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Fürstenkrone
– Jubiläumsbox 2 –

E-Book 7-12

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Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-927-5

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Er schenkte ihr sein Schloss – und ging

Muss Prinz Eberhard auf seine große Liebe verzichten?

Roman von Roberta Grafenegg

Die letzten Tage im Juli waren heiß und trocken gewesen, jetzt hingen schwere Wolken über den Weinbergen. Gelber Staub wirbelte auf, als Eberhard von Gronaus Wagen die Kurven nahm. Er drosselte das Tempo und zwang sich zu ruhiger Fahrt. Schloss Gronau würde ihm nicht davonlaufen.

Er war verblüfft als er um die letzte Kurve gebogen war und die Allee schlanker Pappeln vor ihm lag, die zum Eingangshof des Schlosses führte. Was für ein Schmuckstück hatte sein Bruder Claus aus dem verfallenen Familiensitz gemacht! Das kleine Barockschlösschen erstrahlte in sattem Ockergelb, Sockel und Fensterumrandungen waren aus rötlichem Sandstein, den man abgeschliffen und erneuert hatte, und über der Eingangspforte thronte das Familienwappen, das ein Vorfahre im siebzehnten Jahrhundert in Stein hatte einmeißeln lassen.

Eberhard fuhr durch die Pappelallee bis zum Eingangstor. Das Schloss war um einen Innenhof gebaut, der ebenfalls restauriert und mit einer Kastanie bepflanzt worden war. An den Wänden rankten sich Kletterrosen, ob der alte Sandsteinbrunnen an der Südwand noch da war, konnte man nicht sehen. Autos aller Herren Länder standen hier dicht an dicht geparkt.

Eberhard stellte seinen Wagen auf einem gerade frei gewordenen Platz ab und stieg aus. Was für ein merkwürdiges Gefühl, nach all den Jahren wieder im Hof von Schloss Gronau zu stehen. Es war das gleiche alte Pflaster auf dem er als kleiner Junge Seilhüpfen gespielt hatte, das gleiche Fenster, von dem aus die Köchin hin und wieder einen Blick auf die spielenden Knaben geworfen hatte. Wie hieß sie doch noch? Richtig: Paula. Eine treue Seele war sie gewesen. Ob sie wohl noch lebte?

Die schwere, zweiflügelige Eingangstür stand offen, Besucher gingen ein und aus. Schwatzend, staunend, begutachtend. Eberhard spürte, wie die gleichgültige Geschäftigkeit der Kaufwilligen ihn verletzte und zornig machte. Sein Bruder war noch keine Woche unter der Erde, und man ging schon zur Tagesordnung über. Und die hieß lapidar: Schloss Gronau steht mit Park und dazugehörigem Waldbesitz zum Verkauf.

Er betrat die hohe Eingangshalle, in der das Gewirr der Stimmen von Decke und Wänden hallte und sich vervielfachte. Mehrere Gruppen Kauf- oder Schaulustiger standen beieinander, betrachteten die Einrichtung, besahen die Gewölbebögen, maßen sich Auge in Auge mit den Familienportraits, die von den Wänden herabschauten. Die Fürsten von Gronau waren einst eine einflussreiche und mächtige Familie gewesen.

Eberhard spürte die Blicke einiger Besucher und ahnte, dass man ihn auch nach langer Abwesenheit erkannte. Er hatte jedoch wenig Lust, alte Bekanntschaften zu erneuern. Zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Wenn überhaupt. So wich er den Blicken aus und betrat die Treppe, die zum Westflügel des Schlosses führte. Hier lagen die Wohnräume der Familie, zumindest war es früher so gewesen. Hier hoffte er Elisabeth zu treffen.

»Prinz Eberhard«, rief eine Frauenstimme. »Du lieber Himmel, ich habe Sie doch gleich erkannt.«

Er kannte die Stimme und wandte sich um. Zehn Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen – aber Paula hatte sich kaum verändert. Klein und rundlich war sie, das Gesicht gerötet, das Haar straff nach hinten gesteckt. Nur dass ihr Haar jetzt nicht mehr grau, sondern schlohweiß war.

