Anmerkungen


  1  In der griechisch-römischen Mythologie wurde Vergessen als Voraussetzung für Wiedergeburt beziehungsweise den Übergang in einen paradiesischen Zustand (Elysium) angesehen. Siehe Vergil: »Alle, sobald sie ihr Rad durch tausend Jahre hin wälzten, ruft zur Lethe der Gott in mächtiger Schar – wie du weißt: dass ohne Erinnerung sie dann die höhere Wölbung erblicken und damit sie beginnen, sich wiederverkörpern zu wollen.« (Publius Vergilius Maro: Aeneis 6, 703–755)
  2  Wenn Sie sich vertieft für das Thema der evolutionären Psychologie interessieren, verweisen wir Sie auf die Bücher von David Buss (Buss, 2014).
  3  Klassisch genetisch bedeutet, dass das Merkmal auf einem bestimmten Code von Nukleinsäuren beruht, der die Struktur eines Proteins beschreibt.
  4  Epigenetisch bedeutet, dass das Merkmal darauf beruht, dass eine ­bestimmte Gensequenz präferentiell ausgelesen wird, während andere Gensequenzen beispielsweise durch Methylierungsprozesse nur schwer ausgelesen werden können.
  5  Peergroup ist die Gruppe von gleichaltrigen Männern und/oder Frauen, die unter ähnlichen sozialen Umständen lebt, ähnliche Bildungserfahrungen und ähnliche kulturelle Präferenzen hat. Die Peergroup ist deshalb der entscheidende Orientierungspunkt für menschliches Verhalten.
  6  Wenn Sie sich für vertiefende wissenschaftliche Literatur zum Thema Werte interessieren, möchten wir Sie auf die Arbeiten von Shalom Schwartz und Steven Hayes hinweisen.
  7  »Holding goals lightly« ist eine wichtige Aussage der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (Luoma, Hayes, & Walser, 2007).
  8  Allokation ist ein Begriff, der aus den Wirtschaftswissenschaften stammt, mittlerweile aber auch in der Medizin und in der Psychologie verwendet wird. Es geht um die Zuweisung eines begrenzt verfügbaren Guts zu einer bestimmten Funktion, also beispielsweise Kapital für den Kauf einer Maschine, Glukose für das Gehirn in einer Stresssituation oder Zeit für eine bestimmte berufliche Aufgabe oder eine zwischenmenschliche Beziehung. Es geht hier nicht nur um den Vorgang der ­Zuweisung des begrenzten Guts, sondern auch um die Entscheidung, es nicht für etwas anderes zu verwenden.
  9  Perfektionismus und Exzellenz sind zwei gegensätzliche Strategien, mit denen Menschen ihr Streben nach guten Leistungen und Anerkennung steuern können. Perfektionismus setzt an der Vermeidung von Fehlern an. Perfektionistische Menschen vermeiden allerdings die Erledigung von Aufgaben, bevor sie diese unvollkommen erledigen. Exzellenzorientierte Menschen nehmen dagegen Fehler bewusst in Kauf und begreifen sie als notwendig und unausweichlich auf dem Weg zu ungewöhnlichen Leistungen. Exzellenzorientierte Strategien erfordern Konzentration auf wenige spezifische Punkte und geben die Erlaubnis, Prioritäten zu setzen und damit andere Dinge zu vernachlässigen. Die Dialektik zwischen Perfektionismus und Exzellenz ist ein wesentlicher Gegenstand moderner Verhaltenstherapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung (Shafran, Cooper, & Fairburn, 2002).
10  Default bezeichnet eine Voreinstellung in einem System oder Gerät. Der Default Effect ist in der Psychologie die Option, die man erhält, wenn man nichts tut.
11  Von intermittierender Verstärkung spricht man, wenn auf ein bestimmtes Verhalten ein positives Ereignis oder die Beendigung eines negativen Ereignisses nicht kontinuierlich, sondern mit einer variablen Rate erfolgt. Intermittierende Verstärkung führt unter bestimmten Umständen zu einer höheren Frequenz des Verhaltens als kontinuierliche Verstärkung. Verhalten, das intermittierende Verstärkung erfahren hat, ist besonders resistent gegen Veränderung (partial reinforcement extinction effect) (Bouton, 2007; Chance, 2014).
12  Furchtlosigkeit ist ein Zustand, in dem in Situationen, die von anderen Menschen als bedrohlich antizipiert werden, keine Angst oder Furcht wahrgenommen wird. Furchtlosigkeit ist ein wesentliches Thema von Forschung zu Psychopathie und antisozialer Persönlichkeitsstörung (Marsh, 2013). Furchtlosigkeit kann erworben werden, indem man Opfer, Täter oder Zeuge von Gewalt oder schweren Erkrankungen wird. Furchtlosigkeit kann aber auch Bestandteil eines angeborenen Temperaments sein.
13  Eine genaue Ausarbeitung und Systematisierung dieses Wissensbereichs ist Burrhus Skinner zu verdanken (dem »Darwin« der Verhaltenswissenschaften ), der auch den Begriff des operanten Lernens in die Psychologie eingeführt hat. Operantes Verhalten (von lateinisch »operare« = arbeiten) beeinflusst die Umwelt und wird durch seine Konsequenzen aufrechterhalten und beeinflusst. Operantes Verhalten steht im Gegensatz zu respondentem Verhalten, das durch den jeweiligen Stimulus geprägt wird. Operantes Lernen kann in vier Kategorien eingeteilt werden: 1) Verstärkung (Belohnung), 2) Bestrafung, 3) negative Verstärkung (indirekte Belohnung durch Wegfall eines aversiven Zustandes), 4) Löschung (Ausbleiben einer Belohnung).
