Weitere Titel des Autors:
Der Große Waldfürst – Die Trilogie:
Band 2: KALYPTO - Die Magierin der Tausend Inseln
Band 3: KALYPTO - Der Wächter des schlafenden Berges
Einzeltitel:
Der Sturm
Über dieses Buch
Eine längst vergessene Macht regt sich ...
Der junge und impulsive Lasnic, Angehöriger des Waldvolks, kann es nicht glauben: Ausgerechnet er wird von der Ratsversammlung zum neuen Waldfürsten berufen! Kurzentschlossen packt er seine Sachen und flüchtet vor der Verantwortung. Doch er ahnt nicht, dass er in ein viel größeres Abenteuer hineinstolpert. Denn im Verborgenen lauert eine Gefahr, die alle freien Völker bedroht: Die Magier des vor Jahrtausenden untergegangenen Reichs Kalypto sind wieder erwacht – und sie schicken vier Späher aus, um das Volk zu finden, das sich am besten zur Versklavung eignet …
Eine mit Liebe zum Detail gestaltete Welt, ein Held wider Willen und eine dunkle Bedrohung — KALYPTO bietet epische Fantasy, die den Leser mitfiebern und den Atem anhalten lässt!
eBooks von beBEYOND – fremde Welten und fantastische Reisen.
Über den Autor
Tom Jacuba ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Jacuba war bis Mitte der 90er Jahre Diakon und Sozialpädagoge und schrieb vorwiegend Satiren, Kurzgeschichten und Kinderbücher. Seither ist er freier Autor und verfasst Fantasyromane, historische Romane, Spannungs- und Science-Fiction-Geschichten. Er erhielt 2001 den Deutschen Phantastik-Preis als Autor des Jahres.
Tom Jacuba
KALYPTO – Die Herren der Wälder
Digitale Neuausgabe
»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf die Vermittlung
der literarischen Agentur Peter Molden, Köln
Für diese Ausgabe
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Friederike Haller, Wortspiel, Berlin
Karte: © Markus Weber, Guter Punkt, München
Titelillustration: © Rainer Kalwitz, Recklinghausen
Titelgestaltung: Guter Punkt, München
eBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-9128-2
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Doch eh ein Mensch vermag zu sagen: »Schaut!«,
Schlingt gierig ihn die Finsternis hinab:
So schnell verdunkelt sich des Glückes Schein!
W. Shakespeare, »Ein Sommernachtstraum«, I, 1
Irgendwann, irgendwo
Licht. Wohin sie sich auch wandte, überall leuchtete es: warmes, meerblaues Licht.
Jemand rief ein Wort.
Obwohl es sich vertraut anhörte, erkannte sie es nicht; das Wort hallte durch das klare blaue Licht, und ihr wollte einfach nicht einfallen, was es bedeutete.
So trieb sie im warmen Wasser des Südmeeres, spürte die sanften Wogen über Schenkel und Brüste bis zur Kehle perlen und lauschte dem verklingenden Echo des fremden und doch so vertrauten Ausdrucks. Delfine sprangen neben ihr, Seeschwalben kreisten über ihr oder stürzten mit angelegten Schwingen pfeilgleich in die Fluten, und der warme Wind blies ihr in die geblähten Nasenflügel. Als das Wort erneut gerufen wurde, war ihr, als leuchtete das ERSTE MORGENLICHT im Himmel über ihr auf.
Das mochte sie am liebsten: Unter blauem Licht neben springenden Delfinen, unter kreisenden oder stürzenden Seevögeln im Meer treiben und Wind und Wasser auf der Haut spüren. Wie viele Sonnenwenden hatte sie so schon verbracht? Schwebend, schauend, selbstvergessen. Doch hatte sie jemals während all der Zeit dieses unbegreifliche Wort gehört?
Sie schloss die Augen, um ihre Aufmerksamkeit ganz und gar darauf zu richten – und jetzt erkannte sie eine spezielle Lautfolge: ca-to-lis …
Plötzlich wusste sie, dass so ein Name klang; ein Name, den sie kannte.
Das Wasser wurde auf einmal kälter, die Wogen unruhiger; und als sie erschrocken die Augen aufriss, blickte sie in düsteres Nachtblau. Keine Seeschwalbe kreiste oder stürzte, kein Delfin sprang mehr – verflogen war er, der schöne Traum.
Und dann wieder – und lauter diesmal – der Name: Catolis! Noch ehe sie begriff, wer da gerufen wurde, erkannte sie die Stimme des Rufenden: Sie gehörte dem Wächter des Schlafes.
Kalt war das Meer jetzt, die Wogen wild und der Himmel dunkel wie vor einem Gewittersturm; sie ließ Beine, Becken und Oberkörper sinken und begann mit den Armen zu rudern, um sich über Wasser zu halten. Verwirrt spähte sie in alle Himmelsrichtungen. Was geschah hier?
Im Westen entdeckte sie ein Schiff. Es glitt durch die Wogen und kam rasch näher. Sie erschrak. Wer störte ihr friedliches Schweben? Und wieder rief der Wächter des Schlafes: »Catolis!« Er stand am Bug des Schiffes – eine Gestalt ganz in Blau – und winkte. »Catolis!«
Wem winkte er denn? Wen rief er da?
Wieder blickte sie sich um, ruderte mit den Armen, fror auf einmal, versuchte zu verstehen. Endlich fiel es ihr wie eine schwarze Binde von den Augen: Ihr winkte der Wächter des Schlafes zu. Und jetzt erinnerte sie sich auch: Ihr Name war es, den er rief.
Schmerz und Schrecken durchzuckten sie – es war vorbei. Sie spürte, dass sie erwachte.
Tausende Sonnenwenden Schlaf: vorbei.
Zehntausende Träume: vorbei.
Catolis hörte auf, mit den Armen zu rudern und versank in eisigem Wasser. Das Erste Morgenlicht erlosch. Eine Hand griff nach ihrer Hand, hielt sie fest, zog sie hoch.
»Catolis, erwache!«
Der Mann watete knietief im Wasser. Seine Haltung und die Hast, mit der er sich bewegte, erinnerten an ein Wildtier in der Falle. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, schabte über seinen Bart, knabberte am Daumennagel, verscheuchte den Kolk, der schon wieder auf seiner Schulter zu landen versuchte. Warmer Regen nieselte aus dem Blätterdach des Waldes auf ihn herab, überall um ihn herum gurgelte schlammiges Wasser zwischen den Bäumen. Der Mann drehte Runde um Runde um den mächtigen Stamm seines Hausbaumes, schon seit der vorletzten Nachtstunde.