»Nicht mehr Prinz, liebe Paula«, sagte er lächelnd. »Auf den Titel habe ich damals verzichtet. Und ich habe es niemals bereut.«

Paula schüttelte unzufrieden den Kopf.

»Für mich werden Sie immer Prinz Eberhard sein. Gleichgültig wie Sie sich nennen, Sie bleiben dennoch ein Mitglied der fürstlichen Familie.«

Er wusste, dass es wenig Sinn machen würde, Paula die Beweggründe für seinen Verzicht darzulegen. Zumal sich jetzt so vieles geändert hatte.

»Ein Mitglied der Familie bin ich nach wie vor«, gab er zurück. »Darum bin ich ja gekommen.«

Paula seufzte tief und zog ein Taschentuch, um sich die Augen zu wischen.

»Ja, jetzt sind Sie endlich gekommen. Warum nicht vor einigen Jahren? Oder wenigstens vor ein paar Monaten?«

Beklommen sah er, dass sie weinte. Auch ihm war es schwer ums Herz, wenn er an die Beerdigung auf dem kleinen Familienfriedhof dachte. So hatte er sich das Wiedersehen mit seinem Bruder nicht vorgestellt.

»Wer hätte das ahnen können, Paula?«

Sie schnäuzte sich und nickte. Natürlich, der Fürst war ein blendender Reiter gewesen, sein Pferd eine erfahrene Stute, die er seit Jahren ritt, der Weg durch den Wald ihm seit seiner Kindheit bekannt. Und doch war die Stute an jenem Morgen mit leerem Sattel im Schlosshof erschienen. Die Angestellten fanden den Fürsten im Wald, er war so unglücklich vom Pferd gestürzt, dass er sich das Genick gebrochen hatte.

»Es war ein schreckliches Unglück, das war es. Mein Gott, was haben die beiden Buben an ihrem Vater gehangen. Der Kleine fragt immer noch, ob sein Papi nicht bald nach Hause kommt.«

»Wie alt sind die beiden inzwischen?«

»Bernhard ist acht und Benedict sechs. In diesem Sommer ist er grad in die Schule gekommen. Eine große Feier hat der Fürst noch gerichtet zur Einschulung seines Buben. Pfänderspiele und eine Schnitzeljagd haben sie im Park gemacht und einen Nachtspaziergang mit Fackeln …«

Sie machte eine resignierte Handbewegung und fuhr sich wieder mit dem Taschentuch über die Augen.

»Wenn die Kinder doch wenigstens hier im Schloss bleiben könnten …«

Eberhard ließ ein junges Paar vorübergehen, das ebenfalls auf Besichtigungstour war. Die junge Frau zeigte an die Decke des Flures, die mit Stuckarbeiten verziert war. Sein Bruder musste große Summen in die Renovierungsarbeiten gesteckt haben.

Kein Wunder, dass es zum Desaster gekommen war. Unglückliche Aktienkäufe hatten ein Übriges getan, die Finanzen der Familie waren völlig zerrüttet.

»Gibt es denn schon ernsthafte Bewerber?«, fragte er, denn es war ihm bekannt, dass die Angestellten meist mehr wussten als alle anderen.

Paula hob die Schultern.

»Dazu ist es noch viel zu früh. Seit drei Tagen rennen diese Leute uns die Türen ein. Sie können sich kaum vorstellen, wie rücksichtslos und dreist manche von ihnen sind. Alles wollen sie sehen und anfassen. Nichts ist ihnen heilig. Besonders diese Journalisten sind wie die Geier. Gestern fragte mich jemand, wo die Schlafzimmer des Fürstenpaares seien. Und dann wollte einer wissen, an welcher Stelle der Fürst gestürzt sei. Und ob noch Blutspuren zu erkennen wären.«

»Unglaublich!«

»Ich habe der Fürstin gesagt, sie solle die Privaträume einfach abschließen. Und alles in Sicherheit bringen, was ihr wichtig und teuer ist. Aber das hat sie nicht gewollt.«

»Aber weshalb denn nicht?«

Paula zuckte die Schultern.

