Das Buch
In der Niemandsstadt gibt es alles, was man sich in der Wirklichkeit erträumt. Drachen ziehen durch die Wolken, Statuen zwinkern einem freundlich zu. Gleich drei Sonnen wärmen Gesicht und Rücken. Räume entstehen immer dann, wenn man sie braucht. Hier fühlt sich Josefine wohl. Doch diese Stadt, ihre Geschöpfe und ihr Zauber sind in Gefahr. Bedroht von spionierenden Crowbots, von Magie raubenden Maschinen, von einer weiten, weißen Leere. Ausgerechnet Josefine soll eingreifen – aber wie bekämpft man einen Gegner, der nicht existiert?
Der Autor
Tobias Goldfarb hat Internationalen Journalismus in London studiert und als Journalist und Hörspielautor unter anderem für den WDR und das Deutschlandradio gearbeitet. Als Autor und Regisseur hat er Theaterstücke für zahlreiche Bühnen verfasst und inszeniert. Auf der Jagd nach neuen Geschichten wandert er gerne durch die schottischen Highlands, die Brandenburger Lowlands und andere Gegenden mit möglichst weiten und spektakulären Himmeln. Tobias Goldfarb lebt mit seiner Familie in Berlin. »Niemandsstadt« ist sein erster Roman für Jugendliche.
Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
TEIL 1
Manchmal weiß ich nicht, ob ich gerade drüben bin. Es gibt gewisse Anzeichen – ein leicht klebriger Film, der über den Dingen liegt, eine andere Qualität des Lichts, Regen, bei dem sich ab und zu ein Tropfen vom Asphalt löst und zurück in den Himmel fällt. Wenn ich in geschlossenen Räumen bin, ist es einfach. Ich schalte das Licht an. Drüben wird es nie sofort hell, es gibt immer eine kleine Verzögerung, fast wie bei den Energiesparlampen, die es früher gab. Aber doch ein bisschen anders. Das Licht schleicht sich schnell ins Zimmer, als wäre es gerade aufgewacht und wollte wiedergutmachen, dass es ohne Erlaubnis eingenickt war.
Natürlich funktionieren Smartphones drüben nicht. Aber ich habe meins sowieso selten dabei. Ich weiß, dass meine Eltern dann sehen können, wo ich gerade bin. Wahrscheinlich lässt sich diese Funktion irgendwie überlisten. Ich werde Eli fragen. Das hat keine Eile. Ich habe nicht die Absicht, mich herumzutreiben, wenn ich nicht drüben bin. Wenn ich drüben bin, bin ich unauffindbar. Nehme ich an.
Wenn ein Drache am Fernsehturm vorbeifliegt, ist es einfach. Dann bin ich drüben. Wenn die Steinplatten der Gehwege auf Lava schwimmen und sich in den Ritzen kleine Dämonen tummeln, bin ich drüben. Dämonen sind nicht so schlimm, wie alle denken. Frau Granitz aus dem dritten Stock ist viel schlimmer.
Wenn ich in der S-Bahn sitze und keiner redet, bin ich nicht drüben. Wenn ich in der S-Bahn sitze und mir gegenüber hat jemand eine gespaltene Zunge, bin ich entweder drüben oder es ist wieder irgendwo eine Messe für Piercing und Body Modification. Wenn einer seine Mütze abnimmt und auf dem Hinterkopf ein zweites Gesicht hat, bin ich drüben. Wenn sich zwei leidenschaftlich küssen, bin ich höchstwahrscheinlich nicht drüben. Wenn aber einer der beiden dabei Blut saugt, bin ich drüben.
Es ist meine Stadt und es ist doch nicht meine Stadt.
Es ist die Stadt drüben, auf der anderen Seite.
Die Stadt, die nirgendwo und überall ist.
Die Stadt, die ist und gleichzeitig nicht ist.
Es ist die Niemandsstadt.
Ob ich drüben Angst habe? Natürlich habe ich Angst. Aber ich habe auch Angst, wenn ich nicht drüben bin. Ich bin ein Angsthase. Ich würde gerne behaupten, dass das der Grund ist, warum mir nichts passiert. Stimmt nur leider nicht. Mir passiert ständig etwas. Ich breche mir dauernd die Knochen, meistens kurz vor den Sommerferien. Ich bin diejenige, die zu spät in den Bus steigt und deren Rucksack von der Tür eingeklemmt wird, sodass die Tasche bis zur nächsten Station draußen mitfährt und ich drinnen ausgelacht werde. Während ich Todesangst habe. So etwas würde mir drüben nie passieren. In der Niemandsstadt wird man zwar ab und zu von jemandem gebissen, aber ausgelacht wird man nie. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, muss ich sagen, dass ich drüben ziemlich häufig gebissen werde. Während mich, wenn ich nicht drüben bin, fast nie jemand beißt, erst recht keine wildfremden Leute irgendwo in der Stadt.
Hier bin ich Josefine. Ich glaube, meine Eltern fanden den Namen irgendwie niedlich, als sie sich vorgestellt haben, dass ein kleines Baby zufrieden in der Wiege liegt und lächelnd an ihren Fingerchen nuckelt. Sie haben mich »Finchen« genannt, weil das so nett klingt. Damit müssen sie aber ziemlich bald aufgehört haben, denn anstatt zufrieden zu lächeln und an den Fingerchen zu nuckeln, habe ich als Baby hauptsächlich geschrien. Etwa zwanzig Stunden am Tag, wenn man glaubt, was meine Eltern sagen. Zu so einem schreienden Bündel mit hochrotem Kopf passte Finchen nicht mehr so gut, also sind sie zu »Jo« gewechselt. So nennen meine Eltern mich fünfzehn Jahre später immer noch: Jo. Kurz und knackig. Klingt nicht nach Angsthase, obwohl ich ja einer bin. Inzwischen würde Finchen vielleicht sogar besser passen.
In der Schule habe ich aber einen anderen Spitznamen: »Josef«. Ich bin ein Mädchen, das aussieht wie ein Junge, und Josef genannt wird. Josef wie in: Alter Mann mit Bart und Hut, der irgendwo in den Bergen ein Bündel Reisig durch eine verschneite Landschaft schleppt.
