CARLSEN-Newsletter: Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!

Unsere Bücher gibt es überall im Buchhandel und auf carlsen.de

 

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,

Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

 

In diesem E-Book befinden sich eventuell Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

 

 

Außerdem von Anna Woltz bei CARLSEN erschienen:

 

Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess

Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte

 

 

Dieses Buch wurde mit Unterstützung des
Nederlands letterenfonds, Amsterdam, veröffentlicht.

logo

 

Alle deutschen Rechte CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2017

Originalcopyright © 2014 by Anna Woltz, Amsterdam, Em. Querido’s Uitgeverij

Originalverlag: Em. Querido’s Uitgeverij, Amsterdam

Originaltitel: Honderd uur nacht

Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann

Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor unter Verwendung eines Bildes von shutterstock © Lavandaart

Lektorat: Katja Maatsch

Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN: 978- 3-646-92789-4

 

»We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that amongst these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.«

Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, 4. Juli 1776

 

Ist diese widerliche Geschichte im Internet wirklich meine?

Passe ich in das Märchen, das ich dem amerikanischen Zoll gleich auftischen werde?

Oder habe ich eine eigene Geschichte?

Ich weiß es nicht.

Ich bin vierzehn. Mein Vater trägt Cordhosen und sieht sich am liebsten die Sterne an. Und ach, fast hätte ich es vergessen – letzten Dienstag hat er die Welt zerstört. Meine Mutter ist Nora Quinn. Sie wurde in Irland geboren und spricht ab und zu englisch mit mir.

Ich meine: Sie spricht ab und zu mit mir. Immer auf Englisch.

Ihre Bilder hängen in Museen auf der ganzen Welt und wenn sie Lust hat, sich splitterfasernackt auszuziehen und auf unserem Dach ein neues Bild zu malen, dann macht sie das.

Ich bin ihre Tochter. Das war immer meine Geschichte.

Und jetzt habe ich nichts mehr.

1

Ich bin die Einzige, die weiß, was ich heute tun werde. Jedenfalls, wenn ich mich traue.

Meine Stiefel warten reglos auf dem glatten Flughafenboden. Wenn mich jemand ansieht, setzt mein Herz einen Moment aus. Ob sie mich erkennen? Fangen sie jetzt gleich an, mich zu beschimpfen?

Nichts geschieht. Die Leute in der Abflughalle sehen quer durch mich hindurch. Gestern noch haben sie alles über meinen verdorbenen Vater gelesen, aber heute fliegen sie in den Urlaub. Sie schleppen sich mit Koffern und kreischenden Kleinkindern ab und haben ihre Tweets längst vergessen.

Ich habe die Drohungen noch nicht vergessen.

Seit Dienstagabend geht mein Atem flacher. Mein Mund ist trocken. Irgendwo in meinem Kopf klingelt ununterbrochen eine Alarmglocke. Gefahr, sagt sie. Mach, dass du wegkommst. Hau ab.

Ich tue so, als wäre es vollkommen normal, dass ich hier ganz allein auf dem Flughafen stehe. Über meinem Kopf flackern die Anzeigetafeln, ich rieche Männerschweiß, ein Hund, so groß wie ein Kalb, wird in einem Plastikkäfig vorbeigefahren.

Alle dreißig Sekunden stecke ich die Hand in meine Tasche, weil ich nach meinem Telefon greifen will – aber jedes Mal macht mein Arm auf halber Strecke halt. Ich habe mein Telefon ausgeschaltet, zum ersten Mal in meinem Leben.

Ich hole meinen Reisepass hervor und blättere durch das Heftchen ohne Stempel. Bei meinem Foto halte ich inne. Ich sehe mir nicht gerne Fotos von mir selbst an. Meine Haare sind zu glatt, meine Augen zu groß, mein Gesicht zu blass. Ich sehe aus, als würde ich mich jeden Moment in nichts auflösen.

Aber das Foto in meinem Reisepass ist anders: Es wurde vor drei Jahren gemacht, als ich Fünftklässlerin war. Ich schaue forsch in die Kamera und sehe aus, als hätte ich megaviel Lust auf den Rest meines Lebens. Ich war elf und züchtete Kresse in leeren Eierkartons.

Dieses Mädchen bin ich also nicht mehr.

Neben dem Passfoto steht mein Name. Emilia Dezember de Wit. Im Ernst, so heiße ich.

Mein zweiter Name ist ein Einfall meiner Mutter, und auch, als ich zu spät kam und erst am 2. Januar geboren wurde, fand sie es eine großartige Idee, mich Dezember zu nennen.

Natürlich hätte mein Vater sagen können: »Vielleicht passt Sanne besser zu ihr. Oder Margriet.« Er hätte auch sagen können: »Komm, wir nennen sie Cosinus stumpfer Winkel de Wit.«

Dann hätte meine Mutter vielleicht kapiert, dass es keine gute Idee ist, die eigene Verrücktheit im Namen seines Kindes zu verwursten.

Aber mein Vater hielt den Mund. Der Mann war vor vierzehn Jahren nämlich auch schon ein total egoistischer Sack. Es war ihm einfach schnurzpiepegal, wie sein einziges Kind heißen würde.