»Sie ist noch völlig benommen von den Ereignissen, die über sie hereingebrochen sind. Das ist wohl der Grund.«

Eberhard nickte verständnisvoll. Elisabeth war vor zehn Jahren eine bildschöne junge Braut gewesen. Eberhard hatte sie mit seinem Bruder Claus gemeinsam auf einer Segeltour im Mittelmeer kennen gelernt, wo sie mit Freunden seinen Geburtstag feierten. Natürlich war es Claus gewesen, der die schlanke dunkelhaarige Frau beeindruckte. Hinreißend charmant, sportlich, geistreich – sein älterer Bruder hatte immer den Vogel abgeschossen. Auch dieser wundervolle Paradiesvogel war bald in seinen Fängen gewesen. Mit Bitterkeit dachte Eberhard daran, dass sie damals fast eine ganze Nacht lang mit seinem Bruder getanzt hatte, eng aneinandergeschmiegt, das letzte Paar auf der Tanzfläche, traumverloren und so verliebt, dass der Rest der Welt um sie herum versank. Keiner der beiden bemerkte Eberhard, der in einer Ecke saß und kein Auge von ihnen wenden konnte.

Es hätte nicht anders kommen können. Er zwang sich, bei der Hochzeit eine gute Figur zu machen, bewährte sich als Trauzeuge, trug zu seinem Unglück sozusagen noch bei, indem er den Bund der Ehe bestätigte. Einen einzigen Tanz hatte sie ihm gegönnt auf dieser Hochzeitsfeier. Einen einzigen Tanz mit der wunderschönen Braut seines Bruders, weiße Spitzen und eine Wolke von Tüll, ihre schlanke Taille und die dunklen Augen, die ihn voller Glück ansahen und dabei einen anderen meinten.

Er hatte sich wenige Wochen später endgültig mit seinem Bruder zerstritten. Wegen einer Lappalie, an die er sich inzwischen kaum mehr erinnerte. Zornig hatte er das Schloss verlassen, auf Titel und Ehren verzichtet und erklärt, niemals zurückzukehren. Er wollte sein Glück anderswo suchen.

»Sie sollten sich auch etwas mitnehmen, Prinz Eberhard. Die Familienfotos zum Beispiel. Warum soll all das in einem Container enden, wenn das Schloss verkauft ist? Die Jagdausrüstung Ihres Vaters. Oder wenigstens einige der wertvollen Bücher.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Lassen wir einfach alles dort, wo es ist, Paula. Sagen Sie mir lieber, wo ich Elisabeth finde.«

»Im Verwalterhaus ist sie. Auch die Buben sind dort. Sie wollte von dem ganzen Verkauf nichts mitbekommen und hat alles der Bank überlassen.«

»Ist sie in der Lage, Besucher zu empfangen?«, fragte er vorsichtig.

Elisabeth hatte auf der Beerdigung schmal und zerbrechlich gewirkt, hatte sich aber großartig gehalten.

Paula lächelte breit.

»Natürlich nicht jeden. Aber Sie wird sie ganz gewiss empfangen.«

Er wusste nicht, woher sie diese Zuversicht nahm. Elisabeth hatte im Streit der Brüder immer auf der Seite ihres Mannes gestanden. Aber schließlich wollte er Elisabeth eine gute Nachricht überbringen.

*

Das Verwalterhäuschen war ein einstöckiger Bau, der ebenso wie das Schloss aus dem siebzehnten Jahrhundert stammte. Es war ein massives Steinhaus mit Sandsteinsockel und einem kleinen Treppenturm an der Seite. Das ganze Gebäude war von Weinlaub überwachsen, nur um den Eingang herum rankten sich weiße und rote Kletterrosen.

Eberhard hörte die hellen Knabenstimmen schon, als er vor der Haustür stand und nach einer Klingel suchte. Aufgeregt schienen die beiden Kinder miteinander zu streiten, dazwischen mischte sich eine Frauenstimme. Energisch und doch ruhig schlichtete sie den Streit.

Eine Klingel gab es nicht, er betätigte den eisernen Klopfring, der an der altersschwachen Holztür angebracht war. Das Geräusch war so laut, dass er selbst zusammenfuhr.

»Da kommt wer«, hörte er eine Knabenstimme.

