Menschen, die sich nicht zu ihrer Vergangenheit bekennen mögen, mogeln sich durch die Gegenwart.
Reinhold Ruthe
Für einen Trainer in den achtziger Jahren war das Alltag. Dass mehr oder weniger bekannte Gesichter auf dem Vereinsgelände auftauchten, einen zur Seite nahmen und einem zuraunten: »Ich hab da ein echtes Talent für dich. Schau ihn dir doch mal im Training an.« So war es auch 1980, als mich nach dem Training ein Bekannter von einem jungen Kerl namens Uli Borowka ansprach und um ein Probetraining bat. Ich willigte ein und lernte Uli kennen. Ein Kraftpaket, das beim ersten Schusstraining die Bälle über den Fangzaun jagte, aber sonst doch eher ungeschliffen wirkte. Einige Tage lang schaute ich mir den Jungen an, dann sagte ich ihm: »Nun kannst du auch hier bleiben!« Uli hatte etwas, das mich nachhaltig beeindruckte. Es war weniger Talent als vielmehr eine unglaubliche Portion Willensstärke, Ehrgeiz und Disziplin. Uli sollte mich in den folgenden Jahren nicht enttäuschen. Schon im ersten Trainingslager war er einfach nicht kleinzukriegen. Ich habe wenige Fußballer in meiner Karriere gesehen, die so hart und unerbittlich arbeiten konnten wie Uli Borowka. Gleichzeitig blieb er immer der freundliche und nette Junge aus Hemer, der stets den Schalk im Nacken hatte.
Er entwickelte sich zum Prototyp eines Fußballers, der fehlendes Talent mit Fleiß und Ehrgeiz ausgleicht und damit Erfolg hat. Ein Kämpfer, ein Arbeiter. Aber auch jemand, der die Brüche des Lebens erfahren musste. Schon als junger Fußballer musste er aufpassen, durch den plötzlichen Ruhm nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wie viele andere vor und nach ihm war er empfänglich für die Vorzüge des Lebens als prominenter Fußballer. Doch letztlich hat er sich auch dagegen erfolgreich gewehrt. Nach meinem Wechsel 1987 zum FC Bayern verloren wir uns aus den Augen, Uli ging zu Werder Bremen, wurde Nationalspieler, Deutscher Meister und Europapokalsieger. Ich habe mich stets aus der Ferne für seine so erfolgreiche Karriere gefreut. Als ihn die Alkoholabhängigkeit fast komplett aus der Bahn geworfen hätte, arbeitete ich gerade als Trainer in Spanien und Portugal. Erst nach seiner erfolgreichen Therapie erfuhr ich von seinem Kampf gegen die Sucht. Typisch Uli: So mutig und unerschrocken wie er auf dem Fußballplatz seinen Gegenspielern gegenübertrat, hat er auch den Kampf gegen die Abhängigkeit aufgenommen. Dass er diesen Kampf bis heute erfolgreich bestreitet, spricht für Ulis Charakter und einen Willen, der sprichwörtlich Berge versetzen kann.
Ulis Biografie ist auch ein Beispiel dafür, dass es im Leben vor allem darauf ankommt, nie aufzugeben, nie zu resignieren, den Kampf immer anzunehmen. Egal wie übermächtig der Gegner auch wirkt. Ich habe in meinem Leben viele Menschen kennengelernt, die auf halber Strecke aufgegeben haben. Uli gehört nicht dazu. Er war ein Nobody, der sich ganz nach oben gearbeitet hat, abgestürzt ist und sich doch wieder aufgerappelt hat. Ein feiner Kerl. Ich denke zurück an 1980 und unsere erste Begegnung auf den Trainingsplätzen von Borussia Mönchengladbach. Und daran, dass ich damals eine gute Entscheidung getroffen habe.
Wir trafen uns das erste Mal im Frühjahr 2011. Für ein Interview in der 11FREUNDE-Reihe »Der Fußball, mein Leben und ich« hatte mein Kollege Dirk Gieselmann ein Treffen in einer Kneipe in Berlin-Friedrichshain vereinbart. In einer Kneipe. Mit Uli Borowka. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Die typischen Vorurteile und Unsicherheiten im Umgang mit Alkoholikern. Was ich von Uli Borowka hielt, das wusste ich. Als Fan von Werder Bremen war mir der »Eisenfuß« natürlich ein Begriff. Ein kantiger Verteidiger, der lieber die einfache Grätsche wählte als einen komplizierten Doppelpass. Der den Gegenspielern Angst machte und damit seinen Fans das sichere Gefühl gab, den Härtesten der Harten auf ihrer Seite zu haben. Der Fan in mir wollte genau das hören: Die Kloppergeschichten, die legendären Zweikämpfe mit den Urviechern der achtziger und neunziger Jahre, Heldengeschichten, die nach Schweiß und ein bisschen Blut schmecken. Der Journalist wollte das natürlich auch, aber vor allem den trockenen Alkoholiker kennenlernen, der davon berichtet, wie man sich in der Nacht dem Suff hingeben und am anderen Morgen ein Bundesligaspiel bestreiten kann. Normalerweise sprechen Fußballer nicht über solche Sachen.
Nach dem etwa 90-minütigen Interview waren mein Kollege und ich wie erschlagen. Uns war sofort klar: das eben war kein normales Interview. Keine Aneinanderreihung von nostalgischen Erinnerungen, sondern die Biografie eines Mannes, der so viel Dreck gefressen hat, dass andere wohl dran erstickt wären, und der heute trotzdem mit sich im Reinen ist. So etwas hatte ich noch nie bei einem Gesprächspartner erlebt. Ausgerechnet der brutal coole Haudegen der achtziger Jahre, der vielleicht größte »Bad Boy« der Bundesliga, hatte für uns die Hosen runtergelassen. Ohne sich dabei in Klagen über die Ungerechtigkeit des Lebens zu ergehen oder sich auf peinliche Art und Weise selbst zu geißeln. Auf eine beeindruckend eindringliche Art hatte es Uli Borowka geschafft, uns seine Geschichte nahezubringen.
Die Resonanz auf das Interview war überwältigend. Nicht nur für uns, sondern auch für Uli und seine Frau Claudia. Wildfremde Menschen bedankten sich für die offenen Worte. Viele von ihnen hatten selbst mit der Sucht zu kämpfen. Alkoholismus, das wurde durch dieses Interview mal wieder deutlich, ist das große gesellschaftliche Tabuthema unserer Zeit. Und die Menschen sind dankbar, wenn mal jemand den Mund aufmacht, von seinem eigenen Versagen, aber auch dem erfolgreichen Kampf gegen den Alkohol berichtet – und damit all denen Mut macht, die Mut brauchen.
