»Der reinste Quatsch! – Kinder, so ein Thema! – Blödsinn! – Wenn er denkt, daß ich ihm darüber eine lange Geschichte schreibe, irrt er sich. Ich werde ihm schon was hinschmieren! Er braucht sich doch nicht einzubilden, daß wir Untersekundanerinnen dumme Bälge sind. Er wird sich meinen Aufsatz nicht hinter den Spiegel stecken!«
Ein junges, schlankes Mädchen, das vor den Schulbänken aufgeregt hin und her lief, hatte diese Worte in größter Erregung hervorgestoßen. Vor wenigen Minuten hatte der Ordinarius der Klasse, Studienrat Schumacher, das Thema für den Klassenaufsatz gegeben: »Kann plötzlicher Reichtum Glück oder Unglück sein?«
Man hatte sich auf etwas Klassisches präpariert. Es war laut geworden, daß der Aufsatz über Lessing handeln sollte; die Untersekunda hatte sich darauf vorbereitet, nun kam etwas ganz anderes, und die Folge davon war, daß fast die gesamte Klasse in Erregung geriet.
Studienrat Schumacher hatte für wenige Augenblicke seine Klasse verlassen. Ehe sich seine Schülerinnen an die Aufgabe begaben, machte sich erst ihre Enttäuschung in heftigen Reden gehörig Luft. Vor allen Dingen war es die rotblonde Ursel Pornitz, die, wie immer, das große Wort führte. Man hätte es dem hübschen, blauäugigen jungen Mädchen kaum zugetraut, daß es dem Lehrer manche trübe Stunde bereitete. Wenn Ursel ihren rotblonden Bubikopf mit ruckartiger Bewegung in den Nacken warf, wenn sie beide Hände auf die Schulbank stemmte und die Oberlippen hochzog, wirkte sie wenig sympathisch. Trotzdem hatte man das junge Mädchen recht lieb, weil man wußte, daß trotz des ungezügelten Temperamentes doch Warmherzigkeit, Hilfsbereitschaft und Menschenfreundlichkeit in ihrem Herzen wohnten. Man merkte es ihr oftmals an, daß zärtliche Mutterhände fehlten, die die Falten des Charakters hätten glätten können.
Man merkte aber auch, daß es Ursel Pornitz genau bekannt war, eine der reichsten, vielleicht die reichste junge Dame in ganz Düsseldorf zu sein, besaß doch der Vater die weltbekannten Stahlwerke, die trotz der Schwere der Zeit bis heute noch auf ihrer alten Höhe geblieben waren.
War es da ein Wunder, daß man die rotblonde Ursel schon mit ihren sechzehn Jahren stark umschwärmte und verwöhnte? Daß man sich ihr fügte, weil man große Vorteile von ihr hatte. Man nutzte sie aus, man freute sich ihrer offenen Hand, und nur wenige wagten einen Tadel auszusprechen.
»Wißt ihr, was ich schreibe? Plötzlicher Reichtum kann für manchen ein Glück sein; z.B. für unseren Ordinarius, den Studienrat Schumacher. Er könnte sich dann eine neue Joppe kaufen und brauchte nicht in die Klasse zu kommen mit einer, an der die Ärmel mit Borte eingefaßt sind. Vielleicht würde es auch noch zu neuen Stiefeln langen. – Kinder, ich könnte mich totlachen, wenn ich ihn da oben sitzen sehe, mit dem Riester am linken Stiefel.«
»Aber, Ursel«, mahnte eine schlanke Blondine, »das kannst du doch nicht niederschreiben, das wäre frech.«
»Pah, ich schreib’ es aber, ich brauche ja keinen Namen zu nennen. Ich schreibe: ›für manchen Studienrat wäre es ein Glück, plötzlich reich zu sein, damit er‹ – und so weiter. – Ich schreibe das ganz bestimmt! Ihr werdet es sehen.«
»Laß doch Herrn Studienrat Schumacher in Ruhe, Ursel«, klang es von der letzten Bank.
»Halte deinen Mund, Malwine, du bist ein Bählamm, – du wagst gar nichts!«
»Ich finde es unrecht von dir, Menschen auszulachen, die nicht so reich sind wie du. Bist du nicht erst gestern beim Direktor gewesen?«
Ursel Pornitz zuckte die Schultern. »Weil ich Tinte auf den Stuhl geschmiert habe. – Wenn es weiter nichts ist!«
Die Unterhaltung wurde unterbrochen, Studienrat Schumacher betrat soeben wieder das Klassenzimmer. – Ursel, die noch immer in der Klasse umhergegangen war, begab sich mit langsamen Schritten auf ihren Platz, zupfte aber erst noch ein Weilchen sehr auffällig an ihren Ärmelrändern, wandte sich dann zu ihrer Nachbarin Eva Aßmann und sagte halblaut:
»Ich glaube, an meinem Kleide stoßen sich die Ärmel durch.«
Die blonde Eva bekam einen hochroten Kopf, puffte Ursel in die Seite und flüsterte verlegen:
»Sei doch endlich still, Ursel!«
Dann begannen die Federn über das Papier zu gleiten. Auf dem Gesicht der jungen Millionärin lag ein spöttischer Zug.
Plötzlich schob sie Eva ihr Heft hin und wies mit dem Federhalter auf die soeben geschriebenen letzten Zeilen. Eva wurde blaß, als sie sah, daß Ursel ihre kühnen Worte wahr gemacht hatte. Flüsternd flehte sie die Freundin an, sie solle die Seite rasch herausreißen; doch Ursel schüttelte energisch den Kopf, klappte als erste ihr Heft zu und erklärte schon nach einer weiteren Viertelstunde, daß sie mit dem Aufsatz fertig sei.
Die Hefte wurden eingesammelt, es klingelte zur Pause. Ursel wurde umdrängt.
»Hast du es wirklich geschrieben?«
Lachend gab das junge Mädchen den Inhalt des Aufsatzes zum besten. Eva Aßmann bestätigte die Wahrheit der Worte.
»Auwaih!« meinte Madlon Rose, »wenn du nur nicht von der Schule fliegst!«
»Ich?« lachte Ursel. »Meinst du, das wagt der Direx? Dem würde mein Vater auf die Bude rücken.«
»Schließlich kann doch der Direktor in seiner Schule machen, was er will. Dein Vater ist in seinem Stahlwerk mächtig, dort kann er die Leute hinauswerfen; Direktor Eichwald hat über das Arndt-Gymnasium zu bestimmen. – Ich fürchte, dieser Aufsatz kommt dir teuer zu stehen.«
»Macht ja gerade Spaß«, meinte Ursel. »Etwas Prickelndes muß ich immer haben. Die Hauptsache ist, daß sich unser Ordinarius ärgert. Paßt auf, schon morgen hat er einen besseren Anzug an.«
Der Aufsatz Ursels wurde natürlich sehr rasch auf dem ganzen Schulhofe bekannt. Einige staunten über den Mut der Sekundanerin, andere tadelten das Verhalten des kecken Mädels.
»Kann ich dich ’mal für einige Augenblicke sprechen, Ursel?«
»Freilich, Lieselotte.« Ursel steckte ihren Arm durch den der älteren Freundin. Sie hatte für Lieselotte Windig die größten Sympathien, obwohl Lieselotte zwei Jahre älter war und in der Unterprima saß. Aber die Villen beider standen in derselben Straße, die Gärten grenzten aneinander, und so hatte sich zwischen den beiden recht verschiedenen jungen Mädchen eine herzliche Freundschaft gebildet.
»Ist es wahr, Ursel, was sie von dir erzählen? Dein heutiger Aufsatz …«
»Fängst du auch davon an? – Natürlich ist es wahr!«
»Du schneidest auf, Ursel. So etwas Häßliches hast du ganz gewiß nicht niedergeschrieben.«
»Das habe ich, mein Wort darauf, Lieselotte.«
»Dann schäme dich aber, Ursel, schäme dich ganz gründlich! Du kannst dir alle Tage ein anderes Kleid anziehen, du brauchst deine Schuhe nicht flicken zu lassen; aber wenn ein Studienrat alles das, was er bekommt, für seine Familie hergibt, wenn er seine alte Mutter ernährt, den Bruder studieren läßt, eine kranke Schwester auf Erholungsreisen schickt, so ist das ein wertvoller Mensch. Meinst du, ihm ist es angenehm, in solch ausgetretenen Schuhen umherzulaufen? Er weiß genau, daß ihr über ihn spöttelt.«
»Er hat dich wohl zu seiner Vertrauten gemacht?«
»Nein, aber die Waschfrau, die wir haben, wohnt in demselben Hause, sie kennt die Verhältnisse von Schumachers. Ich sage dir, über Studienrat Schumacher darfst du nichts sagen. Ich möchte heute ’mal den Mann sehen, der sich keine Zigarre, kein Glas Bier leistet, der für Mutter und Geschwister sorgt und in den alten Sachen umherläuft. – Ursel, ich finde es schäbig von dir, darüber zu spotten.«
»Zu einem Paar neuer Stiefel wird es bei ihm auch langen.«
»Nein, dazu langt es nicht, – aber du mit deinen sechzehn Jahren verstehst das leider noch nicht. Du bekommst ein Taschengeld, das so groß ist, daß eine ganze Familie davon leben könnte. Du weißt nicht, was es heißt, zu rechnen; bist aber alt genug, um einmal darüber nachzudenken.«
»Sei doch nicht gleich so eklig, Lieselotte. Meinst du wirklich, daß er sich keine neuen Stiefel kaufen kann?«
»Ich weiß es genau.«
Ursel ließ den Arm der Freundin los. Einmal ärgerte sie sich über die vorwurfsvollen Worte, dann aber war doch ein wenig Scham in ihr, daß sie solch einen Aufsatz niedergeschrieben hatte. Gewiß, sie hatte oft genug gehört, daß manche Leute kein Geld für Brot hatten, aber ein Studienrat, der sein schönes Gehalt bekam, ein Mann, der studiert hatte, – wenn es wirklich so war, durfte Schumacher diesen Aufsatz nicht lesen.
Sie ging einige Male nachdenklich über den Schulhof; dann war ihr Plan gefaßt. Noch waren die Hefte nicht durchgesehen; sie lagen wahrscheinlich im Schrank des Lehrerzimmers. Sie mußte unter allen Umständen versuchen, ihr Heft zurückzuholen.
Die Pause war beendet, die jungen Mädchen strömten in das große Gebäude zurück. Ursel ging sehr langsam die Treppe empor. Sie mußte ins Lehrerzimmer. Sie wartete draußen auf dem Flur, dann huschte sie an der Sekunda vorüber, durch den langen Korridor, lauschte wenige Augenblicke an der Tür des ihr bekannten Zimmers, und weil alles still war, drückte sie die Klinke nieder.
Es war niemand anwesend. Hastig ging sie zum Schrank, öffnete die Flügeltüren. – Dort lagen die Aufsatzhefte. Sie riß den Stoß heraus, durchwühlte ihn und war eben im Begriff, ihr Heft herauszuziehen, als sich die Tür öffnete und Direktor Eichwald den Raum betrat.
»Was tust du hier?«
Durch zwei Brillengläser funkelten Ursel die Augen des obersten Schulmannes an.
»Warum bist du nicht in deiner Klasse, Ursel? Was hast du hier am Schrank zu tun?«
»Ich suchte mein Aufsatzheft.«
Der Direktor nahm den Stoß und sagte tadelnd: »Lege dein Heft wieder zu den anderen zurück und begib dich in deine Klasse.«
Ursel hielt das Heft fest. »Ich möchte noch etwas ändern.«
»Ich verlange, daß du sofort das Aufsatzheft zurücklegst!«
Der Rotkopf flog in den Nacken; Ursels Augen blitzten. »Nein! – Ich habe einen großen Fehler in meinem Aufsatz gemacht und will ihn erst korrigieren.«
»Du gibst mir sofort das Heft!«
Ein zorniges Aufschluchzen kam über die Mädchenlippen. Ursel packte das Heft, klappte es auseinander, riß mehrere Seiten heraus, fetzte sie in Stücke, dann schleuderte sie alles dem Direktor vor die Füße.
»Ursel!«
Sie hörte nicht. Bebend vor Zorn war sie zur Tür geeilt, die sie krachend hinter sich zuwarf. Jetzt in die Klasse zurück? Geschichtsstunde, wieder bei Studienrat Schumacher? – Nein, tausendmal nein! Sie lief zu den Flurschränken, holte sich Mantel und Hut heraus und verließ das Gymnasium.
Als Direktor Eichwald zehn Minuten später die Untersekunda betrat, meldete man ihm, daß Ursel seit der Pause fehle. Wohl lagen ihre Bücher auf ihrem Platze, aber gesehen hatte sie niemand mehr. Als man feststellte, daß ihre Überkleider fehlten, wußte man sofort, daß das eigenwillige junge Mädchen für heute die Schule schwänzte.
Direktor Eichwald hatte eine kurze Unterredung mit Studienrat Schumacher.
»Ich sehe keinen anderen Weg«, sagte der Direktor, »ich muß mich einmal persönlich mit Herrn Dr. Pornitz in Verbindung setzen. Ich möchte es dem Vater nicht antun, seine Tochter vom Gymnasium zu weisen; doch so geht es unmöglich weiten.«
»Dr. Pornitz kümmert sich wenig um seine Tochter, – ob man sich einmal an die Hausdame, Frau Rubach, wendet?«
»Ich habe schon öfter gehört, daß sich Ursel mit den Hausdamen nicht steht, daß Herr Dr. Pornitz häufig wechselt, das heißt, die Hausdamen verlassen die sonst geradezu glänzende Stellung, weil man ihnen das Leben recht schwer macht. Wenn hier nicht einmal energisch durchgegriffen wird, fürchte ich, daß das Schlechte in Ursels Charakter das Gute überwuchert. Der Reichtum des Vaters, die Verehrung, die man ihr überall zollt, ist Gift für diese junge Mädchenblüte. Auf keinen Fall kann das so weitergehen.«
Ursel war auf dem schnellsten Wege heimgegangen. Der Vater würde sich nicht wundern, wenn sie heute zeitiger heimkam, er erfuhr es gar nicht. Er war draußen im Stahlwerk. Der Hausdame gab sie keine Rechenschaft. Kein Mensch hatte ein Recht, sich nach ihrem Tun und Lassen zu erkundigen. Sie fühlte sich heute recht unzufrieden mit sich selbst. Sie hätte am liebsten einen tollen Streich ausgeführt, um innerlich wieder zur Ruhe zu kommen.
In ihrem Zimmer angekommen, lagen mehrere Briefe auf dem Tisch. Sie lachte hellauf, als sie las. Einige junge Ingenieure des Vaters schrieben ihr viele zärtliche Worte, einer dichtete sie sogar an, aber das interessanteste Schreiben stammte doch von dem Boxer Wolf Schrack. Der Boxer hatte kürzlich einen Preis errungen, war auch in Köln aus einem Kampfe siegreich hervorgegangen; man hatte ihm in Düsseldorf zugejubelt, und Ursel war auch bei einem Boxkampf anwesend, in dem sich Wolf Schrack glänzend bewährte. Da hatte sie ihm geschrieben, daß sie das Boxen gern auch lernen wolle, ob er nicht gewillt sei, ihr darin Unterricht zu geben.
Nun lag seine Antwort vor ihr. Wolf Schrack schrieb, daß er dazu bereit wäre.
Sie schrieb ihm sofort wieder. Sie lud ihn ein, er möge morgen nachmittag nach der Villa herauskommen, dann wollte man alles Nähere besprechen.
Am nächsten Morgen ging Ursel mit recht schlechtem Gewissen ins Gymnasium. Sie machte ganz absichtlich einen Umweg, pfiff vor dem Hause Evas und erreichte es auch, Eva aufmerksam zu machen, so daß man gemeinsam weitergehen konnte. Nach etwa fünf Minuten blieb Eva plötzlich stehen.
»Ich habe mein Frühstück vergessen!«
»Macht nichts«, meinte Ursel, »du holst dir in der Pause Brötchen und Wurst, oder ich gebe dir etwas von meinem Frühstück ab. Ich habe die ganze Tasche voll Schokolade.«
An der nächsten Straßenecke stand ein Radfahrer, der auf seinem Dreirad einen Korb mit frischen Semmeln stehen hatte. Der Bäckerlehrling nahm einige Beutel und verschwand damit in dem Eckhause.
Lachend wies Ursel aus den Korb. »Die Brötchen sind schon da, Eva, nimm dir doch einige heraus. Ich werfe dem Kerlchen Geld in den Korb.«
»Das geht doch nicht«, sagte Eva und schritt weiter.
»So nimm doch!« Ursel hatte in den Korb gegriffen, zwei Semmeln herausgeholt und rief erneut hinter Eva her: »Hier, nimm doch!« Als sich Eva aber nicht umdrehte, wurde Ursel ärgerlich und warf die Freundin kurzerhand mit den beiden Brötchen. Gegenüber auf der Straße standen zwei kleine Knaben, die vergnügt dazu lachten.
»Ihr wollt wohl auch was abhaben?« rief Ursel.
Der eine der Knaben streckte die Hände aus, wieder griff Ursel in den Korb und warf ein Brötchen im großen Bogen über die Straße. Als es in den Rinnstein fiel, nahm sie ein zweites heraus. Es bereitete ihr große Freude, den beiden Knaben die Brötchen zuzuwerfen. Daß dabei manches in den Straßenschmutz fiel, machte keinen Eindruck auf sie.
»Schämst du dich denn gar nicht, so mißachtend mit dem lieben Gut umzugehen?« Das Fenster eines Hauses hatte sich geöffnet, eine Dame rief die Worte voller Entrüstung hinunter. Blitzschnell zog Ursel die Börse, warf ein Markstück in den Korb und eilte im Laufschritt hinter Eva her.
Ehe im Arndt-Gymnasium die erste Unterrichtsstunde beendet war, hatte man dem Direktor gemeldet, daß eine Untersekundanerin, man kannte die Mützen genau, in der Wilhelmstraße in frevelhafter Weise mit Brötchen geworfen habe.
Ordinarius Schumacher stellte das Verhör an, Ursel meldete sich sofort.
»Ja, – ich habe geworfen, aber ich habe die Brötchen auch bezahlt.«
Schumacher schaute ihr einige Sekunden mit stummem Vorwurf ins Gesicht. Dann sprach er sehr ernst zu ihr von der großen Not, die im ganzen Deutschen Reiche herrsche, von Hunger und Selbstmord, von vielen Augen, die sehnsuchtsvoll in die Bäckerladen blicken, von Menschen, die mitunter gern ein Brötchen aus dem Straßenstaube aufheben würden, und von denen, die diese Gefühle nicht kennen, die das tägliche Brot mißachten.
»Dir mögen meine Worte übertrieben erscheinen, Ursel; wenn du aber älter geworden bist und das Leben von einer anderen Seite ansiehst, wirst du mir recht geben. Du kennst die Not des Daseins nicht, möge sie dir immer fernbleiben; aber wir halten unser Schicksal nicht in Händen, und schon manch einer, der aus goldenen Schüsseln speiste, ist später froh gewesen, wenn er das Brot von anderer Tische essen durfte.«
Ursel wollte den Kopf trotzig in den Nacken werfen, doch die Worte des Ordinarius blieben nicht ganz ohne Eindruck. Vorwürfe vertrug sie aber nun einmal schlecht, und so sagte sie noch einmal:
»Ich habe doch alles bezahlt, es hat niemand Nachteil dadurch gehabt.«
»Du siehst doch, daß du damit öffentliches Ärgernis erregtest«, flüsterte ihr Malwine Limbach zu. »Ich würde niemals mit Brot herumwerfen. – Meine Eltern leiden auch keine Not, aber bei uns wird jede trockene Scheibe Brot sorgfältig verwahrt.«
So war Ursel Pornitz die Ursache einer Lehrerkonferenz. Gar manches kam zur Sprache, Gutes und Schlimmes Obwohl Direktor Eichwald auf Ursel recht ärgerlich war, wies er doch auf ihr weiches Herz hin, das sich in vielen Fällen deutlich gezeigt hatte.
»Freilich, sie hat viel Geld! Sie hilft auch damit und hilft gern, aber trotzdem ist sie eine Gefahr für die ganze Schule. Ich spreche heute noch mit Herrn Dr. Pornitz, ich habe um eine Konferenz gebeten, und Herr Dr. Pornitz hat mich wissen lassen, daß er um sechs Uhr zu meiner Verfügung steht. Wir alle kennen diesen Mann als einen rechtlichen, energischen Menschen. Wenn er sich seiner einzigen Tochter nicht so widmen kann, wie es sein müßte, liegt es daran, daß er mit Arbeit überbürdet ist und die richtigen Hände für seine Tochter noch nicht fand. Ursel müßte in strenge Zucht zu wertvollen Menschen, die es gut mit ihr meinen, sonst geht sie uns verloren.«
Während Ursel daheim in der Villa den Boxer Schrack empfing und voller Begeisterung seinen Worten lauschte, betrat Direktor Eichwald das Privatkontor des mächtigen Stahlkönigs Pornitz. Er machte nicht viele Worte, er wußte, die Zeit des Großindustriellen war beschränkt. Er berichtete alles das, worauf es ankam.
Zum ersten Male hörte Dr. Pornitz aus bewährtem Munde die Fehler seiner Tochter. Wohl hatten seine Hausdamen häufig über Ursel geklagt, aber alles, was sie sagten, erschien ihm so nichtig, daß er keinen Grund sah, energisch einzugreifen. Heute tat sich vor seinen Augen ein Abgrund auf, der sein einziges Kind zu verschlingen drohte. Was er soeben vernommen hatte, war viel mehr als ein übermütiger Backfischstreich. Er, der kluge Mann, der über einen weiten Blick verfügte, sah, daß die Gefahr des Reichtums für Ursel unendlich groß war; aber wie sollte er es ändern? Wie konnte verhindert werden, daß Ursel auf Irrwege geriet?