Das Gejammer seiner Frau hallte plötzlich wieder lauter durch den morgendlichen Wald. Der Mann blieb stehen und spähte hinüber zum Ufer des Hochwasserarmes, wo drei alte Weiber seine geliebte Gefährtin in der Strömung festhielten und auf sie einredeten. Über ihm, auf der unteren Veranda des Baumhauses, murmelten der Wettermann und sein Gehilfe ihre Gebete in den Regen. Hoch oben, im dunklen Rot der Laubkrone, hockte der beleidigte Kolk und schimpfte raunzend. Und in den Bäumen ringsum versammelten sich die Waldleute von Stommfurt auf ihren Veranden und Hausdächern. Grüße flogen hin und her, Gelächter und Gesang wurden laut.
Vogler hieß der Mann, der da im Wasser unter der Blutbuche seine Kreise zog, ein großer kräftiger Jäger von etwas mehr als dreißig Sommern; lange braune Locken rahmten sein vernarbtes, bärtiges Gesicht. Für ihn gab es an diesem Morgen nichts zu lachen und zu singen. Noch nicht.
Jeder hier in Stommfurt hörte auf Voglers Wort. Seit neun Sommern bereits zog er den Jagdkerlen der Waldsiedlung als Eichgraf auf ihren Jagdzügen voran, und zu beiden Ufern des Stomms wusste man allerhand Geschichten von seinem Mut und seiner Klugheit zu erzählen. Es gab Stommfurter Jäger, die schworen, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie ihr Eichgraf selbst dem gefräßigen Flussparder oder dem massigen Sumpfbären kalten Blutes und nur mit der Lanze in den Fäusten gegenübergetreten war.
Eine Lüge, zu behaupten, Vogler wäre am heutigen Morgen kaltblütig – sein Mund war trocken, das Herz schlug ihm bis zum Hals, und in seiner Brust tobte ein Aufruhr. Hatte er Angst? Darüber dachte er lieber nicht nach. Doch eines spürte er mit jeder Faser seines Leibes: Auf den Kampf, den er heute zu bestehen hatte, war er nicht vorbereitet.
Vogler wurde Vater. Zum ersten Mal.
Die Begegnung mit einem Sumpfbären wäre ihm lieber gewesen, als zur Tatenlosigkeit verdammt um seinen Hausbaum herumlaufen und warten zu müssen.
Das Gejammer seiner Frau ging allmählich wieder in keuchende Atemzüge über. Vogler sog tief die Luft ein und fuhr fort, durch das Wurzelgeflecht der Blutbuche zu waten. Es hörte auf zu nieseln, und die Morgensonne bohrte erste Lichtbalken durch das Laubdach ins überflutete Unterholz.
Wie jedes Frühjahr mäanderte Hochwasser in tausend Flussarmen durch die Wälder von Strömenholz, und Stommfurt, die größte der Strömenholzer Siedlungen, hatte es wieder besonders schlimm erwischt: Die meisten Bäume und Büsche standen in Teichen und Tümpeln, nur hier und da ragten kleine Inseln höher gelegenen Unterholzes aus der Flut heraus; der Bach, an dem die Waldleute sonst ihre Wäsche wuschen, badeten oder Trinkwasser schöpften, war zu einem breiten Fluss mit gefährlich starker Strömung angeschwollen. Unter Stommfurts Bewohnern hörte man dennoch keinen über das Hochwasser schimpfen. Sie lebten damit, seit Generationen schon, und machten auch in diesem Frühjahr das Beste daraus.
Während Vogler seine Kreise um die Blutbuche zog, begannen die Waldleute um ihn herum auf ihre Weise den neuen Tag. Frauen kletterten aus den Kronenhäusern, um ihre Wäsche direkt vor ihren Hausbäumen zu waschen. Andere sammelten brauchbares Treibgut ein: hölzernen Hausrat, Pfeile, Vogelnester mit Jungvögeln, Samenzapfen und Blütendolden, die der Gewittersturm der vergangenen Nacht aus den Baumkronen gerissen hatte. Männer wateten mit Stangennetzen oder zum Stoß erhobenen Jagdlanzen durch das Wasser, um ins Unterholz verirrte Aale und Flusskarpfen aufzustören. Andere kauerten dicht am Stamm ihres Hausbaumes, spähten ins Wasser und hielten ihren Jagdbogen bereit.
Von den unteren Schlafplätzen der Hausbäume aus sprangen nackte Kinder und Halbwüchsige ins Wasser. Auf den Veranden der Kronenhütten warfen einige ihre Angeln aus, veranstalteten Wettpinkeln oder schossen mit Schleudern nach Schwänen oder Enten, die sich auf über Nacht entstandenen Flussarmen in die Waldsiedlung verirrt hatten.
All das nahm Vogler nur beiläufig wahr.
Seine Frau schrie schon wieder, diesmal gellend und schrecklich lang gezogen; und überall in den Bäumen und im Wasser hoben die Waldleute die Köpfe und spähten zu ihr hinüber. Auf ein Holzgestell gebunden und von zwei Hebammen gehalten, schaukelte sie im Uferwasser, brüllte und presste die Hände auf ihren riesigen Kugelbauch. Vogler stand wie festgewachsen im Tümpel unter seiner Blutbuche und lauschte wieder mit angehaltenem Atem. Ihr Geschrei fuhr ihm tief in die Knochen. Wie eine Sterbende hörte sie sich an.
Einen halben Lanzenwurf weit entfernt tauchte die dritte Hebamme zwischen den Schenkeln seiner Frau auf, beugte sich über die Schreiende und redete auf sie ein. War es denn jetzt endlich so weit? Doch die Wehe schien nachzulassen, immer noch kein Kind, das Geschrei verebbte nach und nach. Zuerst ging es in Stöhnen über, dann in Gewimmer. Die Hebamme äugte zu ihm herüber und winkte ab. Nein, es war immer noch nicht so weit … Vogler seufzte und blinzelte ins Geäst seiner Blutbuche hinauf. Zwei Männer hockten dort oben auf seiner Veranda.
»Da muss sie durch«, sagte Bux, der alte Wettermann. »Es kann ihr keiner helfen, da muss sie ganz allein durch.« Er rauchte irgendeines seiner stinkenden Kräuter und blies den Qualm in einen Strauß aus jungen Farnwedeln, den er mal hinauf zur Kronenhütte von Voglers Hausbaum, mal hinüber in Richtung der Gebärenden ausstreckte. Manchmal warf er eine Handvoll Tannensamen auf Vogler herab. All das tat er langsam und mit demselben Gleichmut, mit dem er morgens sein Nachtgeschirr zu leeren oder abends seinen Fisch zu schlachten pflegte.
Hinter Bux hockte mit gekreuzten Beinen Kauzer, sein jüngerer Gehilfe, neben einem rauchenden Topf und reichte dem Wettermann, was der so brauchte, um Wolkengötter, Waldgeister und die Seele des Stomms zu beschwören, des Großen Stromes: Pfeifenkräuter, Pilzpulver, brennende Fettholzspäne, frischen Farn und Tannensamen und immer wieder den Eisenkrug mit dem Heiligen Trank. Vor allem Letzterer half dem alten Wettermann mit Göttern und Geistern in Verbindung zu bleiben, das wusste Vogler. So eine Geburt konnte sich über ganze Tage hinziehen, länger oft als ein Todeskampf – ohne den Heiligen Trank gingen einem Wettermann da leicht mal die Worte aus, die es brauchte, um die Unsichtbaren der Anderen Welt zu Heil und Segen für Mutter und Kind zu überreden. Beide, Bux und Kauzer, beteten um die Wette und einer lauter als der andere.
Der monotone Singsang beruhigte Vogler ein wenig. Er drehte die nächste Runde im Hochwassertümpel über dem Wurzelgeflecht seines Hausbaumes. Es wuchsen nicht viele Blutbuchen in den Flusswäldern entlang des Stomms, und die wenigen waren nur selten bewohnt. Die Waldleute glaubten nämlich, dass ein eigensinniger und zum Zorn neigender Waldgeist im Wurzelwerk der roten Bäume hauste, dem kaum einer zu nahe kommen wollte.
Voglers Großvater hatte sein Haus vor vielen Sommern dennoch in die Krone der Blutbuche gebaut und sich der Freundschaft mit ihrem Geist gerühmt. Weil er viele Jäger und Mütter gezeugt und sein Leben lang reiche Beute gemacht hatte, glaubten ihm die Waldleute. Am Ende seiner Tage bewunderten die Strömenholzer ihn für seinen Mut, mit einem Blutbuchengeist im selben Baum zu hausen. Einen seiner Söhne, Voglers Vater, wählten sie sogar zu ihrem Waldfürsten. Bis zum heutigen Tag sprach man mit Hochachtung von Voglers Großvater und seiner Sippe.
Auch von Vogler sprach man mit Hochachtung. Jedenfalls an diesem Morgen noch. Später allerdings, als all das Unglück seinen Lauf nahm, hieß es: Selber schuld; und: Niemand fordert ungestraft einen Waldgeist heraus, von dem doch jeder Grünsprössling weiß, dass er ungeheuer böse werden kann, wenn man ihn nicht allein und ungestört in seiner Blutbuche hausen lässt.
Ein Kolk segelte heran und ließ sich auf Voglers Schulter nieder. Nicht Schrat, der große Rabenvogel mit dem weißen Fleck im Brustgefieder, sondern Tekla, Schrats kleinere Gefährtin. Ihr Gefieder schillerte schwarzblau wie siedendes Pech.
Die Wolkendecke riss weiter auf, und viele Lichtbalken der Vormittagssonne flirrten auf einmal zwischen Baumkronen und Unterholz. Im Geäst der Blutbuche krähte Schrat seine Eifersucht in den Wald, flatterte schließlich herab und landete auf Voglers freier Schulter. Der ließ ihn diesmal gewähren, nahm ihn kaum wahr.
Kinder und Halbwüchsige riefen aufgeregt und deuteten zum Himmel hinauf – gleich drei Regenbogen strahlten über dem Laubdach des Flusswaldes. Überall auf Dächern, Leitern, Veranden und im seichten Wasser zwischen den Baumstämmen legten Waldleute die Köpfe in den Nacken, um einen Blick auf das farbige Lichtspektakel zu erhaschen.
Der Eichgraf sah keinen einzigen Regenbogen. Er stand schon wieder still und schielte zu den Frauen am nahen Ufer des Flussarmes hinüber. Jetzt schrien sie alle vier, und am lautesten schrie seine Frau. Mehr Spektakel brauchte Vogler nicht.
Seine Frau wand sich auf dem Holzgestell, an das man sie gebunden hatte. In der sanften Strömung des Uferwassers schaukelte sie auf und ab. Die Wehen kamen jetzt immer öfter, und bei jeder brüllte sie wie eine Wasserkuh, der die Alligatoren das Fleisch bei lebendigem Leib aus den Flanken fraßen. Die Hebammen schrien mit ihr. Am liebsten hätte auch Vogler geschrien; lange würde er das Weibergebrüll nicht mehr ertragen.
Keinen halben Lanzenwurf entfernt von den Frauen trieben vier an Hausbaumstämmen befestigte Kähne in der Strömung. Jäger standen breitbeinig in ihnen oder knieten darin und belauerten das Wasser. Manche sangen, andere plauderten, doch jeder von ihnen hielt sich bereit, seinen Jagdbogen zu spannen oder seine Lanze zum Wurf über die Schulter zu stemmen.
Der Anblick seiner kampfbereiten Jagdkerle beruhigte Vogler überhaupt nicht. Im Gegenteil: Er erinnerte ihn daran, dass das Frühjahrshochwasser leider nicht nur leckeres und hoch willkommenes Federvieh und Fischzeug in unmittelbare Nähe der Hausbäume brachte, sondern auch Raubtiere, die selbst nichts anderes als Jagen und Fressen im Sinn hatten. Alligatoren etwa oder Flussparder. Der Anblick der Geburtswächter drohte Voglers Unruhe zur Panik zu steigern.
Er riss sich zusammen. Schließlich war er nicht irgendjemand, schließlich war er der Eichgraf von Stommfurt. Er blieb stehen, atmete tief, stimmte für ein paar Takte in den Gebetssingsang der Wettermänner ein. Bux bewarf ihn einmal mehr mit Tannensamen und wedelte süßlich duftenden Rauch von der Veranda auf ihn herab. Und wahrhaftig: Das half dem Eichgrafen, die aufbrandende Panik zu überwinden.
Ein Kind oben im Hausbaum zu gebären – oder wenigstens im noch nicht vom Hochwasser überschwemmten Unterholz – wäre ungefährlicher gewesen, sicher; doch wer sich, wie Vogler, einen starken Jäger als Sohn oder eine zähe, fruchtbare Mutter als Tochter wünschte, musste schon ins Wasser des Stroms steigen, wenn die Wehen einsetzten. So war es nun einmal Sitte in Strömenholz und den anderen Waldgauen im Mündungsdelta des Stomms. Immerhin ersparten die Hochwasserzeiten einer Gebärenden und ihrer Sippe die beiden Wegstunden durchs Unterholz bis zum Stromufer – die Fluten des Stomms strömten dann nahe der Hausbäume durch den Wald.
