Nach einem schweren Schicksalsschlag folgt Angela der Einladung ihrer Tante, sie in Asenza im Veneto zu besuchen. Doch die Auszeit nimmt eine unerwartete Wendung, als die »Seidenvilla«, die letzte traditionelle Seidenweberei des Ortes, kurz vor dem Aus steht. Angela beginnt, mit ihrer Tante Pläne zu schmieden, wie man die Seidenvilla retten könnte. Der Besitzer würde Angela die Weberei verkaufen, allerdings sind daran einige Bedingungen geknüpft. Und dann trifft sie unerwartet einen Mann, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt ... Doch ist sie bereit für einen Neuanfang in Italien und eine neue Liebe?
Ein mitreißender Roman um Liebe, Vertrauen und den schönsten Stoff der Welt: Seide
Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie wurde in der Hölderlin-Stadt Tübingen geboren und wuchs in Süddeutschland sowie in Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald, Ausgangspunkt zahlreicher Reisen in die ganze Welt. Die herrlichen Landschaften, die sie dabei kennenlernt, finden sich als atmosphärische Kulisse in ihren Frauenromanen wieder.
Tabea Bach
Die
SEIDEN
VILLA
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
itelillustration: © Slow Images/getty-images;
© Nikaa/Trevillion Images; © Atlantide Phototravel/getty-images
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-7788-1
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Die Blüten leuchteten. Sie blendeten Angela trotz der Sonnenbrille, die sie trug, und doch konnte sie die Augen kaum von ihnen abwenden. Während sie Hand um Hand schüttelte und sich in Arme schließen ließ, die Anteilnahme all der Menschen hinnahm wie das Wetter, das unverschämt frühlingshaft war an diesem Tag Anfang April, sah sie immer wieder hinüber zu dem Hügel voller Blumengebinde – weiße Rosen, gelbe Narzissen, Tulpen und Pfingstrosen in ihrer rosa-, pink- und lilafarbenen Pracht. Ihr Duft hatte Bienen und Hummeln von wer weiß woher angelockt, sie umsummten das Grab ihres Mannes, als gäbe es kein Sterben auf dieser Welt.
Angela hatte keine Tränen mehr, sie waren bereits vor Wochen versiegt. Zwei Jahre hatte sie dem langsamen Verlöschen jenes Menschen beigewohnt, den sie mehr geliebt hatte als ihr Leben. Am Ende war der Tod eine Erlösung für sie beide gewesen, auch wenn niemand das verstand, der nicht die ganze Zeit dabei gewesen war. Und außer ihrer Tochter Nathalie, die mit ihren neunzehn Jahren aufrecht wie eine Kerze neben ihr stand und ihr Kraft und Halt gab, wusste keiner, was hinter ihr lag.
Endlich löste sich die Menschenschlange auf, und mit dem Gefühl, als hätte irgendjemand eine Fernbedienung, die ihre Bewegungen steuerte, begleitete Angela die Trauergäste zu Kaffee und Kuchen in Peters Lieblingsrestaurant am Ammersee, beobachtete sich selbst, wie sie Fragen beantwortete und mit jedem, der das Bedürfnis hatte, ihr sein Beileid auszusprechen, ein paar freundliche Worte wechselte. Sie war jedem Einzelnen dankbar. Und doch strengte sie das alles ungeheuer an.
Unglaublich viele Menschen waren gekommen, um von Peter Abschied zu nehmen. »Die Besten gehen zuerst«, sagte einer seiner wichtigsten Auftraggeber immer wieder, und alle, die es hörten, stimmten ihm zu. Peters Freund und Kompagnon Markus nahm sich seiner an, und Angela war ihm dankbar dafür. Es war anstrengend genug für sie, immer wieder aufs Neue tröstlich gemeinte Worte von ihren nächsten Freunden und Verwandten zu hören, wo doch in Wahrheit kein Trost zu finden war. Und erst als auch dies überstanden war, als sich die letzten Gäste verabschiedet hatten, merkte Angela, wie müde sie war.
Das Haus war leer und still – eine Wohltat nach diesem qualvollen Tag. Angela war sich klar darüber, dass der eigentliche Abschied von ihrem Mann schon viel früher stattgefunden hatte. Der ausgelaugte, entkräftete Körper, dessen Herz schließlich zu schlagen aufgehört hatte, war schon längst nicht mehr Peter gewesen, nur noch ein Schatten der Erinnerung an vergangenes Leben. »Ich will, dass du weiterlebst«, hatte ihr Mann ihr so oft gesagt. »Es ist mein Wunsch, dass du wieder fröhlich wirst und das Dasein auch ohne mich genießt!« Angela hatte es sich nicht vorstellen können. Auch jetzt war es kaum denkbar.
Sie nahm eine Tablette gegen die aufsteigenden Kopfschmerzen, zog das schwarze Kleid aus und hängte es zum Lüften an den Schrank, widerstand der Versuchung, die Schiebetür direkt daneben aufzudrücken, hinter der sich Peters Kleidung verbarg. Maßanzüge, italienische Modelle, jedes Stück elegant und doch so schlicht.