»Ich danke Ihnen, Herr Direktor, danke Ihnen von ganzem Herzen, daß Sie den Weg zu mir fanden. Ich sehe klar und deutlich, daß viel versäumt wurde, ich hoffe aber, es ist noch nicht zu spät.«
»Nicht im geringsten, Herr Doktor, viel Gutes schläft im Herzen Ihrer Tochter.«
»Es muß ein Weg gefunden werden, der Ursel zur Bescheidenheit, zum Pflichtbewußtsein und zur Arbeitsfreude zurückführt. Hier muß energisch eingegriffen werden. Ermahnungen und dergleichen nützen nicht, dazu ist leider schon viel versäumt worden. Ich werde den Weg finden, Herr Direktor. Es handelt sich um meine einzige Tochter. Die Familie Pornitz ist bisher stets auf geraden Wegen, makellos durchs Leben gegangen. Meine Einzige soll eine echte Pornitz werden. – Haben Sie Dank, Herr Direktor! Was ich tun werde, weiß ich im Augenblick noch nicht, jedenfalls wird mit Energie durchgegriffen werden.«
Nach dieser Unterredung übertrug Dr. Pornitz alles Weitere seinem Ersten Direktor.
»Ich bin heute nicht mehr zu sprechen, obwohl ich daheim in der Villa bin.«
Er suchte seine Tochter auf.
Ursel saß, dicke Rauchwolken vor sich hinblasend, in ihrem Zimmer. Neben ihr ein vierschrötiger Mann, der nicht immer in gewählten Ausdrücken sprach.
»Du hast Besuch, Ursel?«
»Ja, Papa, es ist der Boxer, Herr Schrack, bei dem ich Unterricht nehmen will.«
Schweigend lauschte Dr. Pornitz den Verhandlungen. Schließlich griff er ein, und fünf Minuten später war der Boxer entlassen.
Ursels Vater brachte die Unterhaltung bald auf dieses, bald auf jenes Thema. Er wollte einen Einblick in die Seele seines Kindes tun und stellte absichtlich Fragen, die dazu angetan waren, ihm ihre Ansichten, ihre Seelenregungen zu offenbaren.
»Erzähle mir ein wenig aus der Klasse, Ursel. – Wie stehst du mit deinen Lehrern?«
Auch jetzt wieder hörte er aus den Worten seines Kindes nur sorglosen Leichtsinn. Immer wieder pochte Ursel auf den großen Reichtum des Vaters, immer wieder hörte er eine gewisse Nichtachtung heraus, wenn sie auf die ärmere Bevölkerung zu sprechen kam.
Sein Gesicht wurde immer sorgenvoller. Er stützte den Kopf in die Hand und schaute vor sich nieder.
»Was sinnst du, Papa?«
»Ich dachte an deine Vorfahren, mein Kind, an deinen Großvater, der in emsiger Arbeit das Stahlwerk vergrößerte. An deine gute, sanfte Mutter, die trotz ihres Reichtums die fleißige und bescheidene Frau blieb. Nun sehe ich dich, Ursel, und bange Sorge erfaßt mich.«
»Sorge um mich, Papa?«
»Ich möchte, daß auch du eine echte, rechte Pornitz bleibst.«
»Ich weiß wirklich nicht, was du heute hast, Papa, du bist so merkwürdig. – Fühlst du dich krank?«
»Nein, Ursel, aber manchmal ist es gut, wenn man die Augen ausmacht. Ein Sohn ist mir versagt, ich habe nur eine Tochter, und die darf das nicht zuschanden machen, was in einem Jahrhundert mühsamer Arbeit aufgebaut wurde.«
In hellem Übermut lachte Ursel auf. »Nein, wie du heute mit mir redest, Papa, – zu drollig!«
»Weil du mich nicht verstehst, Ursel, weil du nicht einmal ahnst, was mich bedrückt.«
»Irgendetwas schwebt in der Luft, Papa, du willst mich nicht beunruhigen?«
Er strich ihr mit der Hand über das dichte Haar und schaute ihr fest in die Augen.
»Ich habe Sorgen, mein Kind, schwere Sorgen.«
»Du hast Geldverluste?«
»Viel Schlimmeres steht auf dem Spiele, Ursel – doch jetzt muß ich gehen.«