Endlich bin ich an der Reihe. Ich lege meinen Reisepass auf den Tresen und versuche verzweifelt, ein wenig Spucke in meinen Mund zu befördern.

»Wohin fliegst du?«, fragt die Stewardess im sonnengelben Kostüm.

»Nach New York.«

Ich stelle mich aufrecht hin. Ich habe Angst. Und gleichzeitig spüre ich, wie etwas Neues in mir kribbelt, als ich den Namen dieser Stadt ausspreche. Ich fliege nach New York. Alle meine Freundinnen haben über ihren Betten Poster von Jungen, die sie noch nie in Wirklichkeit gesehen haben. Über meinem Bett hängt die Skyline von New York. Ich bin noch nie da gewesen, und trotzdem bin ich verliebt.

»Fliegst du allein?«, fragt die Stewardess.

Ich nicke. Atemlos beantworte ich ihre Fragen.

Ja, ich habe meinen Koffer selbst gepackt.

Nein, in meinem Handgepäck befinden sich keine gefährlichen Stoffe.

Ich nehme nur diese Umhängetasche mit an Bord.

Die Frau sieht mich an, aber sie erkennt mich nicht.

Und Gott sei Dank fällt ihr auch nicht ein, dass sie gestern in den Nachrichten einen widerlichen Mann gesehen hat, der denselben Nachnamen trägt wie ich.

Mein überfüllter Koffer wird mit einem Aufkleber versehen und verschwindet außer Sichtweite.

Und ich bekomme meine Bordkarte. In anderthalb Stunden muss ich am Gate sein.

Ganz allein stelle ich mich in die Reihe für die Passkontrolle.

Ich gehöre zu niemandem und fühle mich ohne Koffer wundersam leicht. Mein Blut kribbelt. Eigentlich kann ich es noch immer nicht glauben: Ich tue es wirklich. Vor zwei Tagen war es nicht mehr als ein Gedanke. Etwa so: Wäre ich ein völlig anderes Mädchen, würde ich der Welt den Mittelfinger zeigen und nach New York fliegen.

Heute ist Freitag, der 26. Oktober. In zehneinhalb Stunden bin ich da.

2

Alles sieht anders aus, wenn man allein ist. Die Farben sind greller, Geräusche klingen schriller, Pläne können jeden Augenblick misslingen. Ich gehe durch die lärmende Halle hinter der Zollkontrolle und sage mir selbst, dass ich jetzt hart sein muss. Ein Mädchen, das nachts die Kreditkarte des eigenen Vaters klaut, um ein Ticket zu buchen, setzt sich nicht auf eine Flughafentoilette und heult. So ein Mädchen fängt nicht plötzlich an rumzuschreien und schaltet auch nicht das Handy ein, um seine Mutter anzurufen.

Ich kaufe einen Cappuccino, obwohl ich überhaupt keinen Kaffee mag, aber ich muss wachsam sein. Der Schnitt in meiner linken Hand tut noch immer weh. Allmählich sickert Blut durch das Pflaster, aber da kann man nichts machen. Lieber verblute ich, als in einer öffentlichen Toilette das Pflaster zu wechseln.

Und dann bleibe ich plötzlich wie angewurzelt stehen.

Ich starre zu dem Mädchen in dem Laden mit den unbezahlbaren Taschen. Sie hat blonde Locken, trägt eine enge Jeans und Uggs. Es ist Juno – das kann gar nicht anders sein. Sie steht mit dem Rücken zu mir, also kann ich ihr Gesicht nicht sehen. Mit fieberhaft pochendem Herzen warte ich, bis sie sich umdreht.

Sie ist es nicht.

Schwankend stolpere ich zur nächsten Stuhlreihe. Ich setze mich, knete meine Hände, höre aber sofort wieder damit auf, als ich den Schnitt spüre. Wie konnte ich nur glauben, ich sei mutig genug?

Mit zittrigen Fingern ziehe ich die Mappe mit den Papieren aus der Tasche.

Alles, wirklich alles habe ich ausgedruckt. Meinen Flugplan. Die Nummer von dem Bus, den ich in New York nehmen muss. Den Dollar-Wechselkurs. Wie viel Trinkgeld man geben sollte. In welchem Museum die meisten Impressionisten hängen. Ich lese immer weiter, bis mein Atem sich beruhigt hat, und dann traue ich mich endlich, wieder aufzuschauen.

Draußen, hinter den Glaswänden, sehe ich siebzehn Flugzeuge stehen. Sie lassen die Motoren brüllen, steigen auf und verwandeln sich hoch am Himmel in Schwäne.

Es ist vorbei, sage ich zu mir selbst. Ich werde Juno in den Gängen nicht mehr begegnen. Ihre Freunde werden mir auf dem Schulhof nichts mehr hinterherrufen. Meine Sporttasche ist sicher vor ihren Feuerzeugen und mein zerkratztes Schließfach gehört mir sowieso nicht mehr.