14  Besonders wichtig ist ein Verständnis des Einflusses von Konsequenzen auf das eigene Verhalten. Entgegengesetztes Handeln ist ein wichtiges Konzept zur Überwindung von Verhaltensblockaden. Es ist ein zentrales Konzept der dialektisch-behavioralen Therapie von Marsha Linehan. Zu jeder Emotion gehört ein emotionsgetriebenes Verhalten, Furcht begünstigt Flucht, Scham sozialen Rückzug, Wut aggressives Verhalten. Entgegengesetztes Handeln bedeutet, das Gegenteil von dem zu tun, was die Emotion sagt, sich auf eine gefährliche Situation zubewegen, sich nicht zurückziehen, obwohl man gegen eine soziale Norm verstoßen hat, oder freundlich zu jemanden sein, obwohl sich dieser bedrohlich verhält.
15  Propriozeption ist die Wahrnehmung der Information aus Bewegungssensoren der Gelenke und der Muskulatur. Durch Propriozeption weiß man auch im Dunkeln, in welcher Körperlage man sich befindet, ob ein Gelenk gebeugt oder gestreckt ist.
16  Taktile Wahrnehmung ist die Wahrnehmung aus den Berührungssensoren der Haut.
17  Automatische negative Bewertungen sind ein wichtiger Ansatzpunkt der klassischen kognitiven Therapie, wie sie ursprünglich von den Therapieentwicklern Beck und Ellis vorgeschlagen wurde (Beck & Dozois, 2011; Dryden, David, & Ellis, 2010).
18  Auch für diesen Begriff gibt es noch keine feststehende Übersetzung. Er bedeutet Entscheidungsfindung auf der Grundlage eines einzigen Grundes.
19  Eine Vielzahl von Beispielen dazu, wie Furcht und Angst davor schützen können, Opfer von Gewalt zu werden, finden sich bei De Becker (De Becker, 1997).
20  Eine wichtige Rolle spielt hier der Haupthistokompatibilitätskomplex. Menschen ziehen Partner mit einem unterschiedlichen Muster von Oberflächenantigenen vor. Die Wahrnehmung dieses Unterschieds erfolgt offensichtlich über den Geruch (Pause, 2011).
21  Habituation ist eine wichtige Form des Lernens. Sie erfolgt häufig unbewusst. Habituation erfolgt, wenn man sich wiederholt einem bedrohlichen Stimulus oder einer Situation aussetzt, die sich dann aber als bewältigbar oder ungefährlich erweist. Die Reaktion auf den Auslöser schwächt sich dann allmählich ab und kann schließlich völlig ausbleiben.
22  Beginner’s Mind (Shoshin) ist ein Konzept aus dem Zen-Buddhismus. Es bedeutet eine Haltung von Offenheit und Verzicht auf Bewertung gegenüber Personen, Gegenständen oder Situationen. In seiner psychologischen Version bedeutet Beginner’s Mind, sich Personen, Gegenständen oder Situationen so anzunähern, »wie wenn es das erste Mal wäre«. Die Anwendung von Beginner’s Mind ist eine wichtige Fertigkeit im Umgang mit den Nebenwirkungen von mentaler Simulation.
23  Es erscheint erst einmal unlogisch, hier von einer Bidirektionalität und nicht von einem unidirektionalen Einfluss einer Bewertung auf eine Emotion auszugehen. Tatsächlich konstruiert das Gehirn in seinem assoziativen Netzwerk alle Beziehungen bidirektional. Wenn Sie sich für die wissenschaftlichen Grundlagen und weitere Implikationen interessieren, dann informieren Sie sich über die Relational Frame Theory (Hayes, Barnes-Holmes, & Roche, 2001).
24  Nerd ist ein aus dem amerikanischen kommendes Stereotyp, das Menschen beschreibt, die eine intensive Beschäftigung mit Wissenschaft, Mathematik oder Informatik betreiben und gleichzeitig interpersonell sehr ungeschickt sind.
25  Der Begriff Belohnungssystem beschreibt die neuroanatomischen Strukturen im Gehirn (u. a. mesolimibische und mesokortikale Bahnen, die für Verstärkungsprozesse erforderlich sind). Eine Belohnung ist ein Stimulus, der, wenn er nach einem Verhalten gegeben wird, die Wahrscheinlichkeit für die Wiederholung dieses Verhaltens erhöht. Primäre Verstärker haben einen unmittelbaren Wert für das Überleben (Nahrung, Flüssigkeit oder Sexualität), sekundäre Verstärker wie Geld leiten ihre Bedeutung von primären Verstärkern ab. Das Belohnungssystem ist offensichtlich der primäre Ort der für diese Prozesse erforderlichen Informationsverarbeitung. Auf der neurochemischen Ebene spielt Dopamin eine entscheidende Rolle im Belohnungssystem.
26  Dopamin ist eine Überträgersubstanz aus der Gruppe der Katecholamine, die im Körper ausgehend von der Aminosäure Tyrosin synthetisiert wird. Das dopaminerge System findet sich im Zentralnervensystem und im Mittelhirn. Es gilt gemeinhin als Glückshormon.
27  Reziprozität (von lateinisch reciprocus, aufeinander bezogen, wechselseitig) ist ein Grundprinzip menschlichen Verhaltens. Es bedeutet, dass das eigene Verhalten auf andere bezogen ist und auf Gegenseitigkeit ­beruht. In reziproken Beziehungen herrscht gegenseitiges Wohlwollen. Geben und Nehmen wechseln sich ab.
28  Die daraus folgende, in den 1950ern und 1960ern populäre Lebenslüge ist, dass es »die anderen« waren, die in dieser Bewegung vorausgegangen waren, während man selbst schon damals – 1933 – vorhersagt hatte, dass alles ein schreckliches Ende nehmen würde.
29  Eine seltene Erkrankung, die etwa 10 bis 15 von 100 eineiigen Zwillingsschwangerschaften mit einer gemeinsamen Plazenta betrifft.
30  Das Hedonismus-Paradox besagt, dass Glück nicht direkt, sondern allen­falls indirekt erreicht werden kann.
31  Die Verstärkerdefizittheorie (Lewinsohn, 1974) ist eine der wichtigsten psychologischen Theorien zur Erklärung von Depression. Konkret bei Sandra bedeutet dies, dass sie vielfältige Anstrengungen unternimmt, insbesondere in ihrer Partnerschaft, aber für diese Anstrengungen nur wenig Belohnung in Form von liebevoller Zuwendung erhält.
32  Bei der Satisficing-Heuristik definiert man Mindestkriterien für eine Auswahlentscheidung und entscheidet sich dann für die erste Person oder den ersten Gegenstand, die oder der die Kriterien erfüllt.
33  Das Angstnetzwerk umfasst die Gehirnstrukturen, die in Gefahren­situ­a­tio­nen konsistent eine erhöhte Aktivität aufweisen wie Amygdala, or­bitofrontaler Kortex, medialer präfrontaler Kortex, sympathisches Ner­ven­­system, Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-System (Etkin, 2009; Etkin, Egner, & Kalisch, 2011).
34  Loss Aversion ist der Fachbegriff für eine höhere Sensitivität gegenüber Verlusten im Vergleich zu Gewinnen (Tversky & Kahneman, 1991). Ein hohes Ausmaß an Loss Aversion führt langfristig zu schlechteren Anlageentscheidungen oder Kaufentscheidungen. Loss Aversion führt auch dazu, dass man sich sehr viel weniger über Einkommenszuwächse freut, als man sich über sinkendes Einkommen grämt (Boyce, Wood, Banks, Clark, & Brown, 2014).
35  Der bekannte Entwicklungspsychologe Piaget bezeichnete diese Grup­pe von Fertigkeiten als »operatorisches Denken« (Beilin & Pufall, 1992). Operatorisch, weil es auf Ergebnisse und Konsequenzen ausgerichtet ist. Er beschrieb auch, dass sich die zugrundeliegenden Fertigkeiten erst im Laufe der Adoleszenz vollständig entwickeln.
36  Persönlichkeitsstörungen sind definiert durch andauernde problematische Muster des Verhaltens, Denkens und emotionalen Erlebens, die seit der Jugend bestehen und zu einer erheblichen Beeinträchtigung führen. Bei der dependenten Persönlichkeitsstörung stehen problematische Abhängigkeitsbeziehungen im Vordergrund.
37  Kostenlose Audiofiles zum Attention Training finden Sie unter http://www.metakognitivetherapie.de/aufmerksamkeitstraining-att
38  Viele Details zu Defusionsübungen finden Sie in den Büchern von Stephen Hayes (Hayes, 2012; Hayes, Strosahl, & Wilson, 1999).
39  Genaueres über Validierungsstrategien können Sie bei Marsha Linehan nachlesen (Linehan, 1997).
Valerija Sipos/Ulrich Schweiger
Glauben Sie nicht alles, was Sie denken
Anleitung für ein gesundes und glückliches Gehirn



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Dieses Buch beruht auf drei Jahrzehnten Arbeit mit unseren Patientinnen und Patienten an zahlreichen Kliniken wie dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, der Fachklinik Furth im Wald, an der Psychosomatischen Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee und der Universität zu Lübeck. Die vielfältigen Einflüsse, Anregungen, Begegnungen und Forschungsergebnisse aus einem der faszinierendsten Forschungsgebiete der Menschheit fließen in diesem Buch zusammen. Wir bedanken uns deshalb vor allem bei allen Patientinnen und Patienten für den Erfahrungsschatz, den wir mit ihnen teilen durften – und den wir an andere Menschen, die Rat, Hilfe und Zuspruch benötigen, hiermit gerne weiterschenken möchten. Wir sind der festen Überzeugung, dass das Wissen, das in diesem Buch steckt, für jeden Menschen wichtig ist. Es stellt eine Art psychotherapeutische Hausapotheke dar.





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ISBN E-Book 978-3-451-81158-6
ISBN Print 978-3-451-60022-7
Inhaltsverzeichnis
Vorwort - Risiken und Nebenwirkungen unseres Denkapparats
  1. Einführung
Das Gehirn ist ein Werkzeug mit Nebenwirkungen
Und ewig dreht sich das Grübelkarussel
  2. 5,8 Millionen Kilometer Leitungsbahnen – Was ist eigentlich besonders am menschlichen Gehirn
Teil 1 – Grundlegendes
  3. Warum können sich Kühe nicht am Kopf kratzen? Eine evolutionäre Perspektive auf die Entwicklung von Gehirn und Verhalten