Die Wolkendecke über dem Laubdach schloss sich, und erneut schien das Licht in den Hausbaumkronen und auf den Flussarmen zu erlöschen. Der Nieselregen setzte wieder ein. Auf allen Veranden, Stammleitern und Hausbaumveranden rund um Voglers Blutbuche hatten sich inzwischen Waldleute versammelt, um Voglers Frau beim Gebären zuzuschauen, vor allem Mütter und Jungweiber. Von einer Kronenhütte aus stimmten die Frauen in ihr Geschrei mit ein, wenn wieder eine Wehe kam, von einer anderen riefen sie ihr Durchhalteparolen zu, und vom Rundhaus einer Eiche aus sangen sie mehrstimmige Lieder zu ihr hinunter.
Sie gebar zum ersten Mal, und bei allen Wolkengöttern, es war nicht zu überhören: Ihr Gebrüll klang jetzt so laut und durchdringend, dass es Vogler schier das Hirn aus den Ohren zerrte. Er hielt es nicht länger aus unter seiner Blutbuche und den rauchenden und betenden Wettermännern – er scheuchte die Kolks von seinen Schultern, watete zum Hochwasserarm hinüber und näherte sich seiner schreienden Frau.
Flehend sah sie ihm entgegen und streckte die Arme nach ihm aus. Zwischen ihren Schenkeln stiegen Blasen und Blut an die Wasseroberfläche. Eine der drei Hebammen, die Voglers Frau auf dem Holzgestell festhielten, schrie: »Atmen!«, »Drücken!«, »Pressen!«, und solches Zeug. Die zweite rief den Geist der Blutbuche an, und die älteste fuchtelte mit den Armen, um Vogler zu bedeuten, dass er zu verschwinden hatte. Doch das Gekreische seiner geliebten Frau schnürte Vogler das Herz zusammen. Sie tat ihm leid und, ja, er hing an ihr; also vergaß er die Regeln und guten Sitten, überwand die letzten Meter und ergriff ihre ausgestreckte Hand.
»Ich sterbe!«, schrie sie und klammerte sich an ihn. »Ich sterbe!«
Vogler hatte schon früher Gebärende wie in Todesnot schreien gehört, ohne dass eine von ihnen wirklich gestorben wäre; dennoch bekam er es mit der Angst zu tun. Er hielt ihren Kopf fest, beugte sich über sie, presste seine vernarbte Wange an ihre heiße und weiche Wange. War sie vom Wasser so nass oder vom Schweiß?
Zwischen ihren Schenkeln blubberten jetzt besonders große Blasen, und das Wasser färbte sich noch dunkler. Er erschrak.
»Pressen!«, krähte der Chor der Hebammen, von den Hausbäumen aus sangen sie es mehrstimmig: »Pressen!« Und dann bäumte seine Frau sich auf dem Holzgestell auf, stimmte einen Schrei an, der gar nicht mehr aufhören wollte, und ihre schwarzen Fingernägel bohrten sich tief in die Haut von Voglers haarigen Armen. Inmitten des blutigen Flusswassers schimmerte nun etwas Fahles, Rundes und trieb Richtung Wasseroberfläche: ein Kinderkopf.
In diesem Augenblick riss die Wolkendecke einmal mehr auf, und die Sonne streute ihr Licht über Baumkronen, Teiche und Hochwasserarme. Die älteste Hebamme griff zu und zog das Neugeborene an den Beinchen aus dem Fluss, eine andere setzte eine Kupferklinge an und zerschnitt die Nabelschnur; Blut spritzte. Die dritte holte aus, es machte Klatsch!, und das zappelnde Kind begann zu quäken.
Aus allen Hausbäumen und von allen Kähnen jubelte es nun. Die beiden Kolks kreisten krächzend über der jungen Mutter und ihrem Neugeborenen, und Vogler wurde es ganz schwarz vor Augen. Er blinzelte und hielt sich an einer Hebamme und dem Holzgestell fest, auf dem seine Frau lag. Dann sah er in ihr erschöpftes, aber glückliches Gesicht, sah das Kleine an ihrer Brust, sah Zwergbarsche um die Nabelschnur und das blutige Etwas streiten, das da noch neben den schlaffen Beinen seiner Frau im Wasser schaukelte. Ein Lachen stieg ihm aus der Brust die Kehle hoch, und Tränen traten ihm in die Augen. Er spürte, wie die Hebammen ihm auf Schultern und Rücken klopften.
»Es ist alles dran an euerm Grünsprössling«, krähte die älteste. »Freu dich, Vogler! Ein kleiner Waldmann wird bald in deinem Hausbaum herumklettern! Freue dich und danke dem großen Waldgeist!« Dann sah sie zu den Hausbäumen hinauf und rief es so laut, dass auch die Schwerhörigen unter den Morschen – so nannten die Waldleute ihre Greise – es hören konnten: »Alles dran! Ein neuer Waldmann ist da!« Und sofort stimmte jemand ein Jubellied an. Vogler aber wischte sich über die Augen, strahlte, küsste Mutter und Kind und stapfte durchs Wasser zurück zu seiner Blutbuche.
Der Gehilfe des Wettermannes, ein Kerlchen mit großem Schädel, kurzen weißblonden Locken und Kindergesicht, sprang von der unteren Veranda und watete ihm entgegen. »Wie soll er denn heißen?« Er sprach mit heiserer Stimme, wie immer; im Grunde röchelte er mehr, als dass er sprach.
»Lasnic«, murmelte Vogler und kicherte. »Lasnic soll er heißen.«
»Wie?!« Kauzer blieb stehen und hielt die Hand ans Ohr.
»Lasnic!«, rief Vogler. Plötzlich platzte es aus ihm heraus, und er lachte laut und wie von Sinnen. Oben in den Baumkronen jubelten sie wieder, und der Name ging von Mund zu Mund: »Lasnic heißt Voglers Sohn! Habt ihr’s gehört? Lasnic! Lasnic …«
Kauzer taumelte plötzlich rückwärts ins überflutete Wurzelgeflecht, erstarrte nach drei Schritten, riss Mund und Augen auf und stierte an Vogler vorbei zum Hochwasserarm. Vogler hörte auf zu lachen und runzelte die Stirn. Von einem Atemzug auf den anderen schlugen Gesang und Jubel aus den Bäumen in Angstgeschrei um. Die Rabenvögel in der Blutbuche lärmten, als wäre ein Baumgreif unter sie gefahren.
»Schlammwelse!«, brüllten die Jagdkerle in den Kähnen. Die alten Hebammen schrien wieder, jedoch anders als zuvor; und Warnrufe gellten hin und her.
