Über das Buch

Wie Frauen die Geschichte prägten — und warum wir nichts davon wissen. Ein feministischer Blick auf die Urgeschichte

Über weite Strecken der Geschichte sind Frauen unsichtbar — erst recht in der Ur- und Frühgeschichte. Es sind Männer, die jagten, die Werkzeuge und Waffen erfanden, die Höhlenmalereien hinterließen und als Erfinder zivilisatorischer Errungenschaften gelten. Frauen, so das gängige Bild, hielten sich im Heim auf und damit: im Hintergrund. Marylène Patou-Mathis rückt dieses Bild gerade und zeigt: Es gibt keine Fakten, die diese Annahmen stützen. Neue archäologische Funde haben ergeben, dass prähistorische Frauen mitnichten das unterworfene Geschlecht waren, zu dem männliche Wissenschaftler der Neuzeit sie gemacht haben. Eine überfällige Analyse der weiblichen Unsichtbarkeit, die den Frauen zu ihrem rechtmäßigen Platz in der Geschichte verhilft.

Marylène Patou-Mathis

Weibliche Unsichtbarkeit

Wie alles begann

Aus dem Französischen von Stephanie Singh

Hanser

Inhalt

Einleitung

I Die prähistorische Frau in der Literatur

II Die Entstehung der Urgeschichte als wissenschaftliche Disziplin

III Die prähistorische Frau im Licht neuer Erkenntnisse der Geschlechterarchäologie

IV Ewige Rebellinnen

Nachwort: Frauen und Feminismus — gestern und heute

Dank

Die großen Epochen der menschlichen Evolution

Anmerkungen

Allgemeine Bibliografie

Register

Ich kritisiere die Männer nicht. Ich kritisiere eine 2000-jährige Zivilisation, die den Männern die Hypothek von falscher Männlichkeit und Imponiergehabe auferlegt hat.

Romain Gary, Gespräch mit Jacques Chancel in der Rundfunksendung »Radioscopie«, Juni 1975

Einleitung

Nein! Die prähistorischen Frauen haben ihre Zeit nicht damit verbracht, die Höhle zu fegen! Könnte es nicht sein, dass auch sie die Malereien von Lascaux angefertigt, Bisons gejagt, Werkzeuge geschnitzt, Erfindungen gemacht und zu gesellschaftlichem Fortschritt beigetragen haben? Neue Analysetechniken archäologischer Relikte, jüngste Entdeckungen menschlicher Fossilien und die Entwicklung der Geschlechterarchäologie haben viele überkommene Vorstellungen und Klischees infrage gestellt.

Nicht alle Männer sind misogyn, aber man muss doch feststellen, dass die Anerkennung des Weiblichen in seiner Andersartigkeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf beinah totale Ablehnung gestoßen ist und es diesbezüglich noch heute große Widerstände gibt. Die Evolutionsanthropologen des 19. Jahrhunderts sprachen den Frauen — wie auch manchen »Rassen« — eine eigene Geschichte ab und teilten die Menschen in unter- und übergeordnete Kategorien ein. Auf dieser »Menschenskala« nahm die Frau immer einen niedrigeren Rang ein. Sie wurde mit dem Primitiven und Wilden assoziiert und als Bedrohung wahrgenommen. 1912 sprach der Psychoanalytiker Sigmund Freud dies ganz unverhohlen aus: In ihrer Andersartigkeit sei die Frau »ewig unverständlich und geheimnisvoll, fremdartig und darum feindselig«.1 Bis Mitte des 20. Jahrhunderts beförderten sowohl wissenschaftliche Publikationen als auch literarische, künstlerische oder philosophische Werke negativste Stereotypen über Frauen. Auf diesem Nährboden entstand die Urgeschichtsforschung als Disziplin in der Realität, der Fantasie und — an der Schnittstelle dieser beiden — in der Ideologie. Indem die Vorstellung vom Verhalten prähistorischer Gesellschaften die Hälfte der Menschheit ausschloss, ging sie über eineinhalb Jahrhunderte lang in die Irre. Zur Erklärung der Unsichtbarkeit prähistorischer Frauen wird oft angeführt, die archäologischen Funde lieferten kaum Hinweise, die eine entsprechende Zuschreibung gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Rollen ermöglichten. Dabei gilt das genauso für die Männer! Ohne dass hier mehr Beweise vorlägen, werden sie als Großwildjäger, Erfinder (Hersteller von Werkzeugen, Meister im Umgang mit dem Feuer etc.), Künstler, Krieger oder Eroberer neuer Gebiete dargestellt. Diese Behauptungen gründen zum Teil im Verhalten moderner Völker von Jägern und Sammlern, über die seit dem 19. Jahrhundert von Ethnologen berichtet wurde. Doch auch diese Völker haben eine lange Geschichte. Ihre Traditionen haben sich in über 10.000 Jahren verändert: Sie sind keine prähistorischen Menschen!

Die Urgeschichtsschreibung ist eine junge, erst Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Wissenschaft. Wahrscheinlich haben die Rollen, die beiden Geschlechtern in den ersten Texten dieser neuen Disziplin zugeschrieben wurden, mehr mit der Realität der damaligen Epoche zu tun als mit der Zeit der Höhlenmenschen. Es war genau der Moment, in dem sich die medizinischen Theorien mit den religiösen Texten vereinten. So kam zur »göttlich« befohlenen Unterordnung der Frau noch die »natürliche«, denn für die Mediziner führte die anatomische und physiologische Identität der Frau zu spezifischen Temperamenten und Funktionen. Glaubt man den damaligen Forschern, waren Frauen körperlich schwach, psychisch instabil und intellektuell den Männern unterlegen sowie aufgrund geringerer Kreativität weniger in der Lage, Erfindungen zu tätigen. So lauten nur einige der Klischees, die nicht nur durch Bibeltexte und Literatur, sondern auch durch wissenschaftliche Werke die Jahrhunderte überdauerten. Sie dominierten unsere Kultur und unser kollektives Bewusstsein und führten zur Diskriminierung und Unterwerfung der Frau. So war die Rolle der Frau in der Gesellschaft biologisch, passiv und marginal, obgleich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über ihre Rechte — vor allem auf Bildung — diskutiert wurde. Diese wissenschaftliche Position sollte antifeministischen Ideologien als Alibi dienen, die Frauen von sozialen und politischen Aktivitäten auszuschließen und ihren Wirkungsbereich auf Mutterschaft und Haushalt zu begrenzen. Diese von Generation zu Generation tradierten Vorurteile über Frauen scheinen in zahlreichen Kulturen verbreitet worden zu sein und diese tief durchdrungen zu haben. Parallel dazu tauchten in vielen gesellschaftlichen Gründungsmythen*1 Archetypen2 des Weiblichen auf, die gleichermaßen auf manchmal unbewussten Vorstellungen basieren.3 Das naturalistische Paradigma des Geschlechterunterschieds führte nicht nur zu einem differenzierten Zugang zum Wissen und dessen Produktion, sondern marginalisierte oder diabolisierte auch jene Frauen, die über Wissen verfügten (und manchmal noch immer als »Hexen« bezeichnet wurden). In diesem Kontext tauchten die ersten Wegbereiter der Disziplin auf.

»[D]ie gesamte Geschichte der Frau wurde von Männern geprägt«, schrieb Simone de Beauvoir.4 Es überrascht nicht, dass der Blick auf die prähistorischen Menschen männlich ist. Die ersten Vorgeschichtler wandten auf ihr Studienobjekt das patriarchale Modell der Geschlechterrollen an. Diese gegenderte Perspektive findet sich noch Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts — einer Zeit, in der die Erforschung der menschlichen Evolution hauptsächlich Männern vorbehalten blieb. Die anthropologischen, prähistorischen und archäologischen Forschungen dürfen als androzentrisch bezeichnet werden, denn die sozialen Beziehungen, innerhalb derer sich die Frauen bewegten, wurden nur selten berücksichtigt.5 Davon zeugt das in den 1950er-Jahren entwickelte Modell des »männlichen Jägers«, der als Haupternährer der Gemeinschaft und Erfinder von Werkzeugen und Waffen galt. Der Mann sei demnach der Hauptkatalysator der Menschwerdung oder gar der »Humanisierung« gewesen.*2

Ab den 1960er-Jahren erkämpften sich die Frauen in diesen Feldern der Disziplin einen Platz, der lange Zeit besetzt gewesen war. Vor allem amerikanische feministische Anthropologinnen widersprachen dem Modell des »Jägers« und konzentrierten sich auf die »Sammlerin«, die für das Überleben des Clans gleichermaßen essenzielle Lebensmittel beisteuerte. Im folgenden Jahrzehnt kam die These von der Existenz matrilinearer Gesellschaften und weiblicher Gottheiten oder Göttinnen-Mütter auf.6 In den 1980er-Jahren kritisierten mehrere Forscherinnen den fortbestehenden Androzentrismus der Anthropologie.7 Sie widersetzten sich dem auf einer naturalistischen Vorstellung fußenden Legitimitätsanspruch männlicher Vorherrschaft und begannen, die Bedingungen der Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in Abhängigkeit von den soziohistorischen Kontexten zu definieren. Wer diesen feministischen Wissenschaftlerinnen die Bevorteilung von Frauen vorwirft — da ihre Arbeiten eine Tendenz zur Gynokratie hatten und Objektivität vermissen ließen —, der vergisst, in welchem Maß die ersten Untersuchungen der menschlichen Evolution von Vorurteilen zugunsten der Männer geprägt waren.

Laut der Anthropologin Françoise Héritier (1933—2017) gründet das fast vollständige Fehlen der Frauen innerhalb der Geschichte der menschlichen Evolution in der »unterschiedlichen Bewertung der Geschlechter«, die es seit Anbeginn der Menschheit gegeben habe. Héritier zufolge galt »überall, allzeit und an jedem Ort das Männliche als dem Weiblichen überlegen […], das Positive war immer männlich und das Negative weiblich«.8 Dass die Mythen, heiligen Schriften, die Literatur und die wissenschaftlichen Texte jahrhundertelang das Bild der dem Mann unterlegenen Frau transportierten, heißt jedoch nicht, dass dies immer und überall gleichermaßen der Fall war. Tatsächlich besteht ein großes Risiko, heutige Annahmen hinsichtlich der Geschlechter auf die untersuchten Gesellschaften zu übertragen. Um diese Annahmen zu dekonstruieren, muss man sie  zunächst identifizieren. Die neuen Analysemethoden archäologischer Ausgrabungsstätten und Fundstücke, Gräber und menschlicher Überreste sowie die Untersuchung zahlreicher Darstellungen, die von den prähistorischen Jägern und Sammlern hinterlassen wurden, liefern Informationen, mit denen wir die Rolle der Frauen im Lauf der Evolution neu beurteilen können.

Zwar gibt es keinen einzigen greifbaren Beweis, mit dem den Geschlechtern bestimmte Aufgaben oder ein bestimmter Status zugeschrieben werden könnten. Dennoch haben die Forscher ein binäres Bild prähistorischer Gesellschaften gezeichnet: auf der einen Seite starke, kreative Männer, auf der anderen schwache, abhängige und passive Frauen. Die Männer wurden als Garanten des Überlebens ihrer Gemeinschaft und Treiber jenes »Fortschritts«, der »graduellen Veränderungen zum Besseren« dargestellt, von dem Montaigne 1588 in seinen Essais sprach. Die neuere Forschung hat jedoch gezeigt, dass die prähistorischen Objekte vieldeutig sind und nicht notwendigerweise auf das Geschlecht eines Individuums schließen lassen.*3 Das vorliegende Buch führt hinab in die Tiefen der Zeit, um Antworten auf die Frage nach der Geschichte der Frauen in den urgeschichtlichen Gesellschaften zutage zu fördern. Worin bestanden die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und rituellen Rollen der Frauen? Welchen Status hatten sie? Gab es matriarchale Gesellschaften? Wann und warum setzten sich die Arbeitsteilung nach Geschlechtern und die Geschlechterhierarchie zum Nachteil der Frauen durch?

Die über eineinhalb Jahrhunderte lang von der Wissenschaft vergessenen prähistorischen Frauen sind zu einem ganz eigenen Forschungsgegenstand geworden und treten nun endlich aus der Unsichtbarkeit heraus, auf die sie so lange verwiesen waren.*4 Mein Ziel ist es, ihnen ihren rechtmäßigen Platz in der menschlichen Evolution zurückzugeben.

I

Die prähistorische Frau in der Literatur

Der Mann steht im Vordergrund, die Frau befindet sich im Hintergrund. Der Mann präsentiert seine Waffen, streckt gefährliche Tiere nieder, ist ein starker, mutiger, aufrechter Beschützer. Die Frau ist schwach, abhängig, manchmal beschäftigungslos; umgeben von Kindern und Alten sitzt sie vor der Höhle. Gemälde, Skulpturen, Bücher, Illustrationen in Zeitschriften und Schulbüchern formten bis Mitte des 20. Jahrhunderts die kollektive Fantasie und hatten dabei nur eine Botschaft: Die Urgeschichte gehört den Männern! Die Dekonstruktion der Paradigmen, die am Anfang dieser Ächtung stehen, erlaubt neue wissenschaftliche Perspektiven und einen veränderten Blick auf den prähistorischen Menschen.

1  Der urgeschichtliche Mensch:
Vom Affen zum Helden

Die ersten Rekonstruktionen urgeschichtlicher Menschen und ihrer Lebensweise hatten keine echte wissenschaftliche Grundlage. Emmanuel Frémiets Skulpturen Ein Gorilla raubt eine Negerin (1859) und Ein Gorilla raubt eine Frau (1887) zeigen, dass die Künstler sich von dem im 19. Jahrhundert in der Wissenschaft vorherrschenden Bild des Frühmenschen leiten ließen.1 Er galt als anthropomorpher Affe, oft eine Art besonders wilder und lüsterner Gorilla mit einem aufgrund seiner Nähe zum Raubtier rein instinktgeleiteten Verhalten.2 Das Leben der Urmenschen stellte man sich als elend und prekär vor, bedroht von einer feindlichen Natur voll großer Raubtiere. Von dieser Wahrnehmung zeugen etwa Skulpturen von Emmanuel Frémiet und Louis Mascré sowie Gemälde von Fernand Cormon, Maxime Faivre und Paul Jamin.3

Die Frauen wurden oft halb nackt dargestellt. Im Kreis ihrer Kinder erwarten sie in der Höhle die Rückkehr der Jäger.4 Manchmal wurden sie selbst zur Beute der Männer, wie auf dem Gemälde Vergewaltigung in der Steinzeit von Paul Jamin (1888). Solche Werke verweisen die Frauen auf ihre reproduktive, mütterliche und häusliche Funktion, stellen sie als untergeordnet dar und zeigen die Männer bei »ehrenhaften« Tätigkeiten wie der Jagd, dem Fischen, der Anfertigung von Werkzeugen und Waffen. Genauso unvorstellbar wie jagende oder Werkzeug herstellende Frauen war die Existenz prähistorischer Künstlerinnen.5 Auch der Gedanke, ein urgeschichtlicher Künstler oder sein Modell hätte schwarz sein können, kam damals niemandem, bis Jean-Gaston Lalanne 1911 in der Dordogne die Venus von Laussel oder Venus mit Horn entdeckte. Für die damalige Zeit trug sie alle physischen Merkmale einer schwarzen Frau, gar einer »Hottentottin«! Louis Mascré fertigte eine Skulptur an, die sie mit einem Horn in der Hand zeigt (Negroide von Laussel) und stellte ihr einen Begleiter zur Seite (Negroider von Menton). Sie trägt Züge des Volks der San (Bushman) und den gleichen Kopfschmuck wie eines der beiden fossilen Homo-sapiens-Skelette, die 1901 in der Höhle von Balzi Rossi an der italienischen Grenze zu Frankreich nahe Menton gefunden wurden.

Als Beute, Partnerinnen oder Mütter waren die Frauen den Männern unterworfen. Die Darstellungen der prähistorischen Familie imitieren das westliche Familienideal des 19. Jahrhunderts, indem sie eine monogame, patriarchale Kernfamilie zeigen.6

Diese Aufgabenteilung nach Geschlecht findet sich auch in Texten über die Urgeschichte. Ab 1880 tauchte sie zudem in entsprechenden Romanen auf, in denen der Held natürlich stets männlich war. In diesen Romanen waren die Frauen entweder Objekte sexueller Begierde7 und wurden im Zentrum der Geschichte platziert,8 um die Schilderung erotischer Szenen zu ermöglichen. Das gilt etwa für Nomaï. Amours lacustres [Nomaï. Seenliebe]9 von J.-H. Rosny.10 Oder die Frauen in diesen Texten erledigten »weibliche« Aufgaben, kümmerten sich also um Fortpflanzung, Kindererziehung, Sammeln und Kochen. Im Alter nahmen sie manchmal die Rolle der Weisen ein, die man um Rat fragte, doch auch dann durften sie sich nicht anders verhalten, als die Männer es von ihnen erwarteten — andernfalls riskierten sie, getötet zu werden.

In den 1960er- und 1970er-Jahren kam es zu einer Wende. Unter dem Druck der — vor allem US-amerikanischen — feministischen Bewegungen, die sich gegen die karikaturhaften Darstellungen auflehnten, entstanden neue Repräsentationen prähistorischer Frauen: Sie verlassen die Höhlen und werden selbst zu Heldinnen, wie Ayla in der sechsbändigen Saga der amerikanischen Schriftstellerin Jean M. Auel.11 Doch den chauvinistischen Vorurteilen war schwer beizukommen. Die Frauen mussten sexy bleiben, damit die Männer um sie kämpften — so wie in Don Chaffeys Film Eine Million Jahre vor unserer Zeit (1966), in dem Raquel Welch einen Bikini aus Tierhaut trägt, oder wie in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum (1968).12

Meistens blieben die Frauen in den Darstellungen dieser Zeit weiterhin brav daheim, gingen häuslichen Tätigkeiten nach, kümmerten sich um die Kinder und erwarteten die Rückkehr der Jäger. Viele angeblich realitätsgetreuen, weil auf archäologischen Funden beruhenden Docufictions und Dokumentarfilme stellten sie so dar. Der Großteil dieser Filme zeigte eine wirtschaftliche und soziale Dominanz der Männer in den urzeitlichen Gesellschaften der Jäger und Sammler. Sie festigten die Vorstellung, die Frauen hätten in der technischen und kulturellen Entwicklung der Menschheit keine Rolle gespielt.

2  Waren unsere Vorfahren von Natur aus gewalttätig?

Ein Mann zieht eine Frau an den Haaren hinter sich her. Mit Gewalt führt er uns in eine Vergangenheit jenseits unserer Erinnerung, in der die Beziehung zwischen den Geschlechtern von Dominanz geprägt war und Vergewaltigung und Brutalität die Norm waren. Diese bis heute wirkende Vorstellung schreibt den prähistorischen Gesellschaften Gewalt als Kernmerkmal zu.1

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konstruierten Kunst und Literatur mit wenigen Ausnahmen das Bild gewalttätiger Urmenschen. Sie unterstellten das Fehlen eines zivilisierten sozialen oder religiösen Verhaltens, Mord und Kannibalismus.2

In den meisten Romanen waren Konflikte deshalb allgegenwärtig, vor allem zwischen verschiedenen »Rassen«, deren Erscheinungsbild oft den Berichten von Forschern entnommen wurde. So entstand in der kollektiven Vorstellung der Archetyp des prähistorischen Menschen als männlicher Held, bewaffnet mit einer Keule. Er war in Tierfelle gekleidet, lebte in einer Höhle und fertigte Werkzeuge aus Stein an.3 Aus Kämpfen gegen riesige Mammuts oder gefährliche Säbelzahntiger ging er siegreich hervor. Gewaltsam und kraftvoll beherrschte er das Feuer,4 eroberte Gebiete und Frauen oder rächte einen Angehörigen.5 Diese Darstellungen stützten sich größtenteils auf Schriften von Evolutionsanthropologen und Urhistorikern des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.6

Der Ansatz der ersten Urhistoriker — und folglich auch das so vermittelte Bild der Urmenschen und ihrer Zeit — basierte auf zwei großen Vorurteilen: Unterstellt wurden ein Primat der Gewalt und eine fortschreitende, lineare Entwicklung der Menschheitsgeschichte. Diese Behauptungen konditionierten im Lauf der Jahrzehnte sowohl die wissenschaftliche Arbeit als auch die kollektive Vorstellung. Wie aber kam es zur Entstehung dieser Paradigmen?

Seitdem Mitte des 19. Jahrhunderts die Existenz der Urmenschen anerkannt war, unterstellte man ihnen ein Verhalten ähnlich dem der Menschenaffen (Gorillas und Schimpansen), später auch der »untergeordneten Rassen«, die als primitiv betrachtet wurden. Ohne die Zwecke der von den Urmenschen hergestellten Gegenstände genau zu analysieren, verliehen die Urhistoriker ihnen kriegerisch konnotierte Namen wie Keule, Totschläger, Faustkeil oder Dolch. Auch Weltausstellungen und erste Museen verbreiteten dieses Bild. Das 1871 im Pariser Hôtel des Invalides eingerichtete Militärmuseum zeigte prä- und protohistorische, antike und weitere historische Waffensammlungen und stellte lebensgroße Figuren aus, die entsprechend ihrer jeweiligen Epoche bewaffnet und für den Kampf gekleidet waren. So entstand bei den Besuchern und Besucherinnen der Ausstellung das Bild einer kulturellen Kontinuität des Kriegs seit den Anfängen der Menschheit. Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass die angeblichen Kriegswaffen hauptsächlich zum Töten und Zerteilen von Tieren dienten.*5 In den 1880er-Jahren besagte die Migrationstheorie, dass die Aufeinanderfolge verschiedener urgeschichtlicher Kulturen durch das Ersetzen ganzer Populationen entstand. So verfestigte sich die Vorstellung, es habe schon immer Eroberungskriege gegeben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts behaupteten manche Soziobiologen, Anthropologen und Urhistoriker mit Verweis auf das Verhalten der Großaffen, dass wir von »tötenden Affen« abstammen.*6 Diese 1961 populär gewordene Theorie fügt sich passgenau in die Vorstellung des von seiner tierischen, gar aggressiven und räuberischen Natur dominierten Menschen ein.7 Sie konsolidiert die These der phylogenetischen und ontologischen Gewalttätigkeit des Menschen. Die Urmenschen seien demnach von Natur aus aggressiv und ihrer eigenen Spezies der größte Feind gewesen. Indem die Gewalttätigkeit als Determinante und Wesensmerkmal des Menschen identifiziert wird, drängt sich eine Form der »Kriegskultur« geradezu auf.

Die Vorstellung, Gewalttätigkeit sei Teil der »menschlichen Natur«, findet sich bei vielen Philosophen und Denkern wieder. Auch Sigmund Freud beruft sich darauf, wenn er behauptet, »daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung […]. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?«8

Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588—1679) sprach vom »Krieg eines jeden gegen jeden« (Leviathan, 1651), und Jean-Jacques Rousseau (1712—1778) vertrat die Vorstellung, der »Wilde« sei nur in geringem Maß von Leidenschaften bestimmt und erst durch die Entstehung der Gesellschaft in den schrecklichen Kriegszustand versetzt worden.9 Die Frage nach dem Ursprung der Gewalt zieht sich durch die gesamte Philosophiegeschichte: Ist sie originär, fundamental, angeboren oder, nach Rousseau, erst mit den Anfängen der Zivilisation und des Eigentums entstanden?

Bei Untersuchungen fossiler menschlicher Skelette wurden Spuren von Gewalteinwirkung nur bei wenigen Individuen gefunden.10 Man könnte also mit Grund annehmen, dass es in der Altsteinzeit*7 keine Kriege im engeren Sinne gegeben habe. Zum einen wurden jedoch relativ wenige Skelette aus dieser Zeit entdeckt, zum anderen hinterlassen tödliche Verletzungen nicht immer Spuren auf den Knochen — die aber die einzigen erhalten gebliebenen Teile sind. In den meisten Fällen nachgewiesener Gewalteinwirkung handelt es sich um vernarbte Verletzungen. Diese Menschen wurden also nicht getötet, sondern sogar behandelt. Untersuchungen von Anomalien und Traumata auf den Knochen mehrerer Menschen aus dem Paläolithikum zeigen, dass die Kranken und Verletzten damals gepflegt wurden. Selbst von Geburt an körperlich oder geistig behinderte Menschen wurden nicht getötet und hatten ihren Platz in der Gemeinschaft. Archäologische Funde zeigen, dass diese Gemeinschaften Beziehungen aufwiesen, die auf dem Tausch von Gegenständen, Wissen, Fertigkeiten oder gar einzelnen Personen basierten. Genau wie Aggressivität und Wettbewerb — und vielleicht noch mehr als diese — erwiesen sich Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe für die Kleingruppen als überlebenswichtig. Friedrich Engels (1820—1895) schrieb in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats: »[Die] gegenseitige Duldung der erwachsenen Männchen, Freiheit von Eifersucht, war aber die erste Bedingung für die Bildung solcher größeren und dauernden Gruppen, in deren Mitte die Menschwerdung des Tiers allein sich vollziehen konnte.«11

Die ersten Spuren kollektiver Gewalt finden sich im Zuge der Sesshaftwerdung der Menschen, die vor ungefähr 14.000 Jahren begann. Im Neolithikum*8 wuchs die Gewalt im Zuge zahlreicher Veränderungen in Umwelt (Klimaerwärmung), Wirtschaft (Domestizierung von Pflanzen und Tieren führte zu Produktionsüberschüssen, wovon die Lagerstätten zeugen), Gesellschaft (Herausbildung von Eliten und Kasten12 und in der Folge Hierarchisierung und Ungleichheit) und Glauben (Entstehung von Gottheiten und Kultstätten). Die Zunahme der Gewalt könnte mehrere Gründe haben: Krisensituationen (demografischer, politischer oder epidemiologischer Natur), Opferriten (Gründungsrituale, Opfer- oder Sühnegaben) und psychologische Motive (Rache nach Beleidigung oder Schande, Machtstreben).

Die Opfer waren meist Frauen und Kinder. Allerdings trat nicht in allen neolithischen Gesellschaften Gewalt auf. Die Fundstätte im zentralanatolischen Çatalhöyük (Türkei)13 legt durch die Homogenität der Behausungen und Bestattungspraktiken nahe, dass die gesellschaftliche Organisation egalitär und wenig kriegerisch war: Spuren von Konflikten fehlen.14 Vor allem ab 5500 v. Chr. schienen sich mit der Ankunft neuer Migranten in Europa die Konflikte zwischen den Gemeinschaften zu intensivieren. Mehrere Archäologen glauben, dieser soziokulturelle Wandel der nachpaläolithischen Gesellschaften zeige sich auch in einer seit dem Ende des Neolithikums stattfindenden Verschiebung: Zunehmend wurden nicht mehr Göttinnen (der Mutterschaft, der Zeugungsfähigkeit oder der Fruchtbarkeit) verehrt, sondern männliche Gottheiten, die in der Bronzezeit*9 oft mit einem Dolch bewaffnet dargestellt wurden. In dieser Zeit institutionalisierte sich der Krieg. Parallel entstanden Staaten und städtische Gesellschaften, die Metallurgie und der Handel mit Prestigegütern wie Waffen. Krieger und Waffen wurden zu echten Kultobjekten. Allerdings nicht überall. Einige Zivilisationen blieben weniger kriegerisch, etwa jene in Lima im heutigen Peru15 oder im Industal.16

Da die Gewalttätigkeit urgeschichtlicher Gesellschaften der Altsteinzeit nicht archäologisch belegt ist, waren die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in dieser Zeit zweifellos nicht so antagonistisch, wie bestimmte Thesen es nahelegen. Die Unterwerfung der Frauen ist jüngeren Datums und folgt auf die Errichtung des patriarchalen Systems, das mancherorts gewaltsam etabliert wurde — vor allem, indem Männer Macht über den weiblichen Körper ausübten. Dieser Willen, den Körper des anderen ohne dessen Zustimmung zu besitzen, findet sich in zahlreichen Mythen wieder, in denen Frauen erst entführt und dann vergewaltigt werden.17 Wie die Kriegskultur schreibt sich auch die Vergewaltigungskultur sehr früh in die Darstellungsformen ein. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sexuelle Übergriffe auf Frauen seit Jahrhunderten toleriert werden?18 Mit dem englischen Psychoanalytiker Donald Winnicott müssen wir uns fragen, ob nicht am Extrempunkt der patriarchalen Gesellschaft die sexuelle Beziehung in der Vergewaltigung besteht.19

Frauenraub

Ursprung dieser Konstruktion, der die Frau als ein zu eroberndes Objekt versteht, ist der Frauenraub, der bereits in der griechisch-römischen Mythologie seinen Platz hat. Demnach habe die Menschheitsgeschichte mit einem Frauenraub begonnen, so der Dichter Ovid in Buch V der Metamorphosen: Demeter sucht verzweifelt nach ihrer von Hades entführten Tochter Persephone. Antike Texte, in denen Frauen Objekte der Begierde und dem männlichen Willen unterworfen sind, prägten die westliche Literatur  stark. Der Anthropologin Françoise Héritier zufolge galten Frauen von Anfang an als Beute: »Die Menschheit bestand damals aus kleinen, einander feindlich gesinnten Grüppchen, die sich ihre Partnerinnen mit Gewalt verschafften, wenn ihnen keine zur Verfügung standen.«20 Die Konkurrenz um die Entführung von Frauen sei sogar ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der Intelligenz gewesen!21 War der Frauenraub wirklich eine Sitte, die schon seit der Urzeit existierte, oder ist das ein Mythos?

Wissenschaftlich thematisiert wird der Frauenraub erstmals 1865 in Primitive Marriage: Demnach hätten die Urmenschen weibliche Neugeborene getötet sowie Inzest, Vergewaltigung und Frauenraub praktiziert!22 Frauen seien zunächst Beute gewesen, später zur »Ware« geworden und getauscht oder gekauft worden. Nach Friedrich Engels erhielten sie in dem Moment einen »Marktwert«, in dem auch Landwirtschaft, Viehzucht und Einehe auftraten.23 Man weiß, dass die Urmenschen seit mindestens 300.000 Jahren ein komplexes Sozialverhalten pflegten. Es ist deshalb wenig wahrscheinlich, dass die Kontinuität der Familienclans ausschließlich auf dem Frauenraub basierte. Viele Archäologen und Ethnologen lehnen diese These heute ab und halten eher einen Tauschhandel für wahrscheinlich.24 Er taucht schon im Mythos der Pandora auf, von dem im 8. Jahrhundert v. Chr. der griechische Dichter Hesiod in der Theogonie berichtet: Zur Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen sei die vorrangige Funktion der Frauen, verschenkt oder getauscht zu werden. Laut dem Vater der französischen Ethnologie, Marcel Mauss (1872—1950),25 hielt das System von Gabe und Gegengabe in den »primitiven« Gesellschaften die sozialen Bindungen aufrecht und verhinderte Konflikte.26 In dieselbe Richtung weist auch die These, der Frauentausch im Paläolithikum hätte Bündnisse zwischen verschiedenen Gruppen ermöglicht, die für das Überleben der über riesige Gebiete verteilten Gemeinschaften nötig waren. Der Anthropologe und Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908—2009) spricht hinsichtlich des Frauentauschs von »positiven Verpflichtungen«; Françoise Héritier hingegen sieht darin männliche Dominanz und einen Beweis für den geringen Wert, der Frauen zugeschrieben wurde: »Auf der ganzen Welt und in den verschiedensten Gruppen gibt es Männer, die Frauen tauschen — und nicht umgekehrt. Das führt mich zu der Annahme, die unterschiedliche Bewertung der Geschlechter habe bereits seit der Altsteinzeit und den Anfängen der Menschheit existiert.«27

Es gibt allerdings keinen einzigen archäologischen Fund, der die These vom Frauentausch stützen würde. Falls es diese Praxis seit dem Paläolithikum gegeben hat — was noch bewiesen werden muss —, stellt sich die Frage, ob sie den Frauen von den Männern aufgezwungen wurde oder beiderseitige Zustimmung genoss. Derzeit bleibt diese Frage unbeantwortet. Weil normalerweise »Prestigegüter« getauscht werden, nehmen manche Wissenschaftler an, dass Frauen in den urzeitlichen Gesellschaften einen hohen Wert hatten — vor allem, weil sie Kinder bekamen und damit das Überleben des Clans garantierten. Bereits der Naturforscher Charles Darwin (1809—1882) hatte 1871 gefragt, ob es nicht auch vorstellbar sei, dass die Frauen in der Urzeit ihre/n Partner gewählt hätten.28 Angesichts der Vielzahl der Thesen gilt es nun, die Bestandteile unseres kulturellen Erbes näher zu betrachten, die im Lauf der Jahrhunderte die wissenschaftliche Untersuchung der Urgeschichte beeinflusst haben.

II

Die Entstehung der Urgeschichte als wissenschaftliche Disziplin

Die Geschichte der menschlichen Evolution wurde fast ausschließlich vom Standpunkt der Männer aus betrachtet. Für Frauen relevante soziale Beziehungen wurden nur selten berücksichtigt.1 Die ersten Anthropologen und Archäologen zögerten nicht, das Verhalten der prähistorischen Frauen auf die für ihre eigene Zeit konventionelle Weise zu beschreiben, obwohl sie sich nicht auf direkte archäologische Beweise stützen konnten. Ihre Herangehensweise wurde durch ihre Umgebung geformt — eine westliche, in der jüdisch-christlichen und griechisch-römischen Tradition stehende Gesellschaft, in der die Frauen als unterlegene Wesen galten. Es erstaunt also nicht, dass sich die Mehrheit der Texte über »Menschen« seit der Antike ausschließlich mit Männern beschäftigt. Frauen werden stets nur im Verhältnis zu diesen betrachtet.

In diesem Kontext der gesellschaftlichen und kulturellen Dominanz konsolidiert sich Schritt für Schritt eine kulturelle Hegemonie. Die politische Macht stützt sich auf heilige Schriften und medizinische, anthropologische oder soziologische Texte, die die sexuelle Differenzierung festschreiben und den Mann zur alleinigen Referenz erklären. Diese Doppelkonstruktion hat die Frau zum stets »anderen«, dem Mann unterlegenen Wesen gemacht. Diese unterstellte Minderwertigkeit der Frau wurde schließlich zu einer allgemein akzeptierten Vorstellung.

3  Minderwertige Wesen

Und ja nicht einem Weibe sich zu beugen!

Wenn’s sein muss, besser, mich verdrängt ein Mann […].1

Sophokles

Jahrhundertelang behaupteten Wissenschaftler und Philosophen mit Verweis auf die heiligen Schriften verschiedener monotheistischer und polytheistischer Religionen, die Frauen seien qua »göttlicher Ordnung« und »von Natur aus« den Männern unterlegen. So rechtfertigten sie die Ungleichbehandlung der Geschlechter und die Unterwerfung der Frau, die für die »natürliche« Harmonie von Familie und Gesellschaft nötig sei. Im 4. Jahrhundert bestätigte Augustinus die Gleichheit der Geschlechter »in der Ordnung der Gnade«, also im Himmel, bekräftigte aber zugleich die Unterlegenheit der Frauen in der »natürlichen Ordnung«, also der Geschichte.2 Dieses Argument sollte noch häufig verwendet werden, um die Frauen aus bestimmten gesellschaftlichen und politischen Bereichen auszuschließen. Im Folgenden nähern wir uns den Quellen jener Texte, die das Forschungsfeld durch das Prisma von Geschlecht und Gender geprägt haben.

Die »göttliche Ordnung«

Nur mit Rücksicht auf die einzelne besondere Menschnatur ist das Weib etwas Mangelhaftes und Schwächeres.3

Thomas von Aquin

In den heiligen und religiösen Schriften wird die Frau mit deutlichen Worten beschrieben, mit absoluter Verachtung und manchmal mit Hass. Was war die Frau in den Augen der Männer? Eine Erweiterung ihrer selbst, die sie zugleich ablehnten und begehrten. Sie war für den Mann etwa so wie der Neandertaler für den Cro-Magnon-Menschen: ein missratener Entwurf, von unstetem Wesen, ohne Zweifel ein Tier, beunruhigend, mit besonderen Kräften ausgestattet, sinnesgesteuert, immer unvollkommen und grundsätzlich schuldig. Also musste die Frau überwacht und bestraft werden.

In ihrem Buch Als Gott eine Frau war (1976) zeigt die US-amerikanische Kunsthistorikerin Merlin Stone (1931—2011), wie der Mythos von Adam und Eva die Unterwerfung der Frau unter den Mann in der Gesellschaft und im kollektiven Unbewussten der westlichen Welt besiegelt hat. In den Gründungsmythen vieler Völker wurde die Frau vor dem Mann oder gleichzeitig mit diesem erschaffen, aber nicht nach ihm.4 In der Genesis erschafft Gott Eva aus Adams Rippe: »Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm ebenbürtig ist. […] Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen ebenbürtig war, fand er nicht. Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein / und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie genannt werden; denn vom Mann ist sie genommen.«5

In allen Gründungstexten der großen Religionen sind die Frauen, sofern sie erwähnt werden, dem Mann unterlegen. Subjekte sind sie nie. Altes und Neues Testament richten sich ausschließlich an Männer, als seien sie von Männern für Männer geschrieben worden. Die Schriften des Kirchenvaters Paulus von Tarsus sind hier besonders deutlich. Sie müssen zwar im Kontext der Epoche gelesen werden, doch in den folgenden Jahrhunderten dienten sie oft als Rechtfertigung zur Unterwerfung der Frauen.6 Der untergeordnete Status der Frauen zeigt sich in dem Glauben, nur der Mann sei nach Gottes Ebenbild erschaffen worden: Wie könne man meinen, die Frau sei das Ebenbild Gottes, wo sie doch eindeutig dem Mann untergeordnet sei und selbst keinerlei Autorität ausübe? Sie könne schließlich weder lehren noch als Zeugin vor Gericht aussagen noch den Bürgerstatus genießen, noch könne sie Richterin sein und folglich keinerlei Autorität ausüben, so Ambrosius.7 Der Mann könne der Frau mit bloßem Haupt gegenübertreten, während sie ihre Haare bedecken müsse, heißt es im 1. Korintherbrief: »Jeder Mann, der betet oder prophetisch redet und dabei sein Haupt bedeckt hat, entehrt sein Haupt. Jede Frau aber, die betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht verhüllt, entehrt ihr Haupt. […] Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann.«8

Nach Thomas von Aquin (1225—1274) ist die Frau nicht gänzlich Ebenbild Gottes (1. Kor 11,8f.), sondern ein mas occasionatus, ein verfehlter Mann.9 In vielen heiligen und theologischen Schriften wird sie als unvollkommen oder unvollendet dargestellt. Im Talmud ist die Frau ein unvollkommenes Gefäß, das ohne die Hilfe des Ehemanns nicht mehr als ein Embryo wäre.10 Dieser Gedanke findet sich auch im Atharvaveda, einem heiligen Text des Hinduismus aus der Zeit um 900 v. Chr. Die Frau sei demnach ein bloßes Gefäß; ihre körperliche Hülle und vor allem ihr Lebensprinzip seien ihr vom Mann gegeben worden.

Die christlichen Theologen des Mittelalters beziehen sich auch auf antike Autoren, vor allem auf Platon und Aristoteles. In seinem idealen Staat erhofft Platon sich ein besseres Schicksal für die Frauen;*10 doch im Timaios hält er nur die Männer für das überlegene Geschlecht, da sie direkt von den Göttern erschaffen worden seien und deshalb eine Seele hätten. Die Frau sei eine physische Degeneration des Menschen.11 Aristoteles, der sich mit allen Wissensgebieten seiner Zeit beschäftigte, stellte in seinen zoologischen Schriften fest, die Männchen seien Männchen aufgrund eines besonderen Vermögens, während die Weibchen sich durch besonderes Unvermögen auszeichneten.12 Das Weibchen sei wie ein verstümmeltes,13 unfruchtbares14 Männchen. Aristoteles zufolge liefert die Mutter im Akt der Fortpflanzung die Materie, der Vater aber die Bewegung (und damit die Substanz des Menschen). Das gezeugte Wesen entstamme dem Sperma entweder als Materie oder als erste Bewegung.15 Das Sperma allein reiche zur Fortpflanzung also nicht aus, sondern benötige eine vorher existierende Materie, der es Leben verleihe.16 Diese Vorstellung wurde von den abendländischen Kirchenvätern*11 aufgegriffen. Im 4. Jahrhundert findet sie sich in der Korrespondenz des hl. Hieronymus, der schreibt, die Frau empfange und nähre den sich entwickelnden Körper.17 In einem anderen Brief des Hieronymus heißt es: »Dann der allmächtige Vater uns spendet den wärmenden Regen, und in den Schoß der lüsternen Gattin sich senket der Äther, Alles Gebild der Große ernährt mit dem Leibe, dem großen, sich Mischend.«18

800 Jahre später postulierte auch Thomas von Aquin, die Empfängnis der im Vergleich zum Mann weniger vernunftbegabten Frau müsse in einer Schwäche des Spermas gründen, da aktives Sperma nach Aristoteles zur Zeugung eines vollständigen Menschen, also eines Mannes, führe: »Nur mit Rücksicht auf die einzelne besondere Menschnatur ist das Weib etwas Mangelhaftes und Schwächeres. Denn die thätig wirksame Kraft im Manne will ihrer besonderen Natur nach etwas sich Ähnliches hervorbringen; nämlich etwas Männliches. Daß also etwas Weibliches gezeugt wird, geschieht entweder deshalb, weil die thätige Kraft zu schwach ist oder die Verhältnisse des entsprechenden empfangenden Stoffes keine angemessenen sind oder weil ein Einfluß von außen die Zeugung des Weiblichen veranlaßt, wie z.B. nach Aristoteles (4. de gener. 2.) jener der Südwinde, welche Feuchtigkeit mit sich führen. Mit Rücksicht auf die Natur im allgemeinen jedoch ist die Frau nichts Mangelhaftes im Vergleich zum Manne; sondern ist unmittelbar beabsichtigt in ihrer Hervorbringung, nämlich damit die betreffenden Wesen durch Zeugung sich fortpflanzen. Was aber die Natur im allgemeinen will und beabsichtigt, das ist von Gott hineingelegt, der die erste Ursache aller Natur ist. Und demgemäß hat Er bei der Einrichtung der Natur das Männliche und Weibliche hervorgebracht.«19

Jahrhundertelang nahm man an, die Frau habe die gleichen Genitalien wie der Mann, sie befänden sich jedoch im Inneren des Körpers. So wurde die Frau von der Wissenschaft als unvollkommener Mann betrachtet. Ende des 19. Jahrhunderts gingen Cesare Lombroso (1835—1909) und Guglielmo Ferrero (1871—1942) noch weiter und erklärten, die Frau sei ein in seiner Entwicklung stehen gebliebener Mann, die dem Menschenaffen näherstünde. Da die Ontogenese die Phylogenese wiederhole, könnten sich weibliche Kinder, anders als männliche, beim Aufwachsen nicht hin zum überlegenen Zustand entwickeln.20

Im 16. Jahrhundert stellte sich so mancher die Frage, ob Frauen überhaupt Menschen seien. Die Frage wird auch in Diderots Enzyklopädie21 behandelt, und zwar mit Bezug auf einen berühmten, anonymen — jedoch dem deutschen Humanisten Valens Acidalius zugeschriebenen — Text von 1595 mit dem Titel Disprobatur nova contra mulieres, qua probatur eas homines non esse. Die Frage habe ein Bischof oder Kardinal bei der Synode von Mâcon (um 585) gestellt. Manchen Quellen zufolge wurde sie nach langer Debatte von einer knappen Mehrheit mit Ja beantwortet. Die 1618 erschienene Übersetzung Ob die Weiber Menschen seyn, oder nicht?22 rief einige Kontroversen hervor. Manche Historiker halten den Text für ein reines Fantasiegebilde oder eine schlechte Interpretation.23 Der Originaltext, der damals als Streitschrift gegen Frauen galt, sei in Wahrheit eine humoristische Parodie auf eine zeitgenössische Strömung innerhalb des Christentums, den Sozinianismus,24 dessen Anhänger die Dreifaltigkeit, die Ursünde und die Göttlichkeit Jesu ablehnten und die Bibel abwegig interpretierten. Der Originaltext sei im 18. Jahrhundert instrumentalisiert worden, um den »Krieg der Geschlechter« wieder anzufachen. Angenommen, dies trifft zu, zeugt diese Ironie dennoch von dem grundlegenden Sexismus der damaligen Zeit und von einem durch religiöse Texte beförderten Antifeminismus.25 Die heiligen Texte verurteilten die Frauen und machten sie für den »Sündenfall« und alle Übel der Menschheit verantwortlich. Gott — ob er nun Mensch oder oberste Gewalt war — warnte die Männer vor den Frauen.

Schuldig von Anbeginn

In der griechischen Mythologie tritt zwar die Urmutter Gaia als Erste aus dem Chaos hervor, doch nach der Schöpfung der Welt schaffen die Götter mit Pandora26 die erste menschliche Frau, um die Menschen für den Diebstahl des Feuers durch den Titan Prometheus zu bestrafen. Der Mythos von der Büchse der Pandora ist bei Hesiod überliefert.27 Zeus soll die schöne und jungfräuliche Pandora Prometheus’ Bruder Epimetheus zur Heirat angeboten haben. Dieser nahm das Angebot ungeachtet der Warnungen seines Bruders an. Pandora hatte ein geheimnisvolles Gefäß bei sich, das zu öffnen Zeus ihr verboten hatte. Es enthielt alle Übel der Menschheit und die Hoffnung. Pandora konnte nicht widerstehen, öffnete die Büchse und befreite so alle darin enthaltenen Übel. Sie wollte die Büchse wieder verschließen, aber es war schon zu spät: Nur die Hoffnung blieb eingeschlossen. In der Theogonie kommentiert Hesiod: »Denn ihr ist das Geschlecht der zartgebildeten Weiber. / Unheilvoll ist solches Geschlecht; und die Stämme der Weiber / Wohnend zu Schaden und Leid in der sterblichen Männer Gemeinschaft / Nicht dem harten Bedarf, nein schwelgender Üppigkeit folgend. […] Gleich so hat auch die Weiber zum Unheil sterblichen Männern / Zeus der Donnerer eingeführt, denn an schnödem Geschäfte / Haben sie Theil.«28 Pandora wird für das Ende des »Goldenen Zeitalters« der Menschen verantwortlich gemacht. Schnell ist vergessen, dass sie zur Strafe für den Diebstahl des Feuers erschaffen wurde, das Prometheus für die Menschen entwendet hatte.

In einigen Mythen sind Frauen die Beschützerinnen der Welt. In der ägyptischen Mythologie begeht ein Mann, Seth, die Ursünde, und eine Frau, Isis,*12 rettet die Menschheit. Bei den Kelten wurde die irdische Welt von einem allgegenwärtigen weiblichen Prinzip regiert, der Muttergöttin Dana. Die Frauen fungierten als deren Botschafterinnen gegenüber den Männern. Das römische Pantheon wurde von männlichen und weiblichen Schutzgottheiten gleichermaßen bevölkert; die Vestalinnen, deren Priesteramt das Überleben Roms garantierte, genossen wichtige Privilegien und Ehren. Dennoch werden Frauen in den meisten religiösen Texten für das Leid der Menschheit verantwortlich gemacht. Eva begeht die erste Sünde der Menschheit, die »Ursünde29