  4. Das kannst du nicht vergessen – das Gedächtnis und seine Tücken
  5. Hätte ich doch den Lottoschein abgegeben – kontrafaktisches Denken
  6. Denken über das Denken – Metakognition
  7. Crashtest – wie unser Gehirn Zukunft simuliert
  8. Um Regeln einzuhalten, müssen wir sie brechen
  9. Werteorientiertes Verhalten – Leuchttürme für das eigene Leben
Übung
Fallen und Nebenwirkungen von Werteorientierung
10. Das brauche ich, da will ich hin – über Ziele
Ziele leben davon, konkret zu sein
Ziele brauchen Flexibilität
Es kommt anders, als man denkt
Ziele erfordern Fokussierung
11. So bin ich eben – angeborene spontane Verhaltenstendenzen
12. Ist doch klar, woher das kommt – wie wir Gründe und Ursachen vertauschen
13. »Mind the Gap« – über Aufmerksamkeits­lenkung
14. Schnelles Denken, langsames Denken: die Zwei-Prozess-Theorie des Denkens
Folgen im Alltag
15. Macht es sich das Gehirn zu leicht? Wie Daumenregeln in die Irre führen
Satisficing – einfache Kosten-Nutzen-Rechnung
Schubladendenken – wie das Gehirn in Schlagzeilen denkt
Entscheidung aus einem wichtigen Grund: One Reason Decision Making
Und noch mehr Daumenregeln
16. Glück ist nicht normal – über Emotionen
Ärger und Wut
Furcht und Angst
Ekel
Scham
Trauer
Schuld
Eifersucht
Misstrauen
Hoffnungslosigkeit
Einsamkeit
Kränkung
Liebe
Freude
Stolz
17. Das Drama von Wunsch und Wirklichkeit – über kognitive Fusion
18. Kann ich mir beim Denken zusehen und gleichzeitig Ratatouille kochen?
Teil 2 - Risiken und Nebenwirkungen der Gehirnfunktion im Alltag
19. Ich will dazugehören! Über Gruppen und Ausschluss
20. Glück kommt selten allein – über Glück und Unglück
21. Liebe ist eine Himmelsmacht – unser Bedürfnis nach Paarbeziehung
22. Die letzte Million – warum materieller Erfolg nicht glücklich machen muss
23. Planst du noch oder machst du dir schon Sorgen
24. Pass auf dich auf! Wie Vorsicht uns in Gefahr bringen kann
25. Vom Säbelzahntiger gebissen – über den Fluch des Erinnerns
26. Positives Denken – daran kann man nur scheitern
27. Du verstehst mich nicht – wie Nebenwirkungen unseres Denkens Beziehungen stören
28. Streifen verrutscht – über schwere körperliche Erkrankung
Teil 3 - Psychische Störungen als Nebenwirkung evolutionärer Anpassungsprozesse
29. Das macht mir ganz schön Angst!
30. Ich will keinen Dreck – über Zwangsstörungen
31. Mehr als Blues – über Depression
32. Es ist zum Kotzen – über Essstörung
33. In Geiselhaft – über Substanzabhängigkeit
34. In Watte gepackt – über dissoziative Störungen
Teil 4 - Wie kann man Risiken und Nebenwirkungen der Gehirnfunktion begrenzen?
35. Gnothi seauton – über Selbsterkenntnis
36. Gut, dass wir mal darüber reden – über Kommunikation
37. Ich will das nicht – über Akzeptanz
38. Bitte einen Schritt zurücktreten! Über Achtsamkeit
Achtsamkeitsübungen erlernen
Fakten zu Achtsamkeitsübungen
Fünf-Sinne-Übungen
Achtsamkeit im Alltag
Atem-Meditation
Geh-Meditation
Body-Scan
Aufmerksamkeitstraining
Detached Mindfulness
39. Die Bombe entschärfen – über Defusion
40. Wenige Dinge richtig tun – über Fokussierung
41. Dazu habe ich keine Lust – über den Aufbau von Aktivitäten
42. Auf den Spuren der Ameisen – über Altruismus
43. Zusammenfassung und Ausblick

44. Literaturverzeichnis

Anmerkungen
Vorwort
Risiken und Nebenwirkungen unseres Denkapparats
Sie haben in den letzten 24 Stunden sicherlich mehrere Tausend Gedanken gehabt. Die meisten davon sind schon wieder verschwunden, ohne dass Sie sich daran erinnern können, aber einige haben Sie festgehalten. Manche Gedanken und Vorstellung lösen bei Ihnen Freude oder Hoffnung aus, andere quälen Sie möglicherweise. Wenn Sie jetzt annehmen, dass diese Gedanken Sie als Person ausmachen, dann liegen Sie definitiv falsch. Und wenn Sie annehmen, dass das, was da denkt, nämlich Ihr Gehirn, ausschließlich in Ihrem persönlichen Interesse arbeitet, dann wird es gefährlich.
Das Gehirn ist nicht Ihr Freund. Es ist natürlich auch nicht Ihr Feind. Aber es ist ein Werkzeug, dessen Anwendung Risiken birgt. Wenn Sie diese Risiken und Nebenwirkungen nicht beachten, können Sie sich in Gefahr bringen oder unglücklich machen.
1. Einführung
Eine der interessanten, aber sicherlich auch strittigsten neuen Ideen zum Verständnis von Depressionen ist: Psychische Störungen sind eine Nebenwirkung dessen, was unser Denkapparat besonders gut kann – vergangene Erlebnisse auswerten, planen, seine Aufmerksamkeit ganz spezifisch auf etwas richten, das Verhalten anderer Menschen beobachten und Hypothesen dazu bilden, was in ihnen vorgeht.
Überspitzt gesagt: Wer depressiv ist, ist gerade nicht »geistig gestört« – sondern verfügt über ein hoch entwickeltes, feinfühliges, aktives Gehirn. Er oder sie leidet aber unter den Nebenwirkungen, die dieses Instrument hat.
Damit auch besonders sensible Menschen mit ihrem Denkapparat umgehen können, ohne zu erkranken, kommen wir nicht darum herum, den Beipackzettel für das menschliche Gehirn sorgfältig zu lesen und zu verstehen – so schwer er zu lesen sein mag: Es lohnt sich!
Denn es gibt eine gute Nachricht: Wer die Arbeitsweise seines Denkapparates kennt und die Möglichkeiten des Denkens richtig einschätzt, kann lernen, mit den Risiken und Nebenwirkungen umzugehen. Das ist vergleichbar mit der Art und Weise, wie wir uns im durchaus nicht ungefährlichen Großstadtverkehr bewegen: Wer Fahrrad fährt oder ein Auto benutzt, hat auch ein ganzes Repertoire von Verhaltensweisen, um sich vor Schaden zu schützen. Und das wirkt: Durch Verkehrsschulungen, Verkehrsleitzentralen und Verbesserungen der Sicherheitsvorrichtungen im Auto ist die Zahl der Toten und Verletzten in den vergangenen Jahren erheblich zurückgegangen.
Etwas Ähnliches brauchen wir auch für unseren Denkapparat: einen guten Plan für den Umgang mit diesem Werkzeug und ein gutes Verständnis von unfallträchtigen Situationen.
Die Funktion des menschlichen Gehirns zu verstehen, ist eine der wichtigen Aufgaben des 21. Jahrhundert. Es geht hier nicht nur um unsere Gesundheit, sondern insgesamt um das erfolgreiche Zusammenleben von Menschen und ihre Kooperation in kleinen oder größeren Gruppen. Dazu müssen wir zunächst einmal umdenken: Wir müssen uns von der naiven Annahme verabschieden, dass das Gehirn ein guter Freund ist, der uns unter allen Umständen das Richtige rät und Gutes für uns tut.
Das Gehirn spielt manchmal regelrecht verrückt und muss wieder eingefangen werden. Manchmal verrennt es sich in Sackgassen und verschweigt, dass es auch einen Rückwärtsgang gibt. Strategien zum Umgang mit Nebenwirkungen des Denkens stehen mittlerweile im Mittelpunkt mehrerer moderner Psychotherapiemethoden, von denen hier im Buch die Rede sein wird.
Bei dem, was wir in diesem Buch vorstellen, handelt sich in großen Teilen um Neuland in der modernen psychologischen Forschung und Hirnforschung. Vieles ist kontrovers, nicht abschließend diskutiert oder bewiesen. Woche für Woche kommen neue Erkenntnisse der Forschung dazu, die das Verständnis der Wirkungsweise des Gehirns zu einer veritablen Wanderbaustelle macht. Trotzdem gibt es bereits handfeste Ergebnisse.
Unser Buch wendet sich an Menschen, die etwas für ihre psychische Gesundheit tun wollen, weil sie selbst von Angst, Depression oder anderen Problemen betroffen sind, ihr Partner oder Freunde an einer psychischen Störung leiden oder weil sie einfach neugierig sind. Mann und Frau erfahren in dem Buch viel Neues, was sie schon immer über das Denken und Fühlen – ihr Gehirn – wissen wollten und nicht in der Schule gelernt haben, aber im Alltag so dringend brauchen können.
Das Gehirn ist ein Werkzeug mit Nebenwirkungen
Unser Umgang mit psychischen Erkrankungen wird oft von Mythen beherrscht. Mythen halten sich dann besonders gut, wenn sie einen wahren Kern haben. Mythen führen jedoch in die Irre. Betrachten Sie mit uns folgende immer wiederkehrende – und daher wichtige – Mythen beispielsweise zur Volkskrankheit Depression.
Mythos 1: Die schlechte Stimmung ist das Problem.
Schlechte Stimmung ist das Symptom Nr. 1 in der Diagnostik. Patienten fühlen sich erleichtert, wenn die Stimmung wieder gut ist. Tatsächlich ist das Problem nicht vorbei, wenn die Stimmung wieder gut ist. Bestimmte psychologische Merkmale von Depression, beispielsweise die Neigung zu Grübeln, ist dann bei vielen Betroffenen immer noch da.
Mythos 2: Es ist der Stress.
Stressbelastung und ihre neurobiologischen Folgen erhöhen das Risiko für depressive Zustände erheblich. Aber ist Stress der Schlüssel? Dass es sich um einen Mythos handelt, sieht man daran, dass die Konsequenzen, die Menschen aus dieser Annahme ziehen, in die Irre führen. Menschen mit Depression haben oft schon ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten. Sich in depressiven Zuständen zurückzuziehen und darauf zu warten, »dass sich der Akku wieder auflädt«, hat oft paradoxe Folgen und macht die Depression schlimmer. Außerdem zeigt die Forschung, dass viel von dem Stress hausgemacht ist: Grübeln, Sorgen, ungeschicktes zwischenmenschliches Verhalten, Perfektionismus. All das verursacht bei den Betroffenen Stress, ist aber nicht durch Vermeidung zu bewältigen.
Mythos 3: Es sind die schlechten Gene.
Es gibt eine ganze Reihe von Genen, die zum Risiko, depressiv zu werden, beitragen. Aber die Effektstärken für jedes einzelne Gen sind sehr klein, und es handelt sich um Genotypen, die auch bei Gesunden häufig sind. Auch wenn die 25 Prozent der Menschen, die irgendwann in ihrem Leben eine schwere Depression erleiden, auf eigene Kinder verzichten würden, ergäbe sich keine Veränderung des Depressionsproblems. Außerdem sind die möglichen Nachteile dieser Gene offensichtlich ausbalanciert durch Vorteile für andere Träger derselben Gene – und zwar in Form von günstigen Verhaltenseigenschaften. Dies führt dazu, dass die Risikogene in ihrer Frequenz erhalten bleiben.
Mythos 4: Depressive denken zu wenig optimistisch.
Eine pessimistische Sicht auf die eigene Person, die Welt und die Zukunft und negative Bewertungen sind die Markenzeichen einer Depression. Wenn Sie sich nun sagen: »Ich bin ab jetzt optimistischer und bewerte Dinge positiver!«, dann werden Sie feststellen, dass sich das irgendwie falsch anfühlt. Auch völlig gesunde Menschen sind immer wieder pessimistisch. Keine falschen Hoffnungen zu hegen, ist sogar ein Zeichen von Weisheit. Tatsächlich steckt hinter Depression ein Verhaltensprogramm, das es Menschen ermöglicht, sinnlos gewordenes Verhalten nicht weiterzuführen.
Neue Ideen sind also gefragt.
Und ewig dreht sich das Grübelkarussel
Viele psychische Probleme wie Grübeln, Sorgen, posttraumatische Störungen oder zwischenmenschliche Konflikte sind Nebenwirkungen von Dingen, die unser Gehirn besonders gut kann, nämlich erinnern, planen und vorstellen. Wer sein Gehirn gerne nutzt, sollte besser auch über die Nebenwirkungen Bescheid wissen!
Wir möchten, dass Sie genau verstehen, wie es zu diesen Nebenwirkungen kommt. Und wie Sie diese Nebenwirkungen verhindern, bevor sie enstehen. Hierzu müssen wir uns zunächst mal Funktionen und Arbeitsweisen des Gehirns genauer anschauen. Sobald man versteht, wozu die Aspekte des Denkens, Fühlens und Verhaltens gut sind, erschließt sich auch die Problemseite, die Nebenwirkungen.
Dazu erläutern wir das Thema der Fehlfunktionen und Nebenwirkungen mit einer großen Zahl von Fallbeispielen. Diese Beispiele stammen aus unserer jahrelangen beruflichen Arbeit mit der Behandlung von psychisch kranken Menschen, der Beratung von gesunden Menschen, der Ausbildung von Studierenden der Medizin und der Psychologie, Ärzten, Psychotherapeuten, der Leitung von Selbsterfahrungsgruppen, der Psychotherapieentwicklung und der Psychotherapieforschung.
Alle Beispiele, Personen, Namen, Abläufe und Orte sind frei erfunden, wie es so schön im Abspann des TV-Krimis heißt. Gleichzeitig sind alle Puzzleteile, aus denen Fallbeispiele zusammengesetzt sind, wahr und unserer beruflichen und persönlichen Erfahrung entnommen. Wir hoffen, dass viele der Leser ihre eigenen emotionalen Erfahrungen und Denkweisen wiedererkennen werden und sich dadurch bereichert fühlen.
Wenn Sie unser Buch bis zum Ende lesen, werden Sie ein neues kritischeres Verständnis Ihres eigenen Denkens und Erlebens entwickelt haben und ein aufgeklärteres, von Mythen befreites Verständnis von psychischen Störungen bei anderen oder bei sich selbst entwickeln.
Sehr wahrscheinlich hilft Ihnen dieses Buch auch, eigene Lebensprobleme geschickter zu lösen. Wenn Sie selbst wegen eines psychischen Problems in Behandlung sind, kann das Buch als Begleiter dienen. Manche Erkenntnisse, die Sie gewinnen, werden Sie für sich behalten wollen – warum? Das sagen wir Ihnen später oder Sie merken es von selbst. Bei den meisten Erkenntnissen lohnt es sich, mit anderen darüber zu sprechen und sich auszutauschen. Sie werden das automatisch tun: aus Begeisterung über Ihre Fortschritte!
Aber zuerst kommt die wichtigste Erkenntnis, mit der jeder Wandel erst beginnt – und die lautet: Dein Gehirn ist nicht dein Freund!
Glauben Sie uns nicht? Dann machen Sie mit uns einen kleinen Ausflug zu den Anfängen der Entstehungsgeschichte unseres Gehirns. Und werfen wir einen Blick auf die Problemzonen, die uns heute in unserer schnelllebigen Welt so belasten und überlasten können.
Depressive Erkrankungen sind möglicherweise eine Nebenwirkung von dem, was das Gehirn am besten kann: erinnern, planen und vorstellen. Das bedeutet: Um sich zu schützen, braucht man ein kritisches Bewusstsein für das, was das Gehirn kann und was es nicht kann.
2. 5,8 Millionen Kilometer Leitungsbahnen – Was ist eigentlich besonders am menschlichen Gehirn?
Die Nebenwirkungen des menschlichen Gehirns haben etwas mit seinen Besonderheiten zu tun. Der Mensch ist einerseits ganz eng mit anderen Wirbeltieren verwandt, andererseits hat er ein besonders großes Frontalhirn. Es macht unsere Stärke als Spezies aus. Insgesamt befähigt uns das Frontalhirn zu einer langen Liste von Fertigkeiten und Verhaltensweisen, die selbst die engsten Verwandten des Menschen im Tierreich nicht aufweisen oder nur erheblich schlechter beherrschen:

• Sprache
• Abstraktes Denken
• Problemlösen
• Mathematik
• Wissenschaft
• Rekonstruktion der Vergangenheit mit der Möglichkeit, auch alternative Verlaufsmöglichkeiten von Ereignissen zu konstruieren (kontrafaktisches Denken)
• Räumliches Vorstellungsvermögen
• Komplexe Handlungsplanung
• Kunst, Kultur, Spiritualität
• Konstruktion von Werkzeugen und Technologie
• Konstruktion komplexer gesellschaftlicher Strukturen
• Einfühlungsvermögen in die Handlungsplanung anderer, kritische Auseinandersetzung mit den Handlungen anderer
• Kritische Selbstreflexion eigener Handlungen, kritische Reflexion der Handlungen anderer mit lange wirksamen Einflüssen auf das eigene Verhalten (nachtragend oder dankbar sein, anderen etwas verzeihen)

Eigentlich alles prima, oder? Was wollen wir Autoren denn? Doch bei so viel Glanz nützlicher Konsequenzen und möglicherweise Stolz, die »Krone der Schöpfung« zu sein, dürfen wir uns nicht blenden lassen. Wenn unser Gehirn, diese wunderbare Konstruktion der Evolution, so makellos und wunderbar millionenfach schneller und besser als jeder Computer funktioniert, den die Menschheit bisher konstruiert hat – warum kommt es dann zu folgenden Aussetzern, die so dramatische Wirkungen haben, dass sie uns lähmen können, die Lebensqualität zerstören und manche Menschen sogar aus Verzweiflung den Tod suchen lassen. Folgende Erfahrungen sind einzigartig für den Menschen:

• Er kann noch Jahrzehnte später an psychischen Folgen von Vernachlässigung, ungerechter Behandlung oder traumatischen Erfahrungen leiden. Selbst dann wenn der Kontext dieser Erfahrungen längst vergangen ist und eine Wiederholung sehr unwahrscheinlich oder unmöglich ist, verharrt das Gehirn in einem Alarmzustand. Zwar bilden auch Tiere traumatische Erinnerungen. Diese werden aber nur aktiviert, wenn der konkrete Stimulus wahrgenommen wird. Beim Menschen genügt die Vorstellung, dass sich etwas wiederholen könnte.