Deshalb bin ich stolz darauf, dass Ulis Frau Claudia, die ihren Mann von diesem Buch schließlich überzeugte, mir im Spätsommer 2011 den Auftrag gab, Ulis Biografie zu schreiben. Viele Stunden sprachen wir über die Stationen seines Lebens, dass ich sie letztlich in der Ich-Form zu Papier gebracht habe, ist der stilistischen Auswahl geschuldet. Es ist die Geschichte von Uli Borowka, Fußballer und Alkoholiker, aber es ist auch eine Geschichte von Aufstieg, Erfolgen, Abstieg, Niederlagen – und letztlich Zuversicht. Denn das ist Uli: Fleischgewordene Zuversicht und Hoffnung darauf, dass das Leben nicht zwangsläufig beendet sein muss, selbst wenn man das eigene Leben mit Vollgas gegen die Wand gefahren hat.
März 1996. Vor vier Jahren war ich auf dem Gipfel. Damals in Lissabon. 2:0 mit Werder Bremen im Finale des Europapokals der Pokalsieger gegen den AS Monaco. Europapokalsieger. Was für ein schönes Wort. Dieter Eilts schor mir eine Glatze, ich sah aus wie eine Bowlingkugel. Eine Bowlingkugel, die gerade den Europapokal gewonnen hatte! Werder und Monaco. Lissabon. Allofs und Rufer. Rehhagel betritt deutschen Boden. Die Fans. Der Jubel. Der Ruhm. Das Gefühl, einer der besten Fußballer der Welt zu sein. Der Eisenfuß. Die Axt. Ein Held. Meine Fresse, ist das lange her.
Jetzt sitze ich auf einer dreckigen Matratze in meinem leeren Wohnzimmer in meiner leeren Villa. Voll bin nur ich und das nicht zu knapp. Habe einen Kasten Bier und vier Flaschen Wein gesoffen. Oder waren es nur zwei Flaschen? Drei? Fünf? Scheißegal. Vor vier Jahren stand an dieser Stelle noch ein teures Designersofa. Als ich nach Hause kam, saß dort meine Frau mit meinen beiden Kindern und wartete auf mich. Ich erzählte ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte aus dem Stadion des Lichts in Lissabon. Zwei wunderbare Kinder, eine bildhübsche Frau. Eine 250-Quadratmeter-Villa im noblen Bremer Stadtteil Oberneuland. Drei Autos vor der Tür. Stammspieler bei Werder Bremen. Der meist gefürchtete Abwehrspieler der Bundesliga. Europapokalsieger. Ich hatte alles.
Jetzt sind sie alle weg. Meine Frau ist mit unseren beiden Kindern zu ihren Eltern geflohen. Weil ich sie sturzbetrunken im Streit mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen habe. Sie wird nicht mehr zurückkommen. Bei Werder Bremen haben sie mich rausgeschmissen. Sie sagen, ich habe ein Alkoholproblem. Ich bin 33 Jahre alt, die Knie tun weh, meine Karriere ist im Eimer. Die Autos vor der Tür habe ich verkauft. Vergangene Woche habe ich ein Umzugsunternehmen angerufen. Die Möbel, die Klamotten, die Fotos an den Wänden, Tische, Schränke, Stühle, Teller, Tassen, Gläser, Pokale, Medaillen und Urkunden, alles ist weg. Ich habe den Möbelpackern die neue Adresse von meiner Frau und von meinen Eltern in die Hände gedrückt. Weg, bloß weg mit dem ganzen Zeugs. Der Makler war schon hier, die Villa wird verkauft. Nur noch ich bin da. Ich, die Matratze, ein Kühlraum voller Alkohol und die Hausapotheke.
Ich besaufe mich, das kann ich gut. Erstaunlich, wie viel ein Mensch verträgt, bis er den Verstand verliert.
Da! Ein Schrei! Der kam von oben, aus den Kinderzimmern! Mein Sohn Tomek ist fünf Jahre alt und hatte früher immer so schlimme Ohrenschmerzen. Jetzt schreit er wieder. Nach mir, seinem Papa!
Ich renne die Stufen nach oben, stürze über den Flur und öffne die Tür zu Tomeks Zimmer. Aber da ist nichts. Ich höre den Schrei, ganz klar und deutlich, aber das Zimmer ist leer. Tomeks Kinderbettchen, seine Spielsachen, das bunte Poster an der Wand, nichts ist mehr da. Ich höre meinen Sohn schreien, aber er ist gar nicht hier. Die Einsamkeit frisst sich durch meine Eingeweide, ich schließe die Augen. Das Schreien verstummt.
Zurück auf der Matratze. Ich öffne die nächste Flasche Wein. Leere sie, öffne die nächste. Versuche, die Einsamkeit, die Leere, die Angst und die Trauer zu ertränken. Aber heute klappt das nicht. Heute nicht. Heute muss ich zu drastischeren Maßnahmen greifen.
Ich gehe ins Badezimmer und hole den Karton mit den Tabletten. Schmerztabletten, Schlaftabletten, der ganze Karton ist voll damit. In der Küche steht noch ein letztes großes Glas. Tabletten und Glas stelle ich vor meine Matratze. Mir ist da eben ein Gedanke gekommen. Was, wenn ich morgen nicht mehr aufwache? Würde mich jemand vermissen? Braucht mich noch jemand? Brauche ich mich noch? Wäre es nicht besser, der ganzen Scheiße ein Ende zu bereiten? Sich hier und jetzt zu verabschieden? Was hindert mich daran?
Ich schütte die Tabletten ins Glas. Eine Handbreit Schmerzmittel und Schlaftabletten vermengt mit Rotwein und Bier. Minutenlang sitze ich da und starre auf den selbstgemachten Cocktail. Oder sind es Stunden? Jetzt. Ich nehme das Glas und leere es in einem Zug.
Mein Name ist Uli Borowka und ich werde mir jetzt das Leben nehmen.
