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1Mit einem Mal war es richtig Herbst geworden.

Ich saß mit geschlossenen Augen auf unserem Bänkchen vor dem Haus und fragte mich, wie es möglich war, dass ich von den Jahreszeiten jedes Mal so derart überrumpelt wurde. Plötzlich schlug man die Augen auf, und es war nicht mehr Sommer. Oder es war am frühen Abend schon stockfinster, wo es doch immer hell gewesen war. Passte ich nicht richtig auf? War ich zu langsam im Denken?

Ich ließ die Augen zu und versuchte herauszufinden, wie ich jederzeit hätte bemerken können, dass Herbst war. Natürlich, die Luft. Sie war klar und rein und hatte nichts von dem wilden Potpourri der Düfte des Frühlings. Und auch nicht das aromatische Gemisch des Sommers. Es roch bereits etwas nach dem nassen Laub, das sich schmierig übereinanderlegte. So, wie wenn Leben stirbt und zu Erde wird und der Kreislauf wieder von vorne beginnt. Dann natürlich die Sonne. Das hatte meine Großmutter schon immer gesagt.

»Die Herbstsonne, die wärmt ned richtig«, pflegte sie zu sagen. »Das Gesicht macht’s heiß, aber der Buckl ist kalt. Mädl, zieh dir a dicke Strumpfhosn an.« Dicke Strumpfhosen rangierten bei mir auf der Beliebtheitsskala gleich hinter Hosenträgern und montäglichen Suppen mit großen Zwiebelstücken.

Und natürlich die Geräusche. Die Vögel schwiegen bereits. Der knisternde Flügelschlag der Libellen war Erinnerung. Selbst den Heuschrecken hatte es schon die Sprache verschlagen. Das Einzige, was ich hörte, war das Quietschen unserer Schaukel, die Großmutter bedächtig anschubste, obwohl kein Kind darauf saß. Heute schwieg sie. Manchmal sagte sie in so einer Situation: »Halt dich gut fest, Kind, dass d’ ned runterrutscht.« Ich öffnete die Augen und beobachtete meine Großmutter ein Weilchen. Sie hatte die Stirn gerunzelt, beobachtete angestrengt die Schaukel, als würde ein Kind darauf herumzappeln und sie sich gerade überlegen, ob sie mit dem Anschubsen lieber aufhören sollte. Wie vor 20 Jahren, als ich es war, die auf der Schaukel herumzappelte, wenn ich herunterwollte. Schließlich begann Großmutter zu summen. Hin und wieder schnappte ich Sätze auf wie: »Mein Los, mein Schicksal ist der Tod. Er ist mir zugedacht, ich kann ihm nicht ausweichen … Liebster Gott, wann werde ich sterben.«

Vielleicht hätte mich das misstrauisch werden lassen sollen. Aber die sonnige Herbststimmung hatte mich so schläfrig gemacht, dass ich an gar nichts dachte, sondern nur froh darüber war, dass Großmutters Beschäftigung heute darin bestand, die Schaukel anzuschubsen und Lieder zu singen. Ich ließ mich, beziehungweise meine Vorderseite, um genau zu sein, von der Sonne durchwärmen und betrachtete das wilde farbenfrohe Durcheinander. Von Grün in allen Schattierungen zu Gelb in diversen Abstufungen, und dazwischen rote Farbkleckse. Das Gras war noch nass und saftig, voller Leben. Und der Wind, der durch die Äste pustete, machte aus dem Bild eine bewegte Landschaft.

Schließlich hörten das Quietschen der Schaukel und das Singen meiner Großmutter auf. Sie stellte sich mir in die Sonne, dass mir auf einen Schlag kalt wurde, und fragte: »Sag, Mädl. Was machen wir mit der Leich?«

Ich schloss wieder die Augen. Das soll jetzt nicht hartherzig klingen. Aber im Sommer hatte ich eine Leiche gefunden und jede Menge Ärger gehabt. So viel Ärger, dass ich beschlossen hatte, nie wieder Leichen zu finden. Und wenn doch, mich zumindest schleunigst zu verdrücken und den Leichenfund schnell wieder zu vergessen. Nie wieder meinen ehemaligen Schulfreund Schorsch anrufen und ihm melden zu müssen, was ich gesehen hatte. Der Schorsch ist nämlich Polizist geworden und dadurch der erste Ansprechpartner bei Leichenfunden.

Außerdem war Großmutter in ihren Aussagen nicht immer hundertprozentig verlässlich. Erst gestern hatte sie behauptet, die Kathl hätte sich ein Gehwagerl kaufen lassen. Großmutter war rechtschaffen empört gewesen: »Die alte Kathl und ein Gehwagerl. Als wenn s’ ned noch allein gehen könnt. Und wer zahlt’s wieder? Wir. Die Krankenkassen sind pleite, nur weil die alte Kathl sich ein Gehwagerl kaufen lässt, auf unsere Kosten. Und dann machen’s bestimmt alle nach.«

Das mit den Gehwagerln war ins Gespräch gekommen, seit sich die Langsdorferin eines angeschafft hatte und wie Queen Mum durch den Ort schob. Das schwarze Handtäschchen fuhr sie ganz wichtig im Körbchen vor sich her und hielt bei jedem Gartenzaun Audienz. Sonst hatte sie schon nach dem ersten Gartenzaun aufgeben müssen, aber inzwischen stand sie sogar richtige Audienzmarathons durch. Die Schwierigkeit bei den Gehwagerln war der Metzger, der sich noch nicht auf die veränderte Wagerlsache eingestellt hatte und noch drei Stufen als Hindernis zu seiner Wursttheke hatte, was Anlass für ständiges böses Getuschel bot: »Alles haben wir ihm abgekauft. Sogar die Wiener, wie sie noch ganz fad g’schmeckt haben. Und dann macht er die Stufen nicht weg«, motterte die Gehwagerl-Fraktion.

Ich hatte schon Legionen von Mitbürgern mit Gehwagerl vor mir gesehen. Aber denkste. Die Kathl hatte weder ein Gehwagerl noch sonstige krankenkassenschädigende Artikel gekauft. Soviel zum Thema Großmutter und ihre Aussagen.

Ich antwortete also vorsorglich gar nichts, sondern beobachtete eine Amsel, wie sie über den Rasen hüpfte. Immer wieder erstarrend, die Schwanzfedern steil aufgerichtet, als würde sie damit rechnen, dass Großmutter ganz unvermutet etwas Seltsames tat. Ihr Kopf schoss immer wieder schnell nach vorne, dann pickte sie hektisch auf den Boden.

»Was mach ma jetzt?«, hakte Großmutter mehr neugierig als ängstlich nach. Das plötzliche Frösteln, das mir über die Arme lief, schob ich darauf, dass ich in Großmutters Schatten saß.

»Lass sie liegen«, schlug ich pragmatisch vor, in der Hoffnung, sie würde mir endlich aus der Sonne gehen.

»Ach geh, Mädl«, erwiderte sie ärgerlich und setzte sich neben mich auf die Bank. »Wo denkst denn hin.«

Wir schwiegen wieder ein Weilchen. Die Amsel flog in einen Busch, verschwand raschelnd im Unterholz. Ein Schwarm Stare flatterte vorbei, gemeinsam ohne Flügelschlag dahinsegelnd, bis auf einmal alle gleichzeitig wieder heftig mit den Flügeln zu schlagen begannen. Sie konnten sich nicht einigen, wo sie landen sollten, bis sie plötzlich mit rasender Geschwindigkeit in einem Baum einfielen, der bedrohlich zu schaukeln begann.

»Was is?«, fragte Großmutter misstrauisch.

»Die Stare«, erklärte ich ihr. »Wie die das schaffen. Die rauschen mit Vollgas in den Baum. Und man hört nicht, dass die zamrumsen. Oder bewusstlos von den Ästen fallen. Wie machen die das nur?«

So etwas lenkte Großmutter meist ab. Da machte sie sich dann eine ganze Zeit lang Gedanken und vergaß ihr jeweiliges Lieblingsthema. Das absolute Top-Lieblingsthema ist und bleibt unser Luiciano – das war der Papst vor Johannes Paul dem Zweiten. Der war so unglaublich nett, und ist so bald gestorben, dass es gar nicht wahr sein kann. Denkt jedenfalls Großmutter. Als Kind hatte ich immer gedacht, dass er bei uns im Kohlenkeller wohnt. Aber inzwischen glaube ich das nicht mehr.

»Das ist doch alles ein Komplott«, sagte sie gerne dazu. Früher hatte ich dann immer an saftig eingelegte Birnen gedacht. Was auch für einen Papst wahrscheinlich nicht das Schlechteste war. Das zweite Lieblingsthema ist, je nachdem, wie es ihr gesundheitlich geht, die Sache mit dem Strahlenapparat. Das ist ein grauer Kasten, der aussieht, als wäre er eine mobile Abhöranlage aus der DDR. In Wirklichkeit hat er die Aufgabe, die ganze schädliche Elektronik, die uns umgibt, unschädlich zu machen. Beispielsweise dieser Zigarettenautomat vor dem Schmalzl-Wirt. Der strahlt manchmal so schlimm, dass es Großmutter sogar bei uns in der Küche merkt. Jedenfalls wenn der Strahlenapparat nicht angeschaltet ist. Wie er das macht und ob er das macht, interessiert mich inzwischen nicht mehr. Denn mittlerweile habe ich mich an den Kasten gewöhnt, der entweder auf dem Küchentisch oder auf der Kommode seine Funktion erfüllt oder auch nicht.

Das dritte Lieblingsthema ist seit Neuestem der außereheliche Geschlechtsverkehr. Seitdem ich einen Freund habe, redet sie unglaublich gerne über die Sünde, als Kurtisane zu leben. Natürlich nicht auf mich bezogen, sondern allgemein gesprochen. Weil Max und ich – also mehr ich, weil Max eine sehr schlechte Erziehung genossen hat und nicht den nötigen Respekt vor göttlichen Strafblitzen und der Rache von Erzengeln hat – es nie wagen würden, etwas Verdächtiges hinsichtlich Kurtisanen zu unternehmen. Jedenfalls, wenn Großmutter zusieht. Aber immerhin weiß ich jetzt bestens Bescheid, wie das ist, so als Kurtisane.

Großmutter hatte aber keine Lust, sich ablenken zu lassen. Sie machte ein Geräusch, das wie tststs klang. »Ruf doch die Polizei an. Wegen der Leich«, schlug sie vor.

Na klar. Wegen der Leiche. Wegen der Stare wohl kaum.

»Ach geh«, wiegelte ich ab. »Das wäre ja mit Kanonen auf Spatzen schießen.« Ich stand auf, stellte mich neben die Schaukel und schubste an.

Großmutter runzelte die Stirn, sie schien sich ernsthaft Gedanken über das Problem zu machen. »Du hast recht. Spätestens beim nächsten Gottesdienst finden die ihn eh.« Mein Blick schnellte zu ihr hinüber. Beim nächsten Gottesdienst?

»Wo ist denn die Leiche?«

Großmutter antwortete nicht, sondern sah gedankenverloren in die Ferne. Na ja. Das war auch eine sehr dumme Frage. Wenn sie beim nächsten Gottesdienst gefunden werden würde, dann war sie wahrscheinlich in der Kirche. Und in der Kirche war es kühl. So schnell verdarben da Leichen nicht. Falls es wirklich eine Leiche geben sollte. Andererseits war es bestimmt Blasphemie, einen Toten in der Kirche rumliegen zu lassen.

»Wer ist es denn?«, fragte ich misstrauisch.

»Der Pudschek«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Der Pudschek also. Es war ja nicht so, dass der Pudschek Pudschek heißen würde. Also nicht mal der Original-Pudschek hatte Pudschek geheißen. Der erste Pudschek war der Paul Andratschek gewesen, und kein Mensch hatte sich den Namen gemerkt. Er war gleich nach dem Krieg aus der Tschechei nach Bayern gekommen und hatte bei unserem Bäcker Asyl bekommen. Bei uns hatte er keine Arbeit gefunden. Er war nämlich Förster in der Tschechei gewesen. Aber wir hatten schon einen Förster, und zwei konnten wir nicht brauchen. Also hatte er das Amt des Organisten übernommen.

Der Pudschek, den meine Großmutter vermutlich meinte, hieß Karl Wanninger. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Andratschek und Wanninger war, dass sie beide Orgel in unserer Kirche gespielt hatten. Aber unsere Dorfbevölkerung war bei der Namensgebung nicht so flexibel. Einmal Pudschek, immer Pudschek.

»Der Pudschek also«, wiederholte ich. Die Frage war nur, welchen Pudschek meinte Großmutter jetzt. Der erste Pudschek, muss man wissen, war nämlich schon seit Jahren tot. Ich war mir nicht ganz sicher, wie ich ihr das beibringen sollte. Vielleicht war sie mental gerade in einer ganz anderen Lebensphase.

»Aber er ist doch auch ein Christenmensch«, sagte sie schließlich. »Den kann man nicht einfach liegen lassen.«

»Das ist auch wieder wahr«, antwortete ich undeutlich und gab der Schaukel einen so heftigen Schubs, dass sie an den Stricken auf- und abtanzte, statt gleichmäßig zu schwingen. »Vielleicht derrappelt er sich aber wieder. Und dann haben wir der Polizei nur unnötig Arbeit gemacht. Nicht wahr?«

Meine Großmutter sah mich an, als wäre ich verrückt.

»Der wird nimmer«, sagte sie nur. »Und pass’ mit der Schaukel auf. Wennst die ans Hirn kriegst, ham wir glei zwei Leichn.«

Ich bemühte mich darum, ordentlich anzuschubsen. »Ach wo. Der wird schon wieder. Der ist noch immer geworden.«

Meine Großmutter sah mich kopfschüttelnd an. Ich kam mir nach dieser Aussage auch etwas blöd vor. Denn in Wirklichkeit konnte ich mich an den Pudschek nicht mehr richtig erinnern. Und mir fiel auch kein Beispiel ein, wo der Wanninger wieder geworden wäre. Aber, wie gesagt, manchmal half es, wenn man meine Großmutter ablenkte. Ich überlegte mir krampfhaft, welches neue Thema ich anschneiden sollte.

»Warst heute schon beim Weihwasserholen?«

Sie nickte seufzend. »Ja. Aber ich hab’s stehen lassen.«

»Hm.«

»Direkt neben dem Pudschek. Und jetzt trau ich mich nicht richtig, die Flasche zu holen. Gehst mit?«

»Der Pudschek tut keinem was«, schlug ich vor, aber tief in meinem Inneren spürte ich eine gewisse Unruhe.

Eine Weile lang sagte sie nichts mehr und schien sich ernsthaft zu überlegen, ob sie sich vor dem Pudschek fürchten sollte oder nicht.

»Hast recht. A Leich hat no nermd was dan.«

Hm. Das hatten Leichen so an sich, dass sie nicht mehr viel machten.

Ich gab keine Antwort. Wenn sie sich einbildete, dass der Pudschek tot war, dann war das wohl so. Ich gab der Schaukel noch einen letzten Schubs und wollte ins Haus gehen. Die Ahornblätter segelten freundlich herunter. An so einem Tag konnten unmöglich tote Pudscheks gefunden werden.

»Wen rufst jetzt an? Den Max?«, fragte sie meinen Rücken.

Max anrufen. Was für eine Idee! Max war bei der Polizei. Hauptkommissar, um genau zu sein. Und zufällig mein Freund. Und ich würde auf gar keinen Fall meinen Freund anrufen und ihm erzählen, dass der Pudschek, der vielleicht schon zwölf Jahre tot war, heute von meiner Großmutter tot gefunden worden war.

»Dann gib mir dein Händi«, befahl sie meinem Rücken, bevor ich im Haus verschwand. »Dann mach ich’s. Das kann man nicht machen. Den einfach liegen lassen«, beschloss sie ernst. »Stell dir das vor. Beim nächsten Rosenkranz. Die Kathl kriegt einen Infarkt. Und der Langsdorferin haut’s die nächste Bandscheibe raus. Was is? Krieg ich jetzt dein Händi oder nicht?«

Ich drehte mich abrupt zu ihr um. Zum Thema Händi muss man zwei Dinge wissen. Großmutter telefonierte grundsätzlich nicht. Selbst beim Arzt musste ich ihr die Termine ausmachen, oder sie ging einfach so hin. Und mit dem Handy telefonierte sie gleich dreimal nicht. Weil ihr da das Gehirn von all der schädlichen Elektronik ganz damisch wurde. Wenn sie also bereit war, ein Handy zur Hand zu nehmen, dann musste es wirklich dringend sein.

Wanninger tot? Zum ersten Mal zog ich in Erwägung, dass ihre Aussage stimmte. Ich sah ihr tief in die Augen. Das hatte auch seine Gründe. Es gab nämlich Tage, da war es schlimmer mit Großmutter, und es gab Tage, da war sie ziemlich normal. Und die Tage, an denen sie ziemlich normal war, hingen davon ab, ob sie ihre Medikamente regelmäßig genommen hatte. Ich sah es ihr immer an den Augen an. Wenn ihre Pupillen so tot und spitz waren, dann war das kein gutes Zeichen. Wenn es aussah, als hätte sie die Augen einer Porzellanpuppe. Kalt. Klar. Winzig. Zu keinem lebenden Wesen gehörend. Da widersprach man ihr besser nicht.

Aber hier draußen war es viel zu hell, um sehen zu können, aus welchem Grund die Pupillen spitz waren.

Was, wenn der Wanninger wirklich tot war? Und was, wenn die Polizei ausgerechnet unsere Weihwasserflasche neben der Leiche fand? Jeder im Dorf wusste, wem die alte abgeschabte Limonadenflasche voll Wasser gehörte. Dann Fingerabdrücke, DNS-Vergleich und so, und schon hatten wir den Salat. Wahrscheinlich war er aber gar nicht tot, und Großmutter hatte die Weihwasserflasche nur in der Kirche vergessen. Oder beim Metzger. Aber sicher war sicher.

»Komm«, sagte ich nur und nahm Großmutter an der Hand.

Es war im Herbst vor zwölf Jahren gewesen. Die Linden reckten ihre kahler werdenden Zweige in den blassblauen Herbsthimmel. Die Blätter waren so irrsinnig gelb, als wären sie kleine Lampen, fröhliche, vergängliche Lichter an dunklen Ästen. Die Bäume hatten Kreise von Laub um sich gebreitet, die sich viel zu gelb über die grüne Wiese ergossen, und winkten mit den restlichen Blätter hektisch in der schräg stehenden Sonne.

Großmutter hatte unseren alten Holzrechen aus dem Schuppen geholt und begonnen, das Laub zu Haufen zusammenzurechen. Ich durfte mich dann, wie jedes Jahr, in diese Haufen werfen. Ich machte immer Schwimmbewegungen und wühlte mich in diesen Berg hinein, bis ich braune Hände, Haare und so viele krümelige Blätter im Haar hatte, dass ich aussah wie eine verrückte Einsiedlerin. Überdeutlich sah ich das herabgefallene Laub um mich herum. Jedes Blatt ein Unikat, etwas Besonderes, das immer mehr verfiel.

Und um mich herum schien es zu tuscheln und zu wispern – der Pudschek. Der Pudschek.

Die flüsternden Stimmen in meinem Kopf verdarben mir plötzlich den Spaß. Es war ein Gefühl, als versuchte ich etwas zu vergessen, was mir durch die leisen Stimmen jedoch nicht richtig gelang. Kaum war eine kleine Lage Sand über diese Erinnerung gestreut, blies jemand sie wieder weg, indem er den Namen Pudschek flüsterte.

Dabei wusste ich noch genau, wie viel Mühe ich mir damals gegeben hatte, die Pudschek-Sache zu vergessen. Ich hatte es sogar geschafft. Aber das Gefühl, das hatte sich eingebrannt. Und statt der Erinnerung an die Pudschek-Sache kam nur das Pudschek-Gefühl hoch, was genauso schlimm war. Dieses unangenehme Gefühl, dass ich etwas vergessen wollte, aber nicht konnte. Ich hatte mich schuldig gemacht, das wusste ich. Es durfte keiner erfahren, das wusste ich auch. Und es hätte nicht passieren dürfen, nicht mir. Und auch sonst niemandem. Aber mir schon dreimal nicht. Und je mehr ich versuchte, nicht daran zu denken, desto mehr nahm dieses Gefühl überhand. Engte mir die Brust ein und nahm mir den Atem.

Während ich damals so im Laubhaufen schwamm, merkte ich, dass es keinen Spaß mehr machte. Ich war zu alt, wie verrückt durch Blätter zu schwimmen.

Vielleicht wisperten auch die Stimmen zu laut.

Mir war sofort klar, dass Großmutter dieses eine Mal keine Halluzinationen hatte. Die Kirche dröhnte geradezu in einem schrägen Schlussakkord, der jeden Ton des Manuals zu einem dissonanten Posaunenklang vereinigte.

Mein Gott, dachte ich mir. Der Pudschek.

Der Klang war so gewaltig, dass er meinen gesamten Körper ausfüllte. Selbst mein Blinddarm schien zu vibrieren. Der tiefste Ton, dort, wo Wanningers Fuß unbeirrt auf dem Pedal stand, hatte in meinem Körper eine Resonanzfrequenz erwischt, die tief in meinem Bauch ein Wummern auslöste und eine Gänsehaut nach der anderen über meinen ganzen Körper jagte. Als wäre ich ein Klangstab, dem man einen zu heftigen Stoß gegeben hatte.

Vielleicht war er ja gar nicht tot, versuchte ich mich zu beruhigen. Das machten Organisten ja gerne. Die letzten donnernden Akkorde, die immer langsamer und intensiver wurden. Und dann der allerletzte Akkord. Das Finale, wo man als richtiger Orgelspieler über dem Manual zusammenbrechen musste, um für einige Minuten die monumentalen Klänge auszukosten.

Das machte auch der Wanninger sehr gerne. Außer es war Fußballweltmeisterschaft und er wollte dringend nach Hause vor den Fernseher. Da hüpften seine Füße behände über die Pedale und hielten sich nicht weiter mit einem furiosen Schlussakkord auf.

Aber dieser Klang dauerte selbst für einen guten Organisten zu lange.

»Geh nur zu«, sagte Großmutter hinter mir, »und mach vor dem Altar ein Kreuzzeichen.«

Natürlich machte ich ein Kreuzzeichen. Obwohl ich mich am liebsten umgedreht hätte und aus der Kirche geflohen wäre. Mein Körper fühlte sich plötzlich an, als hätte er nur noch einen ganz kleinen warmen Kern und alles andere wäre eiskalt, mit einer riesigen Gänsehaut überzogen, die wellenartig durch alle Gliedmaßen wogte.

Die Tür zur Orgel hoch stand sperrangelweit offen, als wäre jemand gerade erst durchgegangen. Staubiger, muffiger Geruch kam uns entgegen.

Im Aufgang zur Orgel schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Genauso hatte es vor zwölf Jahren gerochen, als ich noch jeden Sonntag diese Treppe nach oben gestiegen war. Aber nicht nur der Geruch war identisch. Noch immer standen gleich neben der Tür die Vorratspackungen an weißen Kerzen. Und dahinter der Putzkübel mit einem alten, grauen Putzlumpen (der alte Hadern, den schon meine Großmutter dem früheren Mesner vor die Füße gepfeffert hatte, weil er sich über ihre Art zu putzen mokiert hatte). Ganz an die Wand geschoben waren zwei alte Holzleitern und davor die Erntekrone. Überdimensional aus verstaubten Ähren und gebleichten Blumen. Großmutter schob mich daran vorbei, weil ich immer langsamer wurde. Und dieser Geruch. Dieser Geruch, wie er sich nur im Aufgang zur Orgel findet. Diese Mischung aus staubigem Getreide, Kerzenwachs und schlecht trocknenden, nicht allzu sauberen Putzlumpen. Es dröhnte so laut im Orgelaufgang, dass ich schon wusste, dass die Tür oben weit offen stehen musste. Fast wäre ich umgekehrt, aber Großmutter drückte mich sozusagen nach oben. Meine Gänsehaut sammelte sich an den Oberschenkeln und an den Unterarmen, als ich die Orgel ins Blickfeld bekam.

Da saß er, der Pudschek. Also der Wanninger-Pudschek. Vornübergebeugt drückte er mit seinem Kopf und dem Oberkörper fast die gesamte Tastatur von zwei Manualen nieder. Und wie es schien, hatte er noch Zeit gehabt, sämtliche Register zu ziehen, um seinem Tod eine wirklich voluminöse Begleitmusik zu verleihen.

»Vielleicht war es ja ein Herzinfarkt«, schlug ich vor und schielte vorsichtig zu der gekrümmten Gestalt auf der Orgel. Die Orgel pfiff und arbeitete wie verrückt. Ich überlegte mir kurz, ob ich nicht wenigstens ein paar Register wieder hineinschieben sollte, damit es nicht ganz so laut war.

»Da hätte ich auch einen Herzinfarkt«, trompetete Großmutter, um die Orgel zu übertönen. »Bei dem Trumm Messer.« Sie machte neben mir ein Geräusch, das wie tststs klang. Es war wegen der Orgel schlecht zu hören, aber sie sah nicht so aus, als fände sie es daneben, einen Organisten beim Orgelüben niederzustrecken. Sie sah eher aus wie jemand, dem man die ganze Nachmittagsplanung durcheinandergebracht hat.

Bei dem Trumm Messer? Ich schielte etwas genauer auf den breiten Rücken und entdeckte tatsächlich einen Messergriff, der in dem karierten Hemd steckte. Ich atmete noch einmal tief ein, um nicht sofort umzukippen.

»Weil er auch seinen Janker auszogen hat«, sagte Großmutter und schüttelte schon wieder den Kopf. »So eine Jacke ist doch immer ein guter Schutz. Mich würd’s nicht wundern, wenn er eine Nierenbeckenentzündung kriegen würd, so leicht bekleidet wie der in der zugigen Kirch rumläuft.«

Nierenbeckenentzündung war sozusagen das potenzierte »Wasserschneiden«. Die wurde mir immer angedroht, wenn das mit dem Wasserschneiden nichts mehr half. Mädchen bekamen das, wenn sie sich auf ein kaltes Mäuerchen setzten oder in der Früh keine dicken Socken anzogen. Dann konnte man das Wasser nicht mehr halten, und beim Pieseln tat’s ganz ordentlich weh. Meine beste Freundin Anneliese konnte davon ein Lied singen, die hatte ständig das Wasserschneiden. Ich tastete nach meinem Handy und hielt es eine Weile fest in der Hand. Ich muss zugeben, dass mich solche Situationen prinzipiell sehr schnell überfordern.

Normalerweise würde Großmutter jetzt sagen, ein Händi, das hat kein Taug ned. Nix als schädliche Elektronik. Vielleicht hatte sie ja recht. Vielleicht sollten wir nach Hause gehen und das gute alte Festnetz nutzen. Vorsichtshalber.

»Da ist auch mein Weihwasser«, schrie Großmutter neben mir zufrieden, als wäre alles in Ordnung, weil sie unsere alte Limoflasche gefunden hatte.

Tatsächlich stand direkt neben der Leiche auf der Orgelbank unsere Zitronenlimonadenflasche mit dem aufgeweichten Etikett. Großer Gott. Reichte es nicht, dass meine Großmutter schizophren war? Musste sie auch noch unsere Flaschen neben Leichen deponieren?

»Ja. Das ist dein Weihwasser«, sagte ich mit der Betonung auf »dein«, in der Hoffnung, Großmutter würde die Initiative ergreifen und sich dem toten Wanninger nähern. Großmutter reagierte darauf überhaupt nicht, sondern sah sich interessiert um. So ein Saustall, würde sie mir bestimmt gleich sagen. Da gehört sich mal g’scheit geputzt.

Du musst jetzt stark sein, ermahnte ich mich. Nichts war schlimmer, als mit einer Mordermittlung zu tun zu haben. Denn wie sollte man das nun wieder der Polizei erklären. Ausgerechnet unsere Weihwasserflasche, direkt neben der Leiche. Das war doch verdächtig ohne Ende. Schritt für Schritt tastete ich mich näher an die Leiche heran und starrte an ihr vorbei zu den Füßen, die unbeirrt auf den Pedalen standen.

Großmutter würde sagen, das nächste Mal nehm ich den Staubsauger mit. Schau dir doch den Dreck unter den Pedalen an. Als wenn er sich nicht die Füß sauber machen könnt, bevor er zum Orgelspielen geht.

Ich hatte die Luft schon so lange angehalten, dass ich fast ohnmächtig wurde, als ich die Limonadenflasche in Griffweite hatte. Mit einem beherzten Griff raffte ich die Flasche an mich und sprang mit einem Quietschen nach hinten.

Die Orgel gab noch eine Weile ein vielstimmiges Ächzen von sich, bis die letzte Luft durch die Pfeifen entwichen war. Der Pfarrer starrte mich vollkommen entsetzt an, nachdem er die Orgel ausgeschaltet hatte. Sein Blick schweifte von dem Messer zu mir und dann zur Limonadenflasche. Und mir schien es, als hinge mein erschrockenes Quietschen noch als dissonanter Klang in der Luft.

Oh. Nein.

Das Geräusch hörte aber nicht auf. Es war mehr so eine Art Heulen, von jemandem, der nicht in der Kirche war.

Unser Hund. Den hatte ich vor der Kirchentür angehängt, weil es blasphemisch war, mit einem Hund durch das Haus Gottes zu gehen.

Na prima. Ich sah jetzt schon die Rosenkranztanten vor mir, wie sie alle tuschelten. Den Pudschek umbringen und den Hund vor der Kirche anbinden. Stellt euch das einmal vor. Die Wilds wieder. Keine Ahnung vom perfekten Mord.

»Der Wanninger, der ist tot«, sagte Großmutter und nahm mir die Weihwasserflasche aus der Hand.

»Großer Gott«, stieß der Pfarrer entsetzt hervor. »Wieso nur?«

»Bei dem Trumm Messer«, antwortete die Großmutter. »Ist doch kein Wunder.« Damit drehte sie sich um und ging durch die Tür.

2Der wilde Herbstwind fegte die heruntergefallenen Blätter durch das Dorf. Ich war extra mit dem Auto in den Nachbarort zum Einkaufen gefahren, um niemanden zu treffen, der mich kannte. Ich gab Gas, als ich den Schorsch am Straßenrand stehen sah. Er kehrte gerade mit einer derartig verzweifelten Inbrunst Blätter zusammen, dass ich an ihm vorbeifahren konnte, ohne bemerkt zu werden. An einem anderen Tag wäre ich gerne stehen geblieben und hätte mir die Laubaktion angesehen. Dieser Kampf gegen die Naturgewalten war jedes Jahr ein Schauspiel für sich.

Heute war ich aber ganz froh um die Leidenschaft, mit der er den davonwirbelnden Blättern nachjagte. Denn Schorsch war unser Polizist. Und irgendeine realitätsferne Lisa wünschte sich, den toten Wanninger so sehr zu verdrängen, dass auch die Polizei vergaß, uns zu befragen. Wenn der Schorsch noch Zeit hatte, Laub nachzulaufen, dann war er immerhin nicht bei uns zu Hause und befragte Großmutter. Natürlich wusste ich, dass der Pfarrer nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als sofort die Polizei anzurufen, nachdem wir die enge Holztreppe in der Kirche nach unten gepoltert waren. Und dass er natürlich erzählt hatte, dass die Wilds neben der Leiche gestanden hatten und der Hund der Wilds vor dem Kircheneingang einen rekordverdächtigen Hundehaufen hinterlassen hatte. Den die Wilds in ihrer Eile, wieder nach Hause zu kommen, dort belassen hatten. Ich wollte gar nicht wissen, was er darüber dachte. Denn ihn störte inzwischen schon, wenn über ein Brautpaar drei Packungen Basmati-Reis geschüttet wurden. Und dann erst ein Hundehaufen.

Und dass unser Hund dabei geheult hatte, als wäre er auf einer Autobahnraststätte ausgesetzt worden, würden bestimmt sämtliche Anwohner bestätigen, die die Polizei sicher befragen würde. Natürlich hatte die Kathl neugierig hinter den Gardinen hervorgespitzt. Und die Bet hatte sich ein paar spitze Kommentare über Lärm- und Geruchsbelästigung nicht verkneifen können. Großmutter hatte sich würdevoll bei mir eingehakt und war nach Hause geschritten. Das konnten wir Wilds nämlich schon immer. In geschichtsträchtigen Situationen würdevoll und überlegen schreiten. Auch wenn es dazu gar keinen Grund gab.

Das mit der Autobahnraststätte und dem Aussetzen von Hunden nahm ich mir auch ganz fest vor, als mein Hund erleichtert aus dem Auto sprang und als Erstes bei der Reisingerin an das Gartentürchen pinkelte. Dieser dumme Köter.

Ich blieb vor einem dunklen BMW stehen, der direkt neben unserem Briefkasten parkte.

Oh. Oh.

Schorsch war es nicht, das war klar. Und Max war es auch nicht.

Es konnte nur noch schlimmer werden.

Durch das Küchenfenster sah ich, dass an unserem Küchentisch zwei Männer saßen, die ich nicht kannte.

Das hätte es bei uns früher nie gegeben. Männer im Haus, meine ich.

Vermutlich war es ein Kindheitstrauma, dass ich die Vorstellung von zwei unbekannten Männern alleine mit meiner Großmutter als höchst gruselig empfand. Vielleicht lag es auch daran, dass man nie wusste, was Großmutter alles vor sich hinmurmelte.

Klempner waren sie jedenfalls nicht, die zwei Männer am Küchentisch. Und ihren Blicken entnahm ich, dass sie komplett am Ende waren. Das machte mich ein klein wenig glücklich. Denn das bedeutete, dass Großmutter sich so verhalten hatte, wie sie sich in letzter Zeit auch mir gegenüber verhielt.

Großmutter sah nicht auf. Sie polierte die Edelstahlspüle und ignorierte die zwei. Na ja. Und mich auch. Die Sache mit dem Wanninger hatte sie dazu gebracht, gar keine Medikamente mehr einzunehmen.

»Geh, Mädl«, hatte sie gesagt, als wir wieder in unserer Küche waren. »Das ist doch klar. Da steckt die Russenmafia dahinter.«

»Ah. Geh. Oma«, hatte ich verzweifelt erwidert, nach Argumenten ringend. »Die Russenmafia hat doch was Besseres zu tun, als Organisten zu derstechen.«

Darauf hatte sie nur genickt und ihre Tabletten hinter den Strahlenapparat geschoben. Das tat sie immer, wenn sie Angst hatte, dass sich die Russenmafia bei uns breitmachte. Dann bekam sie ihren Porzellanpuppenblick und reagierte nicht mehr.

»Frau Wild«, sagte der eine zu mir, sein Blick war resigniert. »Herr …«, erwiderte ich im gleichen Tonfall und wartete darauf, dass er seinen Namen sagte.

»Blomberg«, seufzte er, und der andere murmelte einen Namen, den ich nicht verstand. Blomberg sah zu Großmutter, die noch immer mit einem Mikrofasertuch die staubtrockene Spüle bearbeitete. »Wir haben mit Ihrer Großmutter telefoniert. Sie hat sich geweigert, aufs Revier zu kommen. Jetzt weigert sie sich zu sprechen.«

Er sollte mal froh sein, dass sie überhaupt ans Telefon gegangen war. Normalerweise ließ sie es so lange klingeln, bis es aufhörte. Oder bis ich dranging. Außerdem konnte er froh sein, dass sie nicht mit ihm redete. Das brachte einen noch mehr zur Verzweiflung.

Ich stellte mich neben Großmutter und sah eine Weile auf das stürmische Herbstwetter draußen. Die Blätter wirbelten so wild über die Dächer, dass man den Eindruck hatte, es würde schneien. Wenn Großmutter nichts redete, dann konnte ich reden, was ich wollte, und sie würde darauf nicht reagieren. Aber die Polizisten sollten wenigstens den Eindruck haben, dass ich willens war zu kooperieren. Schließlich sah es für mich auch nicht besser aus. Wenn man quietschend neben einer Leiche stand, kam man schnell in den Verdacht, damit mehr zu tun zu haben, als einem lieb sein konnte.

Großmutter murmelte leise vor sich hin. »Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde.« Dann schüttete sie das Wasser, das ich ihr am Morgen zum Trinken hingestellt hatte, in unsere Grünlilie.

Hm.

Ich kannte diese Phase. Das wollte ich diesem Blomberg nicht unbedingt auf die Nase binden. Aber jede Unterbrechung war eher kontraproduktiv. »Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, und wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod kann hinfort über ihn nicht herrschen. Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben ein für alle Mal; was er aber lebt, das lebt er Gott. So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid, und lebt Gott in Christus Jesus.«

Sie warf mir einen kurzen bösen Blick zu. Eigentlich war es nicht gerecht, dass ich mir den Zorn von Großmutter zuziehen musste, nur weil dieser Blomberg eine Befragung durchführen wollte.

»Die wollen dich befragen. Wegen der Leich«, sagte ich leise, aber so laut, dass Herr Blomberg und sein Kompagnon es mitbekamen.

»Das bringt nix Gutes«, wisperte Großmutter und wischte über die saubere und trockene Edelstahlspüle.

»Die gehen erst wieder weg, wenn du ihnen etwas erzählst«, erklärte ich in einem konspirativen Tonfall.

»Sag ihnen, wir wissen von nix«, flüsterte Großmutter, den Blick starr auf ihren Lappen gerichtet. »Des bringt uns in Teufels Küche. Der greißliche Wanninger der. Muss der sich derstechn lassen, wenn ich grad in der Kirch bin.«

»Sag einfach, wie’s war«, flüsterte ich zurück und hoffte, dass Herr Blomberg die Passage mit dem »greißlichen Wanninger« nicht gehört hatte. Am liebsten hätte ich ihr zugestimmt. Der greißliche Wanninger, der greißliche, hätte sich doch nicht ausgerechnet umbringen lassen müssen, wenn Großmutter mit ihrer Limoflasche unterwegs war.