Angela schlüpfte in ihren Schlafanzug, obwohl es noch hell draußen war, machte sich einen Kräutertee und ging ins Wohnzimmer. Alles war so vertraut. Die Bilder befreundeter Künstler an den Wänden. Die beigen Polstermöbel. Der Designertisch aus Glas und Edelstahl. All das hatten sie gemeinsam ausgesucht, doch heute kam es Angela so vor, als betrachtete sie ein fremdes Glück, das nicht mehr existierte.
War es nicht so? Aber warum fremd?
Sie ließ sich in einen Sessel fallen und sah in den Garten hinaus. Überall sprießte und blühte es. Schneeglöckchen, Krokusse, Märzenbecher und die blauen Traubenhyazinthen, die sie so liebte.
Sie hob den Blick über die noch kahle Buchenhecke und sah in der Ferne den See, dahinter die schneebedeckten Alpen, dessen Anblick sie immer so beglückt hatte. »Welch ein Paradies«, hatte Peter oft gesagt, und Angela hatte ihm zugestimmt. Doch heute brachte dieses herrliche Panorama nichts mehr in ihr zum Klingen …
»Mami«, hörte sie Nathalies Stimme, »bist du da?« Im nächsten Augenblick stürmte ihre Tochter herein. »Puh«, machte Nathalie und warf sich in den Sessel ihrer Mutter gegenüber. »Tante Simone wollte unbedingt ein paar Tage bei uns bleiben. Sie hat behauptet, man könne dich doch jetzt nicht allein lassen. Ich hab gesagt, dass du deine Ruhe brauchst. Das stimmt doch, oder?«
Angela lächelte amüsiert. Sie kannte ihre Schwägerin. Und natürlich meinte sie es gut. »Das ist lieb von dir«, sagte sie. »Hoffentlich warst du nicht unfreundlich zu ihr.«
»Aber nein«, beruhigte Nathalie sie liebevoll. »Ich hab ihr gesagt, dass du keineswegs allein bist, schließlich hast du mich. Darauf konnte sie nichts mehr sagen.«
»Danke …«
Angela betrachtete zärtlich ihre einzige Tochter. Auch sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. Angela wusste, dass für Nathalie die vergangenen Monate ebenfalls schwer gewesen waren. Sie hatte ihren Vater sehr geliebt. Aus einem sorglosen Teenager war eine junge Frau geworden, sich ihrer selbst bewusst und schmerzerfahren. Eine äußerst attraktive Frau mit ihren dunkelgrünen Augen und dem kastanienbraunen Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte. An diesem Tag hatte sie es zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt. So wie sie selbst war auch Nathalie in den letzten Monaten dünner geworden, was sie zerbrechlich aussehen ließ, und doch besaß ihre Tochter eine schier unerschöpfliche Energie. Angela fragte sich, ob sie früher auch so gewesen war. So voller pulsierendem Leben, voller Pläne. Und trotz der harten Zeit, die hinter ihnen beiden lag, voller Optimismus. Das hat sie von Peter, sagte Angela sich und schloss erschöpft die Augen. Alles in diesem Haus zeugte von Peters Wesen. Und von seiner endgültigen Abwesenheit.
»Hast du gesehen?«, fragte Nathalie. »Tess hat geschrieben.«
Angela wandte überrascht den Kopf. »Wirklich? Das ist aber nett.«
»Ich hab den Brief geöffnet, weil ich dachte, es wäre eine der vielen Kondolenzkarten, und du wolltest ja, dass ich dir das abnehme. Es ist allerdings ein persönlicher Brief an dich, Mami. Willst du ihn lesen?«
»Morgen vielleicht«, antwortete Angela. »Für heute habe ich genug Beileidsbekundungen gehört.«
»Ja, schon«, entgegnete Nathalie aufgeregt. »Nur, der Brief ist ganz anders! Tess lädt dich zu sich ins Veneto ein. Sie findet, du brauchst Urlaub. Abstand von … von allem eben. Und weißt du was? Ich finde, sie hat recht!«
Angelas erste Reaktion war Abwehr. Doch dann sah sie den besorgten Ausdruck in den Augen ihrer Tochter und fühlte die Liebe, die von ihr ausging. Nathalie machte sich Sorgen, und das berührte sie.
»Ich denke darüber nach«, sagte sie sanft. »Morgen.«
»Versprochen?«, setzte Nathalie nach. Angela musste lachen. Das war ein altes Ritual zwischen ihnen, seit Nathalie sprechen konnte. Denn mindestens seit diesem Zeitpunkt war es ihre Art gewesen, alle möglichen Dinge auszuprobieren, die Angela eigentlich noch viel zu gefährlich für sie fand. Statt ihr etwas zu verbieten, hatte sie Nathalie immer erst das Versprechen abgenommen, vorsichtig zu sein. Jetzt hatte sie offenbar die Rollen getauscht.
»Versprochen«, sagte sie. Und schon beim Einschlafen fand sie den Gedanken, eine Weile wegzufahren, gar nicht mehr so abwegig.