Ich gehe nie mehr zurück in diese Schule.

In der Wartehalle am Gate schalte ich mein Handy ein. Gespannt schaue ich, ob ich Nachrichten habe, aber es bleibt still. Meine Eltern glauben, ich sei in der Schule, meine Mitschüler denken natürlich, ich läge heulend im Bett. Jetzt ist es an der Zeit, der Welt den Mittelfinger zu zeigen – oder auf jeden Fall meinen Eltern. Seit heute Nacht steht die Mail ganz oben zum Verschicken bereit:

An die Loser, die mich gezeugt haben,

ich dachte, wir hätten einen Deal. Ich mache meine Hausaufgaben, decke den Tisch und lasse mir kein Nabelpiercing stechen.

Ihr gebt mir zu essen und macht keine Sachen, für die ihr ins Gefängnis kommen könnt.

Diesen Deal gibt es nicht mehr. So viel steht ja wohl fest.

Ihr glaubt, ich schreibe gerade einen schwierigen Physiktest, aber zufällig sitze ich im Zug nach Deutschland. Ich besuche Käthe. Hier werde ich verrückt, also fahre ich dorthin, wo mein Vater nicht die Meldung des Tages ist. Ihr könnt euch überhaupt nicht vorstellen, wie es in der Schule ist und auf Facebook und Twitter und so.

Ihr könnt euch sowieso nicht vorstellen, wie es ist, ich zu sein.

Holt mich nicht zurück. Und ruft mich auch nicht an – ich gehe sowieso nicht ran.

Käthe auch nicht, sie hat längst eine andere Nummer.

Ich maile morgen wieder, um kurz zu sagen, dass ich noch lebe.

Jedenfalls, wenn das so ist.

E.

Mein Daumen schwebt über der Versenden-Taste. Noch kann ich zurück. Ich kann einfach aufstehen und zurück in die Ankunftshalle gehen, wo niemand auf mich wartet, vorbei an den Gepäckbändern, auf denen die Koffer kreiselnd ihre Runden drehen. Ich kann den Zug zurück nach Hause nehmen, als hätte ich niemals vorgehabt zu fliehen.

Und dann denke ich wieder an Dienstagabend.

Ich saß im warmen, stillen Wohnzimmer und machte meine Hausaufgaben für Geschichte, über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung.

Das ist zweifelsohne einer der besten Texte, die jemals geschrieben worden sind, aber darum geht es jetzt nicht.

Meine Mutter war im Atelier bei der Arbeit – sie hatte nicht mal gegessen – und mein Vater saß oben in seinem Zimmer und schaute sich durch sein Sternenfernrohr den Himmel an.

In der Dämmerung sah ich Leute an unserem Fenster vorbeigehen. Ich schaute zu den unbekannten Schatten, während die ersten Zeilen der DECLARATION OF INDEPENDENCE strahlend durch meinen Kopf marschierten, und ich war glücklich. Einen Augenblick lang stimmte alles.

Und dann klingelte das Telefon. Nicht mein Handy, sondern unser Festnetzanschluss. Ich ging zu dem Apparat, zog mir den Ärmel über die Hand und nahm ab.

Am anderen Ende der Leitung hörte ich eine hysterische Frau, die halb weinte und halb zu ersticken schien.

Sie sagte, sie sei die Mutter von Juno.

Sie wolle meinen Vater sprechen.

Ich drücke auf Versenden und meine Mail fliegt davon. Ich will nicht zurück.

3

Im Straßenverkehr sterben mehr Menschen als bei Flugzeugunglücken. Das sage ich mir selbst, während ich durch den grauen Schlauch zum Flugzeug gehe. Die Alarmklingel in meinem Kopf rasselt laut, aber ich versuche, nicht darauf zu achten.

In meiner Tasche steckt ein Artikel, den ich heute Nacht auswendig gelernt habe. Die Klima-Anlage eines Flugzeugs filtert nicht weniger als 99,97 Prozent aller Bakterien und Viren aus der Luft. Wenn man sich strikt an die Zehn Goldenen Regeln für Flugreisen hält, ist alles in bester Ordnung.

Sobald ich meinen Sitz am Fenster erreicht habe, befolge ich die Goldene Regel Nummer eins. Ich ziehe ein Päckchen Desinfektionstücher aus der Tasche und fange an zu wischen. Das Klapptischchen vor mir, meine Stuhllehnen und die Schnalle meines Sicherheitsgurts müssen sauber gemacht werden. Die Leute um mich herum haben zum Glück alle Hände voll zu tun mit Zeitschriften und Ohrhörern und damit, das Gepäck anderer Leute flach zu drücken, indem sie ihre eigene Tasche so fest wie möglich in das Fach über ihrem Kopf stopfen. Sie sehen mich kaum an.

Während des Startens starre ich auf das Pflaster an meiner linken Hand. Ich spüre, wie das Flugzeug im Wind ruckelt. Wie die Motoren toben, damit wir nicht abstürzen.

Aber eigentlich, wenn ich ehrlich bin, geht es schon über eine Stunde gut mit der Boeing.