»Ulrich, spiel doch endlich Fußball!« Das musste mein Vater Ernst sein. Er stand hinter der Bande, wild gestikulierend. Selbstvergessen hockte ich auf dem Boden und formte behutsam Türmchen aus der roten Asche. Für mich war das hier ein herrlicher und riesengroßer Spielplatz. Erst die Worte meines Vaters rüttelten mich auf. Das hier war kein Sandkasten, sondern mein allererstes Fußballspiel. Auch wenn ich nur auf Probe für die ruhmreiche SG Hemer 08 antrat: Ich ließ die Türmchen Türmchen sein und stellte mich dem Angriff der gegnerischen Mannschaft entgegen. Jetzt würde ich meinem Vater zeigen, was für ein großartiger Fußballer ich doch war! KLATSCH! Vom Fuß meines Gegenspielers prallte der Ball direkt in mein Gesicht. Meine Wangen, meine Nase, meine Lippen, alles brannte wie Feuer. Wie reagierte ich als fünfjähriger Debütant? Lächelte ich den Schmerz einfach weg und fegte den Schuldigen bei nächster Gelegenheit über die Seitenlinie? Von wegen. Ich fing an zu heulen. Die Tränen kullerten mir nur so über die Wangen, hilfesuchend schaute ich zur Seitenlinie. Da standen sie: Meine Eltern Ernst und Erika. Meine kleine Schwester Astrid, meine Großeltern. Meine Familie. Und jetzt stand ich hier und jaulte wie ein Schlosshund. Meine Mutter wäre am liebsten auf den Platz gerannt, um mich in den Arm zu nehmen. Mein Vater aber sah mich nur an. Ganz ruhig, so wie es seine Art war. Er sagte kein Wort, aber ich wusste auch so, was er mir mitteilen wollte: Stell dich nicht so an! Und jetzt spiel endlich Fußball …
Ich bin am 19. Mai 1962 in Menden, einer kleinen Stadt im Sauerland, geboren. Meine Mutter, eine gebürtige Oberschlesierin, war 1956 nach Becke-Oese gekommen und hatte dort meinen Vater, einen gelernten Armaturenschleifer, kennen- und lieben gelernt. 1964 kam meine Schwester Astrid zur Welt. Mit zwei Kindern im Gepäck wagten meine Eltern dann den großen Schritt in die Selbstständigkeit – und eröffneten im Sommer 1970 die Vereinsgaststätte »Zum Hillebach« vom FC Oese 49. Die Gaststätte wurde unser Lebensmittelpunkt und unser Zuhause, schließlich wohnten wir direkt über der Kneipe. Lediglich der Hillebach und eine kleine Brücke trennten unser Grundstück vom Sportplatz.
In den frühen siebziger Jahren war der kleine Ascheplatz der Mittelpunkt des örtlichen sozialen Lebens. Und wer in Oese zum Fußball ging, der schaute auch bei Ernst und Erika Borowka auf ein paar selbst gemachte Frikadellen oder ein Glas Bier vorbei. Arbeit ist das halbe Leben, heißt es. Für meine Eltern gab es nichts anderes. Um sechs Uhr morgens wurde die Gaststätte geputzt, dann eingekauft und das Essen zubereitet. Mittags kamen die ersten Gäste und bestellten ihr Schnitzel, abends schauten die Dorfkicker auf ein Feierabendpils vorbei. Ohne fremde Hilfe, nur zu zweit, hielten meine Eltern den Laden am Laufen. Die Gaststätte war ihr Leben.
Für mich war es das Paradies! Da war der große Saal für die Festlichkeiten. Der Besprechungsraum mit dem Billardtisch, in dem die Trainer mit ihren Spielern vor jeder Partie noch einmal die Aufstellung durchgingen. Der Garten mit den Schirmen und Tischen und dem gleich dahinter verlaufenden Hillebach, der unserer Gaststätte ihren Namen gegeben hatte. Oder der Keller mit dem Tischkicker, in dem es immer ein wenig nach Zigaretten und Bier müffelte. Jahrelang ließ ich hier den kleinen Ball zwischen den Holzfiguren rotieren, bis ich irgendwann so gut war, dass ich bei den Deutschen Meisterschaften teilnahm (und dort am Ende immerhin den neunten Platz belegte). Und natürlich der Ascheplatz, spätestens seit meinen ersten Erfahrungen als Fußballer Dreh- und Angelpunkt meines jungen Lebens.
Wenn ich heute an diese Jahre denke, dann schmeckt die Luft nach Mutterns Frikadellen. Ich sehe meinen Vater hinter dem Tresen, wie er das schäumende Bier aus dem Hahn in die Gläser sprudeln lässt. Ich sehe meine Großeltern, wie sie die Hühner füttern. Ich höre die Schlacke unter meinen Schuhen knirschen und den Motor unseres VW-Käfers mit den Doppelfenstern aufheulen. Und ich denke daran, wie ich mit meinen Kumpels hinter unserem Haus lauerte, bis der Platzwart fort war, damit wir wieder auf das Feld stürmen konnten. Schöne Jahre.
Die Rollenverteilung bei uns zu Hause erschloss sich erst auf den zweiten Blick: Mein Vater war die meiste Zeit sehr ausgeglichen, ein entspannter, in sich ruhender Typ. Natürlich trank er als Gastwirt auch mal eine Runde mit seinen Gästen. Wenn der Andrang am Tresen gerade nicht so groß war, knobelte er mit den Stammkunden um die Wette. Der Verlierer musste die Runden bezahlen, da kamen dann schon einmal mehrere Gläser Bier zusammen. Nur selten verlor mein Vater die Fassung, doch wenn das passierte, konnte er sehr böse werden. Meistens blieben die Streitereien jedoch ohne Folgen, weil meine Mutter die Gefahr roch und das Problem auf ihre Weise löste. »Ernst«, sagte sie immer, »geh doch mal in die Küche und iss einen Happen.« Wenn mein Vater verschwunden war, regelte meine Mutter die Angelegenheit. Sie hatte alles im Griff und war die gute Seele unserer Familie. Hatte ich etwas ausgefressen, dann ging ich selbstverständlich zu ihr. Von meinem Vater brauchte ich kein Mitleid zu erwarten. Das war noch später so, als ich in meinem ersten Trainingslager für Borussia Mönchengladbach vor lauter Schmerzen nachts nicht schlafen konnte und mit zitternden Muskeln in mein Kissen weinte. Wenn ich dann zu Hause anrief, hoffte ich stets, dass meine Mutter den Apparat abheben würde. Mein Vater hätte nur gesagt: Hör auf zu jammern und beiß dich durch. Harte Schale, weicher Kern, so war Ernst Borowka. Nur einmal habe ich als Kind meinen Vater weinen sehen. 1972 lag meine Mutter, der von Geburt an ein Gerinnungsstoff im Blut fehlt, nach einer schweren Unterleibsoperation im Krankenhaus. Fast wäre sie gestorben. Gemeinsam mit meinem Vater und meiner Schwester saß ich bei uns in Oese auf dem elterlichen Bett und betete für meine Mutter. Meinem alten Herrn, unserem starken Beschützer, rollten die Tränen über das Gesicht. Für mich als zehnjährigen Jungen war das schlimmer als jede väterliche Ohrfeige.
Ich glaube, ich war ein relativ anständiges Kind. Auch wenn ich Katastrophen anzog wie ein Magnet Eisensplitter. Im örtlichen Krankenhaus in Hemer war ich Stammgast. Mit vier Jahren fiel ich vom Kletterturm im Kindergarten und biss mir bei der Landung fast die Zunge ab. Mit Lederriemen schnallten mich die Ärzte an Beinen, Armen und Kopf fest und nähten mir die Zungenspitze wieder an. Ohne Betäubung. Einige Jahre später wollte ich meinen Großvater, der mit meiner Oma bei uns im Hinterhaus wohnte, mit einer freihändigen Fahrt auf dem Fahrrad beeindrucken, stürzte drei Meter tief in den Hillebach und riss mir die Hand auf. Und als ich – wie auch immer – meinen Fahrradschlüssel heruntergeschluckt hatte, mussten mich die Krankenschwestern mit Sauerkraut füttern, damit der Schlüssel auf natürliche Weise wieder ans Tageslicht gelangte.
Ähnlich unangenehme Erinnerungen habe ich auch an meine Grundschulzeit. Weil sich ein Mädchen aus meiner Klasse bei einem Sturz gegen die Wand eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte – ich hatte ihr zuvor den Stuhl gemopst – wurde ich ins Rektorzimmer beordert. Dort wartete auch schon Rektor Strothköter. Mit einem Rohrstock prügelte er auf meine kurze Lederhose ein, bis ihm der Arm müde wurde. Heulend schlug ich zu Hause auf, Mitleid erwartend. Meine Eltern sagten nur: »Dann weißt du ja, was du in Zukunft nicht mehr tun darfst.« Das saß! Ein weiteres Beispiel der elterlichen Erziehungsmethoden erfuhr ich Jahre später als 14-jähriger Teenager. Mit meinem Kumpel Wolfgang Hain hatte ich die glorreiche Idee, die erste Zigarette unseres Lebens heimlich in der Kartoffelmiete hinter unserem Haus zu rauchen. Also hockten wir beide eines Nachmittags in diesem eineinhalb Meter in der Erde eingelassenen Vorratsspeicher und schmauchten ganz cool ein paar Kippen. Schon bald zogen die ersten Rauchschwaden aus der Miete, was wiederum meinen Opa alarmierte. Panisch brüllte er durchs Haus: »Die Miete brennt!« Mit einem Eimer Wasser rannte mein Vater in den Garten, doch ein kurzer Blick genügte ihm, um zu wissen, was da wirklich zwischen Kartoffeln und Kohlköpfen vor sich ging. »Wenn ihr beiden Halbstarken unbedingt rauchen wollt, dann habe ich was für euch«, sagte er und schleifte uns in die Gaststätte. Er fischte eine riesige Dannemann-Zigarre aus der Schublade, steckte sie an und schob uns den Kolben zwischen die Zähne. »Schön ein- und wieder ausatmen«, hörten wir seine Stimme zwischen dem beißenden Qualm. Es dauerte nicht lange, bis Wolfgang und ich zu den Toiletten stürmten und das Mittagessen in die Keramik verabschiedeten. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich wieder an die nächste Zigarette herangewagt habe.
Ich habe bereits von meinem Vater erzählt. Man musste ihn schon sehr hartnäckig triezen, damit er die Fassung verlor. Umso absurder, was sich abspielte, wenn dieser Mann dann auf dem Fußballplatz stand. Im gesamten Kreis Iserlohn war Ernst Borowka vom FC Oese 49 als harter Hund gefürchtet. Ein knüppelharter Zweikämpfer, der die regionalen Ascheplätze so zuverlässig umpflügte wie die Bauern ihre Kartoffeläcker. Wenn wir ihm am Wochenende bei seinen 90-minütigen Ausbrüchen zuschauten, dann gab es regelmäßig Rangeleien mit den Meckerrentnern der gegnerischen Mannschaft und wüste Auseinandersetzungen mit den bedauernswerten Schiedsrichtern. Und wenn er dann mal gegen den Ball statt gegen den Gegner trat, tat er das meistens mit der Pike. Noch heute sehe ich diesen etwas klein gewachsenen Wüterich, wie er Gift und Galle speiend über den Platz stiefelte. Es war wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Auf dem Fußballplatz wurde mein Vater zu einem anderen Menschen. Jahre später sollte ich erkennen, wie ähnlich wir uns doch waren.
Denn auch wenn meine Karriere auf so unrühmliche Art begonnen hatte – bald gab es nichts anderes mehr in meinem Leben als Fußball. Trotz Türmchenbaus: Mit fünf Jahren begann ich meine Laufbahn bei der SG Hemer 08, spielte dort drei Jahre und wurde nach dem Umzug nach Oese Mitglied beim FC 49. Zugegeben, sonderlich talentiert war ich nicht. Aber ich liebte dieses Spiel mit jeder Faser meines Körpers und spulte in jedem Spiel wie ein Verrückter einen Kilometer nach dem anderen ab. Die Leistungen des kleinen Derwischs aus Oese blieben nicht unbemerkt. Gleich mehrfach wurde ich für die Kreisauswahl Iserlohn nominiert, und weil ich auch dort wie ein Wahnsinniger die Ascheplätze rauf und runter rannte, erhielt ich im Frühjahr 1974, gerade einmal elf Jahre alt, eine Einladung zur Westfalenauswahl. Tagelang schwebte ich auf Wolke sieben durch die Schule, dann war der große Tag endlich gekommen. Am 16. April 1974 brachte mich mein Vater in die Sportschule Kaiserau, wo sich der zusammengewürfelte Haufen talentierter Nachwuchskicker aus ganz Westfalen auf die ersten Auswahlspiele vorbereiten sollte.