»Das ist vielleicht der Papa«, sagte eine zweite Kinderstimme leise.

»Nein, Benedict, das ist nicht der Papa«, sagte die Frauenstimme ernst und doch sanft.

Gleich darauf wurde die Tür geöffnet und Eberhard fand sich einer schlanken, jungen Frau gegenüber. Sie hatte das Haar am Hinterkopf zusammengesteckt, ihr Gesicht war blass, die dunklen Augen wirkten sehr groß und verletzlich.

»Eberhard! Ich habe dich schon erwartet. Komm herein.«

Sie war keineswegs erstaunt darüber, dass er kam, sondern geleitete ihn wie selbstverständlich in den Raum hinein.

»Ich hoffe sehr, dass ich dich nicht belästige, Elisabeth. Vielleicht möchtest du lieber mit den Kindern allein sein. Ich könnte auch später wiederkommen. In ein paar Tagen oder Wochen …«

Sie blieb vor den Gartenstühlen stehen, an denen sie mit den beiden Jungen gesessen hatte. Der Raum war dunkel und verwahrlost, man hatte ihn als Unterstellmöglichkeit für die Gartenmöbel und die Rasenmäher genutzt. Auf dem weißen Gartentisch lagen Briefbögen und Kugelschreiber.

»Nein, Eberhard, es ist schön, dass du gekommen bist. Setz dich doch bitte hin und lass uns miteinander reden.«

»Sehr gern, Elisabeth.«

Er musterte den tristen Raum und spürte große Traurigkeit. Wie schlimm mochte es für sie sein, sich von Schloss Gronau zu trennen und alles, was sie besaß, zurückzulassen. Sie war immer eine elegante und verwöhnte Frau gewesen, jeglicher Luxus hatte ihr zur Verfügung gestanden, schöne Kleider, teure Autos, Reitpferde, eine Yacht in Griechenland … All das war nun für sie vorbei.

»Das ist euer Onkel Eberhard«, sagte sie zu den beiden Jungen, die mit staunenden und leicht miss­trauischen Blicken vor dem Besucher standen. Der größere hatte blondes Lockenhaar wie Claus es gehabt hatte, der jüngere war braunhaarig wie seine Mutter. Beide hatten Elisabeths dunkle Augen.

»Bist du Papas Bruder?«, fragte der ältere Junge.

»Richtig, der bin ich. Und du bist Bernhard?«

»Ja. Und das ist mein Bruder Benedict. Warum bist du noch niemals hier gewesen, Onkel Eberhard?«

Elisabeth hielt es für geboten, einzugreifen.

»Geht jetzt ein wenig in den Park spielen, ihr zwei. Ich rufe euch nachher.«

»Schreiben wir die Briefe dann zu Ende?«

»Ja, Benedict. Wir schreiben die Briefe und bringen sie dann fort.«

Die beiden Jungen trollten sich, die Tür fiel hinter ihnen zu.

»Ich habe mich gefragt, ob du wohl zur Beerdigung deines Bruders kommen würdest«, begann Elisabeth das Gespräch unverblümt.

»Und ich bin gekommen«, antwortete er mit leisem Lächeln.

»Darüber bin ich sehr froh, Eberhard. Vor allen Dingen darum, weil ich glaube, dass ein solcher Streit nicht über den Tod hinausgehen sollte.«

Er sah in ihre dunklen Augen und erkannte, dass sie viel weniger verletzlich war, als er geglaubt hatte. Sie war mitgenommen und erschöpft, aber sie hatte sich vollständig unter Kontrolle.

»Besser wäre es gewesen, wenn ich beizeiten meinen Frieden mit Claus gemacht hätte«, gab er zurück. »Das wolltest du doch sagen, oder?«

Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Wie könnte ich das? Ich habe mich immer bemüht, in diesem unseligen Streit möglichst wenig Partei zu ergreifen. Es war eine Sache zwischen dir und deinem Bruder.«

»Aber eine Meinung hattest du dazu, nicht wahr?«

»Ich fand es sehr schade, Eberhard. Dein Bruder war mir ein wundervoller Ehemann und den Kindern ein großartiger Vater. Wie er als älterer Bruder gewesen ist, das kann ich nicht ermessen. Euer Streit muss einen Grund gehabt haben, und ich maße mir nicht an, darüber zu entscheiden.«

»Du hast Recht, Elisabeth. Niemand kann darüber befinden als nur mein Bruder und ich. Und nun bin ich damit allein. Aber ich bin nicht gekommen, um dich mit meinem Kummer zu belästigen. Schließlich ist der Verlust für dich und die Jungen um ein Vielfaches schmerzlicher.«

Sie senkte den Blick auf den Briefblock, der vor ihr auf dem Tisch lag.