Leider komme ich auf die Idee, die Stewardess zu fragen, wie viele Leute denn an Bord sind.

»Dreihundert«, sagt sie munter, während sie mir ein Glas Apfelsaft reicht.

Ich schaue mich um. Ich hänge hier mit dreihundert Leuten in einer wackelnden Blechdose über dem Ozean. Dreihundert Menschen, die röchelnd husten und schleimig niesen und die ganze Zeit atmen. Ein dicker Mann drückt gerade die Tür der Toilette hinter sich zu und plötzlich frage ich mich, wie viele Menschen wohl so verrückt sind, elf Kilometer über der Erde kacken zu wollen. Überhaupt niemand, sollte man meinen. Aber ich bin mir nicht sicher. Es gibt ja auch Leute, die das in der Schule tun, oder auf der Kirmes, oder wenn sie irgendwo zu Besuch sind.

Ich spüre, wie es schiefgeht.

Manchmal, wenn ich ganz bewusst über meine Geheimzahl nachdenke, weiß ich sie plötzlich nicht mehr. Und so ist es auch mit dem Atmen. Sobald ich auf meine Atmung achte, weiß meine Lunge nicht mehr, was sie normalerweise tut.

Himmel, ist das peinlich.

Ich fange an, zu hyperventilieren.

Erst merkt es keiner, weil ich versuche, ganz still zu ersticken.

Aber nach ein paar Minuten kann ich es nicht mehr verbergen.

Meine Brust geht immer schneller auf und ab. Ich spüre den Schweiß auf meiner Stirn und mein Hals brennt. Ich muss würgen und mache aus Versehen ein winselndes Geräusch.

Das ganze Flugzeug schaut zu mir. Fünf Leute drücken auf ihre Klingel. Ein kleines Mädchen fängt an zu weinen.

Eine Sekunde später stehen drei Stewardessen neben meiner Reihe und beratschlagen sich flüsternd. Einen Moment darauf schallt eine Stimme durchs Flugzeug, die fragt, ob ein Arzt an Bord ist.

Es dringt nur halb zu mir durch, weil ich gerade sterbe, aber aus der Businessclass taucht ein russischer Arzt auf. In gebrochenem Englisch bespricht er sich mit den Stewardessen und ungefähr fünfzehn Passagieren, die sich alle einmischen. Während die Besprechung noch im vollen Gange ist, lässt mich eine Frau, die eindeutig zur Mutter ausgebildet ist, in eine Plastiktüte atmen. Und danach gibt der russische Arzt mir etwas zur Beruhigung.

Es dauert eine ganze Weile, bis mich niemand mehr anschaut.

Leise rollen mir die Tränen in den Ausschnitt, weil ich mich so vollkommen getäuscht habe. Nicht ich zeige der Welt den Mittelfinger – die Welt zeigt ihn mir.

Noch immer. Schon wieder.

Benommen starre ich durch das Fenster nach draußen. Die sonnigen Wolken unter dem Flugzeug sehen aus wie steif geschlagener Eischnee. Eine gefrorene Welt ohne Menschen. Ohne Pläne und Enttäuschungen.

Und dann träume ich von dem mechanischen Planetarium meines Vaters.

Das altmodische Teil steht mitten in seinem Zimmer.

Wenn man an der Kupferkurbel dreht, bewegen sich die Planeten knirschend um die Sonne. Ich war sechs Jahre alt, als ich das zum ersten Mal tun durfte. Es war magisch.

Mit einer Hand ließ ich die Planeten kreisen. Während ich langsam kurbelte, erklärte mir mein Vater, warum es tagsüber hell ist und nachts dunkel. Und warum es nicht überall auf der Welt gleichzeitig dunkel ist.

In meinem Traum stehe ich im Dunkeln vor seiner Zimmertür.

Drinnen höre ich, wie sich die Planeten leise knirschend bewegen. Ich zögere einen Moment und öffne dann die Tür. Das Licht einer Straßenlaterne fällt in den Raum. Die Instrumente glänzen: die große Elektrisiermaschine am Fenster, die Barometer an der Wand, die Mikroskope unter ihren Glasglocken.

In der Mitte steht das Planetarium mit seiner Kupferkurbel.

Aber es ist nicht mein Vater, der sie betätigt.

Es ist Juno.

Ihre blonden Locken funkeln stärker als alle Instrumente zusammen. Sie schaut zu mir.

Und dann lacht sie.

4

Als die Räder des Flugzeugs den Boden berühren, habe ich einen Kloß im Hals.

Ich bin Kolumbus. Zum ersten Mal in meinem Leben in Amerika.

Sobald ich das Flughafengebäude vom Newark Airport betreten habe, schaue ich mich begierig um. Aber ich sehe nur einen grauen Gang mit einem schmuddeligen Teppich auf dem Boden und bedrohliche Schilder mit rot durchgestrichenen Handys an den Wänden.

Insgeheim hatte ich gedacht, Amerika würde glänzen. Dass alles quietschsauber und modern wäre. Das stellte ich mir gerade so großartig vor.

Nach dem Gang gelangen wir in einen Raum, der so groß ist wie eine Kirche. Eine riesige Menschenschlange bewegt sich im Zickzack zwischen Pfosten mit Absperrbändern hindurch. Wie im Vergnügungspark, aber ohne die Schilder, die angeben, wie lange man noch warten muss.

In der Halle herrscht angespannte Stille. Amerika ist kein Land, in das man mir nix, dir nix hineinspaziert. Im Internet habe ich schreckliche Geschichten gelesen. Wenn der Zoll denkt, man wolle heimlich länger bleiben, oder wenn sie vermuten, dass man lügt, wird man einfach in den nächsten Flieger zurück nach Hause gesetzt.

Und tja, ich werde lügen.

Mein Bauch fühlt sich an, als säße ich im äußersten Zipfel einer riesigen Schiffschaukel. Ich sehe, wie der dicke Mann aus dem Flugzeug zu mir rüberschaut. Die Mutter mit der Plastiktüte behält mich übrigens auch im Auge. Ob sie hoffen, dass ich wieder in Panik gerate? Wenn ich noch eine halbe Stunde länger hier stehe, bekommen sie ihren Willen.

Endlich bedeutet mir ein dunkler Mann in Uniform, ich solle zu Schalter sieben gehen. Dort sitzt eine Frau mit tief liegenden Augen und streng aus dem Gesicht gekämmten Haaren.

»Good afternoon«, sagt sie trübsinnig und nimmt meinen Reisepass entgegen.

»How are you today?«

Ich sehe sie an. Diese Frau, die ich noch nie zuvor gesehen habe, wird in nicht mal zehn Minuten entscheiden, ob ich Amerika betreten darf.

»Aus welchem Anlass besuchst du die Vereinigten Staaten?«, fragt sie auf Englisch.

Ich schlucke. Das hier ist anders als auf dem Amsterdamer Flughafen. Englisch ist zwar meine zweite Muttersprache, aber ich weiß nicht, ob ich die richtigen Lügen auswendig gelernt habe.

»Urlaub«, sage ich. »Ich will mir gerne New York ansehen.«

»Wie lange bleibst du?«

»Zwei Wochen.«

Mittwochnacht, als ich den Flug gebucht habe, wollte ich erst nur einen Hinflug nehmen. Aber dann las ich lauter Geschichten über den amerikanischen Zoll und mir wurde schnell klar, dass ich ohne Rückflug nie im Leben in dieses Land einreisen dürfte. Sie lassen einen hier nur rein, wenn sie sicher wissen, dass man auch wieder abhaut.

»Wo wohnst du die nächsten zwei Wochen?«, fragt die Frau.

Schweigend ziehe ich die Mappe aus meiner Tasche. Ich habe die Beschreibung und die Adresse von meinem Apartment ausgedruckt, und auch die Mails, die mir der Vermieter geschickt hat. Die Papiere scheinen viel schlimmer zu zittern als meine Hand.

Die Frau sieht sich alles gründlich an, blättert durch meinen Ausweis und zieht dann die Augenbrauen zusammen.

»Du bist vierzehn?«

Ich nicke.

»Und du bist allein hier?«

Jetzt kommt es darauf an. Natürlich will diese Frau nichts über mein echtes Leben hören. Sie will eine Geschichte, die gut klingt. Ein Märchen, dem sie in aller Ruhe lauschen kann, ohne unruhig zu werden.

»Meine Freundin Käthe kommt auch«, sage ich auf Englisch. Meine Stimme klingt wie bleicher Kartoffelbrei. »Wir haben das Apartment gemeinsam gemietet. Käthe ist einundzwanzig und war früher mein Au-pair. Heute Abend landet sie von Frankfurt aus auf dem John F. Kennedy Airport. Hier ist ihre Telefonnummer.« Ich schiebe der Frau noch einen Zettel hin. »Aber sie sitzt jetzt noch im Flugzeug.«

Mit einer Hand halte ich mich an dem klebrigen Tresen fest. Wenn ich das nicht mache, falle ich um.

Die Frau blättert noch einmal durch meinen Reisepass und schaut dann wieder auf.

»Hast du die schriftliche Erlaubnis deiner Eltern für diese Reise?«

Schweigend danke ich dem Internet. Ich wusste, dass ich so einen Brief brauchen würde. Ich ziehe den englischen Text aus der Mappe und die Kopien der Ausweise meiner Eltern. Den Brief habe ich halb aus dem Internet geklaut und mir halb selbst ausgedacht. Die Unterschriften habe ich nach Vorlage der Ausweise gemacht, die müssen stimmen.

Ich schiebe der Frau die Papiere hin und warte atemlos ab. Lange betrachtet sie den Brief und die Kopien. Würde ich an Gott glauben, würde ich jetzt beten. Pausenlos, flehend. Aber ich glaube nicht an Gott.

Ich habe an Erwachsene geglaubt. Und jetzt glaube ich an nichts mehr.

Endlich nickt sie. Traurig, als würde sie entscheiden, dass ich direkt in die Hölle fahren darf.

»Okay. Den linken Daumen bitte auf den Scanner.«

Beim Anblick der fettigen kleinen Glasplatte schüttele ich mich kurz. Aber für Amerika tue ich alles. Ich denke mit aller Kraft an das antibakterielle Gel in meiner Tasche und lege den Daumen auf den Scanner.

5

Das ist doch unglaublich? Ich bin durchgekommen! Ich bin in Amerika.

Ich habe gerade Geld aus dem Automaten geholt und mit den allerersten Dollars meines Lebens eine Karte für den Bus ins Zentrum gekauft.

In dem sitze ich jetzt. Ganz vorn, fast neben dem Fahrer, damit ich durch die große Windschutzscheibe rausschauen kann. Das ist auch die einzige Möglichkeit, etwas zu sehen, weil die Seitenfenster des Busses von oben bis unten mit Werbung beklebt sind.

Während wir auf weitere Fahrgäste warten, kann ich mich nicht länger beherrschen: Ich schalte mein Telefon ein. Die Nachrichten folgen einander im hohen Tempo. Ich habe neun verpasste Anrufe von Papa und drei von Mutter mobil. Ich starre auf das aufflackernde Display und merke, wie mir schlecht wird. Holland ist seit Dienstag ein stinkender Sumpf und sogar von hier aus kann ich die Kloake riechen.

Die Nachrichten auf der Mailbox will ich absolut nicht hören, aber die SMS muss ich lesen, finde ich. Mein Vater hat die erste Nachricht geschickt, als ich gerade im Flugzeug saß.

Emilia, verdammt! Ich komme in mein Zimmer und sehe die Scherben.

Du darfst wütend sein, aber das hier ist unverzeihlich. Ich weiß von der Schule, dass du schwänzt, also ruf mich bitte an.

Ich schaue kurz auf das Pflaster auf meiner Hand und öffne dann die nächste SMS.

Geh ans Telefon! Wenn du nicht zurückrufst, steige ich ins Auto und hole dich in Frankfurt ab. Wir müssen sofort reden.

Die letzte Nachricht wurde vor einer Stunde versandt.

Wenn du vor Mitternacht nichts von dir hören lässt, rufen wir die Polizei und melden dich als vermisst.

Meine Hände zittern. Ich wusste, dass er wütend sein würde. Das ist genau, was ich wollte. Aber an unverzeihlich bin ich nicht gewöhnt.

Geh nicht zur Polizei, simse ich zurück. Willst du wirklich alles völlig kaputtmachen? Käthe und ich haben gerade Schnitzel gegessen und es geht mir ausgezeichnet. Ich rufe morgen an.

In dem Moment, als ich auf Versenden drücke, fährt der Bus ab. Ich schalte das Handy auf stumm und schiebe es ganz nach unten in meine Tasche. Ich muss den Sumpf vergessen, sonst hätte ich erst gar nicht flüchten müssen.

Schau raus, sage ich zu mir selbst. Du bist Kolumbus!

Jedes Detail ist wichtig. Die Richtungsschilder über der Straße sind knallgrün. Der Himmel ist dicht bewölkt und die Autos sind so groß wie Panzer. Autobahnen bauen die Amerikaner aus riesigen Betonteilen; der alte Bus rüttelt bei jedem neuen Stück. Wir gehen in eine leichte Kurve. Aus der Betonstraße wird eine Unterführung. Und dann höre ich auf zu atmen.

Dort, in der grauen Ferne, liegt New York City.

Ich erkenne die Skyline sofort von dem Poster über meinem Bett.

Hunderte graue, braune und glänzende Gebäude bilden gemeinsam das schönste Stabdiagramm der Welt. Ich schaue es mir an und ein Wort tanzt mir wirbelnd durch den Kopf: endlich.

Unzählige Filme und Fotos und Serien und Nachrichtenbilder haben mich auf diesen Moment vorbereitet. Alles, was ich die ganze Zeit nur aus dem Fernsehen kannte, sehe ich jetzt in Wirklichkeit. Es fühlt sich an, als würde ich die Planeten kreisen lassen.

Und plötzlich verstehe ich auch, warum der amerikanische Zoll will, dass meine Geschichte stimmt. Ich sehe die weltberühmte Skyline mit eigenen Augen und ich verstehe es.

Amerika ist selbst eine einzige große Geschichte. Es ist, als ob man ein überlebensgroßes Kino betritt. Und wenn man mitmachen will, muss man hier reinpassen.

Der Bus fährt in einen Tunnel, der eigentlich zu schmal für ihn ist. Gekachelte Wände sausen an meinem Kopf entlang. Scheinwerfer flitzen in der Dunkelheit vorbei. Mitten auf unserer Straßenhälfte liegt ein orangefarbener Lichtkegel. Ich schließe kurz die Augen.

Dann kommen wir aus dem Tunnel und sind auf Manhattan.

Auf dieser kleinen Insel zwischen zwei Flüssen lebte früher eine Handvoll Indianer. Jetzt wohnen dort 1,6 Millionen Menschen und stehen die Wolkenkratzer Schulter an Schulter.

