicht. Jack wollte nicht darüber nachdenken, was dies bedeutete. „Sie wird nicht sterben!“ Nicht, wenn er es verhindern konnte. „Joe holt gerade warme Milch.“ Als wäre Milch eine magische Medizin, von der bislang noch niemand gehört hatte, und die auf wunderbare Weise ein armes, halb erfrorenes Mädchen retten konnte. Sie war so still und so erschreckend bleich, dass sie aussah, als wäre ihre Haut aus Alabaster. Er musste an die Angst in ihren großen Augen denken, als sie ihm begegnet war. Hoffentlich waren diese schrecklichen Minuten nicht die letzten, an die sie sich erinnern würde. „Ich kenne nicht einmal ihren Namen.“
Jacob hatte bisher noch nichts gesagt. Nun ging er zu dem Haufen ihrer nassen Kleider auf dem Boden und begann sie zu durchsuchen.
„Sie war doch nicht in der Armee, du Trottel“, sagte Jamie abfällig. „Ich glaube nicht, dass Rang, Nachname und Nummer in ihren Unterröcken steht.“
„Du würdest staunen, was Ladys alles in den Unterröcken aufbewahren.“ Jacob schaute nicht auf. „Obwohl – um das zu wissen, müsstest du wissen, wie man Ladys bezaubert, Jamie, und das tust du nicht.“ Er hockte sich hin und wedelte triumphierend mit einem kleinen Stück bestickten Stoffes. „Ich hingegen bin sehr charmant. Sie heißt Letty.“ Er knüllte das feuchte Tuch zusammen und warf es Jamie an den Kopf. „So steht es auf ihrem Taschentuch.“
Jack streichelte ihr mit dem Zeigefinger sanft über die Wange und beschwor sie aufzuwachen. „Letty. Letty. Liebes, kannst du mich hören?“
Letty. Letty. Liebes, kannst du mich hören?
Sie erkannte die melodische Stimme nicht, aber sie klang beruhigend, obwohl sie einem Fremden gehörte. Es war nicht Bainbridge und auch nicht ihr Onkel. Das allein zählte. Letty versuchte, die Augen zu öffnen, aber ihre Lider gehorchten ihr nicht. Sie war so unglaublich müde. So müde, dass sie keine Kraft hatte, Furcht zu empfinden. Etwas zog sie nach oben zu einem Ort, den sie erreichen wollte, aber etwas, jemand, hielt sie zurück und ließ nicht zu, dass sie davonschwebte. Sie war eingesponnen wie in einen Kokon, nicht eingekerkert. In Sicherheit.
Sie spürte, dass ihr etwas Warmes die Kehle hinabrann. Sie schmeckte es nicht. Starke Arme hielten sie. Mehr von der warmen Flüssigkeit. Letty. Versuche zu schlucken, Liebes. Liebes? Das klang schön. Noch nie hatte jemand sie so genannt. Wir müssen dich aufwärmen. Nun fiel ihr auf, dass ihr kalt war. So kalt, dass ihr ganzer Körper schmerzte. Nicht überraschend nach allem, was ihr zugestoßen war. Bainbridge. Die Kutsche. Der Wald.
Angst stieg in ihr auf. Hatten sie sie gefunden? Sie zwang sich, die Augen zu öffnen und blickte in tiefblaue Augen. Du bist in Sicherheit, Letty. Schöne Augen. Besorgt blickende Augen. Beruhigende Augen. Ich kümmere mich um dich, Liebes, das verspreche ich dir. Die tiefe melodische Stimme sprach ihr direkt ins Ohr. Sie seufzte. Mehr Kraft hatte sie nicht, und ihre Augenlider fielen wieder zu. Der quälende Knebel war weg. Und er hielt sie fest.
Es gab schlimmere Wege abzutreten.
Noch ein Monat und ein Tag …
Letty hatte im Traum das Gefühl zu fallen. Mit einem Ruck wachte sie auf und brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Es war heller Tag. Zwei Paar sehr ähnlich aussehender Augen schauten auf sie herab. Sie bekam Angst und wollte schreien, aber es kam nur ein erstickt klingendes Wimmern aus ihrem Mund.