Kaiserau, für mich damals der schönste Ort der Welt! Nicht nur dass man mich in die Westfalenauswahl berufen hatte – zeitgleich bereitete sich hier auch die deutsche Nationalmannschaft auf ein Testspiel gegen die Ungarn vor. Mein Idol Rainer Bonhof, Franz Beckenbauer, Gerd Müller, die Gladbacher Torwartikone Wolfgang Kleff, alle waren sie da. Meine Helden trainierten auf den gleichen Plätzen wie ich! Ich war mir sicher, mit elf Jahren bereits auf dem Höhepunkt meiner Karriere angekommen zu sein. Einen Tag nach unserer Ankunft in Kaiserau, am 17. April 1974, durften wir uns sogar den großartigen 5:0-Sieg im Dortmunder Westfalenstadion anschauen, der Verband hatte uns Freikarten besorgt. Nicht einmal drei Monate später wurde diese Mannschaft Weltmeister. Wenn mir einer in diesen Tagen gesagt hätte, dass ich nur wenige Jahre später gemeinsam mit Wolfgang Kleff das Zimmer bei Auswärtsspielen mit Borussia Mönchengladbach teilen und beim Abschiedsspiel von Rainer Bonhof mit auflaufen würde, ich hätte ihn ganz sicher für geisteskrank erklärt.
Wie schnell und brutal das Fußballgeschäft sein kann, musste ich dann einen Tag nach dem Länderspiel von Dortmund erfahren. Nach der letzten Übungseinheit rief mich unser Auswahltrainer zu sich. »Borowka«, sagte er, »du bist zu klein und schmächtig für unsere Mannschaft. Pack deine Sachen und ruf deine Eltern an, sie sollen dich abholen.« Eben noch drängelte ich mich auf ein Foto mit meinem Idol Rainer Bonhof, glaubte auf dem Höhepunkt meiner noch jungen Karriere angekommen zu sein, und jetzt dieser Nackenschlag. Die Worte meines Trainers brannten wie Peitschenhiebe. Mein Vater musste mich aus Kaiserau abholen. Heimlich verdrückte ich auf dem Beifahrersitz ein paar Tränchen.
Ein Rückschlag, aber bald hatte ich die Schmach von Kaiserau vergessen. Ich schlug mich relativ durchwachsen durch meine Schulzeit, die großen Erfolge feierte ich weiter auf dem Fußballplatz. Nicht ohne Folgen. Ich war 13, als ich das erste Transferangebot meines Lebens erhielt. Herr Eckmann, der erfolgreichste Stahlhändler der Region, war ein Fußballverrückter, der sich in den Kopf gesetzt hatte, den nahen SSV Kalthof mit semiprofessionellen Strukturen auszustatten. Dafür brauchte es Geld und das hatte Stahlhändler Eckmann, dessen Söhne ebenfalls beim SSV spielten, mehr als genug. Die Kalthofer wollten mich unbedingt haben! Lange Rede, kurzer Sinn: Ich verließ den FC Oese, um fortan beim SSV Kalthof in einer wesentlich höheren Liga zu kicken. Ein ganz normaler Vereinswechsel. Würde man denken. Nicht so im Mikrokosmos Oese. »Dreckige Spelunkenwirte« war noch eine der harmloseren Beleidigungen, die sich meine Eltern in der Folgezeit gefallen lassen mussten. Einige Teams boykottierten gar unsere Gaststätte und verlagerten ihre Besprechungen und Mannschaftsabende in die Umkleidekabinen. Und das alles, weil der Sohn der Gastwirte den Verein gewechselt hatte! Meine Eltern trugen diese lächerlichen Reaktionen einiger Sturköpfe mit Fassung. Viele Jahre später, als ich längst ein bekannter Bundesligaspieler in Diensten von Borussia Mönchengladbach geworden war, tauchten die gleichen Personen wieder in unserer Kneipe auf und baten dreist um Freikarten für den Bökelberg. Wir haben nie darüber sprechen können, aber ich weiß, dass mein Vater in diesem Moment einen stillen Triumph feierte, der zumindest teilweise all die Jahre der Anfeindungen vergessen ließ.
Ich wurde älter, kam in die Pubertät und nicht nur auf dem Kopf wuchsen die Haare nun, wie sie wollten. Um Mädchen und Partys machte ich häufig einen großen Bogen, denn längst war der Fußball zu meiner Religion geworden, und die galt es nun einmal zu befolgen. Eine Freundin? Konnte ich mir nicht leisten. Erst mit 17 lernte ich Simone aus der Nachbarstadt Iserlohn kennen und musste einsehen, dass jedes Zirkeltraining ein Klacks gegen die Schwierigkeit ist, eine Frau erfolgreich zu beeindrucken. Aber damals? Nicht eine Trainingseinheit wollte ich versäumen, und welches Mädchen hätte es schon verstanden, wenn ich, statt mit ihr ins Kino zu gehen, zum Waldlauf verschwunden wäre? Ich himmelte nicht die Schulschönheiten, sondern mein Idol Rainer Bonhof an. Der hatte einen Schuss wie ein Pferd und konnte rennen wie ein Marathonläufer. Schusskraft und Kondition, viel mehr hatte ich als Fußballer, ehrlich gesagt, auch nicht in die Waagschale zu werfen. Fast alle meine Mitspieler waren talentierter und konnten geschickter mit dem Ball umgehen. Aber wenn am Wochenende der Trainer die Aufstellung verlaß, wessen Name stand dann auf der Tafel? Auf meiner angestammten Position im linken Angriff sorgte ich zwar nicht für technische Kabinettstückchen, bereitete aber regelmäßig Tore vor, schoss selber welche und grätschte nebenbei so zuverlässig über den Platz, dass die Gegenspieler schnell die Lust an weiteren Zweikämpfen verloren.