»Ja, es ist nicht einfach für uns«, gestand sie leise. »Die Kinder haben so sehr an Claus gehangen, sie wollten es die ersten Tage gar nicht begreifen. Erst jetzt beginnen sie langsam zu verstehen, dass ihr Vater nicht mehr da ist. Wir schreiben ihm Briefe und legen sie auf sein Grab. Es wird den beiden den Abschied erleichtern.

Beklommen sah Eberhard auf die ungelenken Zeilen, die der Achtjährige geschrieben hatte. »Lieber Papa«, stand dort zu lesen. »Du hattest uns doch fest versprochen, uns das Reiten beizubringen. Warum bist du jetzt auf einmal fortgegangen. In den Himmel, wie die Mama sagt …«

»Es wird sicher noch eine Weile dauern, bis sie darüber hinweg sind«, sagte Elisabeth. »Es wäre alles einfacher, wenn wir nicht auch noch fortziehen müssten.«

Eberhard straffte sich. Er musste vorsichtig zu Werke gehen, damit er sie nicht verletzte. Aber um der Kinder willen würde sie sicher auf alles eingehen. Sie war schließlich Mutter.

»Das ist einer der Gründe, warum ich gekommen bin, Elisabeth. Die Umstände erfordern leider, dass geschäftliche Entscheidungen gefällt werden müssen, während wir alle noch unter dem Eindruck des schrecklichen Unfalls stehen.«

Sie lächelte traurig.

»Du brauchst mich nicht zu schonen, Eberhard. Mir ist bekannt, dass Claus ein finanzielles Desaster hinterlassen hat. Leider habe ich mich niemals um die finanziellen Dinge gekümmert, aber es scheint, dass Claus, der ein so großzügiger Mensch war, keine gute Hand bei der Anlage der Gelder gehabt hat. Er hat den falschen Beratern vertraut und die Schulden, die von den Renovierungsarbeiten herrührten, noch verdreifacht.«

»Wie auch immer – wir müssen dafür sorgen, dass Schloss Gronau nicht in fremde Hände fällt.«

Sie sah erstaunt zu ihm auf.

»Wenn das möglich wäre, Eberhard. Aber ich sehe nicht die kleins­te Chance. Die Bank ist unerbittlich – sie will die Kredite nicht mehr verlängern.«

Eberhard räusperte sich. Es kam jetzt sehr darauf an, wie er die Sache anfing.

»Ich habe während der letzten Jahre einiges Kapital erworben und bin daran interessiert, das Schloss für unsere Familie zu erhalten.«

Sie sah ihn prüfend an. Dann seufzte sie resigniert.

»Ach, Eberhard. Es handelt sich nicht um ein paar Tausende. Die Schulden gehen an die Millionengrenze. Da wirst auch du nicht viel ausrichten können. Aber immerhin ist es großartig von dir, dass du einen Versuch in dieser Richtung planst …«

»Ich bin über die Höhe der Schulden voll im Bilde«, unterbrach er sie. »Ich habe, bevor ich hierherkam, mit dem Direktor der Bank verhandelt, und ich denke, wir sind uns einig geworden. Es wird nicht alles so heiß gegessen wie gekocht – aber einige Gelder sind schon nötig. Und die besitze ich.«

Fast ungläubig schaute sie ihn an, dann leuchteten ihre Augen plötzlich auf.