„Sch-sch …“, sagte das eine Augenpaar freundlich. „Alles in Ordnung. Sie sind hier in Sicherheit.“
Das Gesicht konnte sie nur unscharf erkennen. Dunkle Haare. Lächeln. Daneben stand ein Mann, der ihm auffallend ähnelte. Sie waren ganz sicher verwandt. Das gleiche dunkle Haar, die gleichen tiefblauen Augen, doch er sah sie offenbar missbilligend an. Diese Augen erkannte sie.
„Mein Bruder hat Sie draußen gefunden und gerettet“, sagte der lächelnde Mann und streichelte eine ihrer Hände. „Sie hatten hohes Fieber und viele Verletzungen, aber wie durch ein Wunder haben Sie sich schnell und gut erholt. Nun brauchen Sie nur noch Ruhe. Geben Sie Ihrem Körper Zeit zu heilen. In wenigen Tagen werden Sie wieder ganz gesund sein.“
Letty wollte sprechen, um zu fragen, wo sie war. Ihr Mund fühlte sich jedoch an, als wäre er mit Watte gefüllt, und sie konnte die Zunge nicht bewegen. Sie schaute zu dem stirnrunzelnden Mann, aber er schaute weiter mürrisch drein, bis der lächelnde Mann ihm einen Stoß in die Rippen gab. Nun schien er sich auch zum Lächeln zu zwingen, allerdings erreichte es nicht seine Augen. Letty wusste nicht recht, ob er mitleidig war oder ärgerlich.
„Warum sind Sie gefesselt im Wald herumgeirrt?“ Er schaute sie fragend an.
Doch ihre dumme Zunge gehorchte ihr immer noch nicht, und sie brachte nur ein unverständliches Gurgeln hervor.
„Lass sie in Ruhe, Jack. Du kannst das arme Mädchen verhören, wenn es ihr besser geht.“
Verhören? Waren diese Männer etwa auch ihre Feinde? Sie kannte keinen von beiden – doch das bedeutete nicht, dass sie nicht für einen ihrer Feinde arbeiteten.
„Hier, Letty, nehmen Sie diese Medizin. Sie wird Ihnen helfen zu schlafen.“
Sie konnte sich nicht wehren, als der Löffel ihr gegen die Lippen gedrückt wurde, aber sie erkannte den bitteren Geschmack der Flüssigkeit. Laudanum. Das hatte ihr Onkel ihr auch gewaltsam eingeflößt. Letty wehrte sich nach Kräften. Zu ihrem Erstaunen kam ihr der missmutige Mann zu Hilfe. Derjenige mit den wohlbekannten tiefblauen Augen.
„Lass es sein, Joe. Wenn sie es nicht will, solltest du sie nicht dazu zwingen“, sagte er im Befehlston.
Sofort zog sich der junge Mann zurück, aber er machte ein besorgtes Gesicht. „Ich will ihr nur die Schmerzen ersparen, Jack. Sie braucht Schlaf.“
Offenbar waren aber bereits genügend Tropfen der Flüssigkeit in ihre Blutbahn gelangt, denn plötzlich wurden ihr die Augenlider sehr schwer. Sie spürte wieder eine Hand auf ihrem Gesicht, und sie wusste sofort, wessen Hand es war. Sie mochte die Berührung dieses Mannes.
„Braves Mädchen. Schließe die Augen, Liebes. Alles kommt in Ordnung …“
Als die das nächste Mal erwachte, war es immer noch dunkel im Zimmer, aber sie konnte trotzdem ein wenig sehen. Allerdings war es immer noch ein Problem, die Augen zu öffnen. Das linke Lid wollte nicht aufgehen. Das Zimmer war ihr fremd, aber das Bett war warm und bequem. Und jeder Knochen im Leib tat ihr verteufelt weh.
Die einzige Beleuchtung im Raum kam von der einzelnen Kerze auf dem Nachtschränkchen und vom Mondlicht, das durch die vorhanglosen Fensterscheiben schien. Letty testete ihre Arme und stellte fest, dass sie sie wieder bewegen konnte. Doch deutliche Verletzungen an den Handgelenken bereiteten ihr noch Schmerzen. Mit der rechten Hand befühlte sie den linken Arm und stellte fest, dass sie einen Verband am Handgelenk trug und einen weiteren am Oberarm. Als sie sich aufsetzen wollte, begann sich alles um sie zu drehen und ihr Kopf schmerzte noch mehr.
Letty betastete ihr Gesicht und die geschwollene Lippe. Alles war noch druckempfindlich, obwohl die Verletzung von Bainbridges Siegelring inzwischen fast verheilt war. Also musste sie viele Stunden geschlafen haben. Oder sogar Tage? Sie ertastete eine Schwellung, die heiß war und wehtat und sich über ihre vordere Stirn und das linke Auge erstreckte. Das Lid fühlte sich dick an. Darum bekam sie also das Auge noch nicht auf. Sicher sah sie zum Fürchten aus. Ihre Haare waren voller Sand und getrocknetem Schlamm. Außerdem war sie unglaublich durstig.
Einige Minuten lang blieb sie ruhig liegen und überlegte, was sie nun tun sollte. Außerdem musste sie sich an die unbekannte Umgebung gewöhnen. Das Zimmer war karg eingerichtet. Ein schlichter Mahagonitisch stand an einer Wand und ein dazu passender großer Kleiderschrank an der Wand gegenüber. Der kleine Nachttisch und das Bett waren die einzigen anderen Möbelstücke. Die schweren Vorhänge an den bleiverglasten Fenstern waren geöffnet und ermöglichten ihr den Blick auf den Nachthimmel. Sie hörte stetiges Regenprasseln. Also hatte sich das grässliche Wetter noch nicht gebessert. Das Fenster war geschlossen, aber nicht vergittert oder verriegelt. Das war ein gutes Zeichen – es sei denn, sie war so hoch oben im Gebäude, dass eine Flucht aus dem Fenster ohnehin unmöglich war. Wände und Zimmerdecke machten den Eindruck, sehr alt zu sein.
Letty schaute sich im Zimmer nach weiteren Hinweisen um. Der Boden war von einem einzelnen großen Teppich bedeckt, der zwar alt, aber von guter Qualität zu sein schien. Es gab keine Bilder oder andere Kleinigkeiten, wodurch der Raum sehr unpersönlich aussah. Es war niemand da, der ihr hätte helfen können, die Zimmertür stand jedoch offen. Wenn man sie hier gefangen halten würde, hätte man sie wohl kaum unbewacht und bei offener Tür zurückgelassen. Vielleicht war sie ja doch endlich in Sicherheit?
Sehr langsam brachte Letty sich in eine aufrechte Position. Zwischendurch musste sie immer wieder eine Pause machen, um die Übelkeitswellen vorübergehen zu lassen. Ihre linke Schulter schmerzte stark, das Handgelenk ebenfalls, und auch der linke Fußknöchel war noch empfindlich. Doch davon abgesehen, hatte sie die Flucht bemerkenswert gut überstanden. Wenn sie den guten Arm ausstreckte, konnte sie den Rand des Bechers auf dem Nachtschränkchen erreichen. Mithilfe der Füße schob sie sich immer weiter nach vorn, bis sie mit Finger und Daumen den oberen Rand des Bechers zu fassen bekam. Doch ihre Kraft reichte nicht, um ihn festzuhalten, er entglitt ihr und landete krachend auf dem Holzboden, wo die kostbare Flüssigkeit auslief.
Plötzlich hörte sie Geräusche vom Boden an der anderen Bettseite her. Dann tauchte der Kopf eines Mannes auf. Er schaute sich offenbar leicht verwirrt um und strich sich dann mit einer Hand über das Gesicht und durch die zerzausten dunklen Haare. „Sie sind wach!“, sagte er mit verschlafen klingender Stimme.
„Entschuldigung“, krächzte sie. „Ich habe den Becher fallen gelassen.“ Letty erkannte in ihm keinen ihrer Entführer, aber er kam ihr irgendwie vertraut vor. Dann erinnerte sie sich an ihn als denjenigen, der seinen Komplizen davon abgehalten hatte, ihr Laudanum aufzudrängen.