1977, das Jahr der großen Veränderungen. In der Firma Maschinen- und Apparatebau Seuthe begann ich meine Ausbildung zum Maschinenschlosser. Gleich nach der Hauptschule hatte ich mich hier mit 15 Jahren erfolgreich auf eine Lehrstelle beworben. Dass man mich überhaupt genommen hatte, war schlichtweg ein Wunder. In meinen Lieblingsklamotten, einer kurzen von meiner Oma bereits mehrfach geflickten Jeanshose und einem kunterbunten T-Shirt, war ich zum Bewerbungsgespräch gestiefelt. Meine Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ich ihr davon erzählte, aber die Argumente gingen ihr schnell aus: Ich hatte den Job! Knapp 300 DM brutto Monatslohn und eine solide Ausbildung – meine Eltern waren stolz wie Bolle. Und ich kaufte mir vom ersten Gehalt erst einmal einen Wimpel von Borussia Dortmund. Drei Jahre marschierte ich im Blaumann zur Maloche, immer den heißen Atem unseres Ausbilders Lothar Köhring im Nacken. Einmal drohte er mir wutschnaubend mit einer Dreikantfeile, die Klinge löste sich bei seinem Gefuchtel vom Holzgriff und stach mir ins Schienbein. Ein stichhaltiger Beweis dafür, dass Lehrjahre Ende der Siebziger nun wirklich keine Herrenjahre waren. Trotz Ausbilder Köhring und seiner Dreikantfeile – die Jahre als Lehrling sind mir auch durchaus in positiver Erinnerung geblieben. Dass ich eines Tages mein Geld mit Fußballspielen verdienen würde, daran verschwendete ich damals noch keinen Gedanken. Also lernte ich schweißen, schmieden, feilen, bohren und stanzen, eben all das, was ein anständiger Maschinenschlosser in den siebziger Jahren an Grundlagen benötigte. Die ersten drei Monate verbrachte ich gemeinsam mit anderen Lehrlingen in der Lehrwerkstatt Hemer. Jede Mittagspause nutzten wir, um im nahen Park ein zünftiges Fußballspiel auszutragen, natürlich komplett im Blaumann und den schweren Sicherheitsschuhen. Verschwitzt und verdreckt standen wir anschließend wieder an der Werkbank.
Gleich neben der Lehrwerkstatt dampften die Schornsteine der Schokokuss-Firma »Dickmann«. Wann immer es möglich war, deckten wir uns hier mit Waffelbruch aus der überschüssigen Produktion ein. Vielleicht hatten ihm die vielen Schokoküsse etwas den Kopf verdreht, auf jeden Fall überraschte uns eines Tages einer unserer Kollegen mit einer fragwürdigen Wette: »100 DM wenn ich es schaffe, an einem Tag 100 Schokoküsse zu verdrücken!« Vier gegen einen, das hieß im schlimmsten Fall 25 DM pro Person, immerhin ein Zwölftel unseres monatlichen Bruttolohns! Wir schlugen ein, die Wette konnte der gute Mann nicht gewinnen. Besser gesagt: Die Wette durfte er nicht gewinnen. Den ganzen Tag lang ließen wir ihn nicht aus den Augen, denn der Wettgewinn war an eine Bedingung geknüpft: Wer kotzt, verliert! Doch obwohl wir ihn selbst bis auf die Toilette verfolgten, hatte er bis zur Raucherpause um halb drei bereits 90 Stück verputzt. Es war ganz offensichtlich, dass er auch die letzten zehn Dinger schaffen würde. Wir mussten uns etwas einfallen lassen. In Schokokuss 95 steckten wir einen dicken fetten Regenwurm. Unser Kollege biss herzhaft rein, sah den halben Wurm im Eiweißschaum – und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Die Wette hatte er damit verloren …
Es blieb nicht bei diesem einen Lehrlingsstreich. In Erinnerung ist mir noch ein Experiment, bei dem wir beinahe die Werkhalle abgefackelt hätten. »Hab ich im Fernsehen gesehen«, lautete das Startsignal eines Kollegen. Wir also den Schwefel von Streichhölzern abgekratzt, in ein kleines Metallröhrchen gestopft und mit einem konischen Metallstift versehen. Kaum waren die Meister in der Mittagspause verschwunden, spannten wir unsere kleine Bombe in der Werkbank ein und hauten mit dem Hammer auf das Gehäuse. BUMMM! Ein fürchterlicher Knall hallte durch die Halle, eine Stichflamme zischte nach oben und katapultierte den Metallstift durch das nigelnagelneue Aluminiumdach zehn Meter über unseren Köpfen. Erst Wochen später erfuhren die Meister die Ursache für den Knall, der ihre Mittagspause so abrupt beendet hatte.
Parallel zur Ausbildung mit Schweißgerät und Blaumann feilte ich natürlich weiter an meiner Karriere als Fußballspieler. Statt Schokoküsse verteilte ich Pferdeküsse, statt wilde Werkbank-Experimente auszutesten, malochte ich im Training und in den Punktspielen. Im letzten A-Jugend-Jahr wechselte ich von Kalthof zum DSC Wanne-Eickel in die Westfalenliga, damals die höchste Spielklasse der Region. Mein Kumpel Peter Potthoff, der ein Jahr vorher von Kalthoff Richtung Wanne-Eickel gewechselt war, hatte mich beim DSC empfohlen. Hatte der Fußball zuvor schon sehr viel Zeit in meinem Leben eingenommen, dominierte er nun alles. Von acht bis 16 Uhr stand ich jeden Tag im Blaumann an der Werkbank, dreimal die Woche fuhren Peter und ich eine Stunde zum Training und wieder zurück. Wenn ich dann um 23 Uhr im Bett lag, war ich meistens fix und fertig. Beim DSC rückte ich von der linken offensiven Außenbahn ins defensive Mittelfeld. Als defensiver Zweikampfspezialist war es meine Aufgabe, die gegnerischen Spielmacher an die Kette zu legen. Was ich, bei aller Bescheidenheit, ganz ordentlich tat. Wenn auch nicht immer mit fairen Mitteln. Nicht selten schoss ich über das Ziel hinaus. Wie mein Vater auf dem Oeser Ascheplatz war ich bald als harter Hund berühmt-berüchtigt. Waren es die Gene, die dafür sorgten, dass ich im Schlagerspiel gegen die A-Jugend von Schalke 04 nach nicht einmal zehn Minuten den gegnerischen Wunderknaben im Mittelfeld, einen gewissen Wolfram Wuttke, so heftig über den Haufen grätschte, dass er mit dem Krankenwagen vom Platz gefahren werden musste? Eher nicht. Meine Gegner von einst werden das bestreiten, aber sehr häufig kam ich einfach zu spät. Nicht selten habe ich dafür die Zeche bezahlt. So war es zumindest auf dem kleinen Nebenplatz der alten Schalker Glückaufkampfbahn, als mich nach dem Spiel wütende Rentner mit Regenschirmen und Krückstöcken bis in die Kabine verfolgten.
