Alida Leimbach

Ostfriesenkind

Roman

Impressum

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1. Auflage 2016

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Riekes Vater/photocase.de, © LianeM/Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5158-4

Zitat

In 20 Jahren wirst du die Dinge, die du nicht getan hast, mehr bedauern als deine Taten.

Also, mach die Leinen los, verlasse den sicheren Hafen.

Fang den Wind in deinen Segeln, erforsche, träume, entdecke.

Mark Twain

Widmung

Für meine ostfriesischen Verwandten

Eins

August 2012

»Ist das Bild neu?«

Leni fuhr zusammen und ließ die Blechdose mit dem Ostfriesentee fallen. Von der offenen Küche aus konnte sie ihre Tochter sehen. Kirstin hatte ihren Sofaplatz verlassen und stand nun direkt vor dem Gemälde, das Leni erst vor wenigen Tagen aufgehängt hatte. Sie hatte es beim Entrümpeln auf dem Dachboden entdeckt und probeweise gegen das Aquarell mit den Sonnenblumen ausgetauscht, das sonst an der Stelle gehangen hatte. Und dann hatte Kirstin plötzlich vor der Tür gestanden, unangemeldet, mit einem Blumenstrauß in der Hand. Sie habe beruflich in der Gegend zu tun und wolle nur kurz vorbeischauen.

Mit zittrigen Händen hob sie die Dose auf, füllte den Teekessel mit Wasser und stellte den Herd an. »Ach, die ›Frau auf rosa Diwan‹«, sagte sie beiläufig. »Ein Maler hat es mir mal geschenkt. Ist lange her.«

»Warum kenne ich es nicht?« Kirstin trat einen Schritt zurück, um das Bild besser begutachten zu können.

Eine junge Frau lag auf einem rosafarbenen Sofa. Ihre Körperhaltung war entspannt, ein Bein angewinkelt. Sie trug ein hellblaues, leicht durchscheinendes Unterkleid mit schmalen Trägern und Spitzenbesatz, das ihr bis zu den Oberschenkeln reichte. Die Frau war barfuß. Die langen, braunen Haare fielen ihr seidig glänzend über die Schultern.

»Das hängt schon ewig da«, behauptete Leni. »Vermutlich ist es dir einfach nicht aufgefallen.«

»Das kann nicht sein. So ein Bild? In dieser Umgebung? Das hätte ich nicht übersehen!«

Leni wand sich. »Ich irre mich auch manchmal.«

»Mir gefällt es übrigens. Die Frau wirkt stark und zugleich geheimnisvoll. Sie zeigt sich, gibt aber nicht alles von sich preis. Das ist genau die subtile Erotik, die ich mag. Eine Frau, die weiß, was sie will.« Sie verlor sich für einen Moment in dem Frauenbildnis. »Sie ist klug und stolz. Dabei ist sie noch so jung. Die Frau brennt für etwas.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Ich glaube, sie ist verliebt. Sie will es aber auf keinen Fall zeigen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich kenne diesen Ausdruck. Sie himmelt den Maler an, ist total verknallt in ihn. Wer ist er?«

»Den Namen habe ich vergessen. Spielt auch keine Rolle. Ich glaube nicht, dass er bekannt ist.«

»R. B. oder R. P.? B. B.?« Kirstin ging näher an das Bild heran und kniff die Augen zusammen.

In der Küche pfiff der Teekessel. Leni Tamminga floh erleichtert aus der Situation. Sie gab fünf gehäufte Löffel Tee in eine vorgewärmte Kanne und übergoss die Blätter mit kochendem Wasser, bis sie gerade so bedeckt waren. Dann stellte sie die Eieruhr auf fünf Minuten.

»Übrigens schön, dass du da bist«, rief sie, so munter wie möglich. »Möchtest du einen Schuss Rum in den Tee? Dann hole ich welchen aus dem Keller. Ich habe keinen mehr in der Speisekammer.«

»Nein, danke, keinen Alkohol. Ich freue mich auf die Teestunde mit dir. Hatte schon lange keinen echten Ostfriesentee mehr.« Kirstin saß inzwischen wieder auf dem Sofa und blätterte in einem Werbeprospekt.

»Kommt gleich«, rief Leni. Sie lief aufgeregt hin und her und öffnete diverse Schranktüren und Schubladen. »Habe ich dir schon gesagt, wie gut du aussiehst?« Leni hoffte inständig, das Thema Bild hätte sich damit erledigt.

Kirstin bemerkte einen leisen Anflug von Müdigkeit. Sie kam gerade von einem Kundentermin und trug noch immer ihren dunkelgrauen Hosenanzug mit cremeweißer Seidenbluse, dazu hochhackige Pumps. Ihre dunklen Haare hatte sie hochgesteckt. Sie war lange nicht mehr in ihrem Elternhaus, einem ehemaligen Fischerhaus am Hafen, gewesen und brauchte daher eine Weile, um anzukommen. Es würde ihr nie mehr gelingen, sich dort so wohlzufühlen wie in ihrer Kindheit. Damals hatte sie in diesem Haus überaus glückliche Jahre verbracht. Ihr Leben war einfach, geordnet und übersichtlich gewesen. In manchen Momenten wünschte sie sich, etwas von dem Gefühl von einst zurückzubekommen.

Kirstin Tamminga führte in Osnabrück ein völlig anderes Leben als ihre Mutter, die niemals aus Ostfriesland herausgekommen war. Sie besaß eine schicke Wohnung in einem ruhigen, stadtnahen Viertel, die sie bis vor Kurzem mit ihrem Freund geteilt hatte. Nun war sie allein. Der Trennung war ein monatelanges Auf und Ab vorausgegangen.

Kein Magnus mehr, der seine Socken, Schuhe und Sportzeitungen herumliegen ließ und seine leeren Bierflaschen nicht wegräumte. Aber auch kein Magnus mehr, der sie wärmte, wenn sie am Abend mit kalten Füßen zu ihm ins Bett stieg.

Kirstin seufzte. Sie wollte das Gefühl nicht wieder hochkommen lassen, dass sie ihn vermisste. Sogar schmerzlich vermisste. Die Vorstellung machte ihr Angst, allein in ihre große, leere Wohnung zurückkehren zu müssen. Trotzdem würde sie es hier nicht länger als zwei Tage aushalten. Sie verstand nicht, wie ihre Mutter sich in dieser Enge wohlfühlen konnte. Leicht genervt sah sie sich um.

Das winzige Wohnzimmer mit den wuchtigen Eichenmöbeln war völlig überhitzt. Es roch nach abgestandenen Küchendünsten. Sie tippte auf Grünkohl mit Pinkel, eins von Lenis Leibgerichten. Kirstin kippte das kleine Fenster hinter sich. Sofort begann der Fensterladen zu klappern. Ein kalter Luftzug wehte herein. In Ostfriesland war es selten windstill.

