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Euro-Krise, »Flüchtlingskrise«, »Brexit« – die EU beendet sich an einem historischen Scheideweg. Nachdem es jahrzehntelang den Anschein hatte, die »Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas« sei nur eine Frage der Zeit, stellen unvorhergesehene Ereignisse die Logik der Integration infrage. Nationale Interessen rücken in den Vordergrund, das Ringen um gemeinsame Lösungen wird immer verzweifelter.

 Luuk van Middelaar, ein exzellenter Kenner der Brüsseler Praxis, verwandelt eine vermeintlich trockene Materie in den Stoff einer faszinierenden Erzählung. Beginnend mit dem 18. April 1951, als die Vertreter der sechs Gründerstaaten im französischen Außenministerium am Quai d'Orsay den Vertrag über die Errichtung der Montanunion unterzeichneten, schildert er die wichtigsten Etappen – und Krisen – auf dem Weg vom Kontinent zur Union. Er lässt die Atmosphäre dramatischer Gipfelnächte lebendig werden, zeigt, wie Politiker immer wieder versucht haben, die Öffentlichkeit von Europa zu überzeugen, und erinnert uns daran, welch einmaliges historisches Projekt aktuell auf dem Spiel steht.

 

Luuk van Middelaar, geboren 1973 in Eindhoven, ist Professor für EU-Recht und European Studies an den Universitäten Leiden und Louvain-la-Neuve. Von 2010 bis 2014 war der Historiker und politische Philosoph als Redenschreiber und enger Berater des EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy tätig.

 

 

Luuk van Middelaar

Vom Kontinent zur Union

Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa

Aus dem Niederländischen von Jacob Jansen

Suhrkamp

 

 

Die niederländische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel De passage naar Europa. Geschiedenis van een begin bei Historische Uitgeverij (Groningen).

 

Die Übersetzung dieses Buches wurde von der niederländischen Stiftung für Literatur und vom Duitsland Instituut Amsterdam gefördert.

 

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliographie;

detaillierte bibliographische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.




eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Luuk van Middelaar 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: REUTERS/Yannis Behrakis; wikipedia/© AP

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

 

eISBN 978-3-518-74806-0

www.suhrkamp.de

Inhalt

 

 

Vorwort zur deutschen Ausgabe

 

Prolog

Drei europäische Diskurse

Drei europäische Sphären

 

I
Das Geheimnis des Tisches

 

Der Übergang zum Mehrheitsprinzip

 

1 Der Schritt über die Schwelle

Am Verhandlungstisch

Der Geist

Der leere Stuhl

 

2 Der Sprung

Ein Zauberspruch

Der Gastgeber auf der Treppe

 

3 Die Brücke

Der Herr der Verträge

Der Coup von Mailand

Kollisionen und Schleichwege

Die Fußgängerbrücke

 

II
Wechselfälle des Schicksals

 

Im Strom der Zeit

 

4 Zusammenfinden (1950-1957)

Schumans Stimme und Adenauers Ohr (vor dem 10. Mai 1950)

Europa ohne Uniform (nach dem 25. Juni 1950)

Suezkanal und Val Duchesse (am und um den 6. November 1956 herum)

 

5 Gemeinschaftliches Warten (1958-1989)

Selbstgemachte Zeit

Drängende Zeit

 

6 Handeln als Union (1989 bis heute)

Nach dem Mauerfall

Nach den Türmen

 

III
Die Suche nach einem Publikum

 

Heischen um Beifall

»Wir akzeptieren«

Drei Strategien

 

7 Die deutsche Strategie: Schicksalsgenossen

Wie werden wir eins?

Warum sind wir zusammen?

 

8 Die römische Strategie: Klienten

Rechte und Freiheiten

Schutz

 

9 Die athenische Strategie: der Chor

Einstimmigkeit

Vielstimmigkeit

Dramatik

 

Nachwort

 

Kommentar und Bibliographie

 

Anmerkungen

 

Dank

 

Personenregister








»Aber eine Schlacht anzunehmen wird doch notwendig sein?« fragte Fürst Andrei.

»Wenn es alle wollen, dann wird es wohl notwendig werden; da ist dann eben nichts zu machen … Aber glaube mir, mein Lieber: es gibt nichts Stärkeres als diese beiden Streiter: Geduld und Zeit; die bringen alles zustande.«1

Lew N. Tolstoj, Krieg und Frieden

Vorwort zur deutschen Ausgabe[1]

 

 

Obwohl man sich lange genug darauf hatte einstellen können, sorgte das britische Referendum am Freitagmorgen des 24. Juni 2016 für einen enormen Schock. So mancher europäische Regierungschef hatte sich am Abend zuvor in der stillen Hoffnung ins Bett gelegt, die Abstimmung werde gut ausgehen. Umso größer war der Schreck in der Morgenstunde. Die Mehrheit der britischen Wähler hatte sich für den Austritt entschieden. Aus einer abstrakten Möglichkeit war über Nacht eine politische Tatsache geworden. Was nun?

Während an diesem Freitag die erstaunlichen Ereignisse und Abrechnungen in London die Welt in Atem hielten, rückte auch der Kontinent ins Licht der Scheinwerfer. Auf Bitten von 10 Downing Street hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs monatelang kaum mehr getan als gewartet, gehofft und Kerzen angezündet. Plötzlich stand nicht allein die Zukunft Großbritanniens, sondern auch die von Europa insgesamt auf dem Spiel. Schnell machte sich die Erkenntnis breit, dass der »Brexit« auch diesseits des Ärmelkanals große Unsicherheit bedeutet. Immerhin verabschiedet sich damit Europas zweitgrößte Volkswirtschaft, eine militärische und diplomatische Großmacht mit etwa einem Achtel der Bevölkerung der Union. Das interne Gleichgewicht in der Union wird sich verschieben, die deutsche Macht noch deutlicher zutage treten. Von Frankreich über die Niederlande bis nach Österreich – überall fühlen sich die Populisten bestärkt, weitere Austrittsreferenden könnten folgen.

Für Europa bedeutet der britische Austritt eine Amputation, aber nicht den Todesstoß – vorausgesetzt, die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker bekommen die entfesselten Kräfte wieder unter Kontrolle. Von den siebenundzwanzig Regierungen erfordert das Lebenswillen und Entschlossenheit, die in Initiativen münden müssen, um das Vertrauen ihrer Bevölkerungen zurückzuerobern. Die Staats- und Regierungschefs stecken in einer Zwickmühle: Sie müssen zeigen, dass die Union glaubwürdige Antworten auf reale Probleme bieten kann, und dabei gleichzeitig die Desillusionierung ihrer eigenen Wähler gegenüber ebendieser Union im Auge behalten. Es gilt, neue Unterstützung für Europa zu gewinnen, ohne diese gleich wieder zu verlieren.

Das Ergebnis des Referendums widerspricht einem uralten Axiom der europäischen Politik. Seit den Kohle-und-Stahl-Tagen von Schuman und Adenauer setzt man auf die sorgfältige Verflechtung wirtschaftlicher Interessen als Garantie für Frieden und Wohlstand. Ökonomische Interdependenz, so die Idee, werde unwiderruflich zu besseren Beziehungen zwischen dankbaren Völkern führen. Die britischen Wähler straften dieses Integrationsaxiom Lügen. Die Aversion gegenüber Immigranten war stärker als die Angst vor Wohlstandsverlust; Identitätspolitik siegte über wirtschaftliche Interessen. In der Logik der Gründerväter war eine solche Entscheidung undenkbar. Die Flutwelle spülte noch einen weiteren heiligen Lehrsatz der Brüsseler Doktrin hinweg: die Überzeugung, Integration sei eine Einbahnstraße. Es könnten zwar weitere Länder und Zuständigkeitsbereiche dazukommen, Austritte oder eine Rückübertragung von Kompetenzen seien jedoch unmöglich. Kurz, wir bewegten uns unaufhaltsam in Richtung einer »immer engeren Union«. Diese Unumkehrbarkeit erweist sich als Illusion. Plötzlich spürt die Europäische Union ihre historische Verletzbarkeit.

Sie kann aus dieser Entdeckung allerdings auch neue Kraft schöpfen. Dazu müsste sie jedoch anerkennen, dass sie nicht länger allein von der alten Brüsseler Methode vorangetrieben wird, dass sie seit Langem dabei ist, sich in einen politischen Körper zu verwandeln, und dass öffentlicher Widerspruch der Sauerstoff ist, den sie benötigt, wenn sie handlungsfähig sein will.

 

Angesichts des britischen Referendums stellen sich drei grundsätzliche Fragen, die auch in diesem Buch im Mittelpunkt stehen, in zugespitzter Form: Wie ist es um das Verhältnis zwischen dem politischen Europa und der Öffentlichkeit bestellt? Ist die Union überhaupt dafür gerüstet, auf große Erschütterungen zu reagieren? Wer hat in Zeiten der Unsicherheit die Führung inne? Schärfer formuliert: Wie soll man mit europäischen Wählern, Brüsseler Vorschriften und deutscher Macht umgehen?

Zur ersten Frage. Es sind nicht nur die britischen Wähler, die knurren und nun auch zugebissen haben. Auch in Frankreich, den Niederlanden, Italien oder Dänemark murren sie. Das Vertrauen der Bürger in die europäischen Institutionen ist so schwach wie nie zuvor. Die Eurokrise hat tiefe Spuren hinterlassen, sowohl in Ländern, die unter dem Druck aus Brüssel sparen und Reformen durchführen mussten, als auch in Ländern, die mit dem Geld ihrer Steuerzahler einsprangen, um schwächeren Ökonomien zu helfen. In der Flüchtlingskrise von 2015/16 verspielte die Union dann erneut Kredit. Bei einigen, weil sie die Mitgliedstaaten zu Gastfreundschaft gegenüber den Asylsuchenden verpflichtete, bei anderen, weil sie den Menschenstrom durch einen »prinzipienlosen« realpolitischen Deal mit der Türkei einzudämmen versuchte.

An der Union haftet das Vorurteil, dass sie sich vor allem um die Freiheit und das Eröffnen von Chancen kümmert und weniger um den Schutz der Bevölkerung. Schon seit ihren frühesten Anfängen baut sie Grenzen ab; sie ist die Heldin all derjenigen, die sich Bewegungsfreiheit wünschen, um anderswo Dinge zu verkaufen oder zu studieren, um zu reisen oder zu arbeiten. Sie macht Europa – mit einer Unterscheidung von Michel de Certeau gesprochen – zu einem Raum, nicht zu einem Ort. Sie nutzt damit den gut ausgebildeten »Mobilen«, die Grenzen überschreiten und Fremdsprachen beherrschen, verunsichert dabei jedoch die (nicht minder große) Gruppe der »Daheimgebliebenen«. Aus Sicht weiter Teile der Bevölkerung ist die Union ein Verbündeter der Globalisierung mit ihren Güter- und Menschenströmen, keine Bastion dagegen. Solange sie keine Balance zwischen Freiheit und Schutz findet, werden auch weiterhin große Wählergruppen beim Nationalstaat Schutz vor Europa suchen.

Neben der Enttäuschung in der Mitte gibt es den politischen Hass an den Rändern. Die UK Independence Party (Ukip) gab mit dem Brexit die Richtung vor; populistisch-nationalistische Bewegungen in Frankreich, den Niederlanden, Ungarn, Dänemark und Italien stehen bereit, diesen Weg ebenfalls einzuschlagen. Es ist eine organisierte »nationalistische Internationale«, die sich im Namen der Souveränität und der Identität gegen die Union wendet. Diese Zentrifugalkräfte bürden dem bislang noch weitgehend populismusresistenten Deutschland die große Verantwortung auf, als »Macht in der Mitte« (Herfried Münkler) das europäische Zentrum zusammenzuhalten. Der Erfolg von Donald Trump in Amerika erinnert uns daran, dass Europa kein Monopol auf Populismus und Xenophobie hat. Dennoch müssen sich insbesondere die Mitgliedstaaten der Union den Vorwurf gefallen lassen, ihre Bürger nicht angemessen an Entscheidungen über ihre Zukunft zu beteiligen. Obwohl jeder Beschluss formal auf der nationalen wie der europäischen Ebene abgesichert ist, verwandelte Brüssel sich in der Vorstellung vieler in eine Art ausländische Besatzungsmacht.

Ein Vergleich mit der nationalen Politik ist an dieser Stelle hilfreich. Jede nationale Regierung – sagen wir, die polnische – trifft an jedem einzelnen Tag Entscheidungen, die von Oppositionsparteien in unterschiedlichem Ausmaß angegriffen werden können, die den Wählern nicht passen oder sogar zu Protesten oder Streiks führen. Doch was selbst die Demonstranten in der Regel nicht infrage stellen, ist die Legitimität der polnischen Regierung als solche. Sie wünschen sich vielleicht, dass der polnische Ministerpräsident am besten schon morgen sein Büro räumt, aber sie betrachten ihn immer noch als »unseren (fürchterlichen) Ministerpräsidenten« und sprechen von »unserem (enttäuschenden) Parlament« und »unseren (schlechten) Gesetzen«. Die politische Identität wiegt schwerer als die Ergebnisse demokratischer Prozesse. Dieses »Unser« ist die Achillesferse Europas. Wenige Menschen betrachten europäische Entscheidungen als »unsere Entscheidungen« oder europäische Politiker als »unsere Repräsentanten«. (Bezeichnenderweise gilt nur der von der jeweils eigenen Nation gestellte Kommissar als »unser Kommissar«, während die Mitglieder des Europäischen Parlaments oft als Vertreter Brüssels betrachtet werden und nicht als diejenigen, die da draußen »für uns« sprechen.) Doch gerade dieses – unglaublich schwer zu fassende, erst recht schwierig zu erzeugende – Gefühl, dass einem etwas gehört, dass etwas zu einem gehört, ist unverzichtbar, um gemeinsamen Entscheidungen Legitimität zu verleihen. Ergebnisse sind wichtig, aber sie allein können diese Legitimität nicht begründen, nicht zuletzt, weil auf gute irgendwann auch einmal schlechte Zeiten folgen. Das ist übrigens der Grund, warum Mehrheitsentscheidungen das Problem sogar noch verstärken. Unzufriedenheit mit bestimmten politischen Maßnahmen (policy) kann dann umschlagen in die Missachtung der Union als eines politischen Körpers (polity). Der Schlüssel liegt in einem besseren Verständnis der politischen Prozesse (politics).

Will man die nationalen Öffentlichkeiten überzeugen und an sich binden, ist es unerlässlich, zunächst einmal anzuerkennen, dass das europäische Spiel nicht in erster Linie in Brüssel ausgetragen wird. An der europäischen Politik sind die Regierungen, Parlamente, Justizapparate und Bevölkerungen aller Mitgliedstaaten beteiligt. Letztlich hat der Kreis der Mitglieder Vorrang vor der Union. Man kann Europa nicht auf ein paar Hektar Büroviertel in Brüssel reduzieren. Und man kann Europa nicht ohne die Bevölkerungen Europas errichten, sondern nur mit ihnen.

Nehmen wir eine wichtige – und bisweilen schmerzhafte – Lehre aus der Eurokrise: In der Eurozone kann nun niemand mehr den Umstand ignorieren, dass Mogeleien in Griechenland, Geldverschwendung in Spanien oder Sorglosigkeit in Irland auch Auswirkungen auf die eigenen Jobaussichten, die eigene Rente und das eigene Ersparte haben. Diese Einsicht erschöpft sich nicht in der Erkenntnis, dass Volkwirtschaften interdependent sind: Die nationalen Demokratien sind es auch. Als das slowakische Parlament 2011 über den Euro abstimmte, berichteten Zeitungen in ganz Europa auf den Titelseiten darüber. Dasselbe galt für die Wahlen in Finnland und dann ein Jahr später für ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts und eine Entscheidung der Europäischen Zentralbank. Das griechische Referendum im Jahr 2015 wurde überall auf dem Kontinent mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, und das wird zweifellos auch 2017 so sein, wenn in Frankreich und Deutschland Wahlen stattfinden. Unter dem Druck der Ereignisse nimmt Europa als politischer Körper eine unerwartete Form an, es wird zu einem Mitgliederkreis mit einem vielstimmigen demokratischen Resonanzraum.

 

Die zweite grundsätzliche Frage, die der Brexit-Schock aufwirft, lautet: Ist das durch die Brüsseler Regeln eingeschnürte Europa in der Lage, auf überraschende Wendungen des Schicksals zu reagieren? Hier vollzieht sich eine faszinierende Metamorphose: Wer genau hinsieht, erkennt, wie sich die Union vor unser aller Augen verändert. Nachdem die europäischen Staaten sich jahrzehntelang dem Errichten eines gemeinsamen Marktes und der Fortentwicklung eines ingeniösen Systems der technokratischen Regelpolitik gewidmet haben, machen sie seit den finanziellen und geopolitischen Krisen von 2008 etwas Neues: Sie betreiben Ereignispolitik. Sie retten eine Währung, befassen sich mit Flüchtlingen, lassen sich auf ein Kräftemessen mit Russland ein und müssen die durch den Brexit herbeigerufenen Geister wieder einfangen. Diese Transformation ist bereits seit dem Mauerfall – und dem Unionsvertrag aus dem Jahr 1992, der eine Antwort darauf darstellte – im Gange; die damals vorbereiteten Strukturen müssen sich in dem Mahlstrom bewähren, mit dem wir uns aktuell konfrontiert sehen.

Ereignispolitik unterscheidet sich wesentlich von der Regelpolitik, die im Nachkriegseuropa lange Zeit dominierte. Für die Mitgliedstaaten geht es nicht länger allein darum, das Verhalten von Betrieben auf einem Markt zu regulieren, vielmehr müssen sie nun als Union auf der politischen Bühne gemeinsam Störungen der Ordnung begegnen. Allein die Staaten können aktiv werden, wo es zum Beispiel gilt, die äußere und innere Sicherheit zu gewährleisten, da nur sie über Armeen, Diplomaten und Sicherheitsdienste verfügen. Die neue Praxis der Union, die sich neben der alten eingenistet hat, stört Routinen sowie institutionelle Interessen und bringt auch die Brüsseler Orthodoxie in Bedrängnis. Zudem treten – lange ein Tabu – die Machtunterschiede zwischen den Ländern deutlicher zutage, wenn es darum geht, wer die Verantwortung für das Handeln tragen kann. Und dennoch gibt es praktisch keine Alternative. Angesichts der welthistorischen Beschleunigung, die wir seit 2008 erleben, ist die Entwicklung eines gemeinsamen Handlungsvermögens, wie schwierig der Weg dorthin auch sein mag, für die Länder auf dem europäischen Kontinent eine Frage des Überlebens.

Die Idee der Gründerstaaten, Europa in einem System von Regeln zu verankern, das – wie sie hofften – die zwischenstaatlichen Beziehungen zivilisieren und vorhersehbarer machen würden, war visionär angesichts des »Zweiten Dreißigjährigen Kriegs«, der von 1914 bis 1945 getobt hatte. Doch wann immer neue Herausforderungen auftauchen und die Mitgliedstaaten das Gefühl haben, dass sie darauf gemeinsam reagieren müssen, kommen die Grenzen dieser Strategie ans Licht. Was soll man tun, wenn plötzlich ein Mitgliedstaat pleitegeht, wenn ein benachbarter Staat einen anderen überfällt, wenn Hunderttausende Flüchtlinge über die Grenzen drängen? Kein Projekt, kein Vertrag kann die Kreativität der Geschichte antizipieren, geschweige denn eine adäquate Antwort bereithalten. Das ist der Ursprung der Dynamik, die in den vergangenen knapp siebzig Jahren immer wieder entstand: aus der Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit und der Notwendigkeit, auf Veränderungen zu reagieren, zwischen dem »deutschen« Respekt gegenüber Gesetzen und dem »französischen« Wunsch nach Drama – beobachtet mit »britischer« Verwunderung darüber, dass Europa ein Club ist, der Regeln liebt und seine eigenen permanent ändert.

Eigentlich sollte uns all das nicht überraschen. Wer regelmäßig die Zeitungen seines Landes verfolgt, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, nationale Politik sei ein unablässiger Strom von Überraschungen, Rückschlägen und Skandalen, oft mit Ergebnissen, die so niemand erwartet hat. Allen ist klar, dass in einem demokratischen System viel weniger nach Plan läuft, als man denken oder hoffen mag. Europa, ein Club unberechenbarer Demokratien, ist da keine Ausnahme. Momentum entsteht aus einer unvorhersehbaren Serie von Entscheidungen, welche häufig von nationalen Politikern getroffen werden, die mit Ereignissen zu Hause oder im Ausland zurande kommen und dann – oft genug mit offensichtlichem Widerwillen – einsehen müssen, dass sie die entsprechenden Probleme nur gemeinsam bewältigen können. Dieses politische Wechselspiel stellt eine plausiblere Erklärung für die Entwicklungen seit 1950 dar als die Pseudologik der Integrationstheorie sowie die föderalistische Theologie auf der einen und die euroskeptische Weltsicht, die Verschwörungen wittert und fürchtet, Brüssel wolle eine Art Fremdherrschaft errichten, auf der anderen Seite. Die Ereignisse werden auch weiterhin für Überraschungen sorgen, und man wird nicht darum herumkommen, sich auf die eine oder andere Weise mit ihnen auseinanderzusetzen. Genau darauf bereitet Europa sich vor – auch wenn es sich dessen noch nicht so recht bewusst ist.

Ein Indiz dafür ist der Einfluss, den die Staats- und Regierungschefs mittels ihres Europäischen Rats ausüben. Dieses Forum, 1974 als Gegengewicht zur Brüsseler Regelfabrik errichtet, steht bei der Ereignispolitik seit 1993 an vorderster Front. Die Runde der Präsidenten, Premiers und Kanzler übernimmt die Aufgabe, die Stürme zu bezwingen. In der Eurokrise zum Beispiel verfügten die zentralen Institutionen der Union nicht über die notwendigen finanziellen Mittel und schon gar nicht über die Legitimation, um die Regeln zu ändern, die ihrer eigenen Existenz zugrunde liegen. Zwischen 2010 und 2012 waren es Kanzlerin Merkel, Präsident Sarkozy und ihre fünfundzwanzig Kolleginnen und Kollegen, die Entscheidungen trafen, um den Euro zu retten. Doch einflussreiche europäische Stimmen wie Jacques Delors und Jürgen Habermas kritisierten die Rolle der nationalen Regierungschefs bei der Krisenbewältigung als »Renationalisierung der europäischen Politik«. Man kann die Ereignisse allerdings auch anders und eben nicht als Ausdruck einer Regression interpretieren: Vielleicht erleben wir vielmehr eine »Europäisierung der nationalen Politik«, eine Entwicklung, die den Club der Mitgliedstaaten insgesamt eher stärkt?

Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Metamorphose: Während die alte Regelpolitik relativ still von Experten und Interessenvertretern betrieben wurde, steht die neue Ereignispolitik im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Europa taugt heute für Schlagzeilen auf den Titelseiten sowie als Thema von Wahlkämpfen und leidenschaftlichen Debatten. Dieser öffentliche Widerspruch, der gemeinhin mit medialen Zwängen oder populistischen Neigungen erklärt wird, ist in Wahrheit die andere Seite ein und derselben Medaille – der Ereignispolitik. Während das Europa des Marktes höchstens mit Gleichgültigkeit und mildem Spott über Vorgaben zur Krümmung von Gurken zu kämpfen hatte – Politikwissenschaftler sprechen an dieser Stelle von einem »permissiven Konsens« –, ruft das Europa der Währung, der Grenzen und der Macht stärkere Kräfte und Gegenkräfte, höhere Erwartungen und explosiveres Misstrauen hervor. In diesem neuen Europa werden Entscheidungen nicht mehr ausschließlich auf der Grundlage eines Vertrags oder von Expertenwissen getroffen, sondern als Antwort auf die Probleme des Augenblicks, geboren aus einem Streit der Urteile. Gerade das macht es erforderlich, dass jemand öffentlich Verantwortung für sie übernimmt. Das ist auch der Grund, warum die Öffentlichkeit – die Griechen 2015, die Briten 2016, und wir werden sehen, was als Nächstes passiert – sich immer mehr Gehör verschafft. Recht hat sie: Wo die Selbstverständlichkeit schwindet, hält die Widerrede Einzug.

 

Und dann stellt der Brexit uns noch vor eine dritte Frage: Wo liegt das Machtzentrum der Union? In der Unsicherheit nach dem Referendum entbrannte prompt ein typischer Brüsseler Streit: Wer sollte im Namen der Siebenundzwanzig mit den abwanderungswilligen Briten verhandeln? Die Kommission, der Kabinettschef von Jean-Claude Juncker lief sich bereits warm, oder der Europäische Rat, der in einer Erklärung deutlich machte, dass er die Fäden in der Hand behalten wird? Die Emotionen schlugen hoch, es schien, als würde das Schicksal des Kontinents von einem bürokratischen Arrangement abhängen. Kurz darauf äußerte der Präsident des Europäischen Parlaments den Wunsch, die Kommission solle zu einer »europäischen Regierung« werden, während der deutsche Finanzminister die öffentliche Unzufriedenheit so interpretierte, die Menschen wollten wieder mehr Macht für die Mitgliedstaaten. Dass solche Auseinandersetzungen nun wieder aufbrechen, verrät einiges über die intrinsischen Spannungen innerhalb der Brüsseler Maschinerie – und diese ist mindestens so sehr ein Ausdruck der Kräfteverhältnisse und miteinander kollidierenden politischen Auffassungen wie ein Produkt der konstitutionellen »Logik«.

Der britische Austritt wirft auch auf die deutsche Macht in Europa ein grelleres Licht. Die Union basiert nicht nur auf Regeln und Verträgen, sondern sie dreht sich auch um die interne Machtbalance. Wir bewegen uns von einer Union, die von dem Dreieck Paris–Berlin–London dominiert wurde, zu einer Union, die sich allein an Berlin orientiert. Unabhängig vom Brexit ist das Gleichgewicht zwischen Paris und Berlin schon länger gestört. Frankreich ist nun schon eine ganze Weile der schwächere der beiden Partner, allerdings konnte das Land seinen ökonomischen Rückstand bis vor Kurzem noch mit politischen Initiativen und Ambitionen kompensieren. Die Formel lautete: Frankreich benutzt Europa als Hebel, um seine Schwäche zu verschleiern, Deutschland benutzt Europa als Deckmantel, um seine Stärke zu verhüllen. Jetzt ist nur noch der deutsche Deckmantel übrig. Die Eurokrise hat diese Verschiebung beschleunigt. Seit 2010 steht die deutsche Bundeskanzlerin im Mittelpunkt der globalen Aufmerksamkeit; sie hat die Hauptrolle auf eine Weise inne, die im Land selbst manchmal unterschätzt wird. Einer ihrer Biografen schrieb 2013: »Der Machtzuwachs [der Kanzlerin] ist weniger in Berlin zu spüren als in der Sphäre der europäischen Politik – in Brüssel, auf den Gipfeln mit dem französischen Präsidenten, beim Besuch in Athen.« Seitdem wurde die Welt Zeuge, wie Angela Merkel »im Namen Europas« die internationale Bühne betrat: in Minsk (zusammen mit dem französischen Präsidenten) als Feuerwehrfrau während einer kontinentalen Krise; in Ankara, um einen Deal mit dem türkischen Präsidenten auszuhandeln.

Deutschlands neue Macht ist in den wichtigsten politischen Institutionen zu spüren: im Europaparlament, im Europäischen Rat und in der Kommission. Das Europäische Parlament ist seit je eine deutsche Bastion. Als bevölkerungsreichster Mitgliedstaat stellt das Land die meisten Europaparlamentarier (96 von 751); es schickt erfahrene Politiker und beherrscht die Fraktionen der Christ- und der Sozialdemokraten. Dann der Europäische Rat: Das Forum der Staats- und Regierungschefs wurde lange von Frankreich und Deutschland dominiert – in dieser Reihenfolge. Protokollarisch steht ein Präsident über einem Bundeskanzler/einer Bundeskanzlerin: Die Franzosen ließen das ihre Nachbarn gerne spüren, und die Deutschen kannten ihren Platz. So ging es mit den Duos Giscard & Schmidt, Mitterrand & Kohl und Chirac & Schröder. Merkel bildete mit Sarkozy ebenfalls ein solches Duo, »Merkozy«. In der Eurokrise zeigte sich dann, wer der Boss war. Mit dem zögerlichen François Hollande bekommt Merkel im Europäischen Rat noch weniger Kontra. Schließlich die Kommission: Hier erfolgte die entscheidende Verschiebung im Jahr 2014, als Jean-Claude Juncker, der »Spitzenkandidat« der Europäischen Volkspartei, gestützt auf eine Straßburger »Große Koalition« nach Vorbild des Bundestags, das Amt des Kommissionspräsidenten antrat. (Beide Ausdrücke sind seitdem ein fester Bestandteil europäischer Debatten; auch die Sprache wird deutscher.) Schon immer hatte jeder Kommissar gerne einen Franzosen, einen Briten und einen Deutschen in seinem Team, um Verbindungen in alle drei großen Hauptstädten zu haben. Heute dreht sich alles um die Verbindung nach Berlin.

Dass nun die Stunde Deutschlands gekommen ist, birgt ganz eigene Gefahren, sowohl für das Land als auch für die Union. Einige dieser Gefahren werden durchaus erkannt, andere jedoch unterschätzt. Erkannt hat man die Last der deutschen Geschichte, die in Momenten der Spannung selbst siebzig Jahre nach Hitler von ausländischen Karikaturisten und widerspenstigen Gegenspielern instrumentalisiert wird. Man denke an Boris Johnson, der während der Brexit-Kampagne meinte, Brüssel »wolle einen Superstaat, genau wie Hitler«, oder die Syriza-Regierung in Athen, die finanzielle Schulden mit der Kriegsschuld verrechnen wollte. Obwohl die deutsche öffentliche Meinung und sogar die politische Klasse in Berlin dies nicht immer so empfindet, ist sich jeder Bundeskanzler – unvermeidlich im Fokus dieses Misstrauens – dieser Gefahr sehr wohl bewusst; von Adenauer über Brandt, Schmidt und Kohl bis zu Merkel schöpften deutsche Regierungschefs daraus ihre europäische Energie.

Unterschätzt wird in Berlin hingegen, dass gut gemeinte europäische Beschlüsse von außen wie nacktes Eigeninteresse aussehen können. Angetrieben von einem starken moralischen Bewusstsein, vergessen die Deutschen bisweilen, dass ihre Handlungen andere Effekte haben können als intendiert. In der Eurokrise litt der deutsche Finanzminister an diesem blinden Fleck. »Doktor Schäuble« (wie ihn sein griechischer Kontrahent Varoufakis konsequent nannte) argumentierte aus einer Position der moralischen Überlegenheit heraus, während die Außenwelt ihn 2015 als einen unbarmherzigen Machtpolitiker wahrnahm, der die Griechen aus der Eurozone werfen wollte. Etwas Ähnliches konnte man in der Flüchtlingskrise beobachten. Natürlich zeugte die deutsche Willkommenskultur von einer noblen Gesinnung, das Land hat aber auch – so sah man es beispielsweise in Paris – eine vergreisende Bevölkerung, eine niedrige Geburtenrate und für die gut ausgebildete syrische Mittelklasse durchaus Verwendung. Das macht die Haltung nicht weniger moralisch, erschwert jedoch die europäische Debatte. Daher ist es wichtig, dass über diese »hegemoniale Selbstgerechtigkeit« (Wolfgang Streeck) auch in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert wird.

Trotzdem: Die deutsche Macht ist keine Allmacht; es handelt sich nicht um Hegemonie, höchstens um Semihegemonie. Auch Angela Merkel hat mehrmals, zuletzt in der Flüchtlingskrise, das seit Bismarcks Zeiten bekannte Los Deutschlands in Europa erfahren: zu stark, um beiseitegedrängt zu werden, doch nicht stark genug, um alles durchzusetzen. Das ist ein wesentlicher Unterschied, wenn man die deutsche Position zum Beispiel mit der Rolle der USA innerhalb der Nato vergleicht: Washington kann fast alles erzwingen. Allerdings sind die Deutschen sich dieser Tatsache nicht immer bewusst. Während der Turbulenzen um den Euro hatte die deutsche Öffentlichkeit manchmal das Gefühl, man lasse sie mit der Verantwortung für die Lösung der Schuldenkrise allein. Das war schlicht und ergreifend nicht der Fall. Der Präsident des Europäischen Rates hielt einem Berliner Publikum denn auch 2012 vor: »Ein Viertel aus der deutschen ›Brieftasche‹ heißt gleichzeitig drei Viertel aus den ›Portemonnaies‹ der anderen Euroländer!«

Es gibt einen weiteren Grund, weshalb Deutschland nicht alles alleine stemmen kann, und schon gar nicht ohne Frankreich. Die deutsche und die französische Haltung zu bestimmten politischen Grundbegriffen divergieren fundamental; das löst immer wieder Missverständnisse aus, die konstitutiv sind für die europäische Politik. Nehmen wir zum Beispiel Regeln. In Deutschland stehen Regeln für Gerechtigkeit, Ordnung und Ehrlichkeit. In Frankreich stehen Regeln für Einschränkung und Unfreiheit. Im europäischen Kontext führt dies zu gegenseitigem Argwohn. Paris bittet häufig um Flexibilität, für andere oder für sich selbst (zum Beispiel, um das Schuldenlimit zu überschreiten); in Berlin erfährt man das als Opportunismus und als Vertrauensbruch. Umgekehrt werden die Deutschen, die selbst finden, dass sie die Regel streng, aber ehrlich anwenden, der Rigidität, des Starrsinns und sogar der Machtspiele beschuldigt, weil sie keine Rücksicht auf die Besonderheiten der jeweiligen Situation nehmen. Das Gegenstück zu den Regeln sind die Ereignisse. In Frankreich ist ein Ereignis, auch ein dramatisches, ein Zeichen von Leben und Erneuerung. Für einen französischen politischen Führer à la Sarkozy bietet eine Krise die Gelegenheit zu zeigen, was er kann; die Presse macht daraus einen Moment der Gemeinschaftlichkeit, eine Seite im »Roman der Nation«. In Deutschland hingegen stehen Ereignisse für eine Unterminierung der Ordnung, für Destabilisierung und Gefahr. Eine Krise löst dort Panik aus. Die deutsche Öffentlichkeit schätzt Regierungschefs, die Schocks absorbieren, etwa wenn Kanzlerin Merkel das Land mit ihrer Methode des »Auf-Sicht-Fahrens« durch politische Turbulenzen manövriert.

Die schwierigste Aufgabe, vor der Deutschland in einer Union steht, die in den kommenden Jahren mit ökonomischen und geopolitischen Herausforderungen zu kämpfen haben wird, ist also die folgende: Das Land, das sich selbst und seine Partner am liebsten mit Regeln fesselt, wird in der Ereignispolitik vorangehen müssen. Das Paradox liegt darin, dass es in den vergangenen sechzig Jahren stets Paris gewesen ist, das davon geträumt und daran gearbeitet hat, dass der europäische Mitgliederkreis sich zu einem wichtigen geopolitischen Akteur mit dem entsprechenden Handlungsvermögen entwickelt, und dass ausgerechnet Paris diesem Anspruch im entscheidenden Moment nicht gerecht werden kann. Nun muss Deutschland politische Führungspersönlichkeiten ins Spiel bringen, die »nicht mehr die lang gepflegte Kultur des Abwartens und Aussitzens praktizieren können« (Münkler), sondern Entschlussfreudigkeit und Improvisationsvermögen zu einer Kunstform erheben. Allerdings ist das angesichts der Bürde der Vergangenheit eine schier aussichtslose Aufgabe, weshalb das übergeordnete deutsche Interesse im Aushalten europäischer Widersprüche und Organisieren von Gleichgewichten bestehen wird.

 

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Die europäische Zukunft liegt heute offen vor uns und muss im unberechenbaren Zusammenspiel von Politikern, Wählern sowie äußeren und inneren Kräften gestaltet werden. Doch dasselbe galt für die Geschichte, die uns seit 1945 in die Gegenwart geführt hat. Folglich erzähle ich die Bewegung vom Kontinent zur Union aus einer Perspektive, in der das Ende noch ungewiss ist. Nicht mit der retrospektiven Gewissheit desjenigen, der im Nachhinein schlauer ist, sondern aus der Offenheit des Augenblicks heraus. Umso deutlicher fühlen wir unsere Freiheit und die Verantwortung, welche wir in der Gegenwart für die Gestaltung der Zukunft tragen.

Dieses Buch erschien ursprünglich 2009 auf Niederländisch. Seither wurde es mehrfach aktualisiert. Angesichts der Stürme, die in den letzten Jahren über den Kontinent hinweggefegt sind, hätte man denken können, dass es von Grund auf neu geschrieben werden müsste. Doch gerade die Frage, wie Europa auf Ereignisse und einschneidende Schocks reagiert, ist sein zentraler Gegenstand. Die Eurokrise der Jahre 2010 bis 2012 und die Flüchtlingskrise, die 2015 begann, stellen insofern einen Realitätstest für die hier vorgetragenen Thesen dar, als sie genau die politischen Vorgänge besser sichtbar machen, die das Buch zu beschreiben versucht.

Ich habe mich bemüht, die Geschichte zu erzählen, ohne Partei zu ergreifen. Meiner Ansicht nach sollte man politische Philosophie so betreiben, wie es zum Beispiel Machiavelli, Locke, Montesquieu und Tocqueville getan haben: nicht als normatives Denken mit universellem Anspruch, sondern als auf (persönlichen) Erfahrungen basierende Reflexion über die politische Situation der Zeit.

Ich hatte das Glück, einige der jüngsten Episoden von einem privilegierten Standpunkt aus beobachten zu können. Im Januar 2010 gab ich meinen Status als freier Autor auf und wurde Redenschreiber des ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rates, eine Tätigkeit, die ich fünf Jahre lang ausübte. Die griechische Achterbahnfahrt verfolgte ich von Anfang an, genau wie die darauf folgenden Machtwechsel in Dublin, Rom, Paris und anderswo. Ich war Zeuge nächtlicher Verhandlungsrunden zwischen europäischen Regierungschefs auf der einen und Bankern auf der anderen Seite, bei denen alle darauf warteten, wer als Erster blinzeln und die Kosten für Griechenland übernehmen würde (am Ende traf es die Banker); auch das Drama um Dominique Strauss-Kahn, der auf dem Weg nach Berlin verhaftet wurde, wo er mit der Kanzlerin über den Euro sprechen wollte, bekam ich aus nächster Nähe mit; ich traf Vertreter der Europäischen Zentralbank, die von der angelsächsischen Presse über Nacht zu Superhelden hochgejubelt wurden, während deutsche Medien sie zu Schurken erklärten: ereignisreiche Jahre. Als Russland im Februar 2014 die Krim annektierte, markierte dies endgültig die »Rückkehr der Geschichte«. Kurz nachdem der Europäischen Union der Friedensnobelpreis verliehen worden war, konnte sie nicht länger umhin, sich mit Fragen von Krieg und Frieden zu befassen. Bei der Zeremonie in Oslo hatte ich beobachten können, wie Worte über jugendliche Hoffnungen und die Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg, Worte, an denen lange und sorgfältig gefeilt worden war, Angela Merkel eine seltene Träne der Rührung entlockten. Auch nachdem ich meine Tätigkeit als Redenschreiber 2015 aufgegeben hatte, um an der Universität sowie als politischer Analyst zu arbeiten, setzte sich der Strom der Ereignisse unvermindert fort. Dies bestätigte meine Überzeugung, dass Europa sich an eine neue Normalität anpassen muss. Das beginnt mit einem besseren, realistischeren Selbstverständnis, einer unabdingbaren Voraussetzung, will man in Zukunft glaubwürdiger sprechen und handeln.

Vor mehr als fünfzehn Jahren hatte ich schon einmal einige Zeit in Brüssel als Mitarbeiter der Europäischen Kommission verbracht, bevor ich anschließend im niederländischen Parlament in Den Haag arbeitete. Meine politische Erziehung hat von meinem Aufenthalt in Brüssel sehr profitiert. Die impliziten Botschaften, die doppelten oder gar dreifachen Bedeutungen von allem, das dort gesagt wurde, die institutionellen Rivalitäten, Kämpfe darum, auch ja einen Stuhl an einem bestimmten Verhandlungstisch zu ergattern, Informationen, die an die Presse durchgestochen wurden, das Spiel auf Zeit und mit ihr – um zu verstehen, wie wichtig all diese Dinge sind, muss man unmittelbar vor Ort gewesen sein.

Mir fiel auf, dass die Kommission – in ihren Broschüren und Informationskampagnen – ein imaginäres Publikum »europäischer Bürger« adressierte, dass sie allerdings keinerlei Antwort zu erwarten schien. Im Zuge der Referenden über den Verfassungsvertrag, die 2005 in Frankreich und den Niederlanden abgehalten wurden, hatte ich Gelegenheit, die Folgen dieser distanzierten Behandlung aus einer anderen Perspektive zu ermessen, da ich mittlerweile als Berater in Den Haag arbeitete. Viele Argumente gingen nach hinten los. Als die Regierung beispielsweise die praktischen Vorteile des Euro pries, antwortete ein Anhänger der Gegenkampagne: »Hurra! Ich kann gratis Geld abheben. Dafür gebe ich doch gerne mehr als vierhundert Jahre Souveränität auf.« Erfahrungen wie diese bestärkten mich in der Überzeugung, dass der Kampf um die Öffentlichkeit im Mittelpunkt jeder Darstellung der europäischen Politik stehen sollte.

 

Die Art, in der über Europa geschrieben und gesprochen wird, ist zumindest teilweise für sein schwaches Selbstbild und das lange Zeit herrschende Desinteresse seitens der Bürger verantwortlich. Daher entschied ich mich, den üblichen Jargon zu vermeiden. Fachchinesisch erlaubt es Beamten und Politikern nicht nur, sich hinter leeren Worten zu verstecken (was schlimm genug ist), sondern es stellt zugleich eine Vernebelungstaktik dar: Anstatt die Züge im politischen Machtspiel zu erklären und Verantwortlichkeiten klar zuzuweisen, verbirgt der Jargon sie hinter einer Wand aus Worten. Aus diesem Grund verwende ich auch keine Abkürzungen, jene typischen Kennzeichen der Brüsseler Prosa sowie der juristischen und politischen Handbücher. Ich schreibe nicht EU, sondern spreche einfach von der Union.

Die Entscheidung, Jargon zu vermeiden, ist dabei auch Teil des Versuchs, dem Klammergriff bestehender Konzepte zu entkommen und neue Werkzeuge zu entwickeln. Als ich zu schreiben begann, leitete mich die Intuition, dass die verfügbaren Analysen und Narrative über Europa einen wesentlichen Punkt übersahen. Das politische Leben der Union schien darin gar nicht vorzukommen. Doch wie sollte ich dieses Leben berücksichtigen, ohne in die Falle zu gehen und im Käfig der üblichen Sichtweisen gefangen zu bleiben? Um etwas Neues zu entdecken, muss man beiseitelassen, was man bereits weiß. Auch ein Frontalangriff auf gut eingeführte Begriffe (wie den ewigen Gegensatz »supranational« vs. »intergouvernemental«) würde die Macht dieser Konzepte vermutlich eher noch verstärken. Der Philosoph Richard Rorty schrieb einmal, interessante Philosophie sei gewöhnlich ein »Wettkampf zwischen einem erstarrten Vokabular, das hemmend und ärgerlich geworden ist, und einem neuen Vokabular, das erst halb Form angenommen hat und die vage Versprechung großer Dinge bietet«. Kurz darauf folgt bei Rorty ein Satz, der meine Motivation perfekt zusammenfasst: »Meinen eigenen Prinzipien getreu, werde ich keine Argumente gegen das Vokabular, das ich ersetzen möchte, liefern. Statt dessen werde ich versuchen, das Vokabular, das ich favorisiere, attraktiv zu machen, indem ich zeige, daß es zur Beschreibung einer Vielfalt von Themen brauchbar sein kann.«

 

Will man dem Gefängnis der existierenden Sprache entfliehen, liegt der Schlüssel dazu in der Erfahrung. Daher richtete ich den Blick zurück auf jene Persönlichkeiten, die das politische Europa gegründet und daran mitgearbeitet haben: Staats- und Regierungschefs, Minister, Diplomaten, Abgeordnete, Beamte und Richter. Zugänglich werden ihre Erfahrungen anhand von Reden und Debatten, durch ihre Memoiren sowie durch Anekdoten, die Journalisten und Historiker festgehalten haben. Außerdem greife ich auf eigene Beobachtungen und unschätzbar wertvolle Gespräche mit vielen Beteiligten zurück. Konrad Adenauer bemerkte im Alter von neunundachtzig Jahren: »Erfahrung kann eine Führerin des Denkens und des Handelns sein, die durch nichts zu ersetzen ist, auch nicht durch angeborenen Intellekt. Das gilt insbesondere für das Gebiet der Politik.«

Viele akademische Debatten sind in dieser Falle der Sprache gefangen, weshalb dieses Buch mit der klassischen Frage beginnt: »Was ist Politik?« Es widmet sich drei Formen der Politik: der Entscheidungsfindung und der Durchsetzung von Gesetzen (Teil I), der Fähigkeit, inmitten der Kontingenz der Zeit zu handeln (Teil II), und dem Versuch, ein Band zwischen der politischen Führung und dem Volk zu schmieden (Teil III). Europa dient hier als einschlägiges Beispiel. Modethemen wie die Unterscheidung zwischen »harter« und »weicher Macht«, die Feinheiten der »Governance in Mehrebenensystemen« oder die Abgründe des »Demokratiedefizits« spielen lediglich eine untergeordnete Rolle. Stattdessen konzentriere ich mich auf klassische Kategorien wie Gründung, Veränderung, Repräsentation, Legitimität, Verantwortung, Ereignisse und Freiheit. Auch wenn das Buch natürlich auf die Verträge und die Institutionen eingeht, ist es doch weder das Werk eines Juristen noch eines Politikwissenschaftlers, sondern eines politischen Philosophen und Historikers, der überzeugt davon ist, dass ihr Verhältnis zurzeit das Wesen der Politik ausmacht.[2]

Mit dem berühmten Bild von der Eule der Minerva brachte Georg Wilhelm Friedrich Hegel das tragische Faktum zum Ausdruck, dass wir die Wirklichkeit immer erst dann erklären können, wenn die Dämmerung bereits hereinbricht. Auf Grund seiner Erfahrungen mit der Zäsur der Französischen Revolution und dem Auftritt Napoleons brachte er damit zum Ausdruck, dass unsere Versuche, uns einen Reim auf die Realität zu machen, den Ereignissen in der Regel hinterherhinken, dass es lange dauert, bevor wir einen historischen Bruch deuten können. Gleichzeitig ist dieser Versuch des Verstehens der Geschichte unerlässlich, wenn wir die Gegenwart gestalten wollen.

Vorst (Belgien), 7. Juli 2016



[1] Das Vorwort wurde aus dem Niederländischen übertragen von Helga Marx.

[2] Am Ende des Buches findet sich ein ausführlicher bibliographischer Essay, der die wichtigsten Quellen benennt und meine Position gegenüber existierenden Studien genauer darlegt.