Vogler fuhr herum. Er sah sofort das, was jedem Jäger den Angriff eines Schlammwelses verriet: eine große Bugwelle schlammigen Wassers. Sie trieb zwischen zwei Kähnen hindurch, einige Jagdkerle schossen bereits ihre Pfeile ab, einer schleuderte seine Lanze. Die meisten trafen, doch die Bugwelle rollte immer weiter dem Ufer entgegen, wo die schreienden Hebammen zu fliehen versuchten und das Gestell mit Mutter und Kind durchs aufgewühlte Wasser zogen. Hinter der Bugwelle sah Vogler zwei Pfeile und einen Lanzenschaft erst aus den braunen Fluten und dann aus einem Welsrücken ragen. Er warf sich in den Flussarm und schwamm den Hebammen entgegen.
Nicht ungefährlich, denn die Jäger in den Flößen zielten schon wieder mit ihren Waffen, zögerten jedoch – nicht wegen Vogler oder der Hebammen, sondern wegen des Neugeborenen und seiner Mutter. Im nächsten Augenblick hob sich das Heck des linken Kahns, und einen Atemzug lang sah Vogler den breiten schwarzbraunen Rücken eines großen Schlammwelses aufragen. Die Jäger stürzten aus dem Kahn in den Hochwasserarm.
Hinter dem Nachbarkahn schäumte und spritzte das Wasser und teilte sich. Zwei junge Schlammwelse warfen sich auf das Boot. Vogler sah stachlige Rachen, spitze Zähne, schillernde Brustflossen. Die zwei Lanzenlängen großen Raubfische schnappten nach Beinen und Armen der Jäger oder fegten sie mit den Schwanzflossen aus den Kähnen.
Von den Kronenhütten aus begannen die Schützen von Stommfurt auf die Großfische zu zielen. Ein alter schwerer Wels hatte sich auf den dritten Kahn gewälzt, der vierte kippte gerade um, und das Geschrei der Waldleute war nun allgegenwärtig.
Auch Vogler schrie, denn die schlammige Bugwelle schwappte über das Gestell mit Mutter und Neugeborenem, und er begriff, dass er Frau und Kind verlieren würde. Zwei der Hebammen verschwanden unter Wasser, und nichts als Haare, Fleischfetzen und Blutschlieren tauchten wieder auf. Die dritte Hebamme ließ das Holzgerüst los und floh.
Das Gebärgestell mit Voglers Frau und ihrem neugeborenen Sohn hob und senkte sich, bis es halb unter rötlichem Schaum und schmutzigen Wasserwirbeln verschwand. Vogler sah eine Schwanzflosse; und dann sah er, wie das Gestell mit Mutter und Kind zwischen den leeren Kähnen hindurch, an im Wasser treibenden Leichen vorbei in die Mitte des Hochwasserarmes gezogen wurde. Voglers Frau gab keinen Ton von sich, den neugeborenen Sohn des Eichgrafen aber konnte jeder plärren hören.
»Tötet den verfluchten Wels!« Vogler brüllte. »Haltet ihn auf!« Doch aus Angst, das Kind zu treffen, schoss niemand mehr einen Pfeil ab. So verlor sich das dünne Stimmchen des Neugeborenen rasch, und die vor seiner Mutter und ihm aus dem Wasser ragenden Pfeile und der Lanzenschaft verschwammen mit dem Gehölz rechts und links des Hochwasserarms.
Irgendwann, irgendwo
Ein Gesicht beugte sich über sie, knochig, haarlos, schneeweiß: der Wächter des Schlafes. Nicht jener, der vor langer Zeit den Glasdeckel über ihre Mondsteinkuhle geschoben hatte – der war jung, braun gebrannt und schwarzhaarig gewesen –, dieser hier war viel älter. Unzählige haarfeine Linien durchzogen sein Gesicht, verdichteten sich um Mund und Augen zu netzartigen Maserungen, stiegen von den haarlosen Brauenbogen und der Nasenwurzel wie Fontänen hinauf in die Venengeflechte seines kahlen Schädels. Vielleicht ein Enkel derer, die vor Urzeiten das Einschlafen und das Erste Morgenlicht hüteten, vielleicht ihr Urenkel. Und dennoch – hatte sie nicht im Traum die Stimme des Wächters des Schlafes erkannt?
»Endlich ist es so weit.« Er lächelte. »Willkommen, Catolis. Willkommen an der Schwelle zum Zweiten Reich von Kalypto.«
Sie ahnte mehr, was er meinte, als dass sie es wirklich verstand. Vieles von dem, was er in den ersten Tagen sagte, erschien ihr rätselhaft. Doch in den folgenden Monden änderte sich das nach und nach, denn während er sie fütterte – erst mit flüssiger, später mit fester Speise –, pflegte er zu erzählen: die ganze Geschichte des Ersten Kalyptischen Reiches. Wie der Orden der Kalyptiker entstand, wie er das Erste Morgenlicht bändigte, wie er Macht gewann, wie er sich die Welt untertan machte, wie er ein vollkommenes Reich schuf. Und wie das Ende kam. Wie die Welt erst verbrannte, dann ersoff, dann gefror.
Der Wächter des Schlafes erzählte, während er sie wusch, er erzählte, während er sie ankleidete, er erzählte, während er ihr aus dem Mondsteinsarkophag half und sie bei den ersten Schritten stützte.
Den ersten Schritten seit Tausenden von Sonnenwenden.
Er führte sie vor einen ovalen Kristallspiegel, der bis an die Granitdecke reichte. Darin sah sie neben ihm eine gleich große, aber deutlich dürrere Frau stehen, jung, mit dunkelroten Haaren und kantigem, faltenlosem Gesicht, aus dem helle kupferfarbene Augen leuchteten.
»Ja«, murmelte sie, »das ist Catolis.« Die Frau im Spiegel bewegte die Lippen und lehnte sich gegen den fahlen Greis im blauen Mantel. »Ja, das bin ich.«
Später las der Wächter des Schlafes oft aus der Chronik von Kalypto vor, und als die süße Schwere des langen Schlafes auch die letzten Fasern ihrer Nerven verlassen hatte, begann sie Fragen zu stellen. Geduldig beantwortete er sie alle.
In immer deutlicheren Bildern sah sie nun vor sich, was während des Endes geschehen war. Sah, wie die Meister der Zeit diejenigen auswählten, die überleben sollten, um später das Zweite Reich zu gründen; sah siebentausend auserwählte Magier – die meisten blutjung – in die unterirdische Stadt hinabsteigen; sah auch, wie Sarkophage aus Mondstein geöffnet wurden; sah sogar, wie das Erste Morgenlicht zu pulsieren begann.
So kehrte nach und nach die Erinnerung zurück, und bald waren ihr sämtliche Namen und Gesichter derer wieder gegenwärtig, die mit ihr in die letzte Bastion von Kalypto hinuntergegangen und wie sie in Mondsteinsarkophage gestiegen waren, um im Ersten Morgenlicht einer möglichen Zukunft entgegenzuschlafen.
Mit der Erinnerung kamen neue Fragen.
»Warum bist du allein?«, fragte sie irgendwann im dritten Mond nach ihrem Erwachen; sie stemmte gerade Bleihämmer, um ihre Muskeln zu stärken. »Zwei Wächter des Schlafes sollten doch das Erste Morgenlicht und den Schlaf der Kalyptiker hüten.«
»Meine Gefährtin starb vor zwölf Sonnenwenden«, antwortete der Wächter, »und auch meine Lebenskraft geht zur Neige. In wenigen Monden wollte ich meine Nachfolger wecken, doch dann sah ich, dass die Zeit reif ist, vier Magier in die Welt hinaufzuschicken.« Er lächelte, und seine Augen wurden feucht. »Ich bin so glücklich, den Beginn des Zweiten Reiches von Kalypto noch erleben zu dürfen.«
»Woher weißt du, dass die Zeit reif ist?« Die Lust am Zweifel hatte seit jeher zu Catolis’ Wesen gehört.
Der Wächter des Schlafes führte sie aus der Granitkammer in die von blauem Licht durchflutete Mittelhalle. Das Licht strahlte aus einzelnen Sarkophagen in der Rundwand, doch vor allem aus der gläsernen Säule, um die herum eine Wendeltreppe hinauf in die höheren Ebenen von Kalypto führte.
Es war das ERSTE MORGENLICHT, das in der Glassäule pulsierte, über unzählige große und kleinste Lichtschächte in die Mondsteinsarkophage hineinstrahlte und die Schläfer von Kalypto seit dem Augenblick lebendig hielt, seit sie vor Tausenden Sonnenwenden eingeschlafen waren. Nur die Wächter des Schlafes alterten hier unten. Oder diejenigen Schläfer, zu denen das Erste Morgenlicht nicht mehr hindurchdrang.
Vorbei an der Lichtsäule stiegen sie zwei Ebenen höher. In einem mit Harz ausgegossenen Kuppelraum führte der Wächter des Schlafes Catolis an einen runden Felstisch. Dutzende Gegenstände, teilweise zerbrochen und verrostet, lagen darauf.
»Eine Auswahl dessen, was die Eismöwen uns in den letzten vierhundert Sonnenwenden gebracht haben«, erklärte der Wächter.
Catolis ließ ihren Blick über die Fundstücke wandern: rostige Pfeilspitzen, eine Sandale, ein Stirnreif aus Horn, der Stiel eines Glases, eine Brosche, Messerklingen, eine Haarbürste, Silbermünzen, kunstvoll bemalte Keramikscherben und vieles mehr.
»Horden scheinen sich wieder zu Stämmen und Völkern zusammengefunden zu haben«, sagte der Wächter des Schlafes. »Die Menschen schmieden wieder Metall, treiben Handel, gießen Glas, fertigen Kleider, Schuhe, sogar Schmuck.«
Catolis griff nach einem kleinen Taschenspiegel und entdeckte eingravierte Lettern auf seiner Rückseite. Ein Name? Sie hob ein kleines rostiges Werkzeug hoch, eine Säge mit winzigen Zähnen auf dem schmalen Blatt. Eine Metallsäge wahrscheinlich. Sie klaubte runde Eisenstücke aus einem Haufen kleiner angerosteter Gegenstände und drehte sie zwischen den Fingern: Zahnräder. Manche kleiner als der Nagel ihres kleinen Zehs, andere von der Größe ihres Handtellers.
»Ja, du hast recht.« Sie legte die Zahnräder zurück auf den Felstisch. »Magier sollten nach oben gehen und in die vier Himmelsrichtungen wandern. Die Zeit ist reif für das Zweite Reich von Kalypto.« Sie sah dem Wächter des Schlafes ins uralte Gesicht. »Warum aber weckst du mich und nicht einen Meister der Zeit? Nur ihm steht es zu, die Magier auszuwählen, die mit ihm zu den wilden Völkern wandern sollen.«
Der Wächter des Schlafes nickte stumm und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Wieder tauchten sie in das flirrende Licht der blau strahlenden Säule ein, wieder stiegen sie zwei Ebenen weiter nach oben. Dort winkte er sie an die Rundwand, und sofort fiel es Catolis auf: Weniger Sarkophage als in den unteren Ebenen erfüllte das Erste Morgenlicht hier mit seinem Leuchten. Der Wächter des Schlafes blieb vor der Rundwand stehen und streckte Arme und Finger zu einem dieser lichtlosen Mondsteinsarkophage aus. Das blaue Behältnis schwebte erst aus der Wand und dann langsam zu ihnen herab; schließlich setzte es auf dem Granitboden auf.
»Sieh hinein.«
Catolis beugte sich über den Glasdeckel. Staub lag im Sarkophag; in einer Form, dass sie noch die Umrisse von Gliedern, Rumpf und Kopf des Magiers erahnen konnte, der hier alterslos geruht hatte – bis er jäh zu Staub zerfallen war.
»Der Großmeister der Zeit«, sagte der Wächter des Schlafes mit hohler Stimme. »Der letzte von sieben Meistern der Zeit, die mit uns herabgestiegen sind.«
Unter den Kalyptikern hatte es auf jeder Stufe der Meisterschaft einen höchsten Magier gegeben, einen Großmeister. Der Großmeister der Zeit stand über allen anderen. Seit jeher galt er als der Magierfürst von Kalypto.
»Wie konnte das nur geschehen?« Tief erschrocken blickte Catolis zu den anderen Wandnischen, in denen lichtlose Sarkophage standen. »Und er ist nicht der einzige, sagst du?« Sie verstand noch immer nicht.
»Weit über tausend Magier sind aus dem ErsteN Morgenlicht gefallen und gestorben.« Der Wächter des Schlafes seufzte tief. »Vulkanausbrüche in der Nähe, zwei Erdbeben in den letzten dreitausend Sonnenwenden …« Er zuckte mit den Schultern. »… vielleicht auch der Druck der Gesteinsmassen oder erodierende Wasseradern – irgendwann sind die Lichtschächte zwischen ihren Ruhetruhen und der Säule mit dem Ersten Morgenlicht zusammengebrochen – was auch immer der Grund dafür gewesen sein mag.«
»Das heißt, es gibt keine Meister der Zeit mehr …?« Catolis wandte sich ab, begann zwischen den Treppenabsätzen vor der blau leuchtenden Säule hin und her zu laufen und versuchte zu begreifen, was sie gesehen und gehört hatte. Der Wächter des Schlafes ließ ihr Zeit. »Das bedeutet …« Irgendwann blieb sie stehen, fuhr herum und sah ihm ins fahle Gesicht. »Warum weckst du ausgerechnet mich? Ich verstehe das nicht …«
»Du verstehst sehr gut, Catolis.« Der bleiche, haarlose Greis lächelte. »Wir Wächter des Schlafes müssen in Kalypto bleiben, um den Schlaf der anderen zu hüten und das Erste Morgenlicht, das sie am Leben erhält. Meine Gefährtin und ich haben das Testament der Mütter und Väter von Kalypto geöffnet, um nachzulesen, wen sie als Großmeister der Zeit für den Fall vorgesehen haben, dass kein Meister der Zeit den Epochenschlaf überleben sollte.« Er verstummte, blickte sie erwartungsvoll an.
»Und?« Catolis schluckte. Das Herz schlug ihr plötzlich in der Kehle.
»Dich, Catolis, haben sie vorgesehen. Du bist jetzt die Großmeisterin der Zeit.«
»Ich …?« Catolis presste die Hände auf die Brust und schüttelte den Kopf, als traute sie ihren Sinnen nicht. »Aber, wieso …?«
»Ja, du bist auserwählt, Catolis.« Strenger Ernst lag jetzt auf den Zügen des Wächters des Schlafes. »Du bist die Erste Magierfürstin des Zweiten Reiches von Kalypto. Du wirst hinaufsteigen. Und zuvor wirst du drei Kalyptiker auswählen, die mit dir gehen.«
Noch keine sieben Winter alt war Ayrin, da musste sie ihrer Mutter schon als Königin des Bergreiches Garona nachfolgen.
Die sechs Winter davor lebte sie ein verträumtes, behütetes und verspieltes Kinderleben in der Königsburg von Garonada, der Hauptstadt des Reiches. Sechs Winter lang war sie weiter nichts als ein kleines Mädchen, sechs Winter lang schienen die hohen Berggipfel, die mit starken Wehrmauern befestigten Felsstädte, die leuchtenden Gletscher, die schäumenden Flüsse und die tiefen Schluchten nur um ihretwillen zu existieren. Sonne, Mond und Sterne zogen allein für sie durch den Himmel, und es gab keinen Tag, an dem sie nicht mindestens einmal in den Armen ihrer Mutter, der Königin Belice, lag, auf ihrem Schoß kauerte und in ihr gütiges und schönes Gesicht blickte.
Nach sechs Wintern dann musste sie lernen, dass jeder Ebene ein Abhang folgte und niemand sein Leben lang nur aus dem Becher des Glücks schlürfen durfte. Vorzeichen des nahenden Abhangs entdeckte sie ausgerechnet im Haar ihrer Mutter.
Das erste Mal fiel es ihr im Badehaus auf, am Tag vor der Ritterweihe. Königin Belice hatte sie zu sich in den Zuber gehoben, wie sonst auch. Da saß Ayrin nun bis zum Hals in heißem Wasser, häufte Schaum auf ihrem Kopf, fächelte die Dampfschwaden zur Seite und betrachtete ihre schöne Mutter, während zwei Diener der Innenburg ihnen das Haar und die Rücken wuschen. Zufrieden war Ayrin, vollkommen zufrieden.
Und dann sah sie es.
Zuerst hielt sie es für Schaum. Doch der Diener leerte einen Holzkübel mit klarem Wasser über Mutters Kopf, und das, was Ayrin für Schaum gehalten hatte, schimmerte noch immer im kastanienroten Haar über der Stirn ihrer Mutter.
»Dein Haar wird ja weiß«, sagte sie, stand im Zuber auf und berührte die Stelle. »Hier vorn am Scheitel, und hier, eine ganze Strähne.« Mit den Fingern fuhr sie der nassen weißen Strähne nach. Die reichte bis über die von der Sonne gebräunte Schulter ihrer Mutter. Und jetzt sah Ayrin auch, dass die Stirn ihrer Mutter seltsam schuppig und von mehr feinen Furchen durchzogen war, als sie damals zählen konnte.
»Wirst du schon alt, Belice?«
»Jeden Tag werden wir älter, mein Herz. Alle.«
Ayrin fiel auf, wie müde die Stimme ihrer Mutter klang. »Selbst eine Königin?« Ihre Mutter nickte, und Ayrin entdeckte einen traurigen Schimmer in ihren Augen, den sie dort zuvor noch nie gesehen hatte. »Arme Belice!« Erschrocken fiel Ayrin ihrer Mutter um den nassen Hals. »Wirst du denn krank?«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf, küsste sie und schob sie von sich. Dann streifte sie den Schaum von Brüsten und Armen und erhob sich, damit der Diener sie abtrocknen konnte.
Ayrin sah ihm dabei zu und betrachtete den schönen, sehnigen Leib ihrer Mutter. Achtundzwanzig Winter hatte Belice erst gesehen, ihrem Bauch sah man zu jener Zeit noch kaum etwas an. Ayrin legte die Hand auf ihn.
»Liegt es daran? Ist das Baby schuld?«
»Niemand ist schuld, an gar nichts.« Belices Lächeln war seltsam starr. »Es wird alles gut, Prinzessin.«
Nach dem Baden rieben die Diener sie mit Duftölen ein, bürsteten und flochten ihnen das Haar und halfen ihnen beim Ankleiden.
Was schon gut ist, kann nur besser werden, dachte Ayrin. Wenn also alles gut werden soll, dann muss es jetzt schlechter sein, als es sein sollte, oder?
Ihre Mutter stand vor dem Spiegel, während Ayrin das dachte, und sie wollte sie eigentlich fragen, was sie von dem Gedanken hielt. Doch dann sah sie, wie sorgfältig ihre Mutter sich das Haar mit einem silbergrauen Seidentuch bedeckte, und Ayrin fragte lieber nichts mehr. Seit wann verhüllte denn die Königin Belice von Garona ihr wunderschönes kastanienrotes Haar?
So fing es an. So begannen die Vorboten des Unglücks ihre schlimme Botschaft in Ayrins Mädchenkopf zu raunen.
Und es ging weiter, gleich am nächsten Tag.