Vom Bus aus kann ich nicht sehen, wo die Gebäude aufhören.

Der Freitagnachmittagverkehr ist wie ein Irrenhaus. Überall gelbe Taxis. Sie hupen auf hundert verschiedene Weisen, als spräche jedes Taxi eine andere Sprache.

Wir fahren an Menschenmassen vorbei, die nach oben zu riesigen Leuchtreklamen schauen. Flackernde Anzeigen für THE LION KING, das neuste Samsung-Telefon und den größten Burger der Welt tanzen über die Gebäude.

Die Welt um mich herum sprüht vor Leben. Alles brodelt und flimmert und flackert um die Wette.

Und plötzlich frage ich mich, ob ich hier wohl reinpasse.

Ich meine, die Fakten sprechen für sich.

Während New York draußen hupt und lodert und wogt, schaue ich auf meine Hände. Die Haut ist trocken und spannt wie Farbe auf einem alten Gemälde. Meine Finger sind fast kaputt gewaschen.

Was soll diese Stadt mit mir anfangen?

Ich heiße Emilia Dezember de Wit und ich traue mich nicht mal, die Metallstange vor mir anzufassen. Ich traue mich nicht, einen Hotdog von einem Straßenstand zu essen. Ich traue mich nicht, zur Stoßzeit in eine U-Bahn zu steigen.

Ich weiß nicht, was mit uns passieren wird, wenn mein Vater wirklich ins Gefängnis muss.

Ich habe keine Ahnung, wie ich für meine Mutter sorgen soll. Und ob ich das überhaupt will.

Ich frage mich …

Aber dann höre ich auf.

Wir fahren an einem singenden, rasselnden, lachenden Park vorbei.

Am Rand, unter roten und gelben Bäumen, stehen gläserne Häuschen mit kleinen Geschäften. In der Mitte ist eine Eisbahn mit Schlittschuhläufern, die bunte Mützen tragen. Ich höre das erste Weihnachtslied des Jahres und spüre Glück in meinen Adern.

Ob ich hier reinpasse?

Mann, das hier ist New York. Man braucht sich nur kurz all diese Mädchen aus den Filmen, die hier spielen, anzusehen. Wenn die Geschichten bloß ein wenig stimmen, wimmelt es hier nur so von einsamen, gestörten Kontrollfreaks. Frauen, die immer alles in ihre überquellenden Kalender schreiben. Die keine Überraschungen mögen und ganz allein ihre Apartments putzen, während sie den viel zu großen Pulli ihres toten Vaters oder Freundes tragen und nur eine Katze haben, mit der sie sprechen können. Die sich jeden Abend eine Fertigmahlzeit in so einem viereckigen Karton holen und auf deren ordentlich gemachten Betten jede Menge Teddybären hocken …

It’s beginning to look a lot like Christmas.

Ich habe keinen einzigen verstaubten Teddy und ganz bestimmt keine haarige Katze.

Aber wenn ich irgendwo auf der Welt meinen Platz habe, dann ist er hier. In dieser funkelnden Stadt.

Keuchend bleibt der Bus an der allerletzten Haltestelle stehen.

»Grand Central Station«, ruft der Busfahrer, ohne jemanden anzusehen. »Last stop. Everybody out.« Er wirft unsere Koffer auf den Gehweg und rumpelt davon.

Und da stehe ich dann. Meine Stiefel auf den flachen grauen Gehwegplatten von New York. Die anderen Leute wissen, wo sie hinmüssen. Blitzschnell verschwinden sie mit ihren Koffern außer Sichtweite.

Ganz allein bleibe ich auf einem Gehweg zurück, der so breit ist wie in den Niederlanden die Straßen. Um mich herum thronen gigantische Gebäude. Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue zu ihnen rauf.

Ein paar Straßen weiter schimmert ein goldener Wolkenkratzer, der aussieht wie der Turm einer Märchenkirche. Adlerköpfe ragen aus dem metallenen Gebäude in den Himmel. Ich schaue hin und bin verliebt.

Nur wünschte ich mir, ich könnte in all dem Gewirr auch die Grand Central Station erkennen.

Es ist hier eine Ecke kälter als in Holland, also knöpfe ich mir meinen Wintermantel bis oben zu. Mir schwirrt der Kopf. Es ist noch hell, aber für mich ist es schon halb zwölf abends. Angenommen, ich würde für immer hierbleiben, dann habe ich am Ende meines Lebens sechs Stunden mehr Licht gesehen. Und dann hat mein Vater sechs Stunden länger im Dunkeln gelebt.

»You need a ride?« Neben mir auf der Straße hält ein gelbes Taxi. Der Fahrer lacht mich durch das offene Fenster an.

Ich hatte fest vor, mit der Metro zu meinem Apartment zu fahren. Auf meinem Zettel steht, dass ich Linie 6 Richtung Downtown nehmen muss, aber plötzlich falle ich vor Müdigkeit fast um. Und die Psychologin – die ich zum Glück schon eine ganze Weile nicht mehr sehe – hat immer gesagt, es sei nicht schlimm, manchmal die Pläne zu ändern.