In der Niemandsstadt gibt es Drachen. Sie kommen nicht oft in die Stadt, sie machen ihr eigenes Ding, ab und zu sieht man ein paar in Richtung Ostsee durch die Wolken ziehen. Manchmal macht einer eine Zwischenlandung in der Spree. Das ist immer ein ziemliches Spektakel, selbst für drüben. Ich habe aber noch nie erlebt, dass Drachen etwas angezündet hätten.
Ich finde, die Drachen sind ein gutes Beispiel, wenn man darüber nachdenkt, was die Niemandsstadt eigentlich ist. Die Drachen sehen dort genau so aus, wie man sie sich hier vorstellt. Aber warum gibt es dort welche, hier aber nicht? (Von Frau Granitz aus dem dritten Stock einmal abgesehen.)
Dazu habe ich ein paar Theorien entwickelt.
Theorie eins: Diese Seite und die andere Seite waren einmal eine Einheit. Irgendwann haben sich die beiden aufgespalten und hier erinnern wir uns noch an Dinge und Kreaturen, die längst verschwunden sind, während sie drüben noch existieren. Wie die Drachen zum Beispiel.
Theorie zwei: Es gibt durchlässige Stellen, vielleicht eine Art Membran, zwischen den beiden Städten. Durch diese Membran gelangen oder gelangten Wesen von drüben nach hier. Diese Ereignisse haben so viel Wirbel verursacht, dass man sich immer noch daran erinnert, auch wenn diese Wesen – wie die Drachen – längst nicht mehr hier sind. Andere Wesen gelangen von hier nach drüben. Wie ich. Wobei ich weder hier noch drüben auch nur den geringsten Wirbel verursache.
Theorie drei: Die Niemandsstadt ist das, was sich die Menschen vorstellen oder erträumen. Wenn die Menschen hier von geflügelten, geschuppten Wesen fantasieren, wird es sie drüben geben. Ebenso wie blasse, vornehm aussehende Landadlige, die Blut saugen und tagsüber in Särgen schlafen. Ebenso wie pünktliche U-Bahnen, in denen es nach frisch gemähter Sommerwiese duftet. Das alles gibt es drüben, weil man es sich hier erträumt oder sich davor gruseln möchte.
Ein interessanter Punkt: Drüben träumt niemand.
Ich bin ziemlich sicher, dass ich vor etwa einem Jahr das erste Mal in der Niemandsstadt war. Es war ein Sonntag im August, an einem dieser drückenden Nachmittage, an denen man sich ein Gewitter herbeisehnt, als ich nach meiner Laufrunde duschen wollte. Ich gehe jeden Tag laufen, auch wenn richtige Läufer das eher als »Watscheln« bezeichnen würden. Wenn ich im Park an einer Gruppe Enten vorbeikomme, schauen sie jedenfalls immer sehr verständnisvoll zu mir herüber: Ja, die ist eine von uns!
Ich laufe nicht, um fit zu werden oder zu bleiben. Ich laufe, um den Kopf leer zu bekommen. Mein Kopf ist meistens viel zu voll, wie ein unaufgeräumter Dachboden, in dem man ständig irgendetwas findet, aber nie das, was man gesucht hat.
Jedenfalls kam ich nach dem Laufen nach Hause und ein Frosch erwartete mich im Badezimmer. Er saß in der Duschwanne neben dem Abfluss, kehrte mir den glänzenden Rücken zu und starrte an die Wand. Es war ein braunes Exemplar, sicherlich ein Frosch und keine Kröte, die Haut war glatt und die Figur zierlich. Kein verzauberter Prinz, einfach nur ein Frosch. Ich beobachtete eine Weile, wie er gleichmäßig atmete. Dann hielt ich eine Hand vor ihn und stupste ihn mit dem Zeigefinger der anderen Hand leicht am Rücken an. Er sprang direkt auf meine Handfläche. Ich spürte sein kleines, schnelles Herz schlagen und setzte ihn im Waschbecken ab. Dort saß er ruhig neben dem Abfluss und sah nach oben. Ich verschloss den Ausguss, ließ ein wenig lauwarmes Wasser ein und legte Mamas Haarbürste als Kletterstein hinein. Ganz zufrieden mit meinem improvisierten Froschteich ging ich duschen. Ich dachte darüber nach, wie der Frosch in das Badezimmer gelangt sein könnte. Er war definitiv zu groß, um durch den Ausguss geklettert zu sein. Dass er durch das Dachfenster hereingestiegen war, war auch unwahrscheinlich, er hätte schon von einem vorüberfliegenden Storch fallen gelassen werden müssen. Noch unwahrscheinlicher war, dass er durch die Wohnungstür gekommen war. War er durch die Kanalisation geschwommen und aus der Toilette gehüpft? Konnte ein Frosch durch das Rohrsystem bis in den fünften Stock klettern? Während ich duschte und nachdachte, fiel mir auf, wie ab und zu ein Tropfen vom Boden der Duschwanne abprallte und zurück in die Brause sprang. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich drüben war. Das habe ich aber erst später verstanden. Damals dachte ich bloß, dass ein Frosch im Waschbecken saß und mir beim Duschen zuschaute.
Für meine Eltern ist nichts toller als Kultur, wobei ja gar nicht immer klar ist, was das sein soll. Mama hat als Buchhändlerin gearbeitet, Papa als Lehrer, bis beide beschlossen haben, ihren »Traum« zu verwirklichen. Dieser Traum war die eigene Buchhandlung. Im Jahr vor meiner Geburt haben sie ihn tatsächlich wahr gemacht. Als sie dann das ständig schreiende Baby, das sie eigentlich Finchen nennen wollten, im Haus hatten, war das mit dem Traum nicht mehr so einfach. Papa musste irgendwelche Jobs annehmen, weil nicht genug Geld da war und das kleine Baby, das ich war, hat im Hinterzimmer der Buchhandlung geschrien, während Mama versucht hat, ihren Kunden Bücher zu verkaufen, die einem verraten, wie man sein Leben in den Griff kriegt. Mir ist vollkommen klar, warum kaum jemand etwas gekauft hat.