• Der Mensch kann an Dingen leiden, die außerhalb seiner individuellen oder kollektiven Erfahrung liegen, beispielsweise der Vorstellung, für Fehler im Jenseits durch die Hand Gottes – Himmel oder Hölle – bestraft zu werden.
• Eine besonders verzwickte Eigenschaft, die im Tierreich nicht nachweisbar ist: Der Mensch kann an Dingen leiden, bevor sie eintreten, beispielsweise der Vorstellung, an einem Unfall, an einer Infektion oder an einer Tumorerkrankung zu sterben, der Vorstellung, den Arbeitsplatz zu verlieren oder sich durch schlechte Leistungen zu blamieren und deswegen ausgeschlossen zu werden, oder der Vorstellung, von seinem Partner betrogen oder verlassen zu werden. Diese Gedanken können selbst dann Leiden verursachen, wenn es nicht die kleinsten Anzeichen dafür gibt, dass sie Wirklichkeit werden. Wie heißt es doch so treffend: Eifersucht ist die Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft!
Schon mal gefühlt? Kennt jeder – oder?
• Zudem kann der Mensch an seinen Entscheidungen aus der Vergangenheit leiden. Wenn Dinge scheitern oder nicht den erwünschten Ausgang nehmen, kann er sich vorstellen, dass andere Entscheidungen damals zu einem besseren Ergebnis geführt hätten. Dann kommt unentwegt das »Ach, hätte ich doch bloß …!« Ein Mensch fragt sich beispielsweise, warum er so töricht war, vor 20 Jahren genau diesen Partner geheiratet zu haben – das kennt auch fast jeder Verheiratete – oder diesen Beruf gewählt zu haben oder die Aktien von General Motors anstatt die von Apple gekauft zu haben. Hierüber kann man viele Stunden, Tage, Nächte nachgrübeln. Auch hier gibt es einen wunderbaren Spruch: Hätte, hätte – Fahrradkette!
• Ein Mensch kann aber noch mehr: Er kann an Dingen leiden, die außerhalb dessen sind, was er wahrnehmen oder sicher wissen kann, beispielsweise daran, was er vermutet, dass andere über ihn denken, welche Emotionen sie in Bezug auf ihn empfinden oder welche ihn betreffenden Planungen sie haben, welche Intrigen sie gerade verfolgen. Diese Vorstellungen können auch das Verhalten dramatisch beeinflussen.

Eine der artistischsten Leistungen des Gehirnes in Sachen Nebenwirkungen: Menschen gehen enorme Risiken ein, wenn sie sich dadurch versprechen, zu Macht, Reichtum oder großer Liebe (oder am besten allem zusammen) zu gelangen. Sie gehen diese Risiken überraschenderweise selbst dann ein, wenn keine dieser Belohnungen wahrscheinlich oder konkret in Sicht ist. Allein die bloße Vorstellung dieser Belohnung ist Anreiz genug. Die Menschen führen Kriege aus religiöser oder politischer Überzeugung und sind bereit, dafür das Leben anderer auszulöschen und sogar das eigene zu opfern. Einige sprengen sich sogar selbst in die Luft, um ins Paradies zu kommen.
Allen Menschen gemeinsam ist, dass sie zu allen Zeiten und in allen Kulturen ein großes Spektrum von Verhaltensweisen entwickelt haben, die dazu dienen, sich abzulenken, zu vergessen, sich »wegzubeamen«. Hierzu trinken sie Alkohol oder nehmen Drogen, sie stürzen sich im Wingsuit senkrecht von Hochhäusern und Gipfeln, reiten auf einem Brett extrem hohe Wellen. Kurz: Sie nehmen erhebliche Gesundheitsrisiken in Kauf, um Zeiträume zu haben, in denen sie nicht denken müssen.1 Sie meiden Orte und Personen oder suchen sie wegen der damit verbundenen Gedanken gezielt auf. Dies alles wird durch Erinnerungen gesteuert – und nicht durch die Gegenwart.

Was ist die Konsequenz aus diesen Beobachtungen? Wenn Menschen ihr Gehirn nutzen, aber von Nebenwirkungen verschont bleiben wollen, müssen sie sich intensiv mit den möglichen Nebenwirkungen der Gehirnfunktionen auseinandersetzen! Ähnliches tun Sie ja auch, wenn wie Sie den Beipackzettel lesen, bevor Sie ein Antibiotikum schlucken, den Wetterbericht verfolgen, bevor Sie zu einer Bergtour aufbrechen, oder niemals mit vollem Magen schwimmen gehen oder alkoholisiert und ungeschützt in der Sonne braten – oder?

Das Gehirn ist kein Freund, der einem immer die Wahrheit sagt und auf einen aufpasst. Es ist ein extrem nützliches Werkzeug, das durch die Evolution geschmiedet wurde. Man kann sich mit diesem Werkzeug aber auch »versehentlich den Arm abschneiden«.

Teil 1
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Grundlegendes
3. Warum können sich Kühe nicht am Kopf kratzen? Eine evolutionäre Perspektive auf die Entwicklung von Gehirn und Verhalten
Das Organ Gehirn steuert alle Körperfunktionen und das Verhalten. Psychische Funktionen und Verhaltensprogramme sind wichtige Werkzeuge, die der Anpassung an die Umwelt und dem Überleben der Spezies dienen. Jedes dieser Werkzeuge ist durch einen langen evolutionären Prozess geformt. Dass psychische Funktionen und Verhaltensprogramme so sind, wie sie sind, lässt deshalb den Rückschluss zu, dass sie für die Träger dieser Funktionen überwiegend nützlich waren und zu einer besseren langfristigen Anpassung geführt haben als andere vorhandene Varianten. Jede Anpassung hat aber auch ihre Nachteile. Ganz offensichtlich ist das bei Körpermerkmalen. Ihre vier Beine ermöglichen es der Kuh jeden Tag, etwa 18 Stunden lang auf Grasland zu laufen oder zu stehen und zu grasen. Aber sie kann sich nicht am Kopf kratzen und hat große Schwierigkeiten, Fliegen zu vertreiben. Das Fell eines Bären ermöglicht ihm, in einer sehr kalten Umgebung im Winter zu überleben, es macht ihn aber gleichzeitig anfällig für Parasiten. Ähnliche Prinzipien gelten für Verhaltensprogramme, Emotionen und kognitive Werkzeuge. Sie haben in einem definierten Kontext klare Vorteile, aber sie haben alle ihre Achillesferse. Deshalb gehen wir diese Funktionen mit Ihnen Schritt für Schritt durch, helfen Ihnen die Hauptfunktion zu verstehen, erklären die Nebenwirkungen und illustrieren diese wenn immer möglich durch konkrete Fallbeispiele in Form von Erfahrungen einzelner Menschen.
Jede Anpassung hat ihren Preis. Das gilt auch für die Gehirnfunktionen.
Eine wissenschaftliche Theorie der Evolution durch natürliche Selektion wurde bereits vor etwa 150 Jahren von Charles Darwin vorgestellt. Eine evolutionäre Betrachtung von Verhaltensphänomenen wurde hingegen erst in den 1980er Jahren zu einem wichtigen Bereich der Psychologie.2 Unstrittig ist seitdem, dass auch das menschliche Denken, Fühlen und Verhalten den Gesetzmäßigkeiten der Evolution unterliegen. Psychische Funktionen können deshalb als »evolvierte Adaptationen« betrachtet werden, also als durch einen evolutionären Prozess geprägte Merkmale, die der immer besseren Anpassung des Menschen an seine Umwelt dienen. Wenn wir von einer modularen Organisation der psychischen Funktionen im Gehirn ausgehen, dann unterliegt jedes dieser Module diesem Prozess.
Auch wenn dies seit über dreißig Jahren bekannt ist, gibt es weiterhin eine Reihe von populären Missverständnissen oder fehlerhaften Schlussfolgerungen zur evolutionären Perspektive auf Verhalten:
Die evolutionäre Betrachtungsweise bedeutet, dass menschliches Verhalten genetisch determiniert ist und seine Merkmale nicht verändert werden können. Offensichtlich werden bestimmte Verhaltensprogramme vererbt. Wie dies genau geschieht, haben wir nach wie vor nicht gut verstanden. Klassisch genetische3 und epigenetische Faktoren4 spielen eine Rolle. Das tatsächliche Verhalten ist aber das Produkt einer Wechselwirkung von Veranlagung und Umwelt und wird durch langfristige Lernprozesse modifiziert. Die evolutionäre Betrachtungsweise schließt in keiner Weise aus, dass menschliche Entscheidungen ebenfalls durch Werte, bewusste Abwägung oder auch Zufälle geprägt sind. Angesichts unseres fehlenden Verständnisses der genauen neurobiologischen Mechanismen, die bewussten Entscheidungsprozessen zugrunde liegen, ist es auch verfrüht, einem »Determinismus« das Wort zu reden, der die Möglichkeit von bewusster Abwägung – also das Handeln aus freier Entscheidung – in Abrede stellt.
Wenn ein Merkmal »evolutionär« entstanden ist, dann stellt es vermutlich eine optimale Lösung dar. Tatsächlich aber gibt es so etwas wie eine optimale Lösung bei psychischen Funktionen und Verhaltensprogrammen nicht. Menschen waren im Laufe ihrer Geschichte stark wechselnden Umweltbedingungen ausgesetzt, sowohl bezüglich der natürlichen Umwelt mit wechselndem Klima, wechselnden Pflanzen, Mikro- und Makroorganismen, wie auch bezüglich der vom Menschen selbst geschaffenen sozialen und technischen Umwelt. Die menschliche Flexibilität und Vielseitigkeit ermöglichten eine Anpassung an die häufig stark schwankenden Umweltbedingungen. Heterogenität einer Spezies in bestimmten Merkmalen ist geradezu überlebensnotwendig (Novembre & Han, 2012). Beispielsweise ist es gut, dass Menschen in unterschiedlichem Ausmaß ängstlich sind. Wenn man aber als einzelner Mensch eine große Dosis Ängstlichkeit abbekommen hat, kann man heftig darunter leiden.
Menschliche Verschiedenheit ist nicht einfach zufällig. Sie dient der Anpassung unserer Spezies an wechselnde Umweltbedingungen. Der einzelne Mensch zahlt aber unter Umständen einen hohen Preis dafür.