„Ist schon in Ordnung.“ Etwas ungelenk stand er vom Boden auf und ging um das Bett herum. Er war groß und breitschultrig und mochte etwas älter sein als sie, aber nicht viel. Er goss ihren Becher wieder voll und setzte sich dann neben sie auf das Bett. Das Getränk gab er ihr vorsichtig in die gute Hand, wobei er seine warme Hand um ihre klammen Finger legte. Letty trank gierig alles aus. Sofort schenkte er ungefragt nach. „Es ist das Laudanum“, erklärte er rau. „Mein Bruder sagte mir, es würde Sie durstig machen.“
Sie wusste nicht, woher der Bruder das wusste, aber er hatte recht. Letty konnte sich nicht erinnern, jemals so durstig gewesen zu sein. Den zweiten Becher trank sie jedoch langsamer aus, weil sie sich von dem Mann beobachtet fühlte. Selbst in zerknitterter Kleidung war er sehr ansehnlich, doch ganz anders als die Männer des ton, die sie kannte. Seine Hände zeigten Spuren harter Arbeit.
„Ich heiße Jack Warriner, falls es Sie interessiert.“
Jack Warriner verbrachte sicher viel Zeit im Freien. Selbst im schwachen Licht der Kerze sah sie, dass seine Haut gebräunt war. Doch er sprach nicht wie ein einfacher Mann, seine Wortwahl war die eines Gentlemans. Das offene weiße Leinenhemd betonte seine breiten Schultern und starken Arme. Sein Hals würde in einem hohen Kragen, wie er zurzeit in der Gesellschaft in Mode war, sicher eingeengt aussehen. Doch welcher vermögende Gentleman würde neben dem Bett einer verletzten Fremden auf dem Boden schlafen? So eine beschwerliche Aufgabe würde jeder andere einem Bediensteten übertragen. Es sei denn, er war ihr Bewacher und wollte sie nur in Sicherheit wiegen …
Letty schaute ihn misstrauisch an, während sie die letzten Wassertropfen trank, und reichte ihm den Becher zurück.
„Noch etwas?“, fragte er und hob den irdenen Krug hoch, doch sie schüttelte vorsichtig den Kopf. „Sie haben uns einen tüchtigen Schrecken eingejagt, Letty.“ Woher wusste er, wie sie hieß? „Ich habe Sie auf der Straße aufgelesen, und danach fielen Sie in Ohnmacht, zweifellos aufgrund der vielen Verletzungen und der Kälte. Seit Sie hier sind, haben Sie tief geschlafen. Mein Bruder Joe befindet sich in der Ausbildung zum Arzt. Er hat ihre Verletzungen behandelt. Sie verdanken ihm vermutlich Ihr Leben.“ Seine Sprechweise war ruhig und sachlich. „Können Sie sich erinnern, was passiert ist? Warum Sie gefesselt und geknebelt allein durch den Wald irrten?“
Bevor sie seine Fragen beantwortete, brauchte sie erst selbst ein paar Antworten. Ihr Onkel war nicht dumm. Er würde eine ansehnliche Summe für ihre Ergreifung anbieten, denn seine eigene Zukunft hing davon ab, dass sie den widerlichen Bainbridge ehelichte. Und wenn der Earl sie fand … nun, sie wusste ja bereits, wie grausam er sein konnte. Sie gab vor, noch nachdenken zu müssen, und schüttelte dann wieder den Kopf. Die Bewegung löste eine neue Welle von Übelkeit aus.
Er bemerkte es und sagte: „Liegen Sie still und versuchen Sie, den Kopf nicht allzu viel zu bewegen.“
„Ich danke Ihnen, Sir. Sie sind sehr freundlich.“ Letty versuchte zu lächeln und hoffte, er würde nicht merken, wie misstrauisch sie war.
„Sie können mich Jack nennen“, sagte er und wedelte mit der Hand, „so wie alle anderen.“ Er zog ein wenig die Mundwinkel hoch – eine Abwechslung zu seiner ständig mürrischen Miene –, aber ein Lächeln war es noch nicht. Dann fragte er: „Möchten Sie noch etwas Medizin?“
Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie das Laudanum nahm, würde sie wieder in Dunkelheit versinken und die Kontrolle verlieren. Außerdem – falls sie schnell von hier fliehen wollte, musste sie alle Sinne beisammenhaben. Und sie musste ihre Flucht planen.