Mama und Papa haben ihre Buchhandlung »Stanislaus« genannt, weil das der Name des Bruders irgendeines berühmten Schriftstellers aus Schottland oder Irland oder einer anderen verregneten Landschaft ist. Die Buchhandlung gleich nach dem berühmten Schriftsteller zu benennen, wäre wohl zu einfach gewesen. Das hätte wahrscheinlich nicht genug »Kultur« gehabt, weil man kein einziges Mal um die Ecke denken muss. Das Problem ist, dass die Leute bei »Stanislaus« nicht an den Bruder des berühmten Iren, und damit an den berühmten Iren selbst und seine Bücher denken, und so darauf kommen, dass es sich hier um einen kulturell besonders wertvollen Buchladen handelt, sondern sie denken:
a) An irgendetwas Russisches
b) An irgendetwas mit Ungeziefer
c) An überhaupt nichts
Ich weiß nicht, ob es an dem Namen liegt (meine Theorie) oder am bösen, kulturlosen Internet (Theorie meiner Eltern), aber die Leute kaufen so gut wie gar keine Bücher mehr bei Stanislaus. Zum Glück haben meine Eltern damals ein Ladenlokal in einer ziemlich billigen Gegend gemietet, die mittlerweile ein sogenannter »Geheimtipp« ist. Touristen, die etwas »Individuelles« erleben wollen, also alle, gehen Tag und Nacht durch unsere Straße und kaufen sich Souvenirs in Läden, die nicht so aussehen dürfen, als seien sie Souvenirläden. So ein Laden ist jetzt auch Stanislaus. Ein paar Bücher stauben noch auf den hinteren Regalen vor sich hin, aber meine Eltern verkaufen mittlerweile hauptsächlich Tassen, Postkarten, Umhängetaschen, Frühstücksbrettchen, Handyhüllen und Selfiesticks. Der Traum meiner Eltern ist also ordentlich in die Hose gegangen, trotzdem kümmern sie sich um Stanislaus wie um ein unglaublich empfindliches Pflänzchen, das keinesfalls eingehen darf, obwohl sie für dieses Pflänzchen in Wahrheit nur noch Spott und Ironie übrig haben.
Ich mag Stanislaus, denn ich darf ab und zu dort aushelfen. Ich mag es, die Leute anzulächeln, wenn sie schüchtern oder auch mit einer demonstrativ vor sich hergetragenen Gelassenheit das Geschäft betreten. Ich wickele die zerbrechlichen Gegenstände gerne in Zeitungspapier ein (Papa achtet sehr darauf, dass es die richtigen Zeitungen sind, mit politisch einwandfreien Leitartikeln), ich habe dann immer das Gefühl, dass ich etwas beschützen kann.
Mama und Papa sagen, um bei Stanislaus zu arbeiten, muss man irgendwie künstlerisch aussehen und außerdem Englisch sowie Schwäbisch sprechen. Ich erfülle nur eine dieser Voraussetzungen, aber bislang hat es noch keine Beschwerden über den jungen Mann gegeben, der kein junger Mann ist, der hinter dem Verkaufstresen des Buchladens steht, der kein Buchladen ist.
Als ich mich daran gewöhnt hatte, nach drüben zu gehen, und durch eine Stadt zu spazieren, die mir gleichzeitig bekannt und völlig fremd war, wurde ich übermütig und kam auf die Idee, einmal ein Souvenir aus der Niemandsstadt mitzunehmen, genau wie es die Leute machen, wenn sie sich eine Tasse im Stanislaus kaufen. Natürlich wollte ich ein Andenken aus dem Stanislaus von drüben, wo ich vielleicht die Drüben-Version meiner Eltern oder sogar mich selbst antreffen würde. Dann würde die Hier-Josefine der Drüben-Josefine beim Einwickeln der Tasse in Drüben-Zeitungspapier zuschauen. Ich weiß allerdings nicht, ob es drüben überhaupt Zeitungen gibt, genauso wenig wie ich weiß, ob es eine Drüben-Josefine oder einen Drüben-Stanislaus gibt.
Den Weg zum Stanislaus würde ich mit geschlossenen Augen finden, aber in der Niemandsstadt suche ich immer noch danach. Wenn ich in der richtigen Straße bin, stimmen die Häuser und ihre Reihenfolge nicht. Dafür sehe ich an ganz anderen Stellen plötzlich das Haus, das direkt neben dem Stanislaus liegt. Ich laufe sofort dorthin, aber sobald ich angekommen bin, ist es nicht mehr das Nachbarhaus, es ist vielleicht gar kein Haus mehr, sondern ein Park. In den Parks drüben gibt es immer etwas zu entdecken, Flugkatzen zum Beispiel. Flughunde gibt es im Zoo, oder vielleicht auch in Australien. Flugkatzen gibt es nur in der Niemandsstadt.
Einmal bin ich auf einer Parkbank eingenickt. Drüben träumt man ja nicht und ich möchte auch nicht zu lange darüber nachdenken, wie man einschlafen kann, während man sowieso schon schläft, aber ich muss wohl tatsächlich kurzzeitig weg gewesen sein. Als ich wieder aufwachte, saß ein kleiner Dämon auf meiner Schulter. Anstatt etwas zu sagen, biss er mich ins Ohr. Es hat geblutet. Und als ich hier aufwachte, blutete es immer noch. Ich habe schnell ein Pflaster aus dem Badezimmer geholt und den Kopfkissenbezug in die Waschmaschine geworfen. Seitdem habe ich einen kleinen Pflastervorrat gleich neben dem Bett versteckt. Zahnabdrücke, Klauenspuren, Schrammen, blaue Flecken. Das sind die Souvenirs, die man aus der Niemandsstadt mitnehmen kann.