»Ich weiß des nimmer so genau«, flüsterte sie zurück.

»Die kriegen Geld von uns, dass sie das machen«, köderte ich sie. Verschwendung von Steuergeldern war ihr schon immer ein Dorn im Auge. Sie drehte sich um und warf den beiden einen bösen Blick zu. Immerhin. Das hatte gewirkt.

»Es geht um den Pudschek«, sagte der Blomberg. Sein Blick war immer noch resigniert. Den Pudschek. Ich verdrehte vorsichtshalber nicht die Augen. Der blöde Schorsch, der blöde. Er hatte bestimmt dem Blomberg eingeschärft, vom Pudschek zu sprechen und nicht vom Wanninger.

Großmutter wisperte wieder etwas vor sich hin. Es klang so wie: »Lasst die Vergangenheit ruhen. Der tote Staub wird euch den Atem nehmen und ins Verderbnis stürzen.« Vielleicht hatte sie aber auch gesagt, dass sie mal lieber Staub gewischt hätte, bevor die zwei Typen gekommen waren, und bestimmt das Fleisch verderben würde, wenn sie nicht gleich zu kochen anfing.

»Natürlich. Der Pudschek«, sagte Großmutter. Ihre Pupillen verhießen nichts Gutes. »Der Walkjanker war kaputt. Den haben sie ihm gleich ausgezogen.« Sie sprach hochdeutsch, das war ein gutes Zeichen.

Aber ihre Worte waren ein schlechtes Zeichen. Walkjanker? Was erzählte sie da von Jankern? Wir hatten doch beide gesehen, dass er keine Jacke angehabt hatte. Und vermutlich eine Nierenbeckenentzündung bekommen hätte, wenn er nicht vorher aus dem Leben geschieden wäre.

»Alles eingesaut. Der Janker. Das Hemd. Die Hose.«

Die Hose? Eingesaut? Nun gut, ich hatte nicht ganz so genau hingesehen. Und man wusste ja, dass Leute die starben, na ja. Aber hatte Großmutter so genau hingesehen?

»Und dann hat es noch ang’fangen zu regnen. Richtig nass war er dann. Der Janker. Und der Pudschek.« Sie legte eine dramatische Pause ein. »Wie ein Ratz, der ins Wasser gefallen ist«, beschrieb sie es anschaulich.

Die zwei Polizisten sahen sich an, als wäre Großmutter verrückt. Natürlich war sie verrückt. Aber wieso erzählte sie ausgerechnet Dinge über Walkjanker? Wie kam sie auf die Idee, dass er nass gewesen war? Wenn sie angefangen hätte, über unseren Papst im Kohlenkeller zu erzählen, den seeligen Luiciano, o. k. Aber der Janker vom »Pudschek« war definitiv nicht nass gewesen.

Ein seltsames Gefühl tief drinnen in mir sagte aber etwas anderes. Das mit dem nassen Janker erinnerte mich nämlich an rauschenden Wind und Tod. Und ein ganz eigenartiges Bohren im Magen. Als wäre ich an etwas schuld und würde mich gerne vor allen verstecken. Als dürfte es niemand wissen. Es?

Der Blomberg sah mich an, als könnte er die Wahrheit, die nicht einmal ich mehr kannte, von meinem Gesicht ablesen. Ich hatte das ungute Gefühl, etwas gestehen zu müssen. Aber es gab nichts zu gestehen, schärfte ich mir ein. Ich hatte nur unsere Limoflasche geholt. Das war mein gutes Recht.

Das Telefon begann zu klingeln. Auch das noch. Ich blieb eine Weile sitzen. Das war garantiert jemand, der wissen wollte, ob wir eine Leiche gefunden hatten. Da es nicht aufhörte zu klingeln und alle betreten schwiegen, stand ich doch auf.

»Stimmt des?«, fragte Annelieses Stimme statt einer Begrüßung.

Max hätte die Frage bestimmt nicht verstanden, weil man mit Männern in ganzen Sätzen sprechen muss. Aber Anneliese war meine beste Freundin seit meiner Kindheit, da verstand man den anderen auch, wenn der nur ein Grunzen von sich gab. Wir hatten zwar einige Jahre keinen Kontakt miteinander gehabt, aber seit ich den toten Mesner gefunden hatte, waren wir wieder ein Herz und eine Seele. So eine Leiche hin und wieder konnte eine Freundschaft richtig beleben.

»Ja«, antwortete ich wortkarg und schielte zu Blomberg, der noch immer nichts sagte.

»A geh«, sagte Anneliese. »Wie machst du des bloß.«

»Das war gar nicht ich«, stellte ich richtig. »Sondern Großmutter.«

»A geh«, sagte Anneliese, als wäre das total unwichtig. »Und, ist der Schorsch schon da?«

»Nein.« Aber der damische Blomberg, der damische. »Ich muss jetzt aufhören«, sagte ich knapp und legte auf, ohne auf einen Kommentar zu warten. Freundinnen verstanden das, wenn man den Hörer auflegte.

Im nächsten Moment klingelte schon wieder das Telefon, und ich zog unauffällig den Stecker aus der Buchse. Für eine Weile schwiegen alle weiter. Ich setzte mich wieder an den Tisch. Die Edelstahlspüle war schon so trocken gerieben, dass ich mir einbildete, Großmutters Putzen würde ein grässliches Geräusch erzeugen.

Der Blomberg sah so extrem frustriert aus, dass ich Mitleid mit ihm bekam und ihm am liebsten geholfen hätte. Anscheinend hatte er das bemerkt, denn er beugte sich in meine Richtung und fragte sehr freundlich: »Können Sie sich ein Motiv für diesen Mord vorstellen?«

Dann runzelte er die Stirn, vielleicht weil ich die Stirn gerunzelt hatte, vor lauter angestrengtem Nachdenken.

»Ein Motiv«, wiederholte ich genauso freundlich und sah in seine braunen Augen. Wanninger. Umbringen. Ein Motiv.

Blomberg sah zwar noch immer freundlich aus, aber plötzlich schien mir das nur noch äußerlich zu sein. Er dachte über etwas nach. Über mich. Über mein Motiv. Und ob ich etwas zu verbergen hatte.

Mein Puls begann zu rasen.

Das war eines meiner Hauptprobleme. Sobald ich mich einem Polizisten ausgesetzt sah, war mein Körper in einem Ausnahmezustand. Das fühlte sich immer richtig grässlich an, als hätte man tatsächlich etwas falsch gemacht.