Auf den morschen Holzdielen lagen, teilweise überlappend, mehrere in dunklen Rottönen gemusterte Teppiche. Wenn die Sonne nicht vom Himmel brannte, war stets eine Lampe eingeschaltet.

Wahrscheinlich um der Dunkelheit etwas Buntes entgegenzusetzen, hatte ihre Mutter eine Vorliebe für Kunstblumen entwickelt, die sie jeden Tag hingebungsvoll abstaubte. Überall standen und hingen sie herum – Alpenveilchen, Rosen, Nelken, Azaleen und Orchideen in Vasen, Töpfen und Blumenampeln. Kirstin fand sie grauenhaft und widerstand dem Impuls, sie einzusammeln und in einen Müllsack zu befördern. Überdies hatte ihre Mutter seit dem Tod von Kirstins Vater eine Sammelleidenschaft für Puppen entwickelt. Sie saßen auf dem Sofa und Sessel und machten sogar vor dem Kachelofen nicht halt. Jeder Quadratmeter des ohnehin beengten Wohnzimmers war ausgefüllt. Auf dem Tisch, der Kommode und der Truhe lagen selbstgehäkelte weiße Deckchen. Kirstin zog die Stirn kraus und seufzte tief.

»Schön, dass du dir mal wieder Zeit genommen hast, deine alte Mutter zu besuchen«, rief Leni fröhlich, schloss das Fenster und setzte sich neben Kirstin auf das durchgesessene dunkelrote Sofa. »Nur schade, dass du nicht früher Bescheid gesagt hast. Dann hätte ich mich besser auf deinen Besuch vorbereiten können.«

»Dann hättest du das Bild abhängen können?«, fragte Kirstin schmunzelnd.

Als Leni nichts darauf erwiderte, fuhr sie fort: »Es hat sich kurzfristig ergeben, Mama. Ein Zufall. Sonst hätte ich dich vorgewarnt, ganz sicher.« Kirstin dachte daran, wie sie vor einigen Tagen einen Anruf erhalten hatte, dass eine Villa in Ostfriesland zum Verkauf stand, ganz in Lenis Nähe. Der Kunde hatte aus London angerufen und ihr erzählt, er habe lange mit sich gerungen und sich endlich entschlossen, sein Anwesen in Weener zu verkaufen. Seine Stimme hatte sympathisch geklungen, mit einem leichten englischen Akzent. Der Anruf war gerade zur rechten Zeit gekommen und war ein Lichtblick in ihrem oft frustrierenden Alltag als Maklerin. In den letzten Monaten hatte es viele Anfragen, aber nur wenige Angebote gegeben, von Abschlüssen ganz zu schweigen. Villen waren auf dem Immobilienmarkt begehrt, aber äußerst selten im Angebot. In Osnabrück betreute sie Kunden, die im nahe gelegenen Ostfriesland einen repräsentativen Zweitwohnsitz suchten, den sie in ein Luxusferiendomizil verwandeln konnten.

»Ich bin hauptsächlich beruflich hier. Eine Villa steht zum Verkauf.«

»Ach? Wo denn?«

»In der Norderstraße. Fußläufig, ich hätte den BMW gar nicht gebraucht.«

Leni Tamminga runzelte die Stirn. »Da soll eine Villa verkauft werden? Davon weiß ich ja gar nichts!«

»Ich habe vorhin erst das Schild aufgestellt. Ja, sogar eine hochherrschaftliche. Zwanzig Zimmer auf fünf Etagen, Kiesauffahrt, Freitreppe, Erker und Rundbögen, ein traumhaft schöner Garten mit weißem Pavillon. Einfach großartig, Mama! Du musst es kennen. Das Haus kennt doch jeder in Weener!«

Die Eieruhr klingelte. Leni erhob sich abrupt. Sie schien auf dem Weg in die Küche leichte Gleichgewichtsprobleme zu haben.

»Kann ich dir helfen?«, rief ihr Kirstin hinterher.

Leni winkte ab. »Das hast du doch früher auch nie getan.«

Stimmt, dachte Kirstin resigniert, aber ihre Mutter hatte auch nie darum gebeten, im Gegenteil, sie hatte nicht gewollt, dass man ihr im Wege stand. Die Küche war ihr Reich; am liebsten werkelte sie allein darin herum. Kirstins Eltern hatten lange auf ihr erstes und einziges Kind warten müssen, und sie hatten ihr alles bieten wollen, was sie selbst in ihrer Jugend entbehrt hatten. Vielleicht hatten sie sie deshalb so verwöhnt. Kirstin war es als Kind gar nicht bewusst gewesen; sie hatte es erst gemerkt, als sie ihr erstes eigenes Zuhause bezog und nicht wusste, wie sie die Waschmaschine bedienen oder ein Spiegelei braten sollte.

Dadurch, dass die Küche in die kleine Wohnstube überging – früher waren die Räume durch eine Schiebetür getrennt gewesen –, konnte sie ihre Mutter werkeln sehen. Kirstin betrachtete sie mit einem Anflug von Wehmut – ihre kleine, stets emsige, mittlerweile ziemlich in die Jahre gekommene Mutter. In der geblümten Küchenschürze, dem kurzärmligen gelben Polyesterpullover, den Gesundheitslatschen und der ältlichen Dauerwelle wirkte sie geradezu rührend altmodisch.

In der Wohnküche hatte sie immer die meiste Zeit des Tages verbracht. Leni und ihre Küche – das gehörte untrennbar zusammen. Der quadratische Raum war fast so groß wie das Wohnzimmer und liebevoll mit alten, weißen Schränken eingerichtet. Delfter Kacheln an den Wänden machten ihn zu einem heimeligen Ort. Besonders praktisch war der direkte Zugang zum Hof. So konnte Leni ihre Kräuter und ihren Salat jederzeit in dem kleinen Bauerngarten frisch ernten.

Leni füllte die Kanne bis zum oberen Rand mit heißem Wasser und stellte die Eieruhr noch einmal auf drei Minuten. Als sie zurückkam und sich wieder setzte, war sie grau im Gesicht. »Sag mal, ist das so eine schneeweiße Villa?«, fragte sie mit belegter Stimme.

»Na ja, schneeweiß …«, sagte Kirstin achselzuckend, »vielleicht war sie das mal. Sie könnte einen frischen Anstrich gebrauchen. Aber auch so wirkt sie beeindruckend. Sie ist definitiv keins der üblichen Backsteinhäuser.«

»Warst du schon drin?«, fragte Leni zögerlich.

»Natürlich, ich komme gerade von da. Der Besitzer hat mich durch die Villa geführt. Ein sehr netter Mann übrigens. Fein und gebildet. Ein Deutscher, der seit Jahrzehnten in England lebt und offensichtlich einen englischen Lebensstil pflegt. ›Old School‹ aufs Allerfeinste. Die Villa ist ein Traum. Ich bin so froh, dass ich die Verkaufsleitung dafür habe und nicht Magnus. Bei der Gelegenheit muss ich dir sagen, dass wir uns vor Kurzem getrennt haben.« Sie zuckte bei ihren eigenen Worten zusammen. Sie waren so schnell aus ihr herausgesprudelt, als hätten sie keinerlei Bedeutung.

Leni starrte sie an und schüttelte traurig den Kopf. »Wie schnell man sich heutzutage trennt! Das tut mir leid. Ich hatte so gehofft, dass du und Magnus … dass es diesmal endlich von Dauer sein würde. Du bist schließlich nicht mehr die Jüngste!«

Kirstin wischte ihren Kommentar mit einer Handbewegung weg. »Das musste ja wieder kommen! Ich kann mir einen Ehemann nicht aus den Rippen schneiden. Wenn es nicht passt, dann eben nicht. Unsere Lebensauffassungen waren zu unterschiedlich. Ihm scheint es ohnehin egal zu sein. Er hat sich schon mit einer anderen getröstet, einer Kundin. Sehr einfallsreich. Und ich tröste mich mit meiner Arbeit. Die lenkt mich ab.« Sie wagte nicht, ihre Mutter anzusehen. Leni kannte sie besser als jeder andere Mensch, und Kirstin wusste, ihre Mutter würde spüren, dass das nicht der Wahrheit entsprach.

»Nächste Woche findet in der Villa ein professionelles Fotoshooting statt«, fuhr Kirstin etwas munterer fort. »Ich kenne die Fotografin, sie macht hervorragende Arbeit, hat ihr Atelier in Osnabrück. Dann bin ich wieder hier. Die Fotos müssen perfekt werden; es geht schließlich um einen Haufen Geld. Wenn das Exposé fertig ist, beginnt der Run auf das Objekt. Ich werde also in Zukunft öfter in Ostfriesland sein.«

»Schön!«, sagte Leni mit einem zufriedenen Lächeln.

»Wenn ich das Geld hätte, würde ich das Haus selbst kaufen. Es ist eins der Objekte, die man nicht gerne loslässt. Wenn ich Erfahrung im Gastronomiebereich hätte … Ich könnte es mir als kleines, feines Hotel vorstellen. 20 schön geschnittene Zimmer mit Atmosphäre. Fast alle Wohnräume haben Stuck, gut erhaltene Parkettböden, weiße Kassettentüren und romantische T-Sprossenfenster. Die Flure und Bäder sind gefliest, teilweise im blau-schwarzen Schachbrettmuster. Von allen Fenstern aus hat man übrigens einen Blick in den malerischen Garten, denn das Haus steht mitten im Park. In so einem Hotel würde ich gerne ein paar Tage ausspannen. Genau die richtige Atmosphäre, um zur Ruhe zu kommen, sein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen und Inspirationen zu bekommen.«

»Wie lange steht die Villa schon leer?«

»Anscheinend seit Jahren, aber ein Verwalter sieht nach dem Rechten, heizt und lüftet regelmäßig, damit sie nicht verfällt. Einige Male im Jahr kommen Gärtner.«

»Wie heißt der Eigentümer?«, fragte Leni. Sie räusperte sich. »Also, der aus England.«

»Das ist ein Mister D. Warte mal, er hat mir seine Visitenkarte gegeben.« Kirstin kramte in ihrer schwarzen Aktentasche.

Die Eieruhr klingelte. Leni stützte sich beim Aufstehen am Couchtisch ab und ging mit unsicheren kleinen Schritten in die Küche. Für einige Sekunden stand sie unschlüssig vor dem Herd herum, als wisse sie nicht mehr, was sie dort wollte. Mit einer fahrigen Handbewegung griff sie schließlich nach einer zweiten, auf einem Stövchen vorgewärmten Kanne und füllte den Tee um. Anschließend steckte sie das Tüllensieb in den Kannenausguss, um die Teeblätter in der Kanne zurückzuhalten. Sie holte das Ostfriesenteegeschirr mit dem Pfingstrosenmotiv aus dem Küchenschrank – zwei zierliche Tassen mit Untertassen und Löffeln, ein Sahnekännchen mit verschnörkeltem Sahnelöffel sowie eine Zuckerdose mit Kandis und silberner Zuckerzange. Sie richtete alles auf einem Messingtablett an.

Als sie zurückkam, lag eine Visitenkarte auf dem Couchtisch. »Augenblick«, sagte Leni und stellte das Tablett so heftig ab, dass der Tee in der Kanne überschwappte, »muss mal eben meine Lesebrille holen.«

Eine Weile suchte sie nach ihrer Brille und fand sie schließlich im Nähkorb, nachdem ihr eingefallen war, dass sie am Morgen Strümpfe gestopft hatte. Kirstin hatte in der Zwischenzeit das Malheur weggewischt.

»Richard Deimann«, las Leni stockend. »Deimann Gallery, Oxfordstreet 100, London.« Sie sprach die Worte deutsch aus, weil sie in der Schule kein Englisch gelernt hatte. Röte schoss ihr ins Gesicht.

»Ist etwas, Mama?«, fragte Kirstin. »Du siehst gerade ganz verstört aus!«

Leni schüttelte stumm den Kopf.

Kirstin wartete. Leicht verunsichert betrachtete sie ihre Mutter, die sich mit ihrer Küchenschürze über die Stirn wischte.

Leni griff mit zittriger Hand nach den Streichhölzern, die auf dem Tisch lagen, und versuchte, das Teelicht im Stövchen anzuzünden. Doch das Streichholz brach entzwei. Drei Mal musste sie ansetzen, bis es ihr gelang. »Zwei Kluntjes wie immer?«, fragte sie nervös und griff nach der Zuckerzange.

Kirstin nickte. Es zischte und knisterte, als die Kandisstücke mit dem heißen Tee in Berührung kamen. Ein aromatischer Duft stieg auf. Die Zeremonie hatte immer schon beruhigend auf Kirstin gewirkt. Ausnahmsweise griff sie sogar nach dem Sahnelöffel und tunkte ihn in das Sahnekännchen, was sie aus Rücksicht auf ihre Figur lange nicht mehr getan hatte. Sie ließ die Sahne langsam in die Tasse fließen. Wölkchen bildeten sich auf der Oberfläche des Tees, zogen Muster und verteilten sich rasch auf der Oberfläche.

Leni murmelte eine Entschuldigung und beeilte sich, wieder in die Küche zu kommen. Dort klapperte sie übertrieben mit Geschirr und Töpfen herum. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich zu bewegen, etwas zu tun. Hausarbeit hatte ihr immer gutgetan, wenn ihr etwas auf der Seele lag. Kochen, Backen, das Haus blitzblank halten, das waren Tätigkeiten, die sie zutiefst befriedigten. Gut, dass sie das abgetrocknete Geschirr noch nicht in den Schrank geräumt hatte.

Leni überlegte fieberhaft. Ob sie es erzählen sollte? Die Sache mit Erich? Was damals passiert war? Leni hatte sich oft ausgemalt, wie es wäre, wenn sie sich jemandem anvertrauen würde. Vielleicht tat es gut, die Erinnerung an jenen Winterabend zu teilen, die sie bis heute belastete und wie ein Schatten verfolgte. Gerade in den letzten Wochen war es wieder heftig geworden, wollten sich die Bilder von damals mit aller Macht an die Oberfläche drängen. 60 Jahre, dachte sie, es waren nun genau 60 Jahre her. Der Jahrestag war schuld daran, dass es sie immer öfter auf den Dachboden zog, wo sie ihre Erinnerungsstücke aufbewahrte, wie zum Beispiel das Bild mit dem Mädchen auf dem Diwan. Kirstin hatte es ohnehin schon gesehen – es war ein Teil ihrer Geschichte. Dass ausgerechnet die Villa Deimann zum Verkauf stand! Und Kirstin war als Immobilienmaklerin involviert. Das konnte doch kein Zufall sein! Vielleicht war es ein Zeichen. Vielleicht war wirklich der Moment gekommen, um mit der Vergangenheit abzuschließen!

Leni sehnte sich danach, ihr Gewissen zu erleichtern. Vielleicht könnte sie endlich ruhig schlafen, wenn sie sich nur dazu überwinden könnte, sich der alten Geschichte zu stellen. Sie war eine Frau, die nicht mehr viel vom Leben zu erwarten hatte. Sie hatte nichts zu verlieren. Niemand würde sie zur Rechenschaft ziehen für das, was sie getan hatte, denn es war lange her. Niemand würde sie für ein Verbrechen verurteilen, für das sie nichts konnte. War es nicht ohnehin verjährt? Egal, ihr Geheimnis wollte sie nicht mit ins Grab nehmen, so viel stand fest. Kirstin war alt genug, um es zu verstehen. Sollte sie es wagen? Heute? Erzählen, was damals vorgefallen war? Ihr wurde plötzlich eiskalt. Sie zerrte am Kragen ihres Pullovers, weil sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.

Völlig durcheinander räumte sie die Küche auf und holte mit fahrigen Handbewegungen Gebäck aus der Speisekammer. Sie könnte es ja auf einen Versuch ankommen lassen. Den Anfang machen, sehen, wie Kirstin reagierte. Ob sie sich überhaupt für ihre Geschichte interessierte. Sie könnte an jedem Punkt aufhören.

Wenig später betrat sie das Wohnzimmer mit einer Schale, auf der sie Honigkuchenstücke und Butterplätzchen arrangiert hatte.

Als Kirstin die Gebäckschale bemerkte, hielt sie sich demonstrativ den Bauch. Aber über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. »Danke, Mama, das ist lieb von dir. Dass du immer noch so viel backst, obwohl du mich gar nicht erwartet hast!«

»Ich hatte Lust dazu. Backen lenkt mich ab.«

»Wovon?«

»Von allem Möglichen«, sagte Leni vage. »Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich Frau Struthmann von nebenan eingeladen. Das hatte ich schon länger vor.«

»Die Schrulle mit dem Kissen auf dem Fensterbrett und der fetten Katze?« Kirstin nahm ein Stück Honigkuchen und schnupperte genussvoll daran. Honigkuchen und Ostfriesentee – sie liebte die Teezeremonie ihrer Mutter seit ihrer Kindheit, auch wenn ihre Mutter im Moment einen etwas zerstreuten Eindruck machte. Aber das musste nichts bedeuten; Leni war schließlich nicht mehr die Jüngste. Und sie lebte in ihrer eigenen Welt, war viel zu oft und zu lange allein.

Das Zentrum ihrer kleinen Welt war das einfache Backsteinhaus direkt am Weeneraner Hafen. Vom Wohnzimmerfenster aus konnten sie die Schiffe sehen, Fischer-, Segel- und Hausboote. Auf den traditionellen Wohnschiffen lebten ganze Familien. So gut wie nichts hatte sich seit Kirstins Kindheit verändert. Sie hätte sich in dem Haus blind orientieren können. Die Wohnstube wurde beherrscht von einer Brandtruhe aus dunkler, verschnörkelter Eiche. Sie hatte immer schon am gleichen Fleck gestanden. In früheren Zeiten hatten Töchter bei ihrer Heirat eine solche Truhe als Mitgift bekommen. Darin hatten sie Wertsachen und auch Wäsche sowie Kleidungsstücke aufbewahrt, um sie im Falle eines Brandes rasch aus dem Haus schaffen zu können. Die Truhe hatte an den Querseiten Griffe aus Messing und war unglaublich schwer. Kirstin fragte sich, ob man sie im Notfall tatsächlich tragen könnte, aber wahrscheinlich wurde dann im Körper so viel Adrenalin ausgeschüttet, dass das möglich war.

Kirstin wusste, dass ihre Mutter an der Truhe hing wie auch an allen anderen Gegenständen im Haus. Sie mochte keine Veränderungen. Aus Reisen hatte sie sich nie etwas gemacht. Ein Tagesausflug auf eine ostfriesische Insel – das war alles, was sie sich leistete. Aber auch der letzte lag lange zurück. Sie war auch noch nie bei Kirstin in Osnabrück gewesen.

Alles hatte seit Jahrzehnten seinen angestammten Platz – die Möbel, selbst die Bilder mit Sommerblumen, Sonnenuntergängen, Kuttern und Windmühlen. Nur die »Frau auf rosa Diwan« passte nicht in das spießige Ambiente. Kirstin war sich in diesem Moment noch sicherer als zuvor, das Bild nie zuvor gesehen zu haben.

Sie suchte den Blick ihrer Mutter, die mehrmals hintereinander seufzte und nervös ihre Hände knetete. »Du reagierst so eigenartig, Mama! Ist etwas mit Herrn Deimann? Kennst du ihn?«

Leni starrte aus dem Fenster. Ein Radfahrer kam gerade vorbei und lüpfte seine Schiffermütze, als er Leni erblickte. Sie winkte ihm mit einer steifen Geste zu. Plötzlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Ja, ich kenne ihn.« Sie griff nach ihrer Teetasse. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie Mühe hatte, sie zum Mund zu führen.