Dass ich mit Nachnamen Freund heiße, ist wieder so ein schlechter Witz des Schicksals, denn es gibt wohl kaum jemanden, der weniger Freunde hat als ich. Aber so heiße ich: Josefine Freund. Tochter von Anna und Reinhold Freund. Noch ein schlechter Witz: Zumindest innerhalb der Familie sind wir alle Freunde.
Wenn es jemanden gibt, den man mit viel gutem Willen und sämtliche Augen zudrückend als Freund bezeichnen könnte, dann ist das Eli. Eli und ich kommen uns nicht in die Quere, weil ich mein Leben nach innen und sie ihres nach außen lebt. Über Eli weiß jeder immer alles, weil sie ihre ganze Existenz zu einer bombastischen Seifenoper macht. Über mich weiß man nur, dass ich der komische Josef vom Tisch hinten am Fenster bin. Ich glaube, einige in der Klasse tun schon so lange so, als wäre ich ein Junge, dass sie ganz vergessen haben, dass ich keiner bin. Dann wundern sie sich in der Umkleide vor dem Sport: Wo ist denn der Josef? Und beim Schwimmen fragen sie sich: Warum hat der Josef einen Badeanzug an? Nicht, dass ich einen bräuchte. Was mich auch nicht interessiert, ganz anders als meine Mutter, die so tut, als würde sie sich keine Sorgen machen. »In deinem Alter war ich auch so flach wie du, Jo«, ist eine dieser Schallplatten mit Sprung, »aber warte mal ab. Je später die Knospen, desto schöner die Blüten. In meinem Abikleid habe ich Tweedledum und Tweedledee spazieren geführt.«
Tweedledum und Tweedledee sind dicke Zwillinge aus irgendeinem uralten Kinderbuch. Meine Mutter hat sogar dann einen Literaturtick, wenn sie damit angeben möchte, was für einen tollen Busen sie mit neunzehn hatte. Meine heißen Tweedlenull und Tweedlenix und beim Abiball ziehe ich meinen schwarzen Pulli an wie jeden Tag, vielen Dank, Mama.
Über den Zustand von Elis Tweedles kann sich jeder im Internet informieren. Dort sind sie, geschmackvoll präsentiert, und natürlich immer mit etwas Stoff garniert, hundertfach zur Schau gestellt. Wie gesagt: Sie lebt ihr Leben nach außen.
»Von meinem Dekolleté gibt es im Netz mehr Bilder als vom Grand Canyon«, ist einer ihrer Sprüche, »und natürlich ist es auch noch viel tiefer.«
Eli hat allerdings auch einen biologischen Vorteil, denn dank ihrer doppelt geknickten schulischen Laufbahn ist sie zwei Jahre älter als die meisten anderen. Und sie ist so etwas wie ein Freund. Zumindest seit der Sache mit dem schwarzen Engel.
Die Sache mit dem Engel begann damit, dass wir aus irgendeinem Grund im Ethikunterricht auf Albträume zu sprechen kamen. Es wurde gefragt, wer von einem seiner schlimmsten Träume erzählen wollte, und natürlich meldete sich diejenige, die ihr Leben sowieso nach außen kehrt.
Eli berichtete von einem schwarzen Engel mit einer Feder – also einer Schreibfeder – in der Hand, der über ihr kniet und ihr mit diesem ebenfalls schwarzen Gänsekiel irgendetwas in ihr Herz ritzt. Sie zeigte, wo genau, und da das Herz in der Gegend von Tweedledee liegt, winkten alle ab und verbuchten den schwarzen Engel unter Internet-Post ohne Internet. Dieser Engel, sagte Eli, käme immer wieder, aber jedes Mal würde sie aufwachen, bevor sie im Spiegel nachschauen konnte, was er ihr ins Herz geritzt hatte. Den Traum nahm ihr keiner ab, vielleicht hatte sie die Augen bei ihrer Erzählung auch zu dramatisch aufgerissen, aber ich wusste genau, welchen Engel sie meinte.
Der Engel steht in einem Park, der gleichzeitig ein Friedhof ist, vielleicht ist es auch ein Friedhof, der gleichzeitig ein Park ist, auf jeden Fall ist er nicht weit von Stanislaus entfernt und ich gehe oft dorthin, um auf einer Bank zu sitzen und ein wenig in die Bäume zu starren. Kleine Kinder spielen dort, Mütter quatschen und trinken Coffee to go aus wiederverwendbaren Naturfaserbechern, Bienen, von denen es angeblich jedes Jahr weniger gibt, summen durch die Luft und hin und wieder rennt eines der Kleinkinder gegen einen Grabstein und heult. Der Engel ist eigentlich gar kein Engel, sondern eine Frauenfigur aus schwarz angelaufener Bronze, die mit ihrer Schreibfeder auf ein Grabmal deutet. Es ist wohl das Grab eines Füllfederhaltererfinders, eines Lesebändchenpioniers oder von sonst jemandem, der mit Schrift zu tun hat.
Das Besondere an diesem Park, der gleichzeitig ein Friedhof ist, ist, dass es ihn hier und in der Niemandsstadt gibt, und zwar fast ohne Unterschiede. Ich bin inzwischen sehr gut darin herauszufinden, ob ich gerade hier oder drüben bin, aber wenn ich im Friedhofspark auf einer Bank sitze und in die Bäume starre, bin ich mir nie ganz sicher. Erstaunlicherweise ist der Park auch in der Niemandsstadt immer an derselben Stelle, und das schafft ja nicht einmal der Fernsehturm.
Als ich also wieder drüben war (drei Sonnen am Himmel ließen keinen Zweifel), sprach ich die Statue an. In der Niemandsstadt kann man mit fast allen reden, es ist das genaue Gegenteil zu hier, wo so gut wie jede Unterhaltung geradewegs ins Desaster führt. Ich hatte ein sehr angenehmes Gespräch mit der Dame. Sie meint es nicht böse, sie will nur ab und zu eine kleine Warnung aussprechen. Wovor möchte sie warnen? Das habe ich leider nicht verstanden. Viele Gespräche drüben bestehen hauptsächlich aus willkürlich zusammengewürfelten Wörtern. Doch immerhin habe ich verstanden, dass die Dame aus angelaufener Bronze, der schwarze Engel, versprochen hat, Eli in Zukunft in Ruhe zu lassen.
Nach ein paar Wochen habe ich Eli dann gefragt, ob sie die Albträume noch hat. Sie hat Nein gesagt, mich ganz komisch angesehen, und noch etwas gebrabbelt, was »Danke« gewesen sein könnte, bevor ihr Smartphone ihre Aufmerksamkeit wieder verlangte.
Ein paar Tage später kam Eli in der Pause zu mir. »Wir sollten uns mal treffen, Josefine.«
Merkwürdig war nicht nur, dass sie mich treffen wollte. Sonderbar war auch, dass sie mich nicht Josef nannte. Ich war drauf und dran, ihr den Park mit dem schwarzen Engel als Treffpunkt vorzuschlagen, aber das hätte doch zu viele Fragen aufgeworfen. Wir trafen uns in einem anderen Park, an einem Brunnen, um den lauter Märchenfiguren aufgestellt sind.
»Ich hab ein besonderes Gespür dafür, wenn Menschen Bullshit erzählen«, ließ sie mich wissen. »Und als du mir gesagt hast, dass du die Sache mit dem Engel geregelt hast, wusste ich gleich, dass das kein Bullshit war.«
Na gut, das hatte ich so zwar nie gesagt, aber recht hatte sie ja trotzdem.
»Ich bin dir also etwas schuldig. Du hast mich von meinen Dämonen befreit, also befreie ich dich von deinen.«
»Welche Dämonen?«
Sie holte ihr Smartphone aus der Tasche und tippte auf das Symbol dieser neuen App »Magick«, die jetzt alle benutzen.
»Es ist eine geschlossene Gruppe«, erklärte sie mir. »Fast jeder in der Klasse ist drin. Außer dir. Willst du es sehen?«
Ich nickte. Sie zeigte mir die Bilder. Es waren jeweils zwei Fotografien nebeneinander, die auf einer Seite mich zeigten und daneben einen Mann, der beispielsweise ein ähnliches T-Shirt trug oder einen ähnlichen Gesichtsausdruck hatte. Die Bilder von mir waren größtenteils heimlich mit dem Handy aufgenommene Schnappschüsse aus der Schule. Das Ziel war wohl, mich in einem Moment zu erwischen, in dem ich möglichst bescheuert aussah. Die anderen Fotos stammten wahrscheinlich aus dem Internet. Sie hatten gemeinsam, dass diese Männer alle unglaublich hässlich waren. Manchmal war mir noch per Bildbearbeitung ein Schnurrbart oder so etwas hinzugefügt worden. Es gab Hunderte dieser Bilder, manche waren schon ziemlich witzig. Unter jedem Post gab es Kommentare und Unterhaltungen mit vielen Emojis.
»Weißt du, wie die Gruppe heißt?«
Ich schüttelte den Kopf. Natürlich wusste ich das nicht.
»Josef und seine Brüder.«
Aha. Eines der Lieblingsbücher meiner Mutter. Aber hiermit hatte sie bestimmt nichts zu tun.
»Ich geb’s zu«, fuhr Eli fort, »es war meine Idee. Ich habe die Gruppe eröffnet. Ich habe die Sache gestartet, auch wenn ich schon länger nicht mehr poste. Ich möchte mich bei dir entschuldigen.«
Ich nickte. Was sollte ich auch sonst tun?
»Pass auf«, sagte sie, »wir machen dem Spuk ein Ende. Lächle.«
Sie hielt ihr Smartphone mit ausgestrecktem Arm. Wir rückten ganz nah aneinander, sie legte den Arm um meine Schultern. Wir lächelten, sie weitaus professioneller als ich, sie machte das Selfie. Josef und seine Schwester tippte sie dazu, als sie es in die Gruppe hochlud.
An diesem heißen Tag im August, vor etwa einem Jahr, als ich das erste Mal drüben war, stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und beobachtete dabei den Frosch, der mit halb geschlossenen Augen durch die Pfütze im Waschbecken dümpelte. Er sah eigentlich zufrieden aus, aber was sollte ich mit ihm anstellen? Meine Eltern waren nicht da, doch sie hätten sowieso nicht viel Verständnis für einen Lurch gehabt, der nichts zum kulturellen Leben beiträgt. Aber konnten sie mir deswegen verbieten, einen Frosch als Haustier zu halten? Es konnte kein Zufall sein, dass er zu mir gekommen war. Und wahrscheinlich hatte er Hunger. Fraßen Frösche überhaupt etwas anderes als Insekten?
Ich suchte die ganze Wohnung nach einer Fliege ab, fand aber keine. Sogar im Müll nicht. Ich wollte im Internet nach Tipps zur artgerechten Froschhaltung suchen, aber das Internet funktionierte nicht. Kein Wunder, wie ich heute weiß.
»Bleib hier und bleib locker«, riet ich dem Frosch und machte mich auf die Suche nach einem Fachgeschäft für Tierbedarf. Ich war schon ein paarmal an einem vorbeigegangen und hatte eine ungefähre Ahnung, wo es sein könnte. Die Straßen schienen sich aber irgendwie verknotet zu haben, jede Ecke, die mir bekannt vorkam, war doch eine andere und bald hatte ich mich hoffnungslos verlaufen. Ich hatte hier auch das erste Mal das Gefühl, dass die Gehwegplatten unter meinen Füßen umherschwammen, was, wie ich ebenfalls jetzt weiß, gar kein Gefühl, sondern eine absolut korrekte Wahrnehmung war.
In einem riesigen Einkaufszentrum, das mir noch nie aufgefallen war, fand ich einen Laden für Aquaristik. Die meisten der Fische, die dort in den Aquarien herumplanschten, schwammen rückwärts, änderten ständig ihre Farbe und ließen leuchtende Luftblasen aufsteigen, denen sie dann selbst hinterherjagten. Dem Verkäufer erzählte ich, ich hätte einen Frosch geschenkt bekommen. Ich kaufte ein kleines Terrarium mit verschiedenem Zubehör und ließ mir Tipps zur Ernährung geben. Frösche fressen tatsächlich ausschließlich Insekten. Fliegen als Froschnahrung müssen herangezüchtet werden, der Verkäufer erklärte mir verschiedene Vorgehensweisen, eine davon bestand darin, rohe Leber auf einem Heizkörper zu lagern. Allerdings, betonte er, könne man jetzt im Sommer mithilfe eines dünnen Strumpfes auf einer naturbelassenen Wiese sogenanntes Wiesenplankton ernten. Wiesenplankton besteht aus den vielen Kleininsekten, die im Gras leben. Diese Nahrung sei sehr abwechslungsreich und mit Abstand die beste für meinen Frosch. Er kramte unter der Ladentheke herum, fand ein Paar Nylonstrümpfe sowie eine Rolle Blumendraht, und legte sie vor mich auf den Verkaufstresen. Als ich nach dem Preis fragte, schüttelte er lässig den Kopf und schob mir die Sachen zu. Ich bedankte mich und bemerkte, dass der Verkäufer ein Namensschildchen trug, auf dem Stanislaus stand.
»Na so was«, sagte ich, »meine Eltern haben einen Buchladen, der Stanislaus heißt. Jedenfalls eine Art Buchladen.«
Der Verkäufer nickte, als sei das eine Selbstverständlichkeit. »Das ist ein sehr guter Name. Auch ich bin nach dem relativ erfolglosen Bruder des großen irischen Schriftstellers James Joyce benannt worden. Wussten Sie, dass James Joyce seinen kryptischen Roman Finnegans Wake nur geschrieben hat, um seinen Bruder Stanislaus zu beschimpfen?«
Das hatte ich nicht gewusst, noch war mir die Bedeutung von kryptisch völlig klar, aber ich freute mich sehr, dass er mich gesiezt hatte. Ich hatte plötzlich dieses beschwingte Gefühl, dass ich in der Niemandsstadt öfter haben würde, und machte mich auf den Weg zum Stadtrand, um Wiesenplankton zu ernten.
Ich fuhr mit der S-Bahn über die Stadtgrenze und stieg irgendwo im Grünen aus. Was Plankton ist, weiß ich natürlich, denn ich liebe Wale. Blauwale filtern die kleinen Meerestiere, Flohkrebse, Krill und Miniquallen, mit ihren Barten, diesen Hornplatten, die dafür sorgen, dass sie immer aussehen, als würden sie grinsen, aus dem Wasser und ernähren sich davon. Mir gefiel die Vorstellung, ein Blauwal in der Wiese zu sein. Ich habe es später, als ich wieder hier war, im Internet nachgelesen: Plankton bedeutet »das Umherirrende«. Also war ich selber an diesem Tag, als ich mir vorstellte, ein Blauwal zu sein, einfach nur Plankton.
Ich stapfte mitten in der flirrenden Hitze durch eine Industriebrache. Ein gelblicher Himmel spannte sich über den Horizont, im Hintergrund sah ich die Silhouette der Stadt. Das Zirpen von Heuschrecken und das Röcheln irgendeiner Maschine, die ihren eigentlichen Zweck längst vergessen hatte, waren zu hören. Ich kletterte über einen verrosteten Zaun und stand auf einer hüfthoch wuchernden Wiese. Ich machte mich daran, das Wiesenplankton für meinen Frosch zu ernten. Ich musste nur langsam durch die Halme gehen und dabei den improvisierten Käscher in ruhigen Bewegungen vor mir hin und her schwenken. Nach einer Weile war der Strumpf voll von Insekten, aber auch Gräser und Dornen waren darin. Ich hatte ein Gefäß vergessen, in dem ich das Wiesenplankton aufbewahren könnte. Nach einer kurzen Suche fand ich einen Garderobentisch unter einem Hagebuttenstrauch. Darauf standen verschiedene Gläser und Dosen für Make-up, die meisten noch halbvoll. Ich nahm eines der größeren Gläser, das wie die anderen mit einem leicht klebrigen Film bedeckt war, und kratzte die eingetrocknete Schminke mit einem Stöckchen heraus. Ich füllte das gesammelte Wiesenplankton in das Glas, stülpte ein Stück des zweiten Nylonstrumpfs darüber und befestigte es mit einem Schnürsenkel.
Nun hatte ich Plankton, ich war selber Plankton und das ganze Leben kam mir vor wie Plankton.
Ich frage mich, ob ich die Einzige bin, die die Niemandsstadt besucht. Es kann ja eigentlich gar nicht sein, es leben Millionen Menschen in dieser Stadt, da muss doch noch jemand sein, der weiß, wie man von hier nach drüben kommt. Oder von drüben nach hier. Ich halte die Augen immer auf, egal ob ich hier oder drüben bin. Ich denke schon, dass ich drüben jemanden erkennen würde, der wie ich von hier kommt. Manchmal bin ich mir fast sicher, aber dann schaut irgendwo ein drittes Auge hervor, oder es gibt ein paar Schmetterlingsflügel zwischen den Schulterblättern, die ich noch nicht bemerkt hatte. Andersherum ist es schon schwieriger. Ein halbwegs menschenähnlicher Bewohner der Niemandsstadt könnte sich hier ziemlich unbemerkt durch die Straßen bewegen. Sie oder er müsste sich nur eine Mütze über das dritte Auge ziehen, oder die Schmetterlingsflügel unterm Pullover verstecken. Hier schaut ja fast jeder merkwürdig aus der Wäsche, das würde also nicht weiter auffallen, solange es mit zwei Augen geschieht.
Im Park, in dem der schwarze Engel steht, der kein Engel ist, in dem Park mit den Gräbern und den spielenden Kindern, da habe ich jemanden gesehen, von dem ich mir vorstellen kann, dass er auch hier unterwegs ist. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn gesehen habe, als ich gerade drüben war. Es war leider an dem Ort, an dem man sich am allerwenigsten sicher sein kann, ob man gerade hier oder drüben ist. Aber wenn ich in der Niemandsstadt war, und wenn er ebenfalls dort war, und wenn er tatsächlich auch hier unterwegs ist, dann werde ich ihn wiederfinden. Und wenn ich ihn finde, werde ich ihn fragen, was hier eigentlich los ist. Und was drüben eigentlich los ist.