Meine Ohren begannen zu surren. Ich sah die braunen Augen vom Wanninger vor mir, wie sie mich angesehen hatten, damals im Herbst. Als der Pudschek gestorben war. Der Sturm hatte an uns gerissen. Die Blätter waren über die Straße gejagt, und ein geöffnetes Fenster hatte penetrant gegen den Rahmen geschlagen. Vielleicht war es auch die Tür gewesen. Und ich hatte dem Wanninger ins Gesicht gesehen, er war so unglaublich entsetzt gewesen, seine Augen starr und unbeweglich auf mich gerichtet, als hätte er für immer vergessen zu blinzeln und zu atmen. Ich wusste damals genau, was er dachte. Du bist schuld, Lisa. Jetzt ist der Pudschek tot.

Und ich wusste, dass er recht hatte.

Und dass mich Großmutter schimpfen würde. Nicht wegen des Pudscheks, sondern wegen des kaputten Marienbildchens.

Marienbildchen? Welches Marienbildchen?

Plötzlich sah ich wieder den Blomberg vor mir und nicht den Wanninger.

Der Blomberg wirkte sehr interessiert und sah mich so intensiv an, dass ich rot wurde. Und sein Kompagnon schrieb etwas auf, obwohl ich noch gar nichts gesagt hatte.

»Motiv?«, krächzte ich noch einmal und wirkte bestimmt wie jemand, der in den letzten vierundzwanzig Stunden einen Organisten erstochen hatte.

»Ach, gehn S’ weiter«, sagte Großmutter, die jetzt direkt hinter mir stand. »Wer sollt denn ein Motiv haben, den Wanninger zu derstechen!« Sie schnalzte unwillig mit der Zunge. »Wo doch jeder weiß, dass dann keiner mehr Orgel spielt. Wenn’s der Wanninger ned macht.«

Früher hätte es das bei uns nie gegeben, dass dieser Blomberg samt Kompagnon über unsere Schwelle gekommen wäre. Männer in unserem Haus waren schlichtweg undenkbar. Es gab also auch Vorteile, wenn man der männlichen Bevölkerung schon von vornherein das Besuchsrecht verweigerte.

Ich hörte das Klacken der Haustür und die Schritte eines resignierten Herrn Blomberg samt seines schreibwütigen Kompagnons auf unserem Gartenweg. Mein Herz hämmerte noch immer wie von jemandem, der gerade gejagt worden war, aber entkommen konnte. Zur Beruhigung sah ich eine Weile Großmutter zu, die wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung nachging, dem Polieren ihrer Edelstahlspüle.

Sie wurde wirklich alt. Dass sie derart in die Knie ging und einen Blomberg hereinließ. Vielleicht hatte sie sich aber auch an Männer gewöhnt, seit Max hin und wieder in unserer Küche saß.

»Wieso erzählst du solche Dinge?«, fragte ich die Kaffeekanne, als könnte die mir Auskunft geben. »Walkjanker. Der Wanninger hatte nur sein kariertes Hemd an.«

»Ja. Der Wanninger.« Großmutter drehte sich erstaunt zu mir um. »Aber es ging doch um den Pudschek.«

Pudschek. Wanninger. Ich verzog den Mund, dass ich in der Kanne wie ein grässliches Monster aussah.

»Natürlich ging’s um den Wanninger«, klärte ich sie auf. »Wieso sollten sie dich nach dem Pudschek fragen, wenn du den toten Wanninger gefunden hast?«

»Ja. Das hab ich mich auch gefragt. Wieso fragen die nach dem Pudschek?« Großmutter setzte sich mir gegenüber und sah mich über die Kaffeekanne hinweg scharf an. »Der ist doch schon Jahre tot.«

»Die haben den Wanninger gemeint«, antwortete ich mürrisch zur Kaffeekanne. Herrgottsakrament, würde der Schmalzl-Wirt jetzt sagen. Mir war das leider verboten.

»Wieso sagen sie dann Pudschek, wenn sie über den Wanninger reden wollen?«, bohrte Großmutter nach. »Macht man des?«

»Weil alle Pudschek sagen«, sagte ich genervt zur Kaffeekanne, sah mein breitgezogenes Gesicht böse an und schnitt einen noch breiteren Mund. »Sie dachten, du verstehst sie nicht, wenn sie Wanninger sagen.«

Ich sah auf, begegnete Großmutters Blick. Ihre Pupillen waren wieder klar und weit, und sie schüttelte leicht den Kopf, als sie meine Monstergrimasse sah. Geh, Mädl, macht man des, in deinem Alter, sollte das wohl heißen.

»Unsinn. Wieso sollten sie meinen, dass ich sie nicht verstehen würde, wenn sie Wanninger sagen? Die Polizisten können doch unmöglich wissen, dass wir zum Wanninger Pudschek sagen. Wo doch nicht einmal der alte Pudschek Pudschek geheißen hat.« Sie machte ein Geräusch wie tststs und schob die Kaffeekanne weg, um meinem Grimassenschneiden einen Riegel vorzuschieben.

»Woher soll ich wissen, dass fremde Polizisten zum Wanninger Pudschek sagen, frag ich dich. Der Schorsch, gut, der weiß das ja. Aber wildfremde Polizisten. Wer weiß, wo die herkommen. Kein Fremder sagte zum Wanninger Pudschek.«

Ja. Das war logisch. Noch dazu, wo auch der Pudschek nicht Pudschek geheißen hatte.

»Und der Pudschek hatte seinen grünen Walkjanker an. Des weiß ich noch, als wär’s gestern g’wesen«, wiederholte sie beharrlich. Sie stand auf und schüttete den Rest ihres Tees in unsere Grünlilie. »An den Ellbogen waren Flicken draufgenäht. Das muss er selber g’macht haben. Des war ned schön g’macht.«

»Vom Pudschek.« Ich beobachtete, wie langsam der Untersetzer unserer Grünlilie überlief und ein kleines Rinnsal die Wand nass machte. Trotzdem blieb ich sitzen und sah einfach zu.

»Natürlich.« Sie drehte sich um und blitzte mich böse an. »Von wem red ich denn die ganze Zeit?«

Stimmt. Wir hatten die ganze Zeit von dem vermaledeiten Pudschek gesprochen. Und wer war dran schuld? Bestimmt der blöde Schorsch. Ich konnte mir richtig vorstellen, was er gesagt hatte: Passt s’ auf, die Wild, die alte, die ist total verrückt. Und wenn ihr anfangts mit Wanninger, hin und her. Des versteht die nie.

»Aber der Wanninger. Es ging um den blöden Wanninger.«