817779_Buechle_Fruehlingsfunkeln_am_Liliensee_S003.pdf

Kapitel 9

Nach dem Zwischenfall mit Martins Verletzung hätte Marlies es nicht für möglich gehalten, dass Georg und sie die mehrtägige Wanderung wirklich fortsetzen würden, doch nun waren sie wieder unterwegs. Wie es aussah, war Georg nicht weniger darauf erpicht als sie, das Abenteuer anzugehen und zu bestehen. Vielleicht wohnte auch in ihm der tief verwurzelte Wunsch, das Leben auszukosten und die verschiedensten Herausforderungen zu meistern. Andererseits war er natürlich der Initiator des Wettspiels, weshalb er es wohl als seine Pflicht ansah, ebenfalls mitzumachen. Und sicher wollte er auch gewinnen.

Marlies gluckste vergnügt vor sich hin, was ihr einen fragenden Schulterblick von Georg einbrachte. „Schauen Sie lieber nach vorn, nicht dass Sie sich noch verletzen.“

„Das sagt die Richtige“, lautete Georgs knappe Antwort. Er drehte den Kopf und konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, um nicht mit der Stirn gegen einen halb umgestürzten Baum zu stoßen.

Jetzt versteckte Marlies ihre Heiterkeit nicht länger, was ihr einen dieser herrlichen Brummlaute einbrachte, die Georg gern mal von sich gab und die sie auch schon bei Robert und Johann gehört hatte. Marlies nahm allerdings an, dass sie diese viel häufiger zu hören bekam als jeder andere in Georgs Umfeld. Vielleicht war jenes zumeist missbilligende, gelegentlich aber auch belustigte Geräusch sogar eigens für sie reserviert.

Sie duckte sich ebenfalls unter dem Baum hindurch, der einst auf dem steil ansteigenden Waldstück zu ihrer Rechten gestanden hatte und nicht vollständig zu Boden hatte fallen können, weil die Schlucht zu schmal war. Seine Krone ruhte auf einem der gegenüberliegenden Felsvorsprünge, und lange Moosbärte hingen von seinem Stamm herunter.

Steine knirschten unter den Schritten der beiden Wanderer, da der Boden hauptsächlich aus feuchtem Gestein bestand. Der Untergrund war zuweilen etwas rutschig, sodass Georg sein Marschtempo erheblich reduzieren musste. Gelegentlich lief ein kleines Wasserrinnsal, aus den steil aufragenden Felswänden kommend, über den Weg und schwemmte Laub mit sich, ehe es leise plätschernd zwischen lose herumliegendem Geröll versickerte.

Marlies ließ ihre Finger spielerisch über den hochgewachsenen Farn am Wegesrand gleiten. Wasserperlen, von der Sonne zum Glitzern gebracht, lösten sich und fielen zu Boden. Licht und Schatten wechselten sich in einem fort ab, je nachdem, wie dicht gedrängt die Bäume auf den Anhöhen standen oder wie eng die felsigen Berghänge zusammenrückten. Die Klamm war an manchen Stellen nicht mehr als zwei oder drei Meter breit. Marlies schwitzte und fröstelte abwechselnd, doch nichts davon konnte ihre Begeisterung über die in grünes Licht getauchte, wildromantische Welt dämpfen, die sie durchwanderte, während sie die hier feucht-modrige und dennoch angenehm frische Luft förmlich inhalierte. Wer hätte gedacht, dass die sanft geschwungenen Schwarzwaldberge solch herbe, ja ungezähmt anmutende Szenerien zu bieten hatten? Dass sich inmitten rauschender Wälder, gemütlicher Schwarzwalddörfer und romantischer, sonnengeküsster Täler mit freundlich vor sich hin gurgelnden Flüssen ein dermaßen urwüchsiges und wildes Terrain versteckte?

Staunend bewegte Marlies sich zwischen den schroffen, scharfkantigen Felsen hindurch, von welchen sich unzählige Bäche todesmutig in die Tiefe stürzten. Sie passierte bewaldete Hänge, an denen sich Holundersträucher, Heckenmyrten und weiß blühender Bärlauch ein Stelldichein mit scheuem Rotwild gaben. Dabei fühlte sie sich wild und frei, sodass sie leise Geh aus, mein Herz, und suche Freud summte  Am liebsten hätte sie ja laut gesungen. Außerdem wünschte sie, dass ihre Eltern sie so sehen könnten. Und ihre Brüder …

Marlies vertrieb den Gedanken energisch. Im Grunde wollte sie nicht an ihre Familie denken, geschweige denn daran, was ihre Eltern von dem neuerlichen Abenteuer halten würden. Das Ergebnis wäre wohl niederschmetternd. Doch Marlies wollte sich dieses sagenhafte Erlebnis nicht verderben lassen. Entschlossen stieß sie einen wilden Jubelschrei aus.

Georg wirbelte herum. Als er sie strahlen sah, runzelte er die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust, bevor er schließlich fragte: „Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“

„Ich bin glücklich!“ Georgs blitzende Augen – der einzige Hinweis darauf, dass er gerade nicht ganz so entspannt war, wie er sich gab – ignorierte sie, zumal sie inzwischen wusste, wie schnell seine Missbilligung verraucht sein würde.

„Das ist wirklich sehr erfreulich, dennoch ist es nicht von Vorteil, hier einfach so herumzuschreien.“

Marlies lächelte ihn an, denn sie fand es überaus entzückend, dass er offenbar in großer Sorge um ihre Sicherheit war.