Dieser Jemand war ein Junge und ich nenne ihn vorläufig James, nach dem berühmten Bruder von Stanislaus.
»Zoning out« nennen es die anderen in der Klasse, wenn sie mit der Aufmerksamkeit so wegdriften, dass sie gar nichts mehr mitkriegen. Die meisten brauchen dafür ihr Smartphone. Einige haben es perfektioniert, so zu tun, als würden sie in das aufgeschlagene Arbeitsheft auf dem Pult schauen, während sie in Wirklichkeit knapp daran vorbei auf den Bildschirm unter der Tischplatte starren. Das Problem an der Sache: Smartphones sind an unserer Schule seit Beginn des Schuljahres verboten. Das Handyverbot ist eingeschlagen wie eine Bombe. Es ist schon die zweite Bombe, die unsere Schule trifft. Die erste landete am 3. Februar 1945 mitten im Lehrerzimmer und war eine echte Bombe, wie Herr Borgesius, unser Geschichtslehrer, nicht müde wird zu erzählen. Die echte Bombe sprengte Stein zu Staub, riss Arme von Körpern und Köpfe von Hälsen. Es ist also, wie ich finde, ein bisschen übertrieben, das Handyverbot auf dieselbe Stufe zu stellen. Aber mit dieser Meinung stehe ich ziemlich alleine da. Seit alle bei Magick sind, würden sie lieber auf einen Arm oder ihren Kopf verzichten als auf ihr Smartphone. Das Handyverbot hat zu einer Reihe von ausgeklügelten Strategien geführt:
a) Man hat ein zweites Handy, »Dummy« genannt, das man sich abnehmen lässt oder freiwillig abgibt, während man sein eigentliches Smartphone gut versteckt weiter benutzt. Nachteil: So langsam haben die Lehrer den Trick raus, manche haben vier oder sogar fünf Dummys, irgendwann verliert man den Überblick.
b) Man benutzt ein Endgerät, das im technischen Sinn kein Smartphone, sondern etwas anderes ist, zum Beispiel eine Smartwatch oder ein Tablet. Nachteil: Das geht nur bis zur nächsten Schulkonferenz gut, dann wird das Smartphoneverbot einfach auf andere Geräte ausgeweitet.
c) Man betreibt Zoning out einfach so, ohne technische Hilfe. Nachteil: Das kann nur eine richtig gut, nämlich ich.
Früher, im letzten Sommer, musste ich noch tief und fest schlafen, um in die Niemandsstadt zu gelangen. Als ich zum Beispiel nach dem Laufen den Frosch in der Dusche fand, hatte ich mich in Wirklichkeit nach der Hälfte meiner Laufstrecke auf eine Wiese gelegt und war eingenickt. Es war keine duftende Blumenwiese voller Plankton, sondern das übliche Stück sogenannter Grünfläche voller Hundehaufen. Als ich aufwachte, weil eine Nebelkrähe an meiner Schuhsohle pickte, um an die Reste eines halb verdauten Döners zu gelangen, die sich beim Laufen tief in das Profil gegraben hatten, war der Frosch erstaunlicherweise noch da. Ich schützte ihn mit beiden Händen, bevor sich die Krähe zu sehr für ihn interessieren würde. Fressen Krähen Frösche? Ich nehme an, Krähen fressen so gut wie alles.
Ich setzte den Frosch im Entenweiher in der Mitte des Parks aus, dort wo die Schwäne selten zu sehen sind. Schwäne fressen Frösche bestimmt. Hätte ich gewusst, dass er bald schon wieder in meiner Dusche herumspringen würde, hätte ich ihn auch gleich mitnehmen können.
Inzwischen muss ich nicht mehr einschlafen, um in die Niemandsstadt zu gelangen. Ich kann durch Zoning out halb hier und halb drüben sein. Das geht zum Beispiel so: Geschichtsunterricht bei Borgesius. Ich sitze an meinem Platz am Fenster und sorge dafür, dass ein Auge auf den Lehrer gerichtet ist. Das andere Auge, dasjenige, das Borgesius nicht so gut sehen kann, weil meine Nase dazwischen ist, schaut aus dem Fenster. Das Schielen ist zwar auf Dauer anstrengend, aber genau diese Anstrengung ist es auch, die das Zoning out verstärkt. Mein linkes Auge starrt so lange durch das Fenster, bis ich bemerke, dass es in die Niemandsstadt schaut. Weil beispielsweise ein Hund gegen einen kahlen Baum pinkelt und daraufhin gleich Blätter und Blüten sprießen. Oder weil der Wagen der Müllabfuhr vorbeikommt, der mit den Sprüchen der Werbetexter der Abfallbetriebe bedruckt ist wie Leer Force One oder We kehr for you oder Räumschiff, und wenn dieser Wagen nicht mit einem Motor angetrieben wird, sondern von haarigen Trollen von Haus zu Haus geschoben wird, und wenn dann den Mülltonnen kleine Füßchen wachsen und sie ganz freiwillig losgehen und kopfüber hinten an den Wagen springen, wo sie durchgerüttelt werden und dabei leise kichern. Dann bin ich noch hier und gucke gleichzeitig rüber.