Am nächsten Morgen wachte Angela mit einem Lächeln auf den Lippen auf. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe ihr alles wieder einfiel. Sie hatte von Blumen geträumt, um die Bienen summten. Im Traum hatte sie ihr Gesicht in die Sonne gehalten, und jemand hatte ihre Hand genommen und sie in ein Haus geführt, in ein großes Haus, dessen Wände mit Blumen bemalt waren und an dessen Decken Sonne, Mond und Sterne leuchteten. Dann war die Hand auf einmal nicht mehr da gewesen, und sie hatte einen unwiederbringlichen Verlust gefühlt. Aber nur kurz, denn eine neue Tür zu einem neuen Raum war geöffnet worden. Etwas Schönes war geschehen, doch bereits während des Aufwachens konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, was …
Der Traum zerrann, Angela öffnete die Augen. Und ehe Trauer und Verzweiflung sie überfallen und lähmen konnten, schlug sie entschlossen die Decke zurück und stand auf. Während Peters Krankheit hatte sie sich an eine eiserne Routine gehalten, die ihr geholfen hatte, nicht zusammenzubrechen. Und obwohl sie niemals weiter in die Zukunft gedacht hatte als bis zur Beerdigung, oder vielleicht gerade deswegen, zog sie auch heute ihre Joggingsachen an, schnürte ihre Laufschuhe und verließ das Haus.
Das Laufen tat ihr gut. Ihre rastlosen Gedanken gaben Ruhe. Ihre Beine fanden von ganz allein den Weg hinaus aus der Ortschaft und den Feldweg entlang bis zum nächsten Dorf, hinunter zum See und am Ufer zurück. Auf der Promenade kamen ihr zwei Männer entgegen, der eine war ein Segelfreund von Peter, der seinen Hund spazieren führte. Angela nahm seinen mitleidvollen Blick wahr, als sie ihn grüßte.
»Die Allerärmste«, hörte sie ihn zu seinem Begleiter sagen. »Gerade mal fünfundvierzig Jahre alt und hat gestern ihren Mann begraben.«
Es war, als hätte ihr jemand in die Kniekehlen geschlagen. Angela geriet ins Taumeln, beinahe wäre sie gestürzt. Und dann wurde sie wütend, so sehr wie schon eine Ewigkeit nicht mehr. Würde das von jetzt an immer so sein? War und blieb sie nun die bedauernswerte Witwe, eine »Allerärmste«, die das Unglück heimgesucht hatte?
Unwillig schüttelte sie den Kopf und verfiel wieder in ihre übliche Laufgeschwindigkeit. Sie durfte nicht so empfindlich sein. Die Leute meinten es nicht böse. Doch als sie am Kiosk kurz vor dem Aufstieg zu ihrem Haus wie immer eine Zeitung kaufte, traf sie von der Besitzerin, einer älteren Frau, die sie schon lange kannte, ein ganz ähnlicher Blick. Sie las Mitgefühl darin, auch die Erleichterung, selbst nicht so hart vom Schicksal getroffen worden zu sein. Und schlecht verhohlene Neugier, wie sie, Angela, damit wohl fertig werden würde.
Das letzte steile Stück ihrer Joggingroute verlangte ihre gesamte Konzentration. Sie hatte gelernt, störende Gedanken auszublenden und sich ganz auf ihren Körper zu fokussieren. Und doch hatte sie, als sie die Haustür aufschloss, eine Entscheidung getroffen. Sie würde Tess’ Einladung annehmen und sie besuchen. Als sie kurz darauf unter der Dusche stand und das Wasser nur so auf sich herunterprasseln ließ, wurde ihr auch klar, warum. Was sie brauchte, war die Gesellschaft von Menschen, die sie so nahmen, wie sie jetzt war. Um selbst herausfinden zu können, was von ihr nach allem, was geschehen war, übrig geblieben war.
Nathalie war bereits nach München aufgebrochen, wo sie im vergangenen Herbst begonnen hatte, Kunstgeschichte zu studieren, und hatte Angela einen Zettel voller Herzen und mit der Nachricht hinterlassen, dass sie am späten Nachmittag zurück sei. Die Vorlesungen begannen zwar erst in zwei Wochen, doch Nathalie arbeitete bereits an einer Seminararbeit und recherchierte dafür in der Institutsbibliothek. Angela nickte zufrieden, ihre Tochter war ebenso diszipliniert wie sie und behielt ihre Routine bei.
Der Morgen verging mit der Erledigung jener unerfreulichen bürokratischen Angelegenheiten, die auf einen Todesfall unweigerlich folgten. Angela telefonierte mit Versicherungen, mit dem Beerdigungsinstitut, mit dem Friedhofsamt und der Gärtnerei. Sie machte Kopien von Peters Sterbeurkunde und setzte förmliche Briefe auf. Sie tat das alles mit derselben Routine, wie sie in der Vergangenheit Anträge an die Krankenkasse, die Pflegeversicherung und Schreiben an ihre Geldinstitute oder Spezialkliniken verfasst hatte. Sie wusste, dass sie außerdem noch einige weitreichende Entscheidungen treffen musste.
Peter hatte mit seinem Freund Markus eine Baufirma aufgebaut, die über die letzten zwanzig Jahre gewachsen war und sich zu einem großen, erfolgreichen Unternehmen entwickelt hatte. Seine Anteile hatte er rechtzeitig auf sie und Nathalie übertragen. Und doch gab es viele Dinge zu klären. Angela vermutete, dass Markus ihr Zeit lassen würde. Doch sie selbst wünschte sich in ihrem eigenen Interesse eine baldige Klärung der Verhältnisse. Noch war sie zu keinem Entschluss gekommen.