»Woher?«

»Er war der Sohn des Zigarrenfabrikanten«, sagte Leni zögernd. »Richard. Richard Deimann.« Ausdruckslos blickte sie vor sich hin, schien weit weg zu ein. Dann stellte sie mit einer ruckartigen Bewegung die Tasse ab.

Kirstin betrachtete sie irritiert. »Ja, er hat erzählt, dass sich früher nebenan eine Zigarrenfabrik befand.«

Leni ließ den Tee in ihrer Tasse hin und her schwappen. »Das mit der Zigarrenfabrik ist lange her. Wir haben alle da gearbeitet.«

»Auch du, Mama? Du hast in einer Zigarrenfabrik gearbeitet?«

Leni nickte. »Meine Eltern brauchten uns als Mitverdiener, obwohl uns das gar nicht recht war. Acht Jahre Volksschule mussten genügen. In den Kleinstädten und auf dem Lande gab es nun mal am meisten Arbeit in den Zigarrenfabriken. Die schossen um 1900 überall wie Pilze aus dem Boden.«

»Davon hast du mir nie etwas erzählt.«

»Du weißt so manches nicht.«

»Du hast überhaupt nie viel erzählt. Hast dich immer für andere interessiert, warst aber selbst verschlossen.«

»Was willst du denn hören?«, fragte Leni seufzend und machte eine Pause, bevor sie weitersprach: »Also gut, dann erzähle ich dir die Geschichte unserer Familie und die Geschichte der Familie Deimann. Ich habe die beiden Kinder der Deimanns gut gekannt. Das Mädchen hieß Marga. Sie hat mir viel erzählt. Über sie weiß ich fast alles, was sich in ihrer Familie damals zugetragen hat.« Sie fröstelte und rieb sich die Arme. Es war nicht leicht. Dunkle Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf. »Wie sieht er jetzt eigentlich aus … der … der Richard Deimann?«, fragte sie nervös.

»Gut. Er sieht gut aus. Groß und schlank, volle, graue Haare, blaue Augen, moderne Brille, Falten, die ihn interessant machen, markantes Profil. Ein schöner, älterer Mann.«

Leni lächelte. »Genau so habe ich ihn mir vorgestellt.«

»Er ist übrigens nicht alleine gekommen. Sein Sohn war mit dabei – Ole. Ole Deimann. Die Ähnlichkeit ist unübersehbar. Und weißt du was? Er wohnt in Osnabrück. Sogar ganz in meiner Nähe, im Katharinenviertel. Seltsamer Zufall, oder?«

»Sind die beiden noch hier? Ich meine, bleiben sie über Nacht oder sind sie gleich wieder abgereist?«

»Sie wohnen im Hotel zum Weinberge, soviel ich weiß, und fahren morgen weiter nach Osnabrück. Richard Deimann will noch nach Hause zu seinem Sohn, bevor er nach London zurückfliegt.«

»Das ist schön«, sagte Leni.

Kirstin räusperte sich. »Darf ich dir eine Frage stellen? Du hast vorhin gesagt, du wolltest nicht in die Zigarrenfabrik. Was hättest du denn gemacht, wenn du die Wahl gehabt hättest?«

Leni Tamminga knetete mit den Fingern die Handknöchel, bis sie weiß wurden. »Wir hatten keine Wahl. Hatten wir alle nicht. Das waren andere Zeiten. Aber wenn du mich so fragst … da muss ich nicht lange überlegen«, sagte sie.

Zwei

Mai 1952

»Am Montag gehst du in die Zigarrenfabrik.«

Leni starrte ihre Mutter entgeistert an. »Nein!«, war alles, was sie hervorbrachte.

Gerda Harmsen legte ihr Nähzeug beiseite. Sie saßen im engen Wohnzimmer beisammen, dessen Einrichtung aus dunklen Schränken, einer Holztruhe und einer Anrichte bestand. Vor dem Fenster mit Ausblick auf den Hafen stand eine Tischgruppe mit einem weinroten Sofa und vier Holzstühlen. Gerda hatte darauf gewartet, mit ihrer zweitältesten Tochter allein zu sein, um ihr diese Nachricht beizubringen. »Leni, es geht nicht anders. Du bist alt genug, um mitzuverdienen.«

»Ich bin erst 14, Mama.«

»Du bist genau im richtigen Alter. Da habe ich auch begonnen, und heute mache ich Heimarbeit, wenn ihr längst im Bett liegt. Für euch tue ich das. Wir sind froh, dass wir die Zigarrenfabrik in Weener haben. Sonst müssten immer noch viele Menschen hungern. Und wir haben mehr als genug zu essen. Ohne die Fabrik hätten wir immer noch unsere Vorkriegskleider an. Wir müssten sieben Tage pro Woche diesen grässlichen Kaffee­ersatz trinken. Außerdem ist das für dich längst kein Neuland mehr. Ihr habt schon tüchtig mitgeholfen, als ihr noch klein wart.«

»Eben«, sagte Leni bockig, »stundenlang blöde Blätter entrippt und sortiert. Ich hasse diese langweilige Arbeit. Nur damit die Männer sonntags nach dem Essen eine paffen können. Zigarrenqualm stinkt und verpestet die Luft. Ich mag das nicht.« Sie stellte sich ans Fenster und entdeckte ihre jüngeren Geschwister Irma und Harri, die auf der Straße mit anderen Kindern Himmel und Hölle spielten. Sie warfen Steine in Kreidekästchen und sprangen hinein, mal auf einem, mal auf beiden Beinen. Der zweijährige Bruno saß daneben und spielte völlig versunken mit Murmeln, die er der Größe nach sortierte. Zwei Kinder mit Milchkannen näherten sich hopsend und blieben stehen, um den anderen beim Spiel zuzuschauen. Es war ihnen anzusehen, dass sie gerne mitgemacht hätten. Aber Irma und Harri blieben stur und wollten sie anscheinend nicht mit einbeziehen. Leni beneidete die Kleinen um ihre Unbeschwertheit. Gerne wäre auch sie wieder Kind – ohne Bedingungen und Pflichten.

»Recht hat sie«, rief ihre Großmutter Frida aus der Küche, die durch eine offene Schiebetür von der Wohnstube getrennt war. Frida bereitete das Abendessen zu. Es roch nach Kartoffelpfannkuchen und Apfelmus. Die fertigen Pfannkuchen wurden zum Warmhalten auf die Umrandung des dunkelgrünen Kachelofens gestellt.