1980, das Jahr der großen Veränderungen. Die Lehre hatte ich erfolgreich absolviert, den Führerschein für Motorrad und PKW in der Tasche. Was mir jetzt zu meinem Glück noch fehlte, war ein Vertrag als Fußballprofi, und wenn nicht das, dann doch wenigstens ein Vertrag als Amateur. In all den Jahren hatte ich keinen Gedanken an eine Zukunft als Fußballprofi verschwendet. Denn: Waren nicht all die anderen Jungs die weitaus besseren Kicker? Die größeren Talente? Aber jetzt, da ich so weit gekommen war, sollte es noch nicht zu Ende sein. Ich war ein Junkie, der seinen Stoff brauchte: Fußball! Schließlich versprach mir der DSC Wanne-Eickel das zu geben, was ich so dringend benötigte. 1978 hatte die erste Mannschaft den Aufstieg in die damals noch zweigleisige Zweite Bundesliga geschafft, im Frühjahr 1980 bot man mir einen Vertrag für die kommende Saison an. Stolz wie ein Spanier rannte ich zu Hause in Oese meinen Kumpels die Bude ein und protzte mit meiner rosigen Zukunft als Profi beim DSC. Ein schwerer Fehler. Nur wenige Tage später wurde bekannt, dass der von Mäzen Robert Heitkamp geführte Club die vom DFB neu eingerichtete eingleisige Zweite Bundesliga doch nicht würde finanzieren können. Vor meinen Augen zerbrach das zarte Gebilde Fußball-Zukunft in tausend Scherben. Der DSC Wanne-Eickel verabschiedete sich in die Oberliga und meinen Vertrag konnte ich in die Tonne treten. Der Spott meiner Freunde brannte wie Feuer, wenigstens meine Familie hatte Mitleid mit mir. Meine Eltern wussten genau, wie viel mir diese Chance als Zweitligaprofi bedeutet hatte. Ich lag auf meinem Zimmer und starrte an die Decke. Unten, in der Gaststätte, jaulte Bernd Clüvers »Der Junge mit der Mundharmonika« aus den Boxen unserer »Rock Ola«-Jukebox. »Da war ein Traum, der so alt ist wie die Welt …«
Mein Traum, da war ich mir in diesem Moment sicher, war unwiderruflich zerstört. Was hatte all die Plackerei auf dem Trainingsplatz jetzt noch für einen Sinn? Sollte ich mit dem Fußball aufhören? Vielleicht war es besser so.
Der Alltag schmeckte wie altes Papier. Tagelang lag ich einfach auf meinem Bett und starrte an die Decke. Morgens musste ich mich regelrecht aus dem Haus quälen, um zur Maloche zu gehen. Der Traum vom Fußballprofi war ausgeträumt, jedenfalls für mich. Meine Zukunft würde ich nun an der Werkbank ausfechten dürfen. Knapp 14 Tage waren seit der vernichtenden Information aus Wanne-Eickel vergangen, langsam aber sicher hatte ich mich mit der neuen Situation abgefunden, da klingelte das Telefon. Ich nahm ab. »Busch hier, grüß dich Uli!« Bernd Busch, ein Mitarbeiter vom Finanzamt, fußballverrückt, ich hatte ihn während meiner Zeit beim SSV Kalthof mal kennengelernt.
»Gute Neuigkeiten, Uli. Ich kann dir ein Probetraining bei Borussia Mönchengladbach besorgen. Ich habe zufällig die Nummer vom Jupp Heynckes, kenne den auch ein bisschen. Das dürfte also kein Problem sein!«
Na klar, dachte ich mir. Noch so ein Irrer mit angeblich autobahndicken Verbindungen in die Fußball-Szene. Aber was hatte ich schon zu verlieren?
»Herr Busch, das klingt super. Machen sie mal.«
Ich hatte eigentlich fest damit gerechnet, nie wieder von Bernd Busch zu hören, doch dann klingelte zwei Wochen nach unserem ersten Gespräch tatsächlich wieder das Telefon.
»Busch hier. Uli, nächste Woche fahren wir beide zum Probetraining nach Mönchengladbach!«
Ich war viel zu perplex, um mich anständig zu bedanken, sagte nur: »Dann fahren wir da mal hin«, legte auf und konnte es nicht fassen. Noch vor wenigen Wochen schien die große weite Fußball-Welt für mich unerreichbar, jetzt sollte ich bei einem der besten Clubs der Bundesliga vorspielen. Mir wurde richtig schwindelig. Als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, jagte ich los und klatschte meinen Kumpels die sagenhafte Neuigkeit um die Ohren. Hatte ich auf neidische Blicke oder Jubelstürme gehofft, wurde ich bitter enttäuscht.
»Na klar. Und nächste Woche unterschreibst du bei den Bayern!«
Hohn und Spott kübelten sie über mir aus. Dass ich tatsächlich zum Probetraining am Bökelberg eingeladen worden war, wollte mir niemand glauben.
Und ehrlich gesagt: Ich selbst glaubte bis zur letzten Sekunde, dass Herr Busch den Mund einfach zu voll genommen hatte und wir spätestens von der Gladbacher Empfangsdame wieder nach Hause geschickt werden würden. Aber nein, man erwartete uns tatsächlich. Steif wie ein Brett stand ich im Eingangsbereich, sah die Profis mit ihren glänzenden Wagen vorfahren, die Trainingstaschen lässig geschultert. Wolf Werner, damals Co-Trainer von Jupp Heynckes, begrüßte mich und führte mich in den Kabinentrakt. In einem kleinen Kabuff, in dem die Putzfrauen Wischlappen und Eimer lagerten, durfte ich mich umziehen. Durch die halb geöffnete Tür sah ich die Helden zu ihren angestammten Plätzen schlurfen. Lothar Matthäus, Wilfried Hannes, Hans-Günther Bruns. Weltstars für einen Frischling wie mich! Und ganz hinten, in der Abstellkammer, saß ich. 17 Jahre alt, lange Haare, Milchgesicht. Ein Niemand neben Besen und Kehrblech.