Am Nachmittag, als sie sich sicher war, dass eine ältere Dame ihren Mittagschlaf beendet haben würde, wählte sie Tess’ Nummer im italienischen Veneto. Es war viele Jahre her, seit sie die Jugendfreundin ihrer Mutter zuletzt gesehen hatte, die für sie immer wie eine Tante gewesen war, die sie nie gehabt hatte. Eigentlich hieß sie Teresa, doch nachdem sie sich in John verliebt hatte, der als amerikanischer Soldat in Mannheim stationiert gewesen war, war sie ihm in die USA gefolgt, und seither nannte sie jeder nur noch Tess. Angela und Peter hatten die beiden in Florida besucht, doch das war lange her. Vor zehn Jahren war Tess zurück nach Europa gezogen, jedoch nicht nach Deutschland, sondern in eine Kleinstadt eine Autostunde nördlich von Venedig.
Angela hatte keine Ahnung, wieso die alte Dame ausgerechnet dort ihren Lebensabend verbringen wollte. Bevor Peter krank geworden war, hatte Nathalie einmal die Sommerferien bei Tess verbracht. Sie war restlos begeistert gewesen und mit dem unumstößlichen Entschluss zurückgekommen, Kunstgeschichte zu studieren, denn Tess hatte unermüdlich jedes Kulturdenkmal mit ihr abgegrast, das in der Umgebung zu finden war.
»Wann kommst du?«, fragte Tess ohne große Umschweife. »Es ist so schön, deine Stimme zu hören!«
»Ich würde dich tatsächlich gern besuchen«, sagte Angela, »wenn es dir wirklich recht ist und keine Umstände macht.«
»Mein Haus ist deines!«, entgegnete die alte Dame. »Du weißt ja, ich lebe allein. Platz ist genug. Du kannst kommen und bleiben, solange du willst.«
Angela überlegte. »Ich muss erst mit Nathalie sprechen«, wandte sie ein und wurde auf einmal unsicher. »Ich weiß nicht, ob ich schon so bald fahren kann, Tess … Immerhin hat sie gerade erst ihren Vater verloren.«
»Nathalie ist ein großes Mädchen«, hörte sie Tess sagen. »Ich bin mir sicher, sie kann für sich selbst sorgen. Und wenn nicht, bring sie einfach mit.« Einen Moment lang war es still in der Leitung. »Angela«, brach Tess das Schweigen, »das mit Peter tut mir unendlich leid. Aber ich werde dir nicht mit meinem Mitgefühl auf die Nerven gehen. Ich weiß, wie das ist. Nachdem John gestorben war, hielt ich es nicht mehr aus zu Hause. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn es alle schrecklich gut mit dir meinen. Hab ich recht?«
Angela musste lachen, es war jedoch ein trauriges Lachen, und auf einmal fühlte sie nach langer Zeit wieder Tränen hinter ihren Augen aufsteigen.
»Danke«, sagte sie. »Genau so ist es, Tess.« Eine Weile sagte keine von beiden etwas, dann fragte Angela: »Wie geht es dir denn? Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen!«
»Noch ein Grund, mich endlich zu besuchen«, meinte Tess. »Danke der Nachfrage, mir geht es gut. Mein rechtes Knie will manchmal nicht mehr ganz so wie ich, das ist in meinem Alter wohl nichts Besonderes.« Und als Angela nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Also, ich werde Emilia jetzt das Turmzimmer für dich herrichten lassen. Und du kommst einfach, wann immer du willst. Ja?«
»Gern, Tess«, brachte Angela mühsam heraus, obwohl sie einen Kloß im Hals stecken hatte. »Ich melde mich. Und nochmals danke!«
»Ist schon gut«, wehrte Tess lachend ab. »Vergiss nicht, ich bin eine egoistische alte Frau und wünsche mir nichts weiter als deine wunderbare Gesellschaft. Reiner Eigennutz, meine Liebe!«
Sie lachten miteinander, und als sie sich verabschiedeten, spürte Angela, wie sich etwas in ihrer Brust zu lösen begann. Ja. Genau diese Art von Humor und diese Offenheit waren das, was sie jetzt brauchte.
»Natürlich komme ich zurecht«, erklärte Nathalie entrüstet. »Du brauchst ganz dringend Tapetenwechsel, Mami. Und Asenza ist einfach ein Traum. Du sprichst doch so gut Italienisch! Ich kann nicht fassen, dass wir nicht schon viel früher mal alle zusammen dahingefahren sind. Das ist die Gegend, in der Palladio seine berühmtesten Villen gebaut hat. Die Landschaft ist wunderschön, und Tess’ Haus ist unglaublich.«
»Es gibt doch noch so viel zu regeln …«
»Das kann ich machen. Ich hüte das Haus und kümmere mich um alles. Wie ich dich kenne, hast du das meiste doch eh schon erledigt. Tess hat Internet im Haus. Du kannst also auf dem Laufenden sein, wenn du das unbedingt möchtest. Fahr nach Italien, Mami! Du wirst sehen, das tut dir gut.« Angela nagte unschlüssig an ihrer Unterlippe. »Ist es die lange Autofahrt?«, fragte Nathalie besorgt. »Soll ich dich begleiten? Ich könnte mit dem Zug zurück …«
»Aber nein.« Angela lächelte. »Das schaff ich schon. So weit ist es nun auch wieder nicht.«
»Im Grunde ist es nur auf der anderen Seite«, meinte Nathalie und wies aus dem Fenster in Richtung des prächtigen Alpenpanoramas. »Für den Fall, dass es notwendig wird, kannst du in ein paar Stunden wieder hier sein.« Und als Angela immer noch schwieg, fügte sie verschmitzt hinzu: »An deiner Stelle würde ich vor dem Wochenende verschwinden. Mein Gefühl sagt mir nämlich, dass am Sonntag die Verwandtschaft vor der Tür steht, damit du nicht so allein bist. Tante Simone hat so etwas angedeutet.« Nathalie grinste, als Angela erschrocken die Augen aufriss. Dann lachte sie.
»Na gut. Du hast mich überzeugt. Was ist heute für ein Tag? Mittwoch? Also sollte ich wohl besser anfangen zu packen.«
Angela war fast fertig, als ihre Tochter kam und sich zu ihr aufs Bett setzte. »Ich hab im Internet nachgesehen«, erzählte Nathalie und inspizierte neugierig den Inhalt des Koffers. »Das Wetter soll die ganze nächste Woche gut sein in Asenza.« Sie entdeckte bequeme Jeans, Blusen, T-Shirts und natürlich Sportsachen und zog die Stirn kraus. »Nimm auch ein paar von deinen schicken Sachen mit«, riet sie ihrer Mutter. »Tess kennt ein paar schrecklich vornehme Leute. Soll ich dir helfen? Wenn du willst, packe ich dir zusätzlich einen kleinen Koffer, ja? Für besondere Anlässe sozusagen.«
Angela konnte sich zwar nicht vorstellen, welche besonderen Anlässe bei Tess wohl auf sie warten würden, ließ ihre Tochter aber gewähren. Im Handumdrehen hatte Nathalie ihrer Mutter lauter Dinge eingepackt, die sie schon ewig nicht mehr getragen hatte. Wann hätte sie in den vergangenen zwei Jahren auch Gelegenheit gehabt, sich zum Ausgehen schick zurechtzumachen?
Noch beim Frühstück am Freitagmorgen erschien es Angela nahezu absurd, sich in den Wagen zu setzen und einfach davonzufahren. War sie denn abkömmlich? Das war so ungewohnt nach all der Zeit, in der sie nur für Peter da gewesen war. In Gedanken ging sie noch mal durch, was sie am Vortag alles in die Wege geleitet hatte. Mit dem Gärtner hatte sie nicht nur die Grabbepflanzung besprochen, sondern ihn auch gebeten, während ihrer Abwesenheit nach dem Garten zu sehen. Ihre Zugehfrau würde regelmäßig ins Haus kommen, sodass Nathalie zum Semesterbeginn beruhigt in ihre Wohngemeinschaft im Glockenbachviertel zurückkehren konnte. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben. Doch nachdem sie am Friedhof haltgemacht, lange an Peters Grab gestanden und vergeblich auf die Empfindung gewartet hatte, dass hier irgendwo noch etwas von ihm geblieben war, wurde ihr klar, dass nichts sie mehr zurückhielt. Als sie die Autobahn nach Garmisch erreichte, überfiel sie ein Gefühl von Freiheit. Sie war unterwegs.
Angela holte tief Luft. Und konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so erleichtert gewesen war.
So rein und klar war die Luft, so blau der Himmel und gleißend die schneebedeckten Gipfel, dass Angela die Fahrt über die Alpen wie ein Übergang aus einem düsteren Winter voller Trauer und Schmerz in ein schwereloses Reich aus Licht und Sommer erschien. Die Südtiroler Bergwelt mit ihren schroffen Tälern und steil aufragenden Flanken aus Granit und Eis, die bizarren Formationen, die ihre Gestalt auf ihrer Fahrt ständig zu verändern und zu verschieben schienen, erinnerten sie daran, wie klein und unbedeutend das einzelne Menschenschicksal doch war im Vergleich zu den Jahrmillionen, in denen sich die Erde geformt und gefaltet hatte, bis dieses mächtige Gebirge hatte entstehen können.
Sie passierte den Brenner, und ihr Wagen rollte in weiten Serpentinen hinunter nach Brixen und weiter nach Bozen und in das Tal der Etsch. Die steinernen Riesen blieben hinter Angela zurück, und sie tauchte mehr und mehr ein in fruchtbares Land, wo Obstbäume in voller Blüte standen und die nach Süden geneigten Hänge mit dem frischen Grün der in regelmäßigen Reihen gepflanzten Weinreben bedeckt waren. Die Sonne schien hier viel intensiver als zu Hause, und im Auto wurde es warm.
Angela machte an einer Raststätte halt, zog ihre Wolljacke aus, aß ein mit luftgetrocknetem Speck und eingelegten Tomaten belegtes panino, trank einen Kaffee und kaufte sich eine Flasche Mineralwasser, ehe sie weiterfuhr. Zwei Stunden und fünf Minuten gab ihr Navigationsgerät für die restliche Strecke an.
Die schien sie durch einen einzigen großzügigen Garten zu führen. »Monte Grappa« las Angela auf einem Schild, und sie erinnerte sich, dass der berühmte Tresterschnaps gleichen Namens aus dieser Gegend stammte. Rosarot getupfte Hänge mit Plantagen voller blühender Aprikosenbäume säumten ihren Weg, und immer wieder sah sie Gruppen von schlanken, hoch aufgeschossenen Zypressen, die wie dunkelgrüne Finger mahnend gen Himmel zu weisen schienen. Als sie schließlich hier und dort Zitronenbäume entdeckte, an denen aus dem dunkelgrünen Laub nicht nur Blüten, sondern auch noch einige Früchte leuchteten, atmete sie auf. Fast hatte sie es geschafft. Nur noch wenige Kilometer trennten sie von ihrem Ziel.
Bald entdeckte Angela in der Ferne auf einem kegelförmigen Hügel eine stattliche Ansammlung wehrhafter Häuser, Türme und Zinnen aus Travertingestein, das in der späten Nachmittagssonne schimmerte wie reines Gold.
Tess hat sich da ein ganz besonderes Fleckchen Erde ausgesucht, dachte sie, als sie die Serpentinen der steilen Zufahrtsstraße nach Asenza hinauffuhr. Jede Biegung bescherte ihr einen noch herrlicheren Blick nach Süden, wo sie unter einem Schleier aus Dunst Venedig vermutete. Dann passierte sie ein trutziges Tor und fand sich innerhalb einer mittelalterlichen Stadtanlage wieder. Die Straße verengte sich, und obwohl sie langsam fuhr, dröhnten die Reifen auf dem Pflaster.
Vorsichtig überquerte Angela einen trapezförmigen, leicht ansteigenden Platz, folgte der Anweisung ihres Navigationsgeräts und bog links in eine Gasse ein. Einige Hundert Meter führte sie diese in einer Schleife sanft bergan, bis sie schließlich vor einem schmiedeeisernen Tor endete. Angela schaltete den Motor ab und stieg aus.
Zwischen den uralten Mauern staute sich die frühlingshafte Wärme, der Duft von Rosen mischte sich mit dem herben Aroma von Zedern. Das Gezwitscher unzähliger Vögel drang aus dem dichten Laub der Bäume jenseits des Tores. Eine Hecke stand in hellgelber Blüte. Angela wollte eben nach einer Klingel beim Tor suchen, als sie Schritte hörte, die sich rasch näherten. Eine pummlige Frau um die fünfzig mit freundlichen Lachfältchen um die Augen kam den Kiesweg herunter zum Tor.
»Signora Angela?«, fragte sie und öffnete den Riegel. »Benvenuta! Ich bin Emilia. Die Signora erwartet Sie schon.«
Quietschend öffneten sich die beiden Flügel des alten Tores. Emilia winkte sie herein, und Angela fuhr langsam die Einfahrt hoch, die von prächtigen Strauchrosen gesäumt wurde. Angela war überrascht, mitten in dieser Altstadt, die ihr so eng und gedrängt erschienen war, einen so großzügigen Garten vorzufinden. Entlang der Mauer stand eine Reihe von Bäumen mit dunklen Laubkronen, eine mächtige, uralte Zeder reckte ihre fedrigen Äste über einen Teil des herrschaftlichen Hauses. Wie die ganze Stadt war auch Tess’ Anwesen aus dem gelblichen Travertin erbaut. Es wirkte trutzig und verwinkelt. Im hinteren Teil erhob sich ein wehrhafter Turm, der mit Zinnen gekrönt war.
»Hier können Sie Ihr Auto abstellen«, rief Emilia ihr auf Italienisch durchs offene Autofenster zu und wies auf einen mit Glyzinien überrankten Parkplatz.
Noch ehe Angela ihr Gepäck aus dem Kofferraum holen konnte, war ein junger Mann zur Stelle, den Emilia als ihren Sohn Gianni vorstellte und der Angela versicherte, dass sie sich von nun an um nichts mehr zu kümmern brauche.
»Lei deve essere stanchissima«, erklärte die Haushälterin mit warmer Stimme. »Sie müssen müde sein nach so einer langen Fahrt! Bitte kommen Sie.«
Sie führte Angela ins Haus und durch einen dunklen Korridor eine Treppe hinauf in den ersten Stock und öffnete die Tür zu einem lichtdurchfluteten Zimmer. Angela schloss geblendet die Augen.
»Da bist du ja! Herzlich willkommen in der Villa Serena«, hörte sie eine altvertraute Stimme. Vor einer beeindruckenden Glasfront, die die gesamte Breite des Raumes einnahm und die nur von gotischen Fensterbögen unterbrochen wurde, erhob sich mühsam eine Gestalt. Angela beeilte sich, Tess entgegenzugehen. Die alte Dame schloss sie in die Arme. Sie hielten sich lange fest. »Gut, dass du da bist«, sagte Tess. »Lass dich ansehen! Mager bist du geworden! Und blass. Du lieber Himmel! Das werden wir ändern. Emilia kocht fantastisch, und der Frühling hier im Veneto wird dir guttun! Setz dich doch! Wie war die Fahrt?«
»Danke, gut. Ich habe mir Zeit gelassen.«
Erst jetzt begriff Angela, dass sie sich im ersten Obergeschoss des Turms befanden, den sie beim Hereinfahren entdeckt hatte. Sie nahm Tess gegenüber Platz und sah aus dem Fenster. Der Ausblick nahm ihr fast den Atem.
»Schön, nicht?«, fragte Tess mit einem breiten Lächeln.
»Schön ist gar kein Ausdruck«, brachte Angela heraus.
»An manchen Tagen kann man sogar Venedig sehen«, erklärte Tess. »Aber meistens ist die Serenissima unter einem Schleier verborgen wie eine kokette Frau.« Ein unwirklicher zartvioletter Schein lag über der sanft in Richtung Süden abfallenden Landschaft. Weinberge, Obsthänge, Wiesen und Felder gingen allmählich über zu einer schier endlos scheinenden Ebene und verschwammen in der Weite, die sich in einem golden schimmernden Horizont verlor. Im Westen näherte sich gerade die Sonne ihrem täglichen Untergang, sie brachte den Himmel zum Verglühen. »Was ist?«, unterbrach Tess Angelas sprachloses Staunen. »Trinkst du einen Prosecco mit mir zur Feier des Tages?«
»Gern!«, antwortete Angela und betrachtete liebevoll ihre Gastgeberin.
Tess war älter geworden, aber unter dem silbergrauen Pagenschnitt blitzten sie dieselben hellwachen kobaltblauen Augen an, die sie früher an ihrer Nenntante so bewundert hatte. Tess war Mitte siebzig und immer noch sehr schlank.
»Willkommen in Asenza«, sagte Tess. »Bitte fühl dich hier wie zu Hause!«
Emilia brachte einen Teller mit gesalzenen Mandeln und selbst gebackenen knusprigen Grissini und einen Prosecco aus dem benachbarten Val Dobbiadene.
»La cena è quasi pronta«, kündigte Emilia das baldige Abendessen an. »Gibt es irgendetwas«, fragte sie vorsichtig, »das Signora Angela nicht mag?«
»Angela mag alles«, sagte Tess, »nicht wahr?« Angela nickte lächelnd. Das war schon immer so gewesen, und es hatte sich nicht geändert. Emilia atmete erleichtert auf. Nur allzu große Portionen, dachte Angela, die schaffe ich momentan nicht. Doch vorsichtshalber sprach sie das nicht laut aus. »Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«, fragte Tess, während Emilia den Prosecco einschenkte. »Fünf Jahre?«
»Mama ist vor fünf Jahren gestorben«, antwortete Angela. »Es war sehr lieb von dir, dass du zur Beerdigung gekommen bist.«
»Das war selbstverständlich«, unterbrach Tess sie. »Sie war wie eine Schwester für mich. Ich wäre auch jetzt gekommen, Angela, doch mit meinem Knie …«
»Das versteh ich doch, Tess«, beruhigte Angela sie. »Mir tut es leid, dass ich dich noch nie hier besucht habe.«
»Jetzt bist du ja da«, sagte Tess und stieß mit ihr an. »Das ist die Hauptsache.«
Angela nahm einen Schluck. Der Prosecco erfrischte sie und prickelte auf ihrer Zunge.
»Nathalie hat oft von Asenza geschwärmt«, bemerkte sie.
»Deine Nathalie ist ein fabelhaftes Mädchen. Du kannst stolz auf sie sein«, erklärte Tess und knabberte an einem Gebäckstück. »Ich werde den Sommer mit ihr nie vergessen. Damals war ich noch besser auf den Beinen«, fügte sie wehmütig hinzu. »Was haben wir nicht alles miteinander unternommen!«
»Danach hat sie beschlossen, Kunstgeschichte zu studieren«, bestätigte Angela. »Und nichts hat sie mehr davon abbringen können. Sie hat sogar freiwillig Italienisch gelernt. Im Augenblick schreibt sie eine Seminararbeit über irgendeinen Aspekt die Architektur Palladios betreffend, ich habe vergessen, worum genau es geht …«
»Über die Abweichungen der römischen Villenstruktur in Palladios Werk, untersucht anhand der Villa Barbaro in Maser«, verkündete Tess mit einiger Befriedigung in der Stimme.
Angela riss verblüfft die Augen auf. »Woher …«
»Wir haben regen E-Mail-Kontakt, deine Tochter und ich«, erklärte Tess mit einem verschmitzten Lächeln. »Hin und wieder schickt sie mir auch eine Nachricht per WhatsApp. Weißt du was?«, rief sie aus. »Wir machen jetzt ein Selfie und schicken es ihr. Damit sie weiß, dass du gut angekommen bist!«
Die alte Dame zückte ihr Smartphone, das in einer mit glitzernden Steinen besetzten Hülle steckte, und winkte sie heran. Angela kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Tess tat so, als bemerkte sie es nicht, und schoss ein paar schöne Bilder von ihnen beiden. Dann setzte sie ihre Lesebrille auf und tippte auf dem Display herum. »So«, rief sie zufrieden aus, »erledigt! Möchtest du jetzt deine Zimmer sehen? Du kannst dich bis zum Abendessen noch eine Weile hinlegen.«
Emilia ging voran. Die rundliche Italienerin erklomm erstaunlich behände zwei weitere Stockwerke, bis es nicht mehr höher ging, und öffnete eine schwere Tür aus dunklem Holz.
»Eccoci!«, rief sie aus und schaltete das Licht an. Angela trat über die Schwelle und fand sich in einem geschmackvoll mit alten Möbeln eingerichteten Salon wieder. Zwei bequem wirkende Sessel und ein dazu passender Zweisitzer gruppierten sich vor einem offenen Kamin. An einem ganz ähnlichen Fenster wie in Tess’ Salon stand ein quadratischer Tisch mit gedrechselten Beinen und ebensolchen Stühlen. »Das Schlafzimmer ist dort drüben«, erklärte Emilia, durchquerte den Salon und öffnete gegenüber eine weitere Tür zu einem Raum, in dem Angela ihr Gepäck entdeckte. »Und das Badezimmer befindet sich nebenan. Handtücher liegen bereit, das Bett ist bezogen. Im Schrank hängt ein Frotteemantel. Außerdem finden Sie darin eine warme Decke, denn die Nächte sind manchmal noch frisch hier oben. Und wenn etwas fehlt, per favore, Signora, sagen Sie es mir. Und jetzt lass ich Sie erst einmal ein bisschen in Ruhe. Gianni wird Sie zum Abendessen holen. Va bene?«
»Ja, vielen Dank!«
Emilia verschwand, und Angela ließ sich erschöpft auf das Bett fallen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, als ob sich der Raum um sie drehte. Sie schloss die Augen. Das Gefühl blieb. Das macht die Fahrt, sagte sie sich, zog die Beine an und rollte sich auf die Seite. Im nächsten Augenblick war sie eingeschlafen.
Ein zaghaftes Klopfen weckte sie auf. Sie fuhr hoch. Es war dunkel. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Sie tastete nach einem Lichtschalter und riss die Nachttischlampe herunter. Desorientiert stand sie auf und tapste vorsichtig durch den Raum zur noch immer offen stehenden Tür, die zum Salon führte und durch die ein fahler Lichtschein fiel. Endlich fand sie einen Lichtschalter, schloss geblendet die Augen und öffnete die Tür. Gianni stand davor und sah sie erschrocken an.
»La cena è pronta«, sagte er verlegen. »Ich soll Sie zum Essen holen.«
Angela wäre am liebsten wieder zurück ins Bett gekrochen, sie fühlte sich wie erschlagen und aus tiefen Träumen gerissen. Doch das konnte sie Tess an ihrem ersten Abend nicht antun.
»Gleich«, sagte sie und rieb sich die Augen. »Ich brauche nur ein paar Sekunden.«
Sie ging ins Badezimmer. Dort spritzte sie sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, starrte ihr zerknittertes Spiegelbild an, kramte ihren Kosmetikbeutel aus dem Koffer und kämmte sich wenigstens das Haar. Sie wischte sich die zerlaufene Wimperntusche ab und zog ihre Lippen nach. Hoffentlich erschienen an diesem Abend noch keine vornehmen Gäste. Und wenn doch, so war es ihr in ihrem erschöpften Zustand auch egal.
Tess saß bereits bei Tisch, als Angela das geräumige Esszimmer im Erdgeschoss des Turms betrat. Als Vorspeise gab es eine cremige Erbsensuppe, und mit ihr kam auch Angelas Appetit.
»Ich dachte, nach der Fahrt magst du sicher etwas Leichtes«, meinte Tess, als Emilia eine Platte mit gedünstetem Fisch auftrug. Dazu reichte sie eine leckere Zitronensoße.
»Danke«, antwortete Angela erleichtert, »das ist genau das Richtige.«
Sie sprachen nicht viel an diesem Abend. Tess war feinfühlig genug, um Angelas Erschöpfung wahrzunehmen. Nach dem Essen brachte Emilia duftenden Lindenblütentee, den sie schweigend tranken, dann entschuldigte sich Tess und ging zu Bett.
Als Angela ihr Reich wieder betrat, summte es nur so in ihrem Kopf vor Müdigkeit. Sie nahm eine heiße Dusche und schlüpfte in ihren Pyjama, holte die Decke aus dem Schrank, für alle Fälle. Als sie die Laken zurückschlug, musste sie lächeln: Emilia hatte ihr eine Wärmflasche ins Bett gelegt und daneben ein Paar weiche weiße Baumwollsocken mit gehäkeltem Spitzenrand.
Angela kam sich nur einen Augenblick lang albern vor, dann zog sie die Bettsöckchen über ihre Füße und kuschelte sich in das noch ungewohnte Bett. Sie überlegte, ob sie die hölzernen Fensterläden schließen sollte, doch sie hatte keine Lust, noch einmal aufzustehen. Also löschte sie das Licht und lauschte einige Atemzüge lang den Geräuschen der fremden Umgebung. Vor einem der Fenster sang ein Vogel eine letzte getragene Weise. Wie schön das klingt, dachte Angela. Und mit diesem Gedanken glitt sie hinüber in einen tiefen, traumlosen Schlaf.