„Was soll mir hier denn zustoßen?“ Sie deutete auf den schmalen Weg, auf dem sie beide standen, eingepfercht zwischen der Felswand zu ihrer Linken und dichtem Gebüsch zur Rechten. Dahinter, so vermutete sie aufgrund des leisen Glucksens von Wasser, verlief ein Fluss, ehe ein mit Laub bedeckter Berg steil anstieg, auf dem vor allem Buchen und Fichten wuchsen.

„Sie könnten sich den Fuß vertreten.“

„Das wäre aber nicht lebensbedrohlich.“

„Für mich schon, wenn ich Sie den ganzen Weg zurücktragen müsste.“

„Wie uncharmant. So schwer bin ich nun auch nicht.“

Georg setzte zum Sprechen an, sicher um ihr klarzumachen, dass er eigentlich das unwegsame Gelände gemeint hatte. Er schloss den Mund aber wieder, ohne es ausgesprochen zu haben, dafür fiel sein Blick umso eindringlicher aus.

Marlies hielt diesem eine Weile stand, doch als ihr Herz immer wilder zu schlagen begann, wandte sie den Kopf Richtung Felswand und beobachtete lieber einige Wassertropfen, die über ein dunkles Moospolster rannen.

„Können wir uns darauf einigen, dass Sie der Welt Ihre Begeisterung leise mitteilen und nur laut werden, wenn Sie in Gefahr sind?“

„Können wir. Allerdings werde ich Ihre Hilfe bei Gefahr nicht in Anspruch nehmen müssen. Bisher konnte ich mich immer selbst aus riskanten Situationen retten.“

„Ist das so?“ Jetzt klang er lauernd. „Wie war das noch gleich auf unserem ersten gemeinsamen Ausflug, als Sie mit der Hand lediglich ein paar brüchige Birkenzweige ergriffen hatten, während Sie über einem tiefen Abgrund hingen?“

„Sie übertreiben maßlos. Außerdem bestand damals keine Gefahr für mich – bis Sie mich erschreckt haben.“

„Verdrängen Sie nur weiter die Realität. So lange, bis diese Sie einholt. Unser Schwarzwald ist ein freundlicher Ort für Urlauber, die sich wie solche benehmen. Nicht jedoch für einen Wildfang, der meint, allem und jedem den Kampf ansagen zu müssen.“

Marlies runzelte die Stirn. War es das, was sie von klein auf gemacht hatte? Kämpfen? Aber wogegen eigentlich? Sie wollte dem Gedanken nachhängen, allerdings brachte sie der Blick, mit dem Georg sie nun bedachte, völlig aus dem Konzept. Erneut glaubte sie, ihren Herzschlag hören zu können. Dieser stolperte über seinen eigenen Rhythmus, als Georg einen Schritt näher kam. Beruhige dich, du blödes rebellisches Herz. Was soll das werden? So war das nicht ausgemacht!

Ihr Herz rebellierte diesmal wohl gegen sich selbst, denn es war ihr unmöglich, den Blick von Georgs faszinierend grünen Augen abzuwenden. Die Goldsprenkel darin besaßen eine ungeheure Anziehungskraft auf sie und begannen nun zu funkeln. Georg stand nur noch einen kleinen Schritt von ihr entfernt. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht, nahm seinen betörend männlichen Duft wahr, der sich perfekt in diese wilde Landschaft einfügte und zu einem Mann passte, der mit Holz arbeitete und viel Zeit in der Natur verbrachte. Wenn er sie jetzt küssen wollte, würde sie sich nicht dagegen wehren …

„Einverstanden?“

„Hm?“ Marlies blinzelte.

„Begeisterung: leise, Gefahr: laut und deutlich“, erinnerte er sie an seine ursprüngliche Bitte. Dabei grinste er so breit, als besäße er die Fähigkeit, ihre Gedanken zu lesen. Und das wäre wirklich überhaupt nicht gut. Denn dieser Mann durfte niemals erfahren, dass sich ihr Herz und ihr Kopf gerade verbrüdert hatten.

„Natürlich“, antwortete sie lahm und trat einen großen Schritt zurück. Unter ihrem Schuh brach ein Zweig, und das Geräusch führte dazu, dass sie endlich diese eigenartige Beklommenheit abschütteln konnte. Oder war es Anziehungskraft gewesen? Eine gegenseitige Faszination, die Georg und sie vereinnahmt hatte, weil dieser Ort wie geschaffen dafür war, diese hervorzulocken? Ein ganz besonderes … Frühlingsfunkeln wie das, welches sie eben in seinen Augen gesehen hatte?

Marlies schüttelte entsetzt über sich selbst den Kopf. Das alles war selbstverständlich Blödsinn! Wenn überhaupt, hatte sie allein die berauschende Natur in ihren Bann gezogen.

„Gut, dann sind wir uns ja ausnahmsweise mal einig“, sagte Georg so entspannt, dass Marlies aufgebracht die Hände zu Fäusten ballte. Es brachte sie gegen ihn auf, dass er ihre Auseinandersetzungen kein bisschen ernst nahm. Oder sogar Spaß daran hatte, wenn sie immer gleich so heftig reagierte …

Grinsend wandte er sich um und ging wieder voraus, warnte sie aber nur wenig später, jetzt besonders vorsichtig zu sein. Als Marlies zu ihm aufgeschlossen hatte, sah sie, was genau er damit meinte.

Direkt vor ihnen, in mehreren Metern Tiefe, sprudelte der Fluss, den Marlies bisher nur gehört hatte, durch sein tief eingegrabenes, steiniges Bett. Der Pfad, dem sie folgen mussten, führte über einen höchstens dreißig Zentimeter breiten Felssteig an der schwarzen, da nassen Felswand entlang. Diese ragte hoch auf und verwehrte der Sonne, auch nur einen einzigen freundlichen Lichtstrahl herabzuschicken. Dies war auch der Grund, weshalb ihnen von dem schmalen Weg aus einige dünne Eisflächen entgegenschimmerten.

„Können wir?“ Georg klang unbekümmert, was Marlies das Herz erwärmte. Vielleicht befürchtete er aber auch, dass sie erneut auf die Barrikaden gehen würde, falls er seiner Sorge um ihre Sicherheit Ausdruck verlieh. Dass sich das Grün seiner Iriden ein wenig verdunkelte, bestätigte ihren Verdacht.

„Nach Ihnen, bitte.“ Marlies gestand ihm zu, das Tempo vorzugeben, was er mit einem dankbaren Nicken quittierte. Sie wartete, bis Georg den schmalen Steg betreten hatte, ehe sie belustigt schmunzelte. Es war so einfach, den Frieden mit ihm wiederherzustellen und ihm das Gefühl zu geben, dass er die Kontrolle hatte.

Marlies setzte einen Fuß auf den nassen, von einer grünlichen Schicht überzogenen Felsen und spürte, wie er seitlich wegglitt, sobald sie das Gewicht verlagerte. Selbst die nicht vereisten Abschnitte waren rutschig. Hier galt es wirklich, bedacht zu agieren, um nicht in das tief eingegrabene Flussbett hinunterzustürzen.

Schritt für Schritt tastete sie sich voran, wobei sie mit einer Hand immer den Kontakt zu der rauen, kalten Felswand suchte. Plötzlich sah sie Georg zögern und blieb alarmiert stehen. Der Pfad führte um eine Felsnase herum und verschwand dahinter aus ihrem Blickfeld. War es diese exponierte, scharfe Kurve, die den Wanderführer zögern ließ? Oder befand sich die Gefahr auf der anderen Seite des Felsvorsprungs?

Georg rückte seinen Rucksack zurecht, was Marlies das Problem offenbarte. Mit dem großen und prall gefüllten Gepäckstück war er schon mehrfach an der Felswand entlanggestreift, nun musste er damit regelrecht hängen geblieben sein.

„Kann ich helfen?“, fragte sie deshalb.

Georg wagte es nicht, sich umzudrehen oder nach hinten zu blicken. „Es geht schon“, glaubte sie ihn sagen zu hören, war sich jedoch nicht ganz sicher, da seine Worte vom Rauschen der Baumkronen und dem Sprudeln des Flusses übertönt wurden.

„Ich komme zu Ihnen“, meinte sie und tastete sich weiter auf dem schmalen Felssteig voran. Als sie die brisante Stelle erreichte, hatte Georg das Hindernis allerdings schon überwunden.

„Seien Sie bitte vorsichtig, Fräulein Marlies. Der Pfad ist hier nicht nur schmaler und abschüssig. Auch der darüberliegende Fels wölbt sich nach außen.“

Marlies verharrte einen Augenblick. Zum ersten Mal fand sie es seltsam, dass sie sich noch immer siezten. Mit den meisten der Camper, mit denen sie ihre Abende am Lagerfeuer verbracht hatten, waren sie zügig auf das persönlichere Du übergegangen, nur zwischen ihnen beiden war es beim distanzierten Sie geblieben. Weshalb das so wahr, erschloss sich ihr nicht, aber es war wohl an der Zeit, etwas daran zu ändern.

Marlies machte den nächsten Schritt und spürte prompt, wie ihr Fuß erneut abrutschte. Mit der linken Hand tastete sie die Felswand ab und fand einen kleinen bemoosten Vorsprung, an dem sie sich festhalten konnte. Langsam ließ sie die angehaltene Luft entweichen. Sie wagte einen weiteren Schritt und hörte ein Ratschen, da auch ihr Rucksack am Felsen entlangschabte. Die nun dicht vor ihr aufragende Felswölbung erschien ihr wie der dicke Bauch eines Riesen, der allzu gern dem Bier zusprach.

Plötzlich drohten gleich beide Füße in Richtung Abbruchkante zu rutschen, was Marlies dazu veranlasste, sich rascher zu bewegen – als könnte sie den feuchten Untergrund austricksen, indem sie hastige Schritte vollführte.

„Nicht –“ Georgs Warnruf kam zu spät.

Marlies bewegte sich wie ein Rehkitz mit langen, schnellen Sätzen voran. So gelangte sie sicher um die Kurve, hinter der sie wieder auf einen etwas breiteren Absatz gelangte. Allerdings prallte sie dort gegen Georg, der ihr, besorgt und erschrocken über ihr Tun, entgegengehastet war. Etwas in seinem Rucksack klapperte, sein kantiges Kinn traf sie an der Wange. Sie gerieten ins Schwanken, sodass Marlies sich mit beiden Händen an Georgs Hemd festklammern musste. Er schlang die Arme um sie und warf sich mit ihr gegen die Felswand, wobei er sich so drehte, dass er die Hauptlast des Aufpralls abbekam.

Einen Augenblick lang verharrten sie so. Eng aneinandergepresst, umweht vom modrigen Geruch der nassen Felswand, benetzt von einem dünnen Rinnsal Wasser, das über die Felsen herabfiel. Sie atmeten heftig. Erleichtert.

Sobald Marlies bemerkte, wie sehr sie die Nähe des warmen, kräftigen Körpers genoss, löste sie ihre Finger aus dem festen Baumwollstoff und drückte sich von Georg weg. Dieser entließ sie nur zögernd aus seinen Armen. Jetzt wusste Marlies, warum sie zuvor nie auf den Gedanken gekommen war, ihn zu duzen: Das distanzierte Sie stand wie eine schützende Mauer zwischen ihnen. Und bei dem, was ihr Herz heute anstellte, war das absolut notwendig.

Reiß dich gefälligst zusammen, schalt sie sich selbst. Nur weil du ganz allein mit ihm unterwegs bist, bedeutet das nicht, dass er der einzige Mann auf der Welt ist. Zumal du ohnehin nicht heiraten willst.

„Was sollte das nun wieder?“, fragte Georg und steckte sich das Hemd zurück in die Hose. „Ist das Ihre ganz persönliche Version von langsam und vorsichtig?

Marlies hob trotzig das Kinn. Es war eher eine Verzweiflungstat gewesen, weil sie kurz davorgestanden hatte, in den Fluss hinunterzustürzen. Aber das musste sie Georg ja nicht auf die Nase binden.

„Wo ist Ihr Problem?“, fragte sie deshalb. „Ich bin sicher um die Kurve herumgekommen. Dafür, dass Sie mir dahinter fahrlässig im Weg gestanden haben, kann ich ja nichts.“

„Ihre Art, die Tatsachen so zu verbiegen, wie es Ihnen gerade in den Kram passt, ist wirklich bemerkenswert.“

„Wenn Sie bewundernswert gesagt hätten, wäre ich jetzt sogar gewillt, Ihnen diesen Zusammenstoß zu verzeihen“, foppte sie ihn.

„Ich habe versucht, Sie vor einem Absturz zu bewahren, Fräulein Marlies!“ Diesmal klang er ernst, fast ein wenig drohend.

„Das habe ich auch ganz allein hinbekommen, wie Sie bemerkt haben dürften.“

Georg, der beim Reden ohnehin gern große Gesten machte, warf nun die Arme in die Luft. „Sie besitzen eine aufreibende Persönlichkeit, junge Dame.“

„Mag sein, aber ich bin wohlbehalten auf der anderen Seite angekommen.“ Marlies lächelte ihn breit an. Es machte großen Spaß, sich mit Georg zu streiten. Vielleicht ein weiterer Punkt, der dafürsprach, das Sie beizubehalten. Denn mit Freunden stritt man für gewöhnlich nicht so gern …

„Haben Sie sich eigentlich schon einmal Gedanken darüber gemacht, warum Sie all die verrückten Sachen anstellen? Wen wollen Sie damit beeindrucken? Und haben Sie das wirklich nötig?“

Die Zielgenauigkeit, mit der Georg ihren wunden Punkt getroffen hatte, erschreckte Marlies. Ein weiterer Grund, ihn auf Abstand zu halten.

Sie wich einen Schritt zurück, was Georg jedoch veranlasste, sie vorsichtshalber am Arm zu packen. Erschrocken blickte sie sich um. Sie stand viel zu nahe am Abgrund. Mit der Erkenntnis um die Gefahr, in der sie sich befand, erschloss sich ihr auch noch etwas anderes: Aus der wilden Hummel von einst war eine Frau geworden, die des Öfteren das Augenmaß für die Tragweite dessen verlor, was sie anstellte. So auch an jenem Tag, als sie über der Felskante gehangen hatte, mit nur einer Hand an ein paar wirklich dünne, zerbrechliche Birkenzweige gekrallt.

Allerdings war sie nicht gewillt, Georg den wahren Grund für ihr Verhalten zu nennen. Bisher hatte sie diesen ja nicht einmal sich selbst gegenüber eingestanden. „Können wir jetzt weitergehen?“, fragte sie deshalb, wobei ihr Tonfall nicht ganz so versöhnlich klang, wie es angemessen gewesen wäre. Die Herausforderung darin war deutlich herauszuhören.

„Sie sollten mit jemandem darüber reden, Fräulein Marlies. Das könnte helfen.“ Georg sah sie weiterhin ernst an und klang gewohnt ruhig, wandte sich aber ruckartig um. Hastig rückte er seinen Rucksack wieder zurecht und marschierte los, ohne sich zu vergewissern, dass sie ihm auch wirklich folgte.

Kapitel 10

Georg rieb sich unauffällig die rechte Schulter, da diese nach dem Zusammenstoß mit Marlies und dem Aufprall an der schroffen Felswand erneut schmerzte.

Wie hatte er nur auf die Idee verfallen können, die Wanderung mit dieser widerspenstigen Person fortzusetzen? Zu sehen, wie sie förmlich über die Gefahrenstelle hinweggestürmt war, hatte für einen Augenblick sein Herz stillstehen lassen. Sie würde sich selbst und auch ihn in große Gefahr bringen, wenn sie weiterhin jede Warnung in den Wind schlug und sich weigerte, seine Ratschläge und Hilfestellungen anzunehmen. Und genau danach sah es aus.

Unabhängig davon würde ihm – sofern sie es zum Liliensee zurückschafften – seine Mutter den Kopf abreißen. Was das Zusammensein von Mann und Frau anging, war sie … altmodisch. Vernünftig, verbesserte Georg sich selbst.

Während er eine weitere, wesentlich harmlosere Kurve nahm, schaute er unauffällig zurück. Marlies folgte ihm in einigen Metern Entfernung. Sie schritt forsch aus, was bewies, dass sie kaum Probleme mit dem felsigen Pfad hatte. Dennoch war sie diesmal so vernünftig, stehen zu bleiben, sobald sie die Aussicht auf den gegenüberliegenden Hügel, den sich unter ihr entlangschlängelnden Fluss oder den blauen Himmel über den schwankenden Baumspitzen genießen wollte.

Georg blieb ebenfalls stehen. Nicht nur weil er sie, sobald er die Biegung hinter sich gebracht hätte, aus den Augen verlieren würde, sondern auch, weil sie einen überaus köstlichen Anblick bot. Mit ihren zerzausten, feuchten Locken, der verschmutzten Texashose, den robusten Wanderschuhen und dem dunkelblauen Strickpullover, der ihr mindestens zwei Nummern zu groß war, verkörperte sie pure Lebenslust und Ungebundenheit. Alles an ihr zeigte, dass sie eine Frau war, die nicht nur das Abenteuer liebte, sondern auch die Natur. Sie war schlicht außergewöhnlich, und genau das war Georgs Problem. Er hatte sich für die Fortsetzung der Wanderung entschieden, weil er das Gefühl gehabt hatte, dass Marlies es verdiente. Und in der Hoffnung, ein wenig mehr über sie zu erfahren, ihr näherzukommen.

Marlies setzte die Schildmütze ab und stopfte sie in ihre Gesäßtasche. Ein Teil davon schaute heraus, was in Georg unwillkürlich den Vergleich mit einem lässigen Lausejungen wachrief. Sie war so erfrischend … anders. Aber auch gefährlich. Und das gleich in doppelter Hinsicht, denn als er sie vorhin in den Armen gehalten hatte, war es ihm unglaublich schwergefallen, sie wieder aus diesen zu entlassen.

Nachdem sie sich einige Sekunden lang die Sonne ins Gesicht hatte scheinen lassen, senkte Marlies den Kopf. Also wandte auch er sich zügig ab. Etwas langsamer, damit sie ihn einholen konnte, setzte er den anspruchsvollen Weg fort, und bald schon hörte er ihre Schritte hinter sich.

„Herr Vogel?“

Georg grinste über ihren zurückhaltenden Tonfall. Offenbar hatte sie eine Bitte an ihn, und es missfiel ihr, diese äußern zu müssen. Das Knurren seines Magens ließ ihn vermuten, worin ihr Anliegen bestand. Zufrieden damit, den eigenen Hunger lange genug unterdrückt zu haben, sodass jetzt sie eine Pause vorschlagen musste, tat er so, als hätte er sie nicht gehört. Man konnte aus beinahe allem einen Wettkampf machen – zumindest mit Marlies.

„Herr Vogel, könnten wir vielleicht bald mal eine Pause einlegen? Ich habe schrecklichen Hunger.“

„Pausen sind kontraproduktiv, wenn wir die verlorene Zeit aufholen wollen“, gab Georg gespielt unwillig zurück.

„Meinetwegen können wir auch im Gehen essen.“

Georg schüttelte innerlich den Kopf über diesen Vorschlag. Allerdings konnte Marlies ja nicht wissen, dass der Weg nach diesem schmalen Felssteig nicht gerade leichter werden würde. Er hatte den Teilnehmern ein dreitägiges Abenteuer versprochen, und das bekamen sie auch geboten. Es war jetzt das fünfte Mal in Folge, dass er diese Tour zum Abschluss der Frühjahrssaison im Programm hatte, und immer waren die Männer, die es gewagt hatten, sie mitzumachen, völlig erschöpft, aber glücklich zum Liliensee zurückgekehrt.

„Wir haben den felsigen Teil der Schlucht gleich hinter uns“, vertröstete er Marlies, die dies schweigend zur Kenntnis nahm. Sie bewältigten eine weitere Biegung, ehe der Pfad in ein breites Felsplateau überging. Der Fluss schickte sein Wasser in mehreren kleineren Strömen über das flache, ausgewaschene Gestein, sodass es kein Problem für sie darstellte, über diese hinwegzusteigen. Ein lautes Brausen und aufsteigender Wasserdampf, der im grünen Waldlicht wie in Tüll gekleidete Tänzerinnen anmutete, verrieten ihnen, dass die schmalen Wasserläufe hinter dem Plateau in ein Becken hinabfielen, um sich dort wieder zu einem Strom zu vereinen.

Georg wusste, dass es am Fuß des Wasserfalls eine sandige Bucht gab. Diese bot sich als Picknickplatz an, zumal die kleine Lichtung meist von der Sonne beschienen wurde und verstreut daliegende Findlinge, die wie willkürlich hingeworfene Perlen anmuteten, zum Sitzen einluden.

Er führte Marlies von dem Plateau hinunter, am Wasserfall entlang und über die Uferböschung zu dem schmalen Sandstreifen. Dort angekommen blieben sie erst einmal stehen.

Zu beobachten, wie sich die junge Frau umschaute und die Melange aus romantischer Schönheit und wilder Rauheit förmlich in sich aufsog, zauberte ein Lächeln auf Georgs Gesicht. Zudem brachte ihr Anblick auch ihn dazu, den Zauber dieses Fleckchens Erde wieder ganz neu wahrzunehmen.

Er ließ den Rucksack von seinen Schultern rutschen und lehnte ihn an einen Felsbrocken, ehe er selbst darauf Platz nahm. Dann packte er einen runden Laib Brot aus und begann, diesen mit der größten Klinge seines Taschenmessers in Scheiben zu schneiden. Währenddessen trat Marlies – noch immer mit ihrem Rucksack auf den Schultern – nahe an das herabrauschende Gewässer heran, hielt die Hände in das kalte Nass und ließ weiterhin die Atmosphäre der Naturkulisse auf sich wirken. Georg schnitt sich beinahe in den Finger, als Marlies unvermittelt zu ihm herumwirbelte.

„Es ist wunderschön hier, Herr Vogel. Vielen Dank, dass Sie mich hergebracht haben. Ich denke, ich werde diesen Platz ein Leben lang nicht vergessen.“

„Dann hoffen wir mal, dass Sie fortan vernünftiger sind und Ihr Leben somit auch über unseren Ausflug hinweg Bestand hat“, erwiderte er und erntete erwartungsgemäß einen aufgebrachten Blick. Dies gesagt zu haben, war dennoch allemal besser, als das auszusprechen, was ihm zuerst in den Sinn gekommen war, nämlich der Wunsch, mit ihr noch öfter hierherzukommen. Im Sommer, im Herbst, im nächsten Frühjahr …

„Ach, das klappt schon. Sie dürfen mir nur nicht noch einmal völlig unnötigerweise das Leben retten wollen und mir dabei im Weg stehen“, gab Marlies die Provokation zurück.

Diesmal versteckte Georg seine Erheiterung über ihr Kontra nicht, sondern schenkte ihr ein breites Grinsen. „Eine oder zwei Scheiben Brot?“, fragte er dann und konzentrierte sich lieber wieder auf das Messer in seiner Hand als auf ihre blitzenden Augen. Auch wnn ihm das schwerfiel.

„Drei.“

„Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“ Jetzt musste er sie doch wieder ansehen. Ihr Zwinkern mit dem rechten Auge fiel so kurz aus, dass er sich nicht sicher war, ob er es wirklich gesehen oder sich nur eingebildet hatte.

„Ich neige dazu, immer etwas … größer zu denken.“

So wie ich. Diese Frau ist einfach … „Also zwei. Und Sie neigen vielmehr dazu, gern das zu tun und zu sagen, womit andere nicht rechnen.“

„Sie haben mich durchschaut.“

Georg senkte den Blick wieder und säbelte eine weitere dicke, reichlich krumme Brotscheibe ab. Es war ihm durchaus bewusst, dass er bei Weitem noch nicht erfasst hatte, was diese Frau antrieb.

Marlies gesellte sich zu ihm, nahm ihren Rucksack ab und öffnete ihn, um die in Papier gewickelte Hartwurst herauszuholen. Mit großer Geste, als hätte sie einen Degen in der Hand, reichte sie Georg diese, damit er auch davon ein paar Scheiben abschnitt, ehe sie noch zwei Äpfel dazulegte. Schließlich setzte sie sich zu seinen Füßen in den dank der Sonne inzwischen trockenen Sand.

Während Marlies genüsslich aß, ließ sie den Blick unermüdlich über die Lichtung schweifen. Sie beobachtete das Winken der Zweige, sobald eine Böe diese in Bewegung setzte, und schaute dem Tanz des in der Sonne glitzernden Sprühnebels zu. Auch den vielen kleinen Regenbogen vor den Wasserströmen, die über die Felskante stürzten und sich im Becken darunter sprudelnd und schäumend vereinten, galt ihre unverhohlene Bewunderung. In Ufernähe tanzten Lichtpunkte wie leuchtende Diamanten über die Wasseroberfläche, umschmeichelt von Froschbiss, einer Wasserpflanzenart mit unzähligen kleinen Blättern, die denen der Seerose glichen.

Obwohl der Fluss mit den Bäumen um die Wette rauschte, war die Lichtung von einer friedvollen Stille erfüllt. Völlig eingenommen von der Idylle und der für ihn ungewohnten Tatsache, einmal gar nichts zu tun, runzelte Georg irritiert die Stirn, als Marlies plötzlich fragte: „Hat dieser Ort einen Namen?“ Sie biss herzhaft in ihren Apfel und sah gespannt zu ihm auf.

„Offiziell nicht. Aber mein Großvater nennt ihn Himmelsecke.“

„Himmelsecke?“

Aus Marlies’ Mund klang das Wort wie eine Liebeserklärung an diesen Ort. Das verlieh Georg den Mut weiterzusprechen. Immerhin konnte man sich dieser Tage nicht mit jedermann über Gott und den Himmel unterhalten. „Mein Großvater –“

„Johann?“

„Richtig, Johann. Den Vater meiner Mutter habe ich leider nie kennengelernt. Jedenfalls sagt er, dass er hier an dieser Kreuzung, dieser Ecke, eine der wichtigsten Entscheidungen seines Lebens gefällt hat.“

Marlies ließ erneut den Blick schweifen. Ihre gerunzelte Stirn, als sie wieder zu ihm aufblickte, deutete Georg als eine Mischung aus Neugier und Irritation.

„Hier trennen sich die Wege, die in zwei sehr gegensätzliche … Welten führen.“ Georg deutete in Richtung der Klamm mit ihren steilen, dunklen Felsen, die nahezu bedrohlich hinter dem Wasserfall aufragten. Er wartete, bis auch Marlies den Blick dorthin gerichtet hatte, dann stieß er sie vorsichtig und um Aufmerksamkeit bittend mit dem Fuß am Oberarm an. Kaum dass sie ihn wieder anschaute, deutete er auf die sonnengeflutete Lichtung mit ihrem freundlichen Grün, den hüpfenden Wasserdiamanten und dem gewundenen, hellblau schimmernden Flussbett, an dessen Ufer sich Farne, Fieberklee und Wasserdost ein Stelldichein gaben. Sogar ein Tagpfauenauge flatterte auf, und eine Lerche, der die kleine Waldschneise als Lebensraum genügte, gab ihren melodiösen Gesang zum Besten.

„Johann hatte nach dem Ersten Weltkrieg die Stelle des Forstoberinspektors in der Nähe von Berlin angetragen bekommen. Für einen jungen Mann, wie er es damals war, bedeutete dies einen gewaltigen Karrieresprung und schier ungeahnte Möglichkeiten …“

Georg betrachtete seine kräftigen, von harter Arbeit gezeichneten Hände. Ob er weit mehr nach Johann kam, als er bisher angenommen hatte? Vor fünf Jahren war ihm angeboten worden, das sehr erfolgreiche Zimmermannsunternehmen seines Lehrherrn zu übernehmen. Doch Georg hatte das Angebot abgelehnt und sich verschuldet, um ein Stück Land am See zu kaufen. Er hatte seiner Karriere als Zimmermann fast gänzlich den Rücken gekehrt, um seinen Traum von einem Campingplatz am bezaubernden Liliensee wahrzumachen. Dies alles auf die Gefahr hin, kläglich zu scheitern, und in dem Wissen, dass er die Aussicht auf ein gesichertes Einkommen gegen ein wetterabhängiges Saisongeschäft eingetauscht hatte.

Er selbst hatte kein Problem damit, mit dem Risiko zu leben, doch viele seiner Freunde hatten ihm im Vorfeld davon abgeraten. Georg konnte ihre Bedenken nachvollziehen. Nach den unruhigen Jahren des Krieges, des Verlustes und der Unberechenbarkeit und auch jetzt in dieser prekären Zeit des Kalten Krieges strebten die Menschen nach Sicherheit. Einige seiner älteren Bekannten hatten ihm sogar prophezeit, dass dieses unstete, unsichere Leben womöglich einen einsamen Mann aus ihm machen würde, schließlich heirateten junge Frauen lieber solche Männer, deren Leben in geregelten Bahnen verlief …

„Johann ist aber geblieben.“ Marlies’ Stimme riss Georg aus seinen Überlegungen.

„Das ist er, ja. Er sagt, im Leben hat man – genau wie an diesem Ort – häufig die Wahl zwischen zwei Wegen: Entweder nimmt man den, der nach links führt und zunächst einmal leichter, bequemer, schöner und auch abwechslungsreicher aussieht – sofern man Abwechslung mag.“ Bei diesen Worten grinste Georg Marlies an, die mit einem leichten Augenrollen auf die Anspielung reagierte. „Allerdings wird es, hat man den Weg erst eingeschlagen, bald sehr grau, nass, kalt und gefährlich. Durch die vielen Windungen kommt einem der schmale Felssteig so vor, als würde er nie ein Ende nehmen.“

Marlies’ beipflichtendes Nicken zeigte ihm, wie gut er das Gefühl beschrieben hatte, das sie beim Durschreiten der Klamm empfunden hatte. Also stand er auf, drehte sich um und deutete über die Uferböschung hinweg nach rechts auf den steil ansteigenden, bewaldeten Berg. Eine schmale Schneise verriet, wohin der Weg führte. „Dieser Aufstieg wirkt auf den ersten Blick wesentlich anstrengender, weil es steil bergauf geht. Außerdem ist er nicht weniger gefährlich als die Wanderung durch die Schlucht. Allerdings erwartet den Wanderer oben eine sagenhafte Aussicht – und heute zudem wärmender Sonnenschein.“

„Ihr Opa meint also, dass der bequemer erscheinende Weg trügerisch sein kann? Weil er in eine dunkle, enge Schlucht führt, während der vermeintlich anstrengendere Pfad einen in luftige Höhen mit atemberaubender Aussicht bringt?“, flüsterte Marlies nachdenklich.

„Wäre mein Großvater nach Berlin gegangen, hätte er die kranke Mutter bei seiner deutlich jüngeren Schwester zurücklassen müssen. Das konnte er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, also blieb er und verzichtete auf den damit verbundenen Titel, das Einkommen und das Prestige. Einige Wochen darauf lernte er meine Oma kennen. Die beiden haben sich ein Leben lang innig geliebt. Opa sagt immer, dass er für seine Entscheidung reichlich belohnt wurde.“

„Darauf hoffe ich auch! Ich nehme nämlich selten den leichten Weg.“

Georg lachte auf und band seinen Emaillebecher an einer Schlaufe seines Rucksacks fest. „Früher hat Opa Robert, Ralf und mich manchmal hierhin mitgenommen. Allerdings erschloss sich uns erst später, worüber er an diesem Ort immer gesprochen hat. Darüber, dass wir uns entscheiden müssen, ob wir den vermeintlich leichteren oder lieber den etwas schwieriger aussehenden Weg wählen. Weil diese Wahl letztlich darüber entscheidet, wo wir am Ende unserer Wanderung ankommen. Und am Ende unseres Lebens.“ Er schulterte den Rucksack und fügte hinzu, ohne Marlies dabei anzusehen: „Der Weg zur Schönen Aussicht, so heißt der Platz dort oben, ist mit einer Menge Gefahren gepflastert. Aber er ist weder einengend und freudlos noch eintönig und langweilig – auch nicht für eine Abenteurerin, wie Sie eine sind.“

„Worauf warten wir dann?“

Georg drehte sich um. Marlies hatte in Windeseile ihren Rucksack geschnürt und geschultert und stand dicht hinter ihm, bereit, die nächste Herausforderung zu meistern.

„Ich muss mal noch kurz in die Büsche“, sagte er etwas verlegen. Normalerweise hatte er auf dieser langen Tour nur Männer um sich, da musste er nicht um einen Moment Privatsphäre bitten. „Wenn Sie dem Pfad weiter folgen, stoßen Sie nach etwa fünfzig Metern auf einen kleinen Holzkasten an einem Baumstamm. Darin liegen die Beweise für das Passieren dieser Stelle. Nehmen Sie bitte einen heraus und stecken Sie ihn ein. Außerdem wäre es sinnvoll, wenn Sie in dem kleinen Notizheft dort vermerken, dass wir nur noch zu zweit unterwegs sind und keinen Wagen für die Rückfahrt haben. Robert oder Heinrich sollen uns bitte an unserem Startpunkt abholen, so gegen achtzehn Uhr. Bis dahin müssten sie mit ihren Gruppen wieder zurück am Liliensee sein.“

„Aber so verlieren wir!“, begehrte Marlies auf, womit Georg gerechnet hatte.

„Nicht unbedingt. Wir notieren die Uhrzeit, sobald wir wieder am Ausgangspunkt eintreffen, und rechnen später noch die Fahrt bis zum Hotel dazu. Damit entscheidet immer noch die beste Zeit.“

„Wir könnten schummeln“, flüsterte Marlies, ließ aber offen, ob sie das tatsächlich gern tun würde oder ob sie befürchtete, dass die anderen von einem kleinen Betrugsversuch ihrerseits ausgehen könnten.

„Meine Familie weiß, dass ich nicht schummle.“

„Na gut.“ Marlies sah ihn unwillig an, was ihn zu einem Kopfschütteln verleitete. Er würde nicht mogeln, gleichgültig, wie ehrgeizig diese Frau war. Eigentlich hätte er ihr derlei gar nicht zugetraut. Oder waren ihre Gedanken gerade mit etwas völlig anderem beschäftigt? Vielleicht … mit mir?

Jedenfalls wirkte sie auf ihn wie ein Schulmädchen, das etwas angestellt hatte, aber nicht wusste, ob es darüber sprechen durfte. Nach eingehender Betrachtung ihrer Gesichtszüge, während sie nachdenklich auf den gewundenen Flusslauf blickte, zuckte er mit den Schultern und wandte sich ab.

in den Griffbekommen könnte, erstaunlich ausdauernd waren. Dabei tat sie doch genau das: ihr Leben in die Hand nehmen.

„Aber das wäre doch langweilig“, sagte sie dennoch und beim Gedanken an ihre Familie aus reiner Gewohnheit.

Sie hörte, wie Georg tief durchatmete. „War Ihnen an diesem Tag irgendwann mal langweilig, Fräulein Marlies?“

„Nein, ganz sicher nicht“, gab sie offen zu.

„Dann hätte es diesen einen Aufreger also nicht gebraucht, um Sie vor dem qualvollen Tod durch Langeweile zu retten?“

„Hm, nein.“

„Danke, das wollte ich hören.“

„Bitte.“ Seine Gemütsruhe verleitete sie zu einem aufrührerischen Tonfall.

„Können wir uns darauf einigen, dass diese Wanderung voller Abenteuer und Herausforderungen steckt, auch wenn Sie sich nicht absichtlich in Gefahr begeben?“

„Versprechen Sie mir das?“

„Aber sicher. Immerhin weiß ich, dass Sie gleich zweimal für ein Abenteuer bezahlt haben. Ich werde mich also doppelt ins Zeug legen, um Ihren Ansprüchen gerecht zu werden.“

Obwohl Marlies nur das flackernd beschienene, markante Profil ihres Begleiters sah, glaubte sie, ihn lächeln zu sehen. Nachdenklich spielte sie mit dem kleinen Zweig, den sie seit geraumer Zeit in der Hand hielt und mittlerweile vollständig von der Rinde befreit hatte. Musste sie nun befürchten, dass Georg die kommenden Tage zu einer einzigen Herausforderung für sie machen wollte? Nicht nur, was die von ihm an den Tag gelegte Geschwindigkeit und die fehlenden Pausen anbelangte, sondern auch, indem er den einen oder anderen Abstecher in jene Gebiete plante, die er in den Vorjahren ausgespart hatte? Zu ihrem Leidwesen fiel es ihr schwer einzuschätzen, ob ihr das zusagen oder sie eher bedenklich stimmen sollte. Schließlich kam ein Scheitern ihrerseits nicht infrage! Das hast du dir selbst zuzuschreiben.

„Was halten Sie von einer Runde Binokel?“ Georg warf ihr sofort die nächste Herausforderung hin, in der sie sich würde beweisen müssen.

Marlies zögerte die Antwort hinaus, indem sie so tat, als müsse sie sich bequemer hinsetzen. Sie war müde und wollte lieber in ihren Schlafsack schlüpfen. Das zuzugeben, käme allerdings einem Eingeständnis gleich, welches sie Georg gegenüber nicht einmal andeuten wollte. Denn offenbar war er noch hellwach und bereit für ein Kartenduell, das ihnen einiges an Konzentration abverlangen würde. Zumindest ihr, da sie das Binokeln, ein altes württembergisches Kartenspiel, erst vor Kurzem bei einem der Lagerfeuerabende erlernt und dabei viel zu oft verloren hatte. Sie war nicht Lisa, die immerzu gewann und dabei den Eindruck vermittelte, ihren Gegnern durch die Karten hindurch ins Blatt schauen zu können.

Um ihre Erschöpfung nicht preisgeben zu müssen, blieb Marlies gar nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Drei verlorene Spielrunden später rang sie sich dann doch zu den Worten durch, dass sie nun schlafen gehen wolle.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie wirklich bequem lag, und als sie schließlich zur Ruhe kam, waren von Georg bereits regelmäßige, tiefe Atemzüge zu hören.

Aufgebracht presste Marlies die Lippen zusammen. Wie es aussah, war der Mann kaum weniger müde gewesen als sie. Er hatte das nur gekonnt überspielt – und am Ende war sie diejenige gewesen, die Schwäche gezeigt und sich gegen eine vierte Spielrunde gestellt hatte. Somit waren nicht nur sämtliche Siegpunkte beim Binokel an ihn gegangen, sondern auch der Punkt dafür, wer von ihnen schneller aufgeben würde.

„Na warte …“, murmelte sie schläfrig .