„Können Sie mir verraten, wo ich bin, … Jack?“
Obwohl es eigentlich nicht schicklich war, setzte er sich wieder neben sie auf die Matratze und seufzte. „Sie sind in meinem Haus, in Markham Manor. Im tiefsten, dunkelsten, kältesten Nottinghamshire. Das nächste Dorf heißt Retford und ist drei Meilen entfernt von hier, aber wenn Sie in eine richtige Stadt wollen, müssten Sie nach Lincoln fahren.“ Also befand sie sich im Norden von England. Noch weit weg von Gretna Green. „Ich habe Sie etwa eine Meile von hier im Wald gefunden, völlig durchnässt und durchgefroren. Sie müssen einige Stunden lang dem Sturm ausgesetzt gewesen sein, bevor ich zufällig des Weges kam. Da ich nicht weiß, wo Sie herkamen, und niemand sich nach Ihnen erkundigt hat, können wir wohl davon ausgehen, dass diejenigen, die Sie gefesselt haben, Ihre Spur verloren haben. Mein Bruder Jamie hat vorsichtshalber alles verbarrikadiert, falls jemand Sie suchen kommt, und wechselt sich mit meinem jüngsten Bruder Jacob in der Bewachung ab. Sie sind hier also sicher.“
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund glaubte Letty ihm. Sie hatte es also geschafft! Sie war Bainbridge entkommen und versteckte sich nun in einem Haus. Ihre Erleichterung musste offensichtlich sein. Er warf ihr einen fragenden Blick zu. Offenbar glaubte er ihre jämmerliche Behauptung nicht, dass sie sich an nichts erinnerte.
„Welcher Tag ist heute?“ Sie hatte noch eine Hoffnung, nämlich, dass inzwischen viel Zeit vergangen war.
„Mitternacht ist vorbei, also muss es Freitag sein.“
Letty riskierte noch ein vorsichtiges Kopfschütteln. Diese Information genügte ihr nicht, um die verbleibende Zeit abzuschätzen. „Welches Datum?“
Er schaute sie mit einem durchdringenden Bick an. Sie hatte das unbequeme Gefühl, er wisse, dass sie log. „Wie gesagt, Mitternacht ist vorbei, also müsste heute der vierte sein.“
„Ich verstehe.“
„Sie haben mich nicht nach dem Monat gefragt, also nehme ich an, Sie wissen doch noch etwas. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht an das Geschehene erinnern?“
Letty senkte den Blick. Dieser Mann hatte ihr bisher nichts als Freundlichkeit erwiesen, darum war es ihr unangenehm, ihn anzulügen. Doch sie hatte schließlich keine Garantie, dass er nicht von einem Lösegeld in Versuchung geführt werden könnte, darum blieb ihr keine Wahl.
„An den Unfall selbst kann ich mich nicht erinnern.“ Selbst in ihren eigenen Ohren klang es unglaubwürdig.
„Erinnern Sie sich an Ihre Familie, Letty? Kann ich jemanden über Ihre missliche Lage informieren?“
Letty wäre lieber gestorben, als ihm die Wahrheit zu gestehen. Wenn ihr Onkel von ihrem Aufenthaltsort erfuhr, war es aus mit ihr. Ihr Leben wäre dann vorbei, und zwar sehr bald, sollte das abscheuliche Komplott ihres Onkels mit dem Earl of Bainbridge in den nächsten paar Wochen umgesetzt werden. Koste es, was es wolle – sie musste bis dahin untertauchen. Sie schüttelte wieder den Kopf. „Leider nicht … Mir ist ganz schwindlig.“
Das stimmte zwar, aber sie hatte es nur gesagt, damit er sie nicht weiter ausfragte. Sie konnte nicht gut lügen. Ihre Eltern hatten es immer gemerkt, wenn sie es versuchte. Für den Fall, dass er in ihrem Blick lesen konnte, schloss Letty seufzend die Augen. Doch sie sah noch die Skepsis im intelligenten Blick seiner blauen Augen. „Vielleicht hilft es, wenn ich noch ein wenig schlafe“, murmelte sie und versuchte ihr Möglichstes, um nur erschöpft zu klingen. Sie spürte, dass er sich vom Bett neben ihr erhob.
„Ich hole besser meinen Bruder, damit er Sie sich noch einmal anschaut. Sie sind sehr krank.“
„Es ist nicht nötig, ihn um diese späte Stunde zu wecken. Ich habe Ihnen und Ihrer Familie schon mehr als genug Unannehmlichkeiten bereitet. Ich glaube, ich schlafe lieber noch ein paar Stunden.“