Fast ehrfürchtig zog ich mir die vom Verein bereitgestellten Trainingsklamotten über, schnürte die Schuhe und stellte mich mit den Profis von Borussia Mönchengladbach in einen kleinen Bus, der uns zum Trainingsgelände fuhr. Noch immer hatte niemand auch nur ein Wort mit mir gewechselt. Für die etablierten Fußballer schien ich nur Luft zu sein. Endlich erreichten wir den Trainingsplatz. Cheftrainer Jupp Heynckes begrüßte mich kurz und knapp und kündigte dann die Trainingsform des Tages an: »Schusstraining.«
Schusstraining! Wenn ich etwas konnte, dann ja schießen wie ein Ackergaul. Hoffnungsvoll drückte ich den Rücken durch und zog noch einmal die Schnürbänder meiner Schuhe fest. Heynckes und Wolf Werner legten uns die ersten Bälle auf. Im Tor standen abwechselnd Wolfgang Kleff und Wolfgang Kneib, knapp zwei Meter groß, ein Riesenkerl. Mein erster Schuss. Kraftvoll trat ich gegen den Ball und verfolgte entsetzt die Flugbahn. Wie eine Rakete der NASA sauste das Leder über das Tor, über die Laufbahn, über den Fangzaun, über die dahinter verlaufende Straße und rein in die angrenzenden Gärten. Der nächste Versuch, diesmal mit links, dieselbe Flugbahn. Fangzaun, Straße, Garten. Heynckes starrte mich an: »Ich habe ja schon vieles gesehen, aber das es jemand schafft mit links und rechts den Ball bis in die Gärten zu donnern, hätte ich bis heute nicht für möglich gehalten!« Verzweifelt versuchte ich anschließend die Bälle in und nicht über das Tor zu befördern, doch die Anzahl meiner Schüsse, die tatsächlich ihr Ziel erreichten, war erschreckend gering.
Das Training war vorbei. Fix und fertig ließ ich das Duschwasser auf meinen Kopf trommeln. Das war meine große Chance gewesen und ich hatte es eindeutig versaut. Mit der Kraft und Streuung einer Schrotflinte in den Beinen konnte ich vielleicht auf der Kirmes auftreten, aber doch nicht in der Bundesliga! Die Kabine war längst leer, als ich noch immer mit meiner kleinen Sporttasche zwischen den Beinen auf meinem Platz hockte. Die Tür ging auf, Jupp Heynckes stand neben mir. Ein paar letzte Worte, dann würde ich mich wieder Richtung Oeser Ascheplatz verabschieden können.
»Tja, wirklich getroffen hast du ja nichts.«
Ich wollte nur noch weg.
»Aber ich habe durchaus etwas erkannt, dass sich meiner Meinung nach lohnt, zu fördern. Wäre schön, wenn du in zwei Wochen noch einmal bei uns zum Training vorbeischaust!«
Ich wäre fast in die Putzeimer gestolpert.
Zwei Wochen später stand ich wieder bei den Borussen auf der Matte. Die Pause hatte ich genutzt, um auf dem Ascheplatz vom FC Oese Sonderschichten zu schieben. Sprinttraining, Schusstraining, Ausdauertraining, mein persönliches Fitnessprogramm. Jetzt würden sie mich auch nicht mehr loswerden, das hatte ich mir auf dem Heimweg nach dem ersten Probetraining geschworen. Grußlos blickten die Profis an mir vorbei, als ich die Kabine betrat. Wieder musste ich mich in das Kabuff hocken, mein Stammplatz für die kommenden Wochen. Diesmal saß ich allerdings nicht alleine in der Abstellkammer. Mein Nebenmann hieß Peter Loontiens, ein schmaler Kerl aus Dinslaken mit ziemlich großer Klappe. Munter plauderte er vor dem Training mit den anderen Spielern, machte Scherze und verteilte Schulterklopfer, während ich stumm wie ein Fisch auf meine Fußspitzen starrte. Der musste einer von den Profis sein, auch wenn er mir beim ersten Training gar nicht aufgefallen war. Aber so selbstbewusst, wie er sich in der Kabine gab, hatte ich keine Zweifel an seiner Zugehörigkeit zur Elite.
Statt Schusstraining forderte uns Jupp Heynckes diesmal zu einem Testspielchen auf. Natürlich war ich heiß wie Frittenfett, solch eine Schande wie vor zwei Wochen sollte mir nicht noch einmal passieren. 20 Minuten waren gespielt, als Peter Loontiens den Ball bekam und in Richtung unseres Tores dribbelte. Ich setzte zur Grätsche an, kam jedoch ein paar Augenblicke zu spät und trat den guten Peter ziemlich wüst über den Haufen. Er drehte einen doppelten Salto und musste vom Platz getragen werden. Jetzt hatte ich auch noch einen der Profis verletzt, na prima! Als ich wenig später durchgeschwitzt in die Kabine zurückkehrte, lag da schon Loontiens und brüllte mich an: »Was bist du denn für ein Arsch, dass du mich hier kaputttrittst? Wie soll man sich im Probetraining anbieten, wenn man gleich ins Krankenbett gegrätscht wird?!« Von wegen Profi, Peter war auch nur auf Probe hier, genauso wie ich. Das machte die Sache natürlich nicht besser, schließlich hatte mein Einsatz einen Adduktorenanriss für Peter zur Folge. Dass sein Schaulaufen bei der Borussia trotz dieses Trainingsunfalls erfolgreich für ihn enden sollte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. Es war mir allerdings auch egal. Diesmal hatte ich es verbockt, so viel war klar. Wieder hockte ich einsam in meinem Raum und starrte Löcher in die Eimer, wieder tauchte irgendwann Jupp Heynckes auf. Wieder machte er mir neue Hoffnung.
»Nicht schlecht, Uli, nicht schlecht. Aber du musst noch einmal kommen, ich will noch mehr von dir sehen.«
Machen wir es kurz: Noch weitere drei Mal tauchte ich zum Probetraining in Mönchengladbach auf. Insgesamt fünf Trainingseinheiten absolvierte ich mit den Profis, ohne dass auch nur einer mit mir gesprochen hätte. Ich kann es den Jungs heute nicht übel nehmen, für sie war ich nur der Typ, der sich bei der Putzfrau umzog. Dann, endlich, nach Probetraining Nummer fünf, legte Heynckes die Karten auf den Tisch. Sie wollten mich haben! Ich unterschrieb einen Einjahresvertrag als Edelamateur, der mich zwar nicht zu einem vollwertigen Profi, dafür aber zu einem hoffnungsvollen Nachwuchsmann machte, der nun eine Saison lang Zeit hatte, sich mit der zweiten Mannschaft in der Oberliga zu empfehlen. Und die 2500 DM brutto erhöhten mein bisheriges Gehalt um das Fünffache. Aus dem kleinen Oese in die Abstellkammer von Borussia Mönchengladbach, von der Abstellkammer zum ersten Vertrag. So konnte es weitergehen.