Als ich James, den Jungen, von dem ich nicht weiß, ob er von hier oder von drüben ist, das nächste Mal sah, war ich in der Niemandsstadt. Ich wusste, dass ich drüben war, denn der Himmel war schwefelgelb. Ein paar blasse Monde ragten hinter den Häusern hervor. Aus den Gullys kroch schwerer, beißender Qualm. Die Feen flogen tief. Ich entdeckte James hinter der staubigen Schaufensterscheibe eines Geschäfts auf der anderen Straßenseite, das merkwürdige Musikinstrumente, kaputte Wanduhren und Dosenravioli in der Auslage hatte. Ich überquerte die Straße, wurde dabei fast von einer Herde feiernder, halb betrunkener Zentauren niedergetrampelt, offenbar ein Junggesellenabschied (die sind drüben genauso schlimm wie hier) und betrat das Geschäft, das aber mittlerweile kein Geschäft mehr, sondern ein Kaffeehaus voller tratschender älterer Nachtelfendamen war, die Sahne von ihren Schwarzwälder Kirschtorten löffelten und mich böse anstarrten. Das ist typisch für die Niemandsstadt, die Häuser wechseln ihre Positionen sogar, während man sie betritt. Ich ging gleich wieder raus und sah, wie James, eines der sonderbaren Musikinstrumente unter dem Arm, um die nächste Ecke bog und auf einen Park zuging. Ein Park, das war meine Chance, denn die blieben meistens an Ort und Stelle. Sie sind die Ankerpunkte in dieser fliegenden Stadt, die Orte, an denen sich Hier und Drüben am stärksten überschneiden. Dieser hier schien der Park mit dem Märchenbrunnen zu sein, dort, wo ich mich mit Eli getroffen hatte.
Doch plötzlich stand ich im Weiß. In einem endlosen Weiß, als wäre ich ein einsamer Buchstabe, der sich auf ein Blatt Papier verirrt hat. Ungefähr so:
Ich wanderte in dem Weiß herum, ohne zu wissen, in welche Richtung ich ging. Ich wusste nicht einmal, ob es überhaupt eine Richtung gab. Es gab auch kein Oben und Unten mehr, es war wie im Weltall. Nur eben im Weiß. Im Weltall gibt es wenigstens All, den Raum, aus dem der Weltraum besteht, und im Hintergrund funkelnde Sterne, Planeten mit Ringen drum herum und meistens (ich gebe zu, dass mein Wissen aus den wenigen Science-Fiction-Filmen stammt, die ich gesehen habe), ein riesiges Raumschiff, das tief brummend auf der Suche nach neuen Welten daherschwebt. Hier gab es aber nur Weiß.
Irgendwann drehte ich mich um, und stand vor Brüderchen und Schwesterchen. Also den Figuren von Brüderchen und Schwesterchen am Märchenbrunnen. Dieses Märchen hat mir schon Albträume beschert, als ich noch ein kleines Mädchen war. Das Weiß war zu Ende, die Welt war wieder da.
Ich habe lange darüber nachgedacht, wohin ich auf der Suche nach James geraten war. Woraus dieses endlose Weiß, durch das ich gewandert bin, eigentlich bestand. Ich bin nicht darauf gekommen, bis mir Eli wieder einmal in einem ihrer Anfälle von technologischem Nerd-Geplapper davon erzählte, was geschieht, wenn man den Speicher eines Computers löscht. Dort, wo vorher die gespeicherten Inhalte waren, schreibt der Computer lauter Nullen hin. Die ganze Festplatte ist dann ein weites, weißes Feld. So hat Eli es zumindest beschrieben. Und in ein solches weites, weißes Feld bin ich auf der Suche nach James geraten.
Allerdings, hat Eli erklärt, bleiben die Daten unter oder hinter oder neben den Nullen noch erhalten. So kann man auch eine gelöschte Festplatte wiederherstellen und aus dem weiten, weißen Feld wieder eine richtige Landschaft machen. Oder eine Stadt. Wenn man die Daten wirklich löschen will, muss man sie mehrmals mit Nullen überschreiben. Nullen über Nullen über Nullen. Irgendwann ist dann das, was eigentlich da war, so verblasst, dass es verloren ist. Dann ist alles nur noch weiß, die ganze Stadt, die ganze Welt, ein weites, weißes Feld.
Ich treffe mich jetzt ab und zu mit Eli im Friedhofspark. Ich glaube, sie mag es, den schwarzen Engel aus sicherer Entfernung anzustarren. Natürlich steht die Figur ganz harmlos da, die Hand mit der Feder in Richtung Grabstein erhoben. Aber die Erinnerung lässt Eli gruseln, und ich denke, sie gruselt sich ganz gerne. Jedenfalls ab und zu ein bisschen.
Seit Eli das Foto mit uns beiden – Josef und seine Schwester – hochgeladen hat, gucken mich die anderen sehr komisch an. Es ist nicht so, dass sie mich vorher nicht komisch angesehen hätten, aber jetzt ist es eine andere Art von komisch. Sie gucken mich an, als ob sie nicht sicher wären, ob ich nicht vielleicht doch cool bin. So eine Art Uncool-Cool, wie die hässlichen Plastikbadelatschen, die gerade in sind. Alle haben welche, außer mir, was mich wiederum entweder sehr uncool oder gerade cool werden lässt. Es ist eine komplizierte Angelegenheit und ich bin froh, dass ich mich damit nicht weiter beschäftigen muss. Eli kennt sich mit solchen Sachen besser aus. Ich habe jedenfalls nichts dagegen, wenn mich die anderen ansehen wie eine Badelatsche aus Plastik. Die Gruppe Josef und seine Brüder ist geschlossen und Eli sagt, dass auf Magick jetzt sowieso alles anders laufe, und sie sei mittendrin.
Wir sitzen im Park und trinken ökologisch einwandfreie Limonade, Eli mit Stevia (was auch immer das sein soll) und ich mit Zucker (da weiß man, was man hat).
»Fein«, sagt Eli, nachdem sie ihre Steviabiolimo auf dem Grabstein neben uns abgestellt hat, »soll ich dir mal ein Geheimnis verraten?«
Eli nennt mich nicht mehr Josef, sondern Fein. Das hat sie mir so erklärt: In Josefine steckt fine, und das heißt auf Englisch fein und man spricht es auch so aus, und deshalb wäre es doch fine, wenn sie mich Fein nennt. Klar, von mir aus.
»Ein Geheimnis?«, frage ich. »Gut, warum nicht.«
»Aber nur, wenn du mir dann auch eins verrätst.«
»Okay.«
»Und wenn du niemandem etwas erzählst. Keiner Menschenseele.«