»Du hast so viel Geld? Dann könntest du mir doch den Betrag leihen. Zu welchen Zinsen auch immer. Wir würden gemeinsam auf Schloss Gronau wohnen, Platz ist genug vorhanden. Ich würde den Westflügel mit den Kindern beziehen, da bliebe für dich der gesamte Ostflügel …«

Er war verblüfft über diesen Vorschlag. Wie konnte sie so naiv sein? Aber natürlich – sie wollte das Schloss für ihre Söhne sichern.

»Nein, Elisabeth. So habe ich mir das nicht gedacht. Ich werde das Schloss selbst kaufen, weil ich denke, dass wir damit eine gesunde Finanzgrundlage gewinnen werden. Ich habe während der letzten Jahre eine Menge mit Banken zu tun gehabt und kenne mich aus.«

Sie begriff. Natürlich, er wollte das Schloss. Nach allem, was gewesen war zwischen ihm und seinem älteren Bruder, musste es für Eberhard eine ungeheure Genugtuung sein, Schloss Gronau in seinem Besitz zu haben. Wie hatte sie nur glauben können, er wolle ihr helfen?

»Natürlich wirst du mit den Kindern in diesem Fall im Schloss wohnen bleiben. Es ist ganz wie du sagst, Platz ist im Übermaß vorhanden und wir werden …«

Sie hob den Kopf und lächelte ihn kühl an. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie seinen Vorschlag als eine Beleidigung empfand.

»Danke, Eberhard. Aber in diesem Fall werden wir hier im Verwalterhaus wohnen. Weil dieses Häuschen und ein kleiner Teil des Parks auf meinen Namen eingetragen wurde und nicht zum Verkauf steht. Wir haben also in jedem Fall ein Dach über dem Kopf.«

Er versuchte zu erklären. Er hatte es doch nur gut gemeint. Hatte ihr lästige Entscheidungen abnehmen wollen, ihr den Rücken für die Erziehung der Kinder freihalten wollen …

»Ich glaube, unser Gespräch ist beendet«, sagte sie lapidar und erhob sich. »Bitte nimm es mir nicht übel, ich habe eine schlimme Woche hinter mir.«

»Selbstverständlich. Es tut mir sehr leid …«

Die beiden Jungen hatten vor der Tür gewartet, jetzt liefen sie zu ihrer Mutter, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Beklommen ging er davon. Er dachte an die Briefe, die sie jetzt an den toten Vater schreiben würden und die Elisabeth später mit ihnen zum Friedhof tragen würde, um sie zwischen die Blumengestecke auf das frische Grab zu legen.

*

»Meinen herzlichen Glückwunsch«, sagte Direktor Freimann und reichte Eberhard die Hand. »Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich zwei Brüder sein können.«

Eberhard ergriff die dargebotene Hand. Es war ein historischer Moment – Schloss Gronau, der Sitz seiner Väter, auf den er vor zehn Jahren in wütendem Trotz verzichtet hatte, gehörte ihm. Es gehörte ihm, weil er sich die Mittel dazu durch eigene Kraft und Klugheit erworben hatte. Er hätte stolz sein können.

»Wie meinen Sie das?«

Direktor Freimann lächelte begütigend. Er hatte nichts Schlimmes sagen wollen, aber diese Adeligen waren halt ein wenig empfindlich.

»Ich meine nur, dass Ihr verstorbener Bruder – bei allem Respekt vor seinem etwas lauteren und freigiebigen Charakter – in geschäftlichen Dingen ein wenig – sagen wir einmal – ungeschickt war.«

Eberhard hatte inzwischen genügend Einblick in die Geschäfte seines Bruders, um zu wissen, dass Direktor Freimann keinen Grund hatte, sich über die geschäftliche Blauäugigkeit von Claus von Gronau zu beklagen. Im Gegenteil: die Bank hatte sich in Wartestellung begeben, freizügig Kredite bewilligt und im entscheidenden Moment den Geldhahn zugedreht. Eberhard hatte genügend Insiderwissen, um diese Praktik zu durchschauen – er wusste ebenso, dass auch Banken ihre Schwachpunkte haben, an denen man sie packen kann. Es war kein Zufall, dass gerade er den Zuschlag für den Kauf des Schlosses bekommen hatte. Freimanns Gratulation galt einem Geschäftspartner, der sich als ebenbürtig erