Der wahre Beginn
unserer Demokratie
BILDNACHWEIS:
András Bereznay, Karte von Berlin S. 444; Titelblätter des Vorwärts S. 133, 297 und 392 mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung; Wikimedia Commons / Bundesarchiv / CC-BY-SA 3.0, Bild 183-18594-0045 S. 24, Bild 102-00015, S. 38, Bild 183-R04103 S. 93, Bild 183-G1102-006-0001 S. 120, Bild 183-R10386, S. 144, Bild 146-1989-072-16 / Kerbs, Diethart S. 150, Bild 146-1970-051-41 S. 165, Bild 183-H25212 S. 210, Bild 146-1972-038-36 / Sennecke, Robert S. 231, Bild 146-1972-030-63 S. 234, Bild 102-12373 S. 236, Bild 146-1976-067-30A S. 264, Bild 146-1977-074-08 / Sennecke, Robert S. 280, Bild 183-H29923, S. 303, Bild 183-1989-0718-501, S. 306, Bild 146-1976-067-25A, S. 330, Bild 183-18594-0052 / Gircke, W. S. 335, Bild 146-1977-087-14 S. 382, Bild 119-1983-0007 S. 423, Bild 146-1972-033-17 / Haeckel, Otto, S. 424; Wikimedia Commons, S. 27, 42, 59 re., 62, 63, 73, 75, 79, 138, 159, 161, 181, 195, 376, 388, 402; Wikimedia Commons/Erich Greifer S. 36; Wikimedia Commons / Machahn (Sozialdemokratie im Wandel) S. 54; Wikimedia Commons / George Grantham Bain Collection S. 59 li.; Wikimedia Commons/Gustav Bachmann S. 106; Wikimedia Commons/Illustrirte Zeitung S. 312; bpk / Geheimes Staatsarchiv, SPK / Bildstelle GStA PK, S. 33; bpk / Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer / Willy Römer S. 208, 227, 314; bpk S. 291, 309; Klaus Gietinger S. 228, 263; AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung S. 72, 114, 122, 171; akg-images S. 103; Deutsches Historisches Museum, Berlin/I. Desnica S. 340, Deutsches Historisches Museum, Berlin S. 407
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1. eBook-Ausgabe 2019
2. Auflage 2018
© 2017 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München · Zürich · Wien
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von © ullstein bild – ullstein bild
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ePub-ISBN: 978-3-95890-227-5
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ES IST ZEIT …
1»DIE GRÖSSTE ALLER REVOLUTIONEN« –
9. November 1918
2VATERLANDSLOSE GESELLEN –
Die Sozialdemokratie im Kaiserreich
3ZERREISSPROBE –
Der Weltkrieg und die Sozialdemokratie
4DER GROSSE BLUFF –
Reformen in letzter Minute
5ROTE FAHNEN –
Matrosenmeuterei vor Wilhelmshaven und Aufstand in Kiel
6DIE ZEIT IST REIF –
Revolution im ganzen Land
7ERSTES RINGEN UM DIE MACHT –
Der 10. November in Berlin
8»BEISPIELLOSE UNMENSCHLICHKEIT«? –
Der Waffenstillstand
9SOZIALE REPUBLIK –
Das Programm der Volksbeauftragten und der Gewerkschaften
10GENUTZTE MÖGLICHKEITEN, VERPASSTE CHANCEN –
Die ersten Wochen der Revolution
11WIE PHOENIX AUS DER ASCHE –
Die Oberste Heeresleitung als Machtfaktor
12VERWIRRENDE TAGE –
Berlin, 6./7. Dezember 1918
13DER PUTSCH WIRD VERTAGT –
Truppeneinzug in Berlin
14DER SOUVERÄN TAGT –
Der erste Reichsrätekongress
15AM RUBICON –
Die Volksbeauftragten und die Beschlüsse des Rätekongresses
16»SCHWERE SCHLAPPE« FÜR DIE OHL –
Die Berliner stoppen den Weihnachtsputsch
17DIE ENTSCHEIDUNG –
Die USPD scheidet aus der Regierung aus
18WENIG KLARHEIT –
Die Gründung der KPD
19»DIE STUNDE DER ABRECHNUNG NAHT« –
Die Berliner Januarkämpfe
20»DIE MÜSSEN WEG!« –
Die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht
21»VERGESST NICHT, DAS DEUTSCHE VOLK HAT EINE REVOLUTION GEMACHT!« –
Nationalversammlung und Regierungsbildung
22DAS ENDE DER GEDULD –
Die zweite Phase der Revolution
23BETRIEBSRÄTE –
Ideen für Demokratie in der Wirtschaft
24DIE BLUTIGSTEN WOCHEN –
Konfliktlösung à la Noske
25BAYERISCHE PAUKENSCHLÄGE –
Die Ermordung Eisners und die Räterepublik
26VERPASSTE CHANCE –
Kriegsschuld und Friedensvertrag
27MIT ALLEN MITTELN –
Die Gegenrevolution macht mobil
28»DIE DEMOKRATISCHSTE DEMOKRATIE DER WELT« –
Die Weimarer Verfassung
29DER KATER NACH DEM RAUSCH –
Von der »größten aller Revolutionen« zum »Zusammenbruch«
30PATT –
Ein tief gespaltenes Land
STATT EINES NACHWORTS: HITLERS ALBTRAUM
KARTE BERLIN-MITTE ZUR REVOLUTIONSZEIT 1918/19
ZEITTAFEL
LITERATUR
DANK
PERSONENREGISTER
Revolutionen haben es manchmal schwer, in der historischen Tradition ihrer Völker »anzukommen«. Das galt für die große Französische Revolution, das galt für die Deutsche Revolution von 1848/49, und das gilt auch für die Revolution von 1918/19. Aber einhundert Jahre danach ist es Zeit, sie endlich zum festen Bestandteil unserer demokratischen Tradition zu machen.
Gerade die Deutsche Revolution 1918/19 ist auf unerwartete Weise wieder aktuell geworden. Was wir dieser Revolution verdanken, wird heute teilweise infrage gestellt, wenn auch glücklicherweise noch nicht in Deutschland. Die liberale und soziale Demokratie ist gefährdet. Das wird uns in diesen Jahren vielfach und schmerzlich vor Augen geführt – auch in Europa. In Ungarn und Polen haben national-konservative Parteien die Macht übernommen und arbeiten daran, sie nicht wieder zu verlieren. Vor Wahlen in einer ganzen Reihe von Staaten der Europäischen Union beginnt regelmäßig das große Zittern. Sogenannte Populisten haben Hochkonjunktur. Autoritäre Regime sind mit einem Mal nicht mehr nur ein Problem Südamerikas, Afrikas oder Asiens. Auch in Europa sind liberale und soziale Demokratien keine Selbstverständlichkeit mehr.
Gerade jetzt sollten wir uns deshalb erinnern, dass die politische Demokratie eine großartige Errungenschaft ist, für die in den Revolutionsmonaten 1918/19 Arbeiter und Soldaten, Männer und Frauen gekämpft haben. Wir verdanken sie ihrer Bereitschaft, notfalls ihr Leben für diese Demokratie einzusetzen. Sie ist auf dem politischen Feld das Wertvollste, was wir haben. Wir in Deutschland sollten besonders wachsam sein und allen Versuchen, sie uns ein zweites Mal zu nehmen, von Anfang an entschieden entgegentreten. Die Erinnerung an die Revolutionskämpfe 1918/19 kann unseren eigenen Einsatz für die liberale und soziale Demokratie stärken und deutlich machen, worauf es dabei wesentlich ankommt.
Ein Blick nach Frankreich oder in die USA zeigt, dass andere Nationen mit Stolz ihre Revolutionen feiern und damit ihr Selbstbewusstsein als demokratische Gesellschaften stärken. Wir haben in der alten Bundesrepublik lange gebraucht, bis wir den aufständischen Bauern und den Revolutionären von 1848/49 einen angemessenen Platz in unserer Geschichtskultur gegeben haben. Dass darin bis heute die größte Massenbewegung der deutschen Geschichte fehlt, die uns 1918/19 die Demokratie gebracht hat, ist kaum zu entschuldigen – wohl aber zu erklären.
Die Erinnerung an die Revolution von 1918/19 ist jahrzehntelang ins Räderwerk der politischen Auseinandersetzungen geraten und für die unterschiedlichsten Zwecke instrumentalisiert worden. Gegenstand intensiver Forschung ist diese Revolution erst Mitte der Fünfzigerjahre geworden, und bereits dreißig Jahre später ist sie weitgehend in Vergessenheit geraten.
Ich bin ihr Ende der Sechzigerjahre – noch als Schüler – zum ersten Mal begegnet. Es war Faszination auf den ersten Blick. Sie hat viel Geheimnisvolles ausgestrahlt, von dem im Geschichtsunterricht nur beiläufig und mit sehr negativer Bewertung die Rede war: Meuterei, Aufstände, Arbeiter- und Soldatenräte, Räterepublik. Der stern hat damals in einer ganzen Serie den »großen Verrat« angeprangert, der 1918/19 stattgefunden habe. Da war offenbar ein Kapitel unserer Geschichte zu entdecken, das lange ins Abseits gestellt worden war.
Anfang der Siebzigerjahre habe ich diese Revolution dann im Studium näher kennengelernt, und sie hat mich seither nicht mehr losgelassen. Meine Magisterarbeit hat sich mit ihr beschäftigt, auch meine Dissertation. Ich habe die Revolution von 1918/19 als eine der großen Weichenstellungen der deutschen Geschichte wahrgenommen: Sie hat die Monarchie hinweggefegt und Deutschland zur Republik gemacht. Sie hat aber nicht alle Chancen nutzen können, auch die Gesellschaft zu demokratisieren. Todfeinde der Republik blieben mächtig und haben die Demokratie nach vierzehn Jahren an Hitler ausgeliefert. Vielleicht wäre Deutschland und der Welt manches erspart geblieben, wenn die Revolution ein Stück weiter vorangekommen wäre! Der Gedanke ist naheliegend, auch wenn er spekulativ ist und mit Geschichtswissenschaft nichts zu tun hat. Ich habe in den Siebzigerjahren vor allem auf die nicht genutzten Chancen geblickt, wie fast die gesamte historische Forschung. Inzwischen schaue ich viel intensiver auch auf die Ergebnisse und Errungenschaften dieser Revolution. Jede Zeit hat ihren eigenen Blick auf die historischen Ereignisse.
Die Geschichtsschreibung über die Revolution von 1918/19 hatte immer eine besonders stark ausgeprägte politische Dimension. Für die politische Rechte in der Weimarer Republik war die Revolution der »Dolchstoß« in den Rücken des Heeres und damit die Ursache für die Niederlage im Weltkrieg. Diese Position nahmen damals auch die meisten deutschen Historiker ein, die zu den entschiedenen Gegnern der Republik gehörten. Für Hitler war sie Hochverrat – und sein persönlicher Albtraum schlechthin. Der Nationalsozialismus hat sich von Anfang an als Gegenbewegung zur Revolution von 1918/19 verstanden. Die Kommunisten haben sie vor allem als großen Verrat der Sozialdemokraten gesehen, während die führenden Sozialdemokraten sie als erfolgreichen Abwehrkampf gegen den Bolschewismus feierten. Die bürgerlichen Parteien der Mitte haben sich mit der Republik arrangiert, wollten aber von der Revolution schon bald nichts mehr hören. Allein die breite Mehrheitsströmung der Sozialdemokraten hat in der Weimarer Zeit die Erinnerung an die Revolution von 1918/19 in einem positiven Sinn hochgehalten.
Mit der Machtübergabe an Hitler im Januar 1933 endete auch das. Mehr als zwölf Jahre war dann nur noch von Dolchstoß, Hochverrat und Novemberverbrechern die Rede. Das Ende der ersten deutschen Demokratie und Hitlers Machtantritt prägten von nun an ganz entscheidend den Blick auf die Revolutionsperiode. Sozialdemokraten im Exil begannen ernsthaft darüber nachzudenken, ob man nicht in den Revolutionsmonaten 1918/19 Entscheidendes versäumt habe. Auch die Geschichtsschreibung in den USA und Großbritannien stellte diese Frage, besonders drängend nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Man wollte vermeiden, dass ein zweites Mal dieselben Fehler gemacht werden.
Solche Fragestellungen waren in der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik jahrelang tabu. Sie hat fast ein Jahrzehnt gebraucht, um sich vom Trauma des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs etwas zu erholen. Ihr vorherrschendes Interesse richtete sich zunächst vor allem darauf, den Nationalsozialismus als tragischen Betriebsunfall darzustellen, der mit dem Rest der deutschen Nationalgeschichte nichts zu tun habe. Nach Versäumnissen in den Jahren 1918/19 zu fragen wäre diesem Interesse völlig zuwidergelaufen. Bis zum Historikertag 1964 galt deshalb: Es gab in den Revolutionsmonaten nur zwei Optionen, den Bolschewismus oder die Weimarer Republik, wie sie im Lauf des Jahres 1919 entstanden ist. Da den Bolschewismus nach dem Geschichtsverständnis des Westens niemand ernsthaft wollen konnte, war die Entwicklung hin zu Hitlers Machtantritt eine tragische Zwangsläufigkeit.
Ganz anders war die politische Interessenlage in der sowjetischen Besatzungszone. Hier trat die KPD, später die SED, mit dem festen Vorsatz an, all das nachzuholen, was die Revolution 1918/19 in ihren Augen versäumt hatte. Die DDR verstand sich als der deutsche Staat, der die »Lehren der Novemberrevolution« berücksichtigt hat. Paradoxerweise ergab das eine ganz ähnliche Deutung der Revolution von 1918/19 wie im Westen. Auf beiden Seiten sah man in den politischen Zielsetzungen der Spartakusgruppe bzw. der frühen KPD die einzige Alternative zur Weimarer Republik. Die Bewertungen waren allerdings völlig gegensätzlich.
Diese Revolutionsbilder passten vorzüglich in die Zeit des Kalten Krieges zwischen Ost und West, aber kritische Geister in der Sozialdemokratie hatten schon früh den Verdacht, dass sie dem tatsächlichen Geschehen der Revolutionszeit nicht gerecht wurden. In der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre entstanden in der Bundesrepublik zahlreiche Studien vorwiegend jüngerer Historiker, die ein ganz anderes Bild der Revolution von 1918/19 ergaben. Eberhard Kolb, Peter von Oertzen, Reinhard Rürup und ihre Kollegen entdeckten die Arbeiter- und Soldatenräte neu, die in der Revolutionszeit eine umfassende »Demokratisierung« des Militärwesens, der Verwaltung, der Wirtschaft, ja der ganzen Gesellschaft forderten, aber von Bolschewismus nichts wissen wollten. Die Kommunisten hätten während der Revolution zwar lautstark auf sich aufmerksam gemacht, seien aber keine machtpolitisch bedeutsame Größe gewesen. Im Kern kamen all diese Studien – bei manchen Unterschieden im Detail – zu dem Urteil, dass die Revolution 1918/19 die gegebenen Möglichkeiten nicht vollständig genutzt hat, um der jungen Demokratie eine sichere und nachhaltige Grundlage zu verschaffen.
Im Verlauf der Sechziger- und Siebzigerjahre hat sich dieses neue Bild der Revolution von 1918/19 – mit manchen Revisionen im Einzelnen – in der historischen Forschung weitgehend durchgesetzt. Es wurde durch immer neue Detailstudien untermauert und passte zugleich in seinen politischen Dimensionen vorzüglich zur Ära der sozialliberalen Reformpolitik, für die vor allem Willy Brandt stand. Folgte man dem neuen Bild der Revolution von 1918/19, dann hätte Brandts legendärer Satz »Wir wollen mehr Demokratie wagen« durchaus eine Lehre aus den Revolutionsmonaten sein können.
Es konnte unter diesen Umständen kaum ausbleiben, dass die politische Tendenzwende am Ende der Siebzigerjahre auch vor der Geschichtsschreibung und ihrem Urteil über die Revolution von 1918/19 nicht haltmachte. Helmut Kohls Forderung nach einer »geistig-moralischen Wende« spülte die alten Revolutionsbilder aus den Fünfzigerjahren wieder nach oben, völlig unabhängig von den Ergebnissen historischer Forschung. Die renommierten Fachhistoriker waren fassungslos und nach einiger Zeit auch sprachlos. Die üblichen Methoden der wissenschaftlichen Auseinandersetzung blieben ohne Wirkung, Debatten liefen ins Leere, weil wissenschaftliche Belege und Argumente offenbar gar keine Rolle spielten. Es ging ja auch nicht um Wissenschaft.
Um die Mitte der Achtzigerjahre bildeten sich unter den westdeutschen Historikern zwei politische Lager, die sich unversöhnlich gegenüberstanden und deren Auseinandersetzungen schließlich im sogenannten Historikerstreit gipfelten. Im Mittelpunkt stand dabei der Nationalsozialismus, es ging um seinen Stellenwert in der deutschen Geschichte und seine Bedeutung in der Weltgeschichte. Die Revolution von 1918/19 geriet dabei ganz an den Rand und schließlich nahezu völlig in Vergessenheit.
In der DDR setzte dagegen in den Achtzigerjahren zaghaft ernsthafte Forschung ein, die nicht unter dem Parteidiktat der SED stand. Im Zeichen der Wende, der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und des allgemeinen Ideologieverdachts gegen Historiker der früheren DDR ist diese Forschung versandet.
Ein Jahrhundert nach der größten Revolution in der deutschen Geschichte ist es höchste Zeit für einen Neuanfang – und die Chancen stehen nicht schlecht. Viele der politischen Konflikte, die den Blick auf die Revolution von 1918/19 jahrzehntelang geprägt und durchaus auch vernebelt haben, sind inzwischen historisch »erledigt«. Die Sowjetunion existiert nicht mehr, nicht mehr die Konkurrenz zweier deutscher Staaten und auch nicht mehr der große Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten in der internationalen Arbeiterbewegung. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach dem großen Reformschub der frühen Siebzigerjahre und der Abwehr des RAF-Terrorismus als besonders stabile liberale und soziale Demokratie etabliert und bewährt. Die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ist als ein zentraler, nicht zu leugnender und nicht zu verharmlosender Teil der deutschen Geschichte in der Geschichtskultur der Republik fest verankert. Sie muss nicht mehr der einzige Bezugspunkt deutscher Geschichte sein. Was jahrzehntelang aus jeweils aktuellen politischen Gründen in diese Revolution hineingedeutet wurde, ist bedeutungslos geworden.
Das macht es uns möglich, die Republik von Weimar nicht mehr nur von ihrem Ende her zu sehen. Diese Republik ist zwar nach vierzehn Jahren beseitigt worden, aber sie war nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Heute können wir ohne falsche Ängste und Sorgen die Weimarer Republik als bedeutsame Vorgängerin und Wegbereiterin der Bundesrepublik sehen und die Revolution 1918/19 als entscheidende Wegmarke der Demokratisierung in Deutschland.
Ich will in diesem Buch die Geschichte der Revolution von 1918/19 neu erzählen und auch mit manchen Legenden aufräumen, die über diese Revolution noch immer in Umlauf sind. Beispielsweise mit der, dass diese Revolution völlig überflüssig gewesen sei, weil doch schon die »Oktoberreformen« eine parlamentarische Monarchie gebracht hätten. Die Revolution war im Gegenteil dringend notwendig, denn die herrschenden Schichten des Kaiserreichs, insbesondere die militärischen Eliten, waren zu keinem Zeitpunkt bereit, ihre Macht zu teilen. Die Oktoberreformen waren das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben wurden. Sie waren nicht mehr als ein Trick der Heeresleitung, um bessere Waffenstillstandsbedingungen zu bekommen und sich zugleich aus der Verantwortung für die Niederlage zu stehlen. Als die Militärführung Ende Oktober erkannte, dass ihr Spiel nicht aufging, begann sie sofort, die Demokratisierung zurückzunehmen. Die Fakten sind klar: ohne Revolution keine parlamentarische Demokratie.
Nach wie vor spukt auch die Legende durch manche Geschichtsbücher, es sei in den Revolutionsmonaten vor allem um die Abwehr des Bolschewismus gegangen. Durch den »Spartakusaufstand« im Januar 1919 sei das Land kurz vor einer bolschewistischen Diktatur gestanden. Davon kann in Wahrheit keine Rede sein.
Ins Reich der Legenden gehört ebenso, dass nur durch die enge und dauerhafte Zusammenarbeit der sozialdemokratischen Regierung mit der alten kaiserlichen Armeeführung die Demokratie gesichert werden konnte. Das Gegenteil ist wahr: Dieses enge Bündnis ist unnötig gewesen und hat sich sehr schnell zu einer existenziellen Gefahr für die junge Republik entwickelt. Bereits 1920 putschten rechtsgerichtete Truppenverbände gegen die Demokratie.
Eine vierte Legende schließlich hält sich besonders hartnäckig: Die Sozialdemokraten hätten damals die Revolution »verraten«. In der DDR hat diese Legende zu den Grundlagen des Staatsverständnisses gehört, aber im Überschwang der 68er-Bewegung stand sie auch im Westen hoch im Kurs. Selbst konservative Bürgerliche wie Sebastian Haffner haben sie damals vertreten, und sein nach wie vor sehr erfolgreiches Buch verbreitet sie bis heute, wenn auch nicht mehr unter dem ursprünglichen Titel »Die verratene Revolution«. Haffner hat in einem späteren Vorwort zwar bekannt, manches inzwischen anders zu bewerten, den Text jedoch unverändert gelassen. Die Verratsthese scheint bis heute populär zu sein, aber sie hält der wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Es war nie die Vorstellung der SPD, dass der Weg zum Sozialismus notwendigerweise mit einem Rätesystem und einer Phase der Diktatur des Proletariats verbunden sein müsse. Man kann den Sozialdemokraten nicht den Verrat an Zielen vorwerfen, die sie selbst nicht geteilt haben. Für sie war eine in allgemeiner, gleicher, freier und geheimer Wahl zustande gekommene Volksvertretung die elementare Grundlage jeder Demokratie, auch einer sozialistischen. Daran hat weder die SPD noch der gemäßigte Teil der USPD während der Revolutionsmonate einen Zweifel aufkommen lassen. Von Verrat kann also keine Rede sein! Richtig ist allerdings, dass die Revolution von 1918/19 ihr Potenzial nicht hat ausschöpfen können. Es wäre mehr drin gewesen, um es salopp zu sagen, aber es lag beileibe nicht nur an einigen führenden Sozialdemokraten, dass nicht noch mehr erreicht wurde.
Dieses Buch will einen Beitrag leisten, sich von solchen Legenden nachhaltig zu verabschieden. Vor allem aber liegt mir daran, an die Männer und Frauen zu erinnern, die mutig und selbstbewusst dem Krieg ein Ende machen, den Obrigkeitsstaat beseitigen und eine demokratische Gesellschaft aufbauen wollten. Die große Mehrheit der Revolutionsbewegung will eine parlamentarische Demokratie, aber sie will auch einen Schlussstrich unter den preußisch-deutschen Militarismus ziehen. Sie will demokratische Verhältnisse und demokratischen Geist in der Verwaltung, den Schulen, der Justiz und vor allem auch in der Wirtschaft.
Die Revolutionsbewegung von 1918/19 hat mehr gewollt, als sie damals erreicht hat. Immer wieder ist deshalb von einer »steckengebliebenen« oder von einer »gescheiterten« Revolution die Rede. Aber kann man den Erfolg allein daran messen, ob die Revolutionsbewegung alle ihre Ziele erreicht hat? Ich meine: nein.
Wenn man auf die Entwicklung des Landes schaut, dann ist die Revolution von 1918/19 zunächst vor allem eine gelungene Revolution. Sie hat Deutschland vorangebracht, und viele ihrer Errungenschaften sind für uns heute selbstverständlich: die demokratische Republik und das Frauenwahlrecht, die Verankerung von freiheitlichen und sozialen Grundrechten in der Verfassung, der Achtstundentag und die Tarifpartnerschaft zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, Betriebsräte und Mitbestimmung. Unsere heutige Bundesrepublik ist in vielfältiger Weise von dem geprägt, was die Revolutionsbewegung 1918/19 erkämpft hat. Wir sind uns dessen nur viel zu wenig bewusst.
Es ist höchste Zeit, das zu ändern.
Der 9. November 1918 ist ein Samstag, ein normaler Arbeitstag in den Berliner Betrieben. Es ist ein typischer Novembertag: 9 Grad, trüb, in der Frühe regnet es. Wie an jedem anderen Tag machen sich die Arbeiter auf den Weg in die Fabriken. Auf den ersten Blick ist am Morgen noch alles wie gewohnt – aber es liegt etwas in der Luft. Seit drei, vier Tagen hat sich eine flirrende Anspannung über die Stadt gelegt. Nachrichten von der Küste sind durchgesickert. Matrosen der vor Wilhelmshaven liegenden Hochseeflotte haben sich geweigert, zu einem letzten Gefecht in einem inzwischen erkennbar verlorenen Krieg auszulaufen. In Kiel und anderen Städten an der Küste ist es zu Aufständen gekommen. Bremen, Hamburg und Kiel seien in den Händen von Arbeiter- und Soldatenräten, hat der Vorwärts, das Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), am Vortag berichtet, allerdings erst auf Seite drei. In München soll sogar der König abgesetzt worden sein. Bayern sei jetzt Freistaat und Republik, heißt es. Aber sicher können die einfachen Arbeiter nicht sein, die am 9. November auf dem Weg in die Fabriken sind. Die Reichshauptstadt ist inzwischen von allen Verbindungen zur Außenwelt abgeschnitten. Der Zugverkehr von und nach Berlin ist auf Anordnung des militärischen Oberbefehlshabers eingestellt worden. Versammlungen sind verboten. Über die Stadt ist der Belagerungszustand verhängt, es herrscht Pressezensur.
Immer mehr Truppen sind in der Stadt zu sehen. Beunruhigend ist auch, dass der »Oberkommandierende in den Marken« – so lautet der offizielle Titel des Militärbefehlshabers – allen auf Urlaub in Berlin befindlichen Offizieren befohlen hat, sich »feldmarschmäßig ausgerüstet« am 8. November, mittags 12 Uhr auf der Kommandantur am Schinkelplatz zu melden. Am Abend dieses 8. November, berichtet ein Augenzeuge, seien am Halleschen Tor schwer bewaffnete Infanteriekolonnen, Maschinengewehr-Kompanien und leichte Feldartillerie »in endlosen Zügen« an ihm vorbeigezogen. Es braut sich etwas zusammen in der Hauptstadt.
Es sind ausgemergelte Männer und dürre Frauen mit fahlen Gesichtern, die am Morgen des 9. November auf dem Weg in ihre Fabriken sind. Man sieht ihnen den Hunger an. Schon seit zwei, drei Jahren gibt es nicht mehr genügend zu essen, und was noch aufzutreiben ist, hätte man in Friedenszeiten bestenfalls an Schweine verfüttert. Krankheiten haben die Arbeiter schon lange nicht mehr viel entgegenzusetzen. Die Grippe grassiert und fordert auch in Berlin viele Menschenleben. Das alles ist vollends unerträglich geworden, seit die Heeresleitung erklärt hat, man müsse Waffenstillstand schließen. Der Krieg ist verloren, warum jetzt noch weiter kämpfen, leiden und hungern? Jetzt muss mit alledem Schluss sein. Vor allem mit dem Krieg. Sofort!
Seit einigen Wochen hat sich diese explosive Stimmung immer mehr aufgebaut; in den letzten Tagen spürt man, dass ein kleiner Funke genügt, um einen Flächenbrand auszulösen. Nachdem es am 8. November zu Verhaftungen gekommen ist, beschließt noch am Abend ein selbsternannter »Vollzugsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates Berlin«, für den 9. November zum Generalstreik und zu Massendemonstrationen aufzurufen. Der Arbeiter- und Soldatenrat ist die illegale Organisation der Berliner Arbeiter, in der sich auch Vertreter sozialistischer Parteien und Gruppen zusammengefunden haben. Ein Gremium, in dem man sich beraten und abstimmen kann, aber keine Revolutionszentrale. Noch in der Nacht entstehen zwei Flugblätter, die am frühen Morgen verteilt werden, aber nur in kleiner Auflage und in wenigen Betrieben.
Im einen, unterzeichnet vom Vollzugsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates, heißt es: »Arbeiter, Soldaten, Genossen! Die Entscheidungsstunde ist da! … Wir fordern nicht Abdankung einer Person, sondern Republik! Die sozialistische Republik mit allen ihren Konsequenzen. Auf zum Kampf für Friede, Freiheit und Brot. Heraus aus den Betrieben. Heraus aus den Kasernen! Reicht Euch die Hände. Es lebe die sozialistische Republik.« Das andere stammt von der »Spartakusgruppe«, entschiedenen sozialistischen Kriegsgegnern um Karl Liebknecht, die sich nach dem legendären Führer eines Sklavenaufstands im Römischen Reich benannt hat. Ihr Flugblatt fordert die Beseitigung der Dynastien, die Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten, die Übernahme der Regierung durch die Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte, die sofortige Verbindung mit der russischen Arbeiterrepublik und endet mit einem »Hoch auf die sozialistische Republik!«. Es sind zwei Flugblätter. Die Spartakusgruppe ist zwar im Vollzugsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates vertreten, aber sie versucht äußerst konsequent, ein eigenes Profil zu zeigen und für ihre speziellen Ziele Propaganda zu betreiben. Nicht nur am 9. November.
In der Morgenausgabe des Vorwärts, den in diesen Tagen fast jeder Berliner Arbeiter zu lesen versucht, erscheint ein Aufruf des Parteivorstands und der Reichstagsfraktion der SPD vom Vorabend. Darin werden die Arbeiter vor »Unbesonnenheiten« gewarnt. Die SPD-Spitze habe am 7. November ultimativ eine Reihe von Forderungen erhoben, die zum Teil bereits erfüllt worden seien. Noch nicht erledigt sei die »Kaiserfrage«, man erwarte aber den Rücktritt des Monarchen unmittelbar nach dem Abschluss des Waffenstillstands und habe das Ultimatum bis zu diesem Zeitpunkt verlängert. Schon um die Mittagszeit werde der Kurier mit den Waffenstillstandsbedingungen in Berlin eintreffen. Die Arbeiter werden aufgefordert, einige wenige Stunden Geduld aufzubringen und mit allen Aktionen abzuwarten. »Eure Kraft und Eure Entschlossenheit verträgt diesen Aufschub.«
Philipp Scheidemann, seit 1917 neben Friedrich Ebert einer der beiden SPD-Vorsitzenden, ist unsicher, ob das an diesem Morgen tatsächlich noch aufrechtzuerhalten ist. Scheidemann ist 53, stammt aus einer Kasseler Handwerkerfamilie und hat Buchdrucker gelernt. Mit 18 Jahren ist er in die damals illegale SPD eingetreten und zielstrebig in ihr aufgestiegen. Seit 1903 gehört er dem Reichstag an, 1911 wird er Mitglied des Parteivorstands und seit 1913 ist er einer der beiden Vorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion. Scheidemann ist ein sehr guter Redner und hat eine ausgezeichnete Nase für Stimmungen; er spürt, was angesagt und notwendig ist. Seit Anfang Oktober 1918 ist Philipp Scheidemann als »Staatssekretär« (in unserem heutigen Sprachgebrauch »Minister«) Mitglied der Reichsregierung; er weiß, dass inzwischen von Kiel bis München die Stimmung eindeutig ist: »Fort mit dem Kaiser!«
Am frühen Morgen des 9. November, noch vor sieben Uhr, ruft Scheidemann zum wiederholten Mal drängend in der Reichskanzlei an und erklärt, die Abdankung Wilhelms II. sei überfällig. Wenn der Kaiser nicht sofort zurücktrete, dann wisse er nicht, wie er und die anderen Männer der SPD-Spitze die Leute noch davon abhalten können, auf die Straße zu gehen. Scheidemann kündigt an, dass er sein Amt als Staatssekretär niederlegen werde, wenn der Kaiser in einer Stunde nicht zurückgetreten sei. Auch Reichskanzler Prinz Max von Baden sitzt wie auf Kohlen, aber er hat keine Neuigkeiten aus dem Großen Hauptquartier im belgischen Spa, wohin sich der Kaiser am 29. Oktober begeben hat.
Prinz Max hat erst am 3. Oktober das Amt des Reichskanzlers und das des Preußischen Ministerpräsidenten übernommen. Er gilt als liberal und soll vor allem im Ausland, besonders bei den Kriegsgegnern den Eindruck erwecken, es habe sich etwas geändert im preußisch-militaristischen Deutschland. Aus diesem Grund hat er auch die Aufgabe, Sozialdemokraten und bürgerliche Demokraten mit in die Regierung einzubeziehen. Seine erste gewichtige Amtshandlung war es, bei den Gegnern um Waffenstillstand zu ersuchen. Der großherzogliche Prinz aus dem Südwesten hat die Aufgabe nur übernommen, weil er mit dem Kaiser verwandtschaftlich verbunden ist und der Kaiser ihm seine Unterstützung zugesagt hat. Dass sich Wilhelm II., als ihm der Druck in Berlin zu viel wurde, einfach zu seinen Generalen nach Spa abgesetzt hat, stürzt Max von Baden in eine tiefe Krise. Er hat schon seit Tagen keinen Zugang mehr zum Kaiser und fühlt sich zugleich vollständig von ihm abhängig.
Am Morgen des 9. November ist der Oberbefehlshaber in den Marken noch sehr zuversichtlich, dass in der Reichshauptstadt eine Revolution verhindert oder sofort niedergeschlagen werden kann. Generaloberst Alexander von Linsingen weiß zwar, dass inzwischen in vielen Städten des Deutschen Reiches Arbeiter- und Soldatenräte die Macht übernommen haben, aber er ist der festen Überzeugung, dass noch nichts verloren ist, solange Berlin gehalten werden kann. Er hat die Bildung von Räten in Berlin ausdrücklich verboten und vorsorglich in den vergangenen Tagen als besonders kaisertreu geltende Truppenteile zur Verstärkung in die Stadt geholt. Mehrere Tausend Soldaten, darunter die Garde und die »Naumburger Jäger«, sichern im Zentrum das Regierungsviertel und wichtige strategische Punkte. Sie sind mit Maschinengewehren ausgerüstet, mit Artillerie und Panzerkraftwagen. Auch Flugzeuge mit Bomben stehen bereit. Der Oberbefehlshaber in den Marken ist auf alles vorbereitet. Am Abend des 7. November hat er dem Kanzler versichert, er könne Berlin »unter allen Umständen« halten. »Er würde allerdings unter Umständen scharf zufassen, auch Artillerie verwenden müssen.« Der Kanzler ist einverstanden. »Beschränkungen wurden ihm von mir in keiner Weise auferlegt«, erklärt Max von Baden lapidar in seinen Erinnerungen.
Gewisse Vorkehrungen für bewaffnete Auseinandersetzungen hat man auch auf Seiten der sozialistischen Arbeiterbewegung getroffen. Sowohl die Spartakusgruppe als auch die »Revolutionären Obleute«, eine illegale Organisation von Berliner Betriebsvertrauensleuten, haben Verstecke mit Pistolen und Gewehren angelegt. An einzelne Handfeuerwaffen zu kommen ist in Zeiten nicht schwer, in denen sich viele Soldaten selbstständig aus dem Heer »entlassen« und auf den Heimweg machen.
Für die Aktiven in den sozialistischen Organisationen beginnt der 9. November sehr früh. Unter ihnen ist Cläre Derfert-Casper, die gemeinsam mit einem Kollegen für die Waffen- und Munitionsfabriken in der Kaiserin-Augusta-Allee eingeteilt ist. »Zur ersten Schicht standen wir beide vor der Waffenfabrik und verteilten Flugblätter, in denen die Arbeiter aufgefordert wurden, die Betriebe zu verlassen. Nachdem wir diese Aufgabe gegen 7 Uhr beendet hatten, halfen wir schnell den anderen Genossen die Revolver auspacken und die Patronen in die Magazine füllen.« Wie in vielen anderen Betrieben versammelt sich auch in den Schwartzkopff-Werken bereits frühmorgens die Belegschaft, erinnert sich Paul Walter. »Einige Kollegen hatten bereits Transparente angefertigt mit der Losung: Nie wieder Krieg! Nieder mit der Monarchie! Wir wollen Frieden und Brot! Es bildete sich ein Demonstrationszug, der etwa 4000 Menschen umfasste und dem sich später noch die Arbeiter der AEG Brunnenstraße und der AEG Ackerstraße anschlossen.«
Gegen acht Uhr beginnt in den ersten Betrieben der Generalstreik. Arbeiter machen sich in Demonstrationszügen auf den Weg in die Innenstadt. Ernste Entschlossenheit prägt diese Demonstrationszüge. Fröhliche Gesichter sieht man am Morgen des 9. November nicht. Keiner der Demonstranten weiß, ob er den Abend dieses Tages erleben wird. Sie machen sich dennoch auf den Weg, weil jetzt endlich Schluss sein muss, koste es, was es wolle.
Um 9 Uhr tritt in der Reichskanzlei das Regierungskabinett zusammen, nimmt den Rücktritt Scheidemanns zur Kenntnis und vertagt sich auf 12 Uhr. Vom Kaiser gibt es nichts Neues.
Zur selben Zeit treffen sich im SPD-Fraktionszimmer des Reichstages führende Sozialdemokraten – die Mitglieder des Partei- und des Fraktionsvorstands, zahlreiche Abgeordnete, die Führung der Berliner Organisation und auch die Berliner SPD-Betriebsvertrauensleute. Die einlaufenden Nachrichten und Berichte widersprechen sich zum Teil erheblich, aber sie lassen doch keinen Zweifel mehr zu: Die Arbeiter marschieren. Die SPD muss handeln, wenn sie den Kontakt zur Berliner Arbeiterschaft nicht verlieren will.
Der SPD-Reichstagsabgeordnete Otto Wels eröffnet die Sitzung mit den Betriebsvertrauensleuten im völlig überfüllten Saal. Wels gehört nicht zu denen, die bislang die SPD nach außen prominent vertreten haben. Obwohl er Mitglied des Parteivorstandes ist, hat er die Bühne Parteifreunden überlassen – in diesen Zeiten ist das kein Nachteil. Wels ist gelernter Tapezierer, seit Längerem Gewerkschafts- und Parteifunktionär, ein zupackender Mann Mitte 40, der keine Angst vor Entscheidungen hat und etwas erreichen will: »Die Würfel sind gefallen! Geredet wird nicht mehr! Heraus aus den Betrieben, auf die Straßen.« Wels verkündet den versammelten Betriebsvertrauensleuten auch die Parole, mit der sich die SPD äußerst erfolgreich zurück ins Spiel bringen wird: »Von heute ab gibt es keinen Streit mehr in der Arbeiterschaft, heute kämpfen wir den Entscheidungskampf unter dem alten gemeinsamen Banner.« Die im Krieg erfolgte Abspaltung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) von der SPD soll von nun an ganz in den Hintergrund treten. »Heute mischt sich vielleicht unser Blut mit dem unserer Arbeiterbrüder im gemeinsamen Kampf. Komme, was kommen mag, jetzt heißt es vorwärts, durch Kampf zum Sieg.« Die Sitzung dauert nur wenige Minuten, dann machen sich die Vertrauensleute auf den Weg zu ihren Kollegen, die zum Teil schon auf dem Marsch in die Berliner Innenstadt sind.
Mitglieder des SPD-Parteivorstands und der Fraktionsleitung verständigen sich darauf, sofort mit der USPD in Verbindung zu treten. Man will sich möglichst schnell mit den Unabhängigen über eine gemeinsame Regierung verständigen, trifft aber zunächst nur Vorstandsmitglieder an, die allein, ohne ihren Vorsitzenden Hugo Haase, über keinerlei Vereinbarungen sprechen wollen. Haase hält sich nicht in Berlin auf, sondern in Hamburg, um sich dort ein Bild von der Revolution zu machen. Man erwartet ihn am Abend zurück. Ohne ihn kann es keine bindenden Zusagen über eine Regierungsbeteiligung geben.
Inzwischen ist es zehn Uhr geworden, und es sind bereits Hunderttausende unterwegs. Auch Frauen schließen sich an – zum Teil mit Kindern. Sie ziehen zu den Kasernen: »Brüder, nicht schießen«. Die spärlich vorhandenen Waffen werden in den hinteren Reihen der Demonstrationszüge getragen. Die Demonstranten wollen keine Konfrontation – rein militärisch betrachtet, sind sie hoffnungslos unterlegen –, und doch scheint sie unvermeidlich. Die gewaltigen Demonstrationszüge weichen der Auseinandersetzung nicht aus. Truppen und Polizei haben den Befehl, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Zeitweise liegt eine fast nicht zu ertragende Spannung über der Hauptstadt.
Sie löst sich dann allerdings recht schnell auf, denn die Soldaten sind nicht bereit, auf Demonstranten zu schießen. Immer mehr Truppenteile verbrüdern sich mit den marschierenden Arbeitern, verteilen Waffen, verweigern ihren Offizieren den Gehorsam, wählen Soldatenräte und schließen sich der Revolutionsbewegung an. Selbst die Naumburger Jäger gehen zu den Aufständischen über.
Eine wichtige Rolle spielt dabei Otto Wels: Er spricht am Morgen zu den Naumburger Jägern, die im Hof der Alexanderkaserne angetreten sind. Eine Abordnung der Einheit hat morgens darum gebeten, dass ein Mann aus dem SPD-Vorstand zur Truppe spricht und ihr die politische Lage erläutert. Wels sagt zu, lässt sich vom Vorwärts-Gebäude in die Kaserne fahren, weiß aber nicht, was ihn erwartet. Er macht seine Sache glänzend, tastet sich beim Reden langsam vor und findet genau den richtigen Ton. Die Offiziere lassen ihn gewähren, und er überzeugt die Soldaten schließlich, dass sie nicht schießen dürfen und einen Bürgerkrieg verhindern müssen.
An der Kaserne der Gardefüsiliere in der Chausseestraße fallen allerdings noch vor Mittag erste tödliche Schüsse. Als sich ein Demonstrationszug der Kaserne nähert, wird er von den Soldaten jubelnd begrüßt. Sie rufen den Demonstranten zu, sie seien von ihren Wachmannschaften eingesperrt worden und würden daran gehindert, die Kaserne zu verlassen. Man solle sie befreien, sie wollten sich anschließen. Natürlich lassen sich das die demonstrierenden Arbeiter nicht zweimal sagen. Sie brechen die Türen der Kaserne auf und stürmen hinein. Ein Offizier erschießt gezielt aus der Menge heraus drei der eindringenden Demonstranten. Der 26-jährige Erich Habersaath, Metallarbeiter und führender Kopf der sozialistischen Jugendbewegung, der Monteur Franz Schwengler und der Gastwirt Richard Glatte sind die ersten Toten des 9. November. Am Ende des Tages werden es 15 sein.
Dass es nicht mehr Tote gibt, ist besonders Otto Wels zu verdanken. Sein Erfolg bei den Naumburger Jägern macht ihn mutig und zuversichtlich. Er zieht von einer Kaserne zur nächsten und hat großen Anteil daran, dass der 9. November 1918 in Berlin nicht in einem Blutbad endet. Otto Wels entpuppt sich an diesem Tag als Meister der politischen Taktik, der auch in schwierigen Situationen den Überblick behält. So lässt er beispielsweise einen Trupp der Naumburger Jäger abstellen, der das Vorwärts-Gebäude sichert. Etwa 100 Mann, bewaffnet mit Maschinengewehren, beziehen Position, um zu verhindern, dass radikale Demonstranten das Gebäude besetzen und das Erscheinen der Parteizeitung verhindern oder gar den Vorwärts für eigene Zwecke missbrauchen.
Das Vorwärts-Gebäude wird an diesem 9. November zur Leitstelle der Parteizentrale. Hier gründet die SPD-Spitze am Vormittag in aller Eile einen Arbeiter- und Soldatenrat, nachdem sie erkennt, dass ihr Aufruf zum Abwarten, den der Vorwärts am Morgen veröffentlicht hat, erfolglos ist. Die neuen Organisationsformen der Revolutionsbewegung werden gezielt kopiert und mit eigenem Führungspersonal besetzt. Diesem sogenannten Arbeiter- und Soldatenrat gehören Friedrich Ebert, Otto Braun, Otto Wels und andere leitende Funktionäre der Partei an. Auch noch am Vormittag erklären der zweite sozialdemokratische Staatssekretär und die Unterstaatssekretäre ihren Rücktritt. Die SPD scheidet aus der Regierung aus.
Selbst im Großen Hauptquartier in Spa kommen die Dinge am Morgen des 9. November endlich in Bewegung. Am Vortag hat der Kaiser der Obersten Heeresleitung (OHL) zwar den Auftrag erteilt, Vorbereitungen für die Rückgewinnung der Heimat zu treffen. »Ich stelle mich an die Spitze der aus der Front gezogenen königstreuen Truppen und erobere mir mein Deutschland wieder.« Aber der Chef der OHL Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und sein neuer Generalquartiermeister Wilhelm Groener sind der Überzeugung, dass dieses Vorhaben des Kaisers undurchführbar ist. Hindenburg will das dem Kaiser allerdings nicht selbst sagen, weil er keinesfalls mit einer möglichen Abdankung in Verbindung gebracht werden will. In Absprache mit Hindenburg bestellt deshalb Groener für den Morgen des 9. November Truppenkommandeure ins Große Hauptquartier. Auf die klare Frage »Wird es möglich sein, dass der Kaiser an der Spitze der Truppen die Heimat im Kampfe wiedererobert?« antwortet ein Einziger der Offiziere mit Ja, 23 antworten mit Nein, und 15 formulieren mehr oder weniger deutlich ihre Zweifel. Dieses Ergebnis teilt Groener dem Kaiser beim Vortrag um 10 Uhr mit.
Für Wilhelm II. ist schockierend, was er da zu hören bekommt, aber er ist offenbar nicht in der Lage, daraus vernünftige Konsequenzen zu ziehen. Als einer der anwesenden Offiziere ins Gespräch bringt, Wilhelm könne doch vielleicht als Kaiser zurücktreten, aber weiterhin König von Preußen bleiben, scheint ihm das die Rettung zu sein. Dass er damit die verfassungsrechtliche Grundlage des Deutschen Reiches sprengen würde, weil laut Verfassung der König von Preußen stets auch Deutscher Kaiser ist, ist Wilhelm II. nicht bewusst oder gleichgültig. Der Württembergische Generalleutnant Groener gibt in dieser Situation die Zurückhaltung auf, die er sich eigentlich in allen Abdankungsfragen auferlegt hat. »Ich erklärte in schärferer Form, als ich es sonst wohl getan hätte, was ich zu sagen für meine Pflicht hielt«, schreibt er in seinen Erinnerungen. »Das Heer wird unter seinen Führern und Kommandierenden Generalen in Ruhe und Ordnung in die Heimat zurückmarschieren, aber nicht unter dem Befehl Eurer Majestät, denn es steht nicht mehr hinter Eurer Majestät.« Groener ist sich durchaus bewusst, was er da sagt. »Wenn mich einer der Anwesenden in diesem Augenblick über den Haufen geschossen hätte, so hätte mich das nicht gewundert, denn diese Worte waren eine Ungeheuerlichkeit in einem Kreise, in dem nur der alte Hindenburg, und auch dieser nur mit größter Überwindung, die Nüchternheit aufbrachte, die Dinge so zu sehen, wie sie waren.«
In der Berliner Reichskanzlei wartet um diese Zeit der Reichskanzler immer ungeduldiger und nervöser auf die Rücktrittserklärung des Kaisers. Ihm wird von immer neuen gewaltigen Demonstrationszügen berichtet, die im Anmarsch auf die Innenstadt seien. Überall verbrüdern sich Soldaten und Demonstranten. Wenn diese Bewegung überhaupt noch aufgehalten oder kontrolliert werden kann, dann nur durch den sofortigen Rücktritt Wilhelms II. Im Halbstundentakt ruft Prinz Max jetzt im Großen Hauptquartier an, um eine Entscheidung des Kaisers zu bekommen.
Um die Mittagszeit überstürzen sich dann die Ereignisse im wahrsten Sinn des Wortes. Es geschehen Dinge gleichzeitig, die nicht recht zusammenzupassen scheinen. Das hat einerseits mit den Kommunikationsmöglichkeiten zu tun, andererseits kreuzen sich um die Mittagszeit aber auch Aktivitäten mit sehr unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Zielsetzungen. Da gibt es einmal letzte angestrengte Versuche, eine Revolution doch noch zu verhindern, indem der Kaiser zurücktritt und die Macht geordnet einem Mann übergeben wird, der sie verantwortungsbewusst wahrnimmt und der Einfluss auf die demonstrierenden Arbeiter hat. Dieser Mann kann nach Lage der Dinge nur Friedrich Ebert sein, der Vorsitzende der SPD. Andererseits ist die Revolution aber bereits seit Stunden mit voller Wucht im Gang und stößt praktisch auf keinen Widerstand. Im Grunde hat sie sich bereits durchgesetzt, das alte Regime liegt um die Mittagszeit am Boden. Das wiederum veranlasst die SPD-Spitze gegenüber den alten Gewalten die Forderung zu erheben, dass ihr die Macht übertragen werden soll.
Der Reichskanzler hört am späten Vormittag aus dem Großen Hauptquartier, dass Wilhelm II. sich entschieden habe abzudanken; der Text der Abdankungserklärung folge in einer halben Stunde. Natürlich kommt er nicht. Um einer Absetzung des Kaisers durch die Revolutionäre zuvorzukommen, gibt der Kanzler kurz vor Mittag eine Erklärung an das Wolffsche Telegraphenbüro, die wichtigste Berliner Presseagentur: »Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen«, heißt es da. Friedrich Ebert soll Reichskanzler werden, und es sollen Wahlen für eine Verfassunggebende Nationalversammlung ausgeschrieben werden, die dann über die künftige Staatsform entscheiden soll.
Praktisch zeitgleich erscheint eine Extraausgabe des Vorwärts mit der übergroßen Schlagzeile »Generalstreik!«. Im Text heißt es: »Der Arbeiter- und Soldatenrat von Berlin hat den Generalstreik beschlossen. Alle Betriebe stehen still. Die notwendige Versorgung der Bevölkerung wird aufrechterhalten. Ein großer Teil der Garnison hat sich in geschlossenen Truppenkörpern mit Maschinengewehren dem Arbeiter- und Soldatenrat zur Verfügung gestellt. Die Bewegung wird gemeinschaftlich geleitet von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Unabhängigen sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Arbeiter, Soldaten, sorgt für Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung. Es lebe die soziale Republik! Der Arbeiter- und Soldatenrat.«
Als der Text in Druck ging, war das reines Wunschdenken der SPD-Spitze. Von einer Leitung der Bewegung durch die SPD kann keine Rede sein, ihr »Arbeiter- und Soldatenrat« hatte keinerlei Einfluss auf das Zustandekommen des Generalstreiks, und auch die USPD kann nicht im Ernst für sich in Anspruch nehmen, diese gewaltige Massenerhebung zu »leiten«. Die Arbeiter und Soldaten wollen ein sofortiges Ende des verlorenen und sinnlosen Krieges, und sie sind bereit, alles beiseitezuschaffen, was der Verwirklichung dieser Forderung im Weg steht. Die Revolutionsbewegung ist am 9. November vor allem eine radikale Friedensbewegung. Frieden – jetzt! Alles andere wird man sehen. Es gibt kein einheitliches politisches Gesamtprogramm, die Bewegung ist spontan und vielfältig, und sie hat viele lokale und regionale Zentren.