Leni drehte sich nach ihr um und warf ihr einen dankbaren Blick zu. Sie war froh, ihre Großmutter zu sehen. Sie war überhaupt froh darüber, dass die Großfamilie unter einem Dach lebte, auch wenn es manchmal sehr eng und laut war – mit den Eltern, Großeltern und ihren sechs Geschwistern waren sie immerhin elf Personen. Aber wenn es darauf ankam, war immer jemand da, der zu ihr hielt.

»Wenn du bei Deimann arbeitest, brauchst du keine Blätter mehr zu entrippen. Nach kurzer Zeit darfst du wickeln und später sogar rollen. Dann bist du etwas und verdienst gutes Geld«, fuhr ihre Mutter Gerda unbeirrt fort.

»Du weißt genau, was ich werden will«, rief Leni aufgebracht. In ihrer Hilflosigkeit begann sie zu weinen. »Dass du immer so tust, als wüsstest du es nicht! Ich habe es dir erst letzte Woche gesagt!« Sie stampfte mit dem Fuß auf.

Frida kam zu ihr und nahm sie in den Arm. Sie führte sie zum Sofa und setzte sich neben sie. »Na, na, nun weine man nicht. Für jedes Problem findet sich eine Lösung. Erinnerst du dich daran, wie in den letzten Kriegstagen der Landrat bei uns auftauchte und unser Hausschwein konfiszieren wollte? Ich habe ihn mit der Bratpfanne in die Flucht geschlagen. Dieses Aas, für unsere Rechte ist er nie eingetreten, und plötzlich meinte er, er wäre der Kaiser von China. Ich koche dir gleich einen feinen Vanillepudding mit einer ordentlichen Portion Sahne. Extra für dich. Und du darfst dir ein Einmachglas aus der Speisekammer holen. Pflaumen, Himbeeren, Erdbeeren, was du magst.«

»Lass uns bitte fertig reden«, unterbrach Gerda Harmsen ihre Mutter. »Das ist ein Gespräch zwischen Leni und mir.« Sie sah ihre Tochter ernst an. »Leni, du möchtest Friseuse werden, ich weiß. Jeder hat seine Träume, das ist völlig normal. Aber nicht alle gehen in Erfüllung, das musst du noch lernen. Wir hätten nicht einmal die Mittel, um dir das Fahrtgeld nach Leer zu bezahlen. Und in Weener bildet niemand mehr aus.«

Frida Harmsen zog sich beleidigt zurück. »Wenn ich nicht mehr gebraucht werde …«, schmollte sie und holte Rahm aus dem Keller für den Pudding.

*

Ludwig Deimann saß an seinem englischen Schreibtisch und zündete sich eine Zigarre an. Er trug einen dunklen Anzug mit passender Weste und goldener Uhrkette. Zu seinem weißen, gestärkten Hemd hatte er eine gold-blau gestreifte Seidenkrawatte gewählt, die er mit einer diamantbesetzten Krawattennadel betonte.

»Setz dich, Marga, ich habe etwas mit dir zu besprechen«, sagte er, als er seine Tochter im Türrahmen stehen sah.

Marga nahm ihm gegenüber auf einem mit dunklem Leder bezogenen Bürostuhl Platz und musterte ihren Vater misstrauisch. »Warum machst du es so spannend, Papa? Wohin willst du mich diesmal schicken? Nach Lugano? Nach Basel? Zu Verwandten nach London?« Sie bemühte sich darum, ihrer Stimme einen munteren Klang zu geben.

Ludwig Deimann räusperte sich. »Nun, es ist so«, begann er und machte sogleich eine Pause. Er faltete seine Hände und fixierte das Gemälde an der gegenüberliegenden Wand, ein Porträt von seiner Frau in Öl, das sie zeigte, als sie etwa im gleichen Alter war wie seine Tochter jetzt. »Du bist fast 18, im heiratsfähigen Alter sozusagen. Deine Mutter und ich haben Unsummen in deine Ausbildung investiert, in die höhere Töchterschule, die vielen Reisen, die Privatlehrerin, die Englischdozentin.«

»Ich weiß, Papa. Dafür bin ich euch sehr dankbar.«

»Wir haben es gern getan, Marga. Nun ist es jedoch an der Zeit, mehr an mich zu denken. Und natürlich an deine Mutter. Irgendwann wollen wir uns zur Ruhe setzen, mehr reisen. Mit der Zigarrenfabrik sieht es nicht so rosig aus. Kaum einer nimmt sich noch die Zeit, eine Zigarre zu genießen. Jeder will plötzlich Zigaretten. Die gelten zurzeit als todschick und elegant. Alle Welt raucht, immer und überall, nur leider kaum noch Zigarren. Ich weiß nicht, wohin das noch führen soll. Hoffentlich ist es nur eine neumodische Erscheinung, die bald vorübergeht. Aber darauf können wir uns nicht verlassen. Wir werden uns umstellen müssen. Und Richard – du kennst deinen Bruder. Er ist … nun ja, dieser Aufgabe nicht gewachsen. Du bist ein Mädchen, Margarethe«, er winkte ab. »Das soll um Himmels willen kein Vorwurf sein, doch es ist nun einmal so. Ich brauche einen Nachfolger für die Firma, und um es auf den Punkt zu bringen: Keiner von euch eignet sich dafür. Weder Richard noch du. Der Nachfolger muss eine gefestigte Persönlichkeit sein mit sicherer Hand, jemand, der etwas von diesem Handwerk versteht, Führungsgeschick hat und in der Lage ist, unsere Zigarrenfabrik aus den roten Zahlen zu führen. Er sollte unternehmerisch denken, modern und vorausschauend. Und gleichzeitig sollte er unsere Firmengeschichte im Blick behalten und im rechten Maße konservativ sein. Nicht so einfach, wie du dir denken kannst. Nun, zufällig kenne ich genau so einen Mann.« Er hielt inne, rauchte und warf Marga einen herausfordernden Blick zu. Ihre verschlossene Miene verhieß nichts Gutes. Das beunruhigte ihn, sodass er es vorzog, an ihr vorbei zu sehen. »Ein gestandener Mann«, fuhr er fort, »aus bestem Hause, ebenfalls aus der Tabakindustrie. Die Zigarrenmanufaktur der Familie ist in Leer angesiedelt. Er ist der Zweitälteste; sein Bruder wird eines Tages die Firma übernehmen. Er könnte mein Nachfolger sein. Er hätte das Zeug dazu.«

»Was habe ich damit zu tun?«, fragte Marga trotzig.

»Nun, er mag dich, Margarethe.« Er beobachtete seine Tochter genau. »Er ist vermögend, im besten Alter und … nun ja, ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden: Er hat um deine Hand angehalten.« Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarre und blies den Rauch genussvoll aus.

Marga war rot geworden. »Du willst mich verheiraten? In welcher Zeit leben wir denn! Doch wohl nicht mehr im 19. Jahrhundert. Habe ich vielleicht auch noch ein Wörtchen mitzureden? Ich möchte selbst entscheiden, wen ich heirate, wann ich heirate und ob ich überhaupt heirate. Vielleicht bleibe ich ledig und entscheide mich für einen ganz anderen Weg. Und woher willst du wissen, dass ich nicht an dem Betrieb interessiert bin? Natürlich bin ich das! Natürlich will ich da einsteigen und alles lernen, was ich wissen muss! Warum sollte ich das nicht können?«

»Darüber müssen wir noch reden. Aber ein andermal. Allein ist das zu schwierig, Margarethe, aber an der Seite eines fähigen Mannes, warum nicht …«

Marga zupfte an ihren schmalen, sorgfältig manikürten Fingernägeln. »Woher weißt du überhaupt, dass er mich mag?«

»Er hat eine Fotografie von dir gesehen.«

Sie fuhr herum. »Das hässliche Bild da etwa?«, fragte sie und wies auf ein Foto in einem Silberrahmen, das hinter ihr auf einer Kommode stand und sie im Alter von etwa 14 Jahren zeigte.

»Es ist ein hübsches Porträt von dir, Marga. Es zeigt dich, wie du bist. Geknipst vom teuersten Fotografen Ostfrieslands.«

»Da sehe ich aus wie eine dämliche Porzellanpuppe!«

Es entstand eine Pause. Das Ticken der altenglischen Wanduhr wirkte überlaut. Marga lief wie ein aufgescheuchtes Tier im Raum umher. Unvermittelt blieb sie vor dem Schreibtisch ihres Vaters stehen. »Was heißt eigentlich ›im besten Alter‹?«

Ludwig Deimann kratzte sich am Kopf. »Er feiert demnächst seinen 40. Geburtstag.«

Sie lachte hell auf und verdrehte die Augen. »Oh Gott, er ist uralt, Papa! Im besten Alter für dich und Mama, aber nicht für mich.«

»Alter ist nebensächlich. Wer fragt schon danach. Auf andere Werte kommt es an, und darauf, dass man gut miteinander auskommt.«

»Pah! Andere Werte … Und … was hast du geantwortet?« Sie wurde blass.

»Ich habe gesagt, es sei eine Überlegung wert und ich wolle mit dir reden. Mama ist übrigens auch dafür.«

Sie stützte sich mit den Händen auf dem Schreibtisch ab. »Mama ist auch dafür? Ich kenne diesen Mann überhaupt nicht!«, schrie sie heraus.

»Beruhige dich, Margarethe! Dann wirst du ihn kennenlernen!«

»Ich will ihn nicht kennenlernen, Papa, er ist steinalt und könnte mein Vater sein!«

»Vielen Dank auch«, sagte Ludwig Deimann. Versöhnlich fügte er hinzu: »Liebling, beruhige dich doch! Wir meinen es nur gut mit dir. Ein jüngerer Mann kann dir nichts bieten. Dafür hast du viel zu hohe Ansprüche. Du brauchst einen Mann, der dir weiterhin den Lebensstil garantieren kann, den du gewohnt bist. Er wird dich auf Händen tragen, mein Schatz. Er wird dich genauso verwöhnen, wie es Mama und ich immer getan haben. Und wenn nicht, dann wird er es mit mir zu tun bekommen, darauf hast du mein Wort!« Er hob warnend seinen Zeigefinger.

»Geld ist nicht alles! Ich muss ihn doch lieben! Und ich kann keinen Fremden lieben, noch dazu, wenn er fast im Greisenalter ist.« Verzweifelt sank sie auf ihren Stuhl. Sie wollte auf keinen Fall vor ihrem Vater weinen.

»Er wird ja nicht immer ein Fremder sein. Schon bald wirst du ihn in dein Herz schließen, davon bin ich fest überzeugt. Versuch es doch wenigstens, Liebes. Uns zuliebe.« Ludwig rauchte nervös, verschluckte sich und hustete.

»Und wenn ich nicht will, was macht ihr dann? Wollt ihr mich in Handschellen zum Traualtar führen? Ihr könnt doch nicht einfach über mich bestimmen!«

»Marga …« Ludwig Deimann klopfte seine Zigarre im Aschenbecher aus. »Niemand wird dich drängen, sofort eine Entscheidung zu treffen. Du kannst dir die Zeit nehmen, die du brauchst. Die Hochzeit ist nicht für nächste Woche angesetzt, keine Bange. Und wenn du ihn wirklich nicht magst, bin ich der Letzte, der dich drängen wird. Du musst nichts tun, was dir nicht behagt. Aber ich wünsche mir, dass du es wenigstens probierst. Deine Mutter kennt und mag ihn. Sie findet, dass er zu dir passen würde, trotz des Altersunterschieds. Denn wenn man gewillt ist, es miteinander zu versuchen und gemeinsame Interessen hat, spielt das Alter keine Rolle. Ein alter Mensch kann jung im Herzen sein und umgekehrt. Heute Nachmittag wirst du ihn bei uns zu Hause empfangen. Ihr habt ausreichend Zeit, euch zu beschnuppern. Er wird dir gefallen, mein Liebling. Du wirst sehen, er ist ein stattlicher Mann, gutaussehend, mit Charakter, Ansehen, guter Herkunft und Stil. Er ist Ostfriese wie wir. Durch seine Adern fließt das gleiche Blut. Er wird dir die Liebe geben, die du brauchst, und dir ein angenehmes, komfortables Leben bieten. Nimm dir die notwendige Zeit, mit ihm vertraut zu werden. Ihr könnt spazieren gehen oder eine Ruderpartie auf der Ems unternehmen.«

»Wie heißt er überhaupt?«, fragte Marga schwach.

»Kruskopp. Erich Kruskopp. Er wird um 15.30 Uhr hier sein. Du hast also ausreichend Zeit, dich umzuziehen und ein bisschen herzurichten.«

»Kann ich nicht so bleiben?« Sie sah an sich herunter. Der dunkelblaue Faltenrock reichte ihr bis zu den Waden. Die braunen Schuhe waren ausgetreten und schmutzig, da sie gerade aus dem Reitstall kam. Ihre weiße Bluse war zerknittert, die Haare waren aufgelöst. So sollte er sie sehen, wenn schon, denn schon. Diesen kleinen Triumph, sich für ihn nicht schön zu machen, wollte sie sich nicht nehmen lassen.

Ludwig Deimann zog die Stirn kraus. »Meinetwegen. Aber lass dir von Anne wenigstens die Haare frisieren. Sie sehen aus, als hättest du einen Dauerlauf hinter dir.« Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Aber hübsch bist du trotzdem, gerade jetzt, mit den roten Bäckchen und den wilden Locken siehst du zauberhaft aus.«

»Kann ich jetzt gehen?«, fragte Marga mit abgewandtem Kopf.

»Natürlich. Dann geh halt, mein Kind.« Ludwig Deimann entließ sie mit einer knappen Handbewegung.

Marga zog die Tür etwas zu heftig hinter sich zu. Draußen presste sie sich gegen die Wand. Sie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen und sie nicht in der Lage war, sie zurückzuhalten. Nachdem sie sich etwas gefangen hatte, rannte sie schluchzend die geschwungene Flügeltreppe zur Galerie hoch, über die langen Flure mit Marmorböden, Bogengewölbe und Säulen, bis sie endlich ihr Zimmer erreicht hatte, die Tür hinter sich verriegelte und sich auf ihr Bett warf.

*

»Wie hat sie es aufgefasst?« Regine Deimann saß mit einer Stickerei auf dem Sofa des Salons und lauschte Mozarts Klarinettenkonzert aus dem Radio. Sie fertigte gerade ein Taschentuch mit Hohlsaumrand. Neben ihr hatte sich ihr apricotfarbener Zwergpudel namens Daisy schlafend zusammengerollt. Im Kamin loderte ein Feuer, das an diesem kühlen, regnerischen Maitag für angenehme Wärme sorgte.

»Ich mache mir Sorgen, Ludwig. Ich habe versucht mit Marga zu reden, aber sie öffnet mir nicht die Tür.«

Ludwig, der ihr gegenüber auf einem Sessel saß, räusperte sich und faltete die Zeitung zusammen, in der er gerade gelesen hatte. »Es wird sich zeigen. Margarethe wird zur Vernunft kommen – sie muss. Und das weiß sie. So haben wir sie erzogen: Disziplin und Anstand sind nun einmal die wichtigsten Tugenden. Leider hat unsere Erziehung bei Richard nicht so gefruchtet. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Ich werde ihn trotzdem demnächst ins Unternehmen einführen. Er ist fast 20, genau das richtige Alter, um an die Firmengeschicke herangeführt zu werden. Ich werde ihm zunächst einfache Aufgaben übertragen. Vielleicht kommt er ja doch noch auf den Geschmack. Und Marga ist 17. Ihre Jugend liegt hinter ihr. Auch sie ist fast erwachsen. Es ist an der Zeit, dass sie einen Mann findet, der sie ernähren kann und ihr einen angenehmen Lebensstil bietet.«

»Du hast recht, Ludwig. Vielleicht hätten wir Marga nicht so verwöhnen sollen. Dann wäre sie jetzt dankbarer.«

»Lass ihr Zeit, Regine, wenn sie Erich erst einmal gesehen hat, wird sie erkennen, dass er der Richtige für sie ist.«

»Und wenn sie sich weigert?« Regine sah zweifelnd zu ihrem Mann auf.

»Ich vertraue darauf, dass sie es nicht tut. Marga weiß, was sie uns zu verdanken hat. Und im Grunde weiß sie auch, was sie braucht, um ein glückliches Leben zu führen. Sie wird sich fügen, Regine, sei unbesorgt.«

»Ich glaube, ich werde heute meinen Bridgeabend fallen lassen«, sagte sie resigniert. »Meine Tochter braucht mich. Ich muss für sie da sein, wenn sie mir ihr Herz ausschütten möchte.«

»Sie hat doch Anne«, erwiderte Ludwig. »Das Dienstmädchen wird dafür bezahlt, dass es Marga zuhört.«

»Ich glaube, du hast recht, Ludwig.« Regine Deimann seufzte und nahm ihr Stickzeug wieder auf.

*

Marga lag erschöpft auf ihrem Bett, den Kopf in die Kissen vergraben, als jemand an die Tür klopfte. »Ja bitte?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.

Die Tür wurde leise geöffnet. »Ich bin’s nur«, sagte Anne. »Ich soll dir die Haare machen.«

»Ist es schon so spät?«

»Der Besuch wird bald da sein.«

»Wann?«

»In einer Stunde.«

»Dann ist ja noch Zeit.« Marga blieb ermattet liegen. »Komm später wieder, Anne. In einer halben Stunde. Das wird reichen.«

»Bist du sicher? Deine Mutter hat mir aufgetragen, ich soll mir Mühe geben, es sei ein wichtiger Besuch.«

»So wichtig kann er gar nicht sein, wenn ich den Kerl noch nicht einmal kenne«, sagte sie trotzig.

»Ich habe dir nur ausgerichtet, was deine Mutter gesagt hat«, erwiderte die Dienstbotin geduldig.

»Dann ist Mama also der gleichen Meinung wie Papa. Freut mich zu hören!« Marga setzte sich im Bett auf. Ihre Haare waren zerzaust und sie war blass im Gesicht. »Schon gut, Anne. Ist ja auch nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür. Trotzdem, bitte komm später wieder, ich möchte allein sein.«

»Ich kann dich verstehen«, sagte das Mädchen beklommen und zog sich zurück.

Marga wartete, bis sie verschwunden war, und schlich sich aus ihrem Zimmer. Leise verließ sie das Haus über die Dienstbotentreppe und durch den Hintereingang.

Sie traf Thies, den Stallburschen, im Pferdestall, wo er damit beschäftigt war, die Box von Contesse auszumisten, ihrer Lieblingsstute. »Marga«, rief er erschrocken, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Wie siehst du aus, was ist passiert?«

Sie warf sich in seine Arme. »Ich soll verheiratet werden«, brachte sie mühsam hervor. Sie presste sich dicht an ihn und schlang ihre Arme um seinen Hals. Thies war einen halben Kopf größer als sie. Die Wärme seines Körpers tat ihr gut. Er roch nach einem würzigen Rasierwasser und nach Pferdestall.

»Wie bitte?«, fragte er und streichelte ihr über die langen, blonden Locken, die sie mit einer Spange gebändigt hatte. »Wer sagt das?«

»Papa. Und Mama ist auf seiner Seite. Wir dürfen uns nicht mehr sehen, Thies. Der Mann ist steinalt. Ich soll ihn heiraten, damit Papa einen Nachfolger für seine Fabrik hat. Die Zigarrenfabrik. Immer nur die öde Fabrik. Seit ich denken kann, geht es in unserer Familie immer nur ums Geschäft.«

Thies Henningsen streichelte ihr über den Kopf. Er studierte Jura und verdingte sich als Stallbursche für die Familie Deimann, um sich das Studium zu finanzieren. »Wer ist er überhaupt? Kenne ich ihn?«