Im ersten Morgengrauen senkte sich die Zugbrücke der Königsburg über die Schlucht. Auf ihr überquerte Ayrin inmitten des mütterlichen Trosses den schäumenden Glacis, den Gletscherfluss. Die königliche Prozession stieg die große Felstreppe zum Mutterhaus hinauf. Dort sollten die Jungritter eine Stunde nach Sonnenaufgang ihren Eid auf die Große Mutter und das Reich ablegen. Unterhalb der Königsburg bedeckte noch Morgendunst die meisten Türme und Dächer von Garonada; nur Teile der Westmauer und der Zirkuskuppel ragten aus dem weißen Schleier.
Das Mutterhaus lag auf einem Felsplateau knapp unterhalb des Grates, auf dem ein guter Wanderer in einem Tag zum Schneegipfel des Garonits gelangen konnte. Von jeder Felsstadt des Bergreiches aus konnte man es sehen: zwei mächtige, durch einen viel kleineren, schotenförmigen Portalbau verbundene Kuppeln, auf deren Zenit je ein Turm aufragte. Kein Bauwerk im Reich lag höher.
Auf Ayrins Frage nach dem Grund dafür hatte Runja, die Priesterin, einmal geantwortet, es sei gut, dem Mond so nahe wie möglich zu sein, wenn man die Große Mutter rief.
Sieben königliche Throngardistinnen schritten voran, Schwertdamen mit Langschwertern in den Rückenscheiden. Ihre roten Prachtmäntel wehten im kühlen Wind, und im ersten Licht der Morgensonne schimmerten ihre Helme und Brustharnische wie pures Silber und die Bernsteinknäufe ihrer Schwerter wie der Blütenhonig aus den Flusstälern.
Direkt hinter ihnen stiegen die Priesterin Runja, die Königin und ihr Vertrauter, der Harlekin Mauritz, die Stufen hinauf. Mehr hatten auf der Treppenbreite keinen Platz, denn Runja war groß und sehr dick. Ayrin konnte sie schnaufen hören während des Aufstiegs. Und obwohl die Priesterin nach Luft rang, hin und her schaukelte und sich ständig mit einem Tuch den Schweiß von der breiten Stirn wischte, hielt sie Belice doch am Ellenbogen fest, als müsste sie die Königin stützen. Sonst tat sie das nie, und der Anblick bedrückte Ayrin.
Stimmte es also: Ihre Mutter war krank.
Sie selbst lief mit den anderen Mädchen hinter den Frauen und dem Harlekin, Hand in Hand mit ihren besten Freundinnen Petrona und Loryane. Ihnen folgte die so gar nicht festlich gekleidete Burgmeisterin Hildrun, eine große dürre Frau mit bleicher und strenger Miene. Wie immer trug sie ihren abgewetzten Ledermantel über ihrem braunen abgewetzten Harnisch, und wie immer ragte ihr der abgegriffene Knauf ihres alten Langschwertes aus der Rückenscheide über die Schulter. In den Städten des Reiches ging die Rede, dass Hildrun sich nicht einmal zum Schlafen von ihrem Schwert trennte.
Die Burgmeisterin schritt allein von Stufe zu Stufe, gefolgt von ihren drei königlichen Schwertmeisterinnen und dem ersten Diener der Außenburg, allesamt in Festtagskleidung. Den Abschluss der Prozession bildeten wiederum sieben Leibgardistinnen in Prachtmänteln und blank geputzten Harnischen.
Oben, am hohen Spitzportal des Mutterhauses, warteten bereits die sechs Herzoginnen der anderen Felsstädte mit ihren Burg- und Kriegsmeisterinnen. Sie schlossen sich dem königlichen Tross an. Im Inneren des Portalbaus, an den Stufen zum Mondaltar, verneigten sich die vierzehn Erzritter und ihre etwa zwei Dutzend flaumbärtigen Weihritter, als Ayrins Mutter mit ihrem Gefolge eintrat.
Mauritz und die Reichs- und Thronritter betraten mit vielen anderen Männern die Ostkuppel, Ayrin ging mit ihrer Mutter und den Frauen in die Westkuppel. Einige setzten sich vorn auf die gehobelten Pappelstämme oder einen der Quadersteine; die meisten blieben stehen.
Beide Kuppeln waren zum Altar hin offen, und Ayrin und ihre Freundinnen kletterten auf einen der erhöhten Steinquader, um den Altar mit Runja und ihren Altarjungfrauen besser sehen zu können.
Damals liebte Ayrin die Zeit vor dem eigentlichen Beginn einer Anrufung der Großen Mutter fast noch mehr als die Feier selbst: die Augenblicke, wenn draußen die Morgensonne zwischen den Schneegipfeln aufstieg und ihr Licht sich in den bunten Glassteinfenstern der Kuppel brach; wenn Runja endlich die Öllampen auf den Altarstufen anzündete, wenn ihre Jungfrauen rauchende Duftschalen in die Kuppeln trugen, wenn noch Hunderte Hochdamen, Schwertdamen und Mädchen durch die Seiteneingänge in die Westkuppel strömten, wenn sie tuschelten, lachten oder einander Segensgrüße zuriefen.
Beinahe zwanzigtausend Menschen fassten Kuppeln und Zwischenbau des Mutterhauses, die Vorhöfe sogar noch mehr. Doch die füllten sich nur zum höchsten Fest des Jahres, zur Mutterweihe, und auch da nur selten vollständig.
Auf der Männerseite herrschte dagegen fast immer großes Gedränge; zur Ritterweihe sowieso. Viel mehr Männer als Frauen lebten im Bergreich Garona, und wären nicht etliche Ritter auf Jagdzügen und Kriegsfahrten unterwegs, hätten sie wohl gar nicht alle Platz gefunden.
Endlich packte Runja den wuchtigen Schlegel, und sofort legte sich das Stimmengewirr. Sie holte aus und schlug sieben Mal gegen den Gong neben dem Altar. Die Kupferscheibe war noch größer als die hünenhafte Priesterin, und eine goldene Mondsichel glänzte auf ihr. Die Klangwellen hallten durch die Kuppeln. Nachdem die letzte verhallt war, herrschte vollkommene Stille. Es war, als würde jeder den Atem anhalten – bis Runja die Hymne der Großen Mutter anstimmte. Nacheinander fielen die Altarjungfrauen ein, danach die Schwertdamen und Mädchen, zum Schluss die Ritter. Bald erfüllte vielstimmiger Gesang das Mutterhaus.
Das Loblied pries die Große Mutter und dankte ihr für die Erwählung der Frauen von Garona zu ihren Schwestern und ihrem Volk für die Gründung des unbesiegbaren Bergreiches, für die uneinnehmbaren Felsstädte von Garona und für die Söhne des Reiches, die sich nun anschickten, ihr Leben und ihre Kraft der Großen Mutter, ihren Schwestern und ihrem auserwählten Reich zu weihen.