Also nicke ich.

Mein Gepäck kommt in den Kofferraum und einen Moment später rauschen wir über die Lexington Avenue Richtung Süden. Man braucht sich die Karte von New York nur ein einziges Mal anzusehen und schon weiß man, wie die Stadt gebaut ist. Als hätte jemand den Inhalt einer Kiste mit Bauklötzen auf kariertem Papier aufgetürmt. Die breiten Straßen von Norden nach Süden heißen Avenue, die Straßen von Osten nach Westen Street. Und alle Straßen haben eine Nummer, so dass man immer genau weiß, wo man ist.

Ich wollte, mein Leben wäre so.

Still schaue ich durch das Taxifenster nach draußen. Die Gebäude fangen allmählich an zu schrumpfen, die Geschäftsleute in schnittigen Anzügen verwandeln sich in Jugendliche mit Skinny Jeans.

Ich habe das Apartment erst gestern Morgen gefunden, auf der amerikanischen Site für Ferienwohnungen. Mein Finger tat mir weh, weil ich die ganze Nacht gescrollt hatte, und meine Augen brannten. Ich hatte es eigentlich schon aufgegeben. Es klappte nicht. Ich würde mich an den Sumpf zu Hause gewöhnen müssen. Amerika wollte mich nicht. Aber dann, zwischen fünfhundert dreckigen Besenkammern und siebenhundert aberwitzig teuren Apartments, entdeckte ich plötzlich mein Studio.

Auf dem Foto fiel das Sonnenlicht durch zwei hohe Fenster in den Raum und in der Beschreibung stand, vom Zimmer aus könne man das Empire State Building sehen. Es fühlte sich an, als wäre ich Goldlöckchen aus dem Märchen mit den drei Bären: Das Studio war wie für mich gemacht. Die kommenden Wochen war es außerdem frei. Und ich durfte die Miete mit der Kreditkarte meines Vaters im Voraus bezahlen.

6

Es ist, als würde ich aus dem Taxi mitten in einen Filmset steigen. Ein Filmset, an dem fünfzig Leute wochenlang gearbeitet haben, um sogar dem dümmsten Zuschauer der Welt klarzumachen: Diese Geschichte spielt in New York.

Aber das hier ist echt.

Während das Taxi wegfährt, schaue ich mich aufgeregt um. Meine Straße wird von hohen, schlanken Bäumen in flammenden Herbstfarben gesäumt.

Die meisten Häuser sind fünf Stockwerke hoch. Sie sind rotbraun und ockergelb und grau, mit Flachdächern und elegant geschwungenen Feuertreppen aus Metall vor den Fassaden. Zwei Mädchen kommen vorbei und ich weiß sofort: Das sind Models. Ihre Beine sind endlos lang und sehr dünn. Sie ziehen gelangweilte Gesichter und halten große Pappbecher mit Kaffee in den Händen. Mit so einem Plastikdeckel darauf. Ich schaue zu den Hausnummern. Mein Apartment muss in der obersten Etage von dem blutroten Gebäude sein. Neben der Haustür ist eine chaotische Reihe Klingeln angebracht, mehr, als es Etagen gibt – es dauert eine Weile, bis ich den Namen finde, den ich brauche.

Da steht er, in verblichenen Buchstaben: Greenberg.

Ich bin zu müde, um noch nervös zu sein, also zieh ich mir den Ärmel über den Finger und klingle einfach.

Nichts geschieht.

Ich versuche es noch einmal, aber hinter der Haustür bleibt es still.

Und um mich herum ist New York gerade absurd laut. Sirenen kommen aus drei verschiedenen Richtungen und überall wird gehupt: lang und kurz und oft eine ganze Weile ununterbrochen. Dann donnert ein Lastwagen durch die schmale Straße, den man in den Niederlanden sofort verbieten würde: Der Motor keucht und aus dem spuckenden Auspuff steigen schwarze Wolken.

Ich fange an zu husten, und genau in dem Moment wird die Haustür aufgerissen.

Ich hatte einen erwachsenen Mann mit einem Ziegenbart erwartet. Auf der Website war Mr Greenberg ein fröhlich lachender Mann mit zwei Chihuahuas und einem goldblonden Ziegenbart.

Aber auf der Türschwelle steht ein Junge. Er kann nicht viel älter sein als ich. Sein kurzes, dunkles Haar ist zerzaust, sein T-Shirt trägt er auf links und er hat keine Schuhe an.

Er lacht nicht.

»Nur zu«, sagt er auf Englisch. »Was ist es diesmal?«

Ich sehe ihn erstaunt an.

»Ich weiß, dass Abby dich geschickt hat.« Er klingt wütend. »Meine Tante hat schon angerufen.«

Er hält sein Smartphone in die Höhe. »Abby ist weg und dieses Kind verschwindet nie einfach nur so.«

»Ich …«

»Hast du eine Banane dabei, in der ein Zettel versteckt ist?«

Er gibt mir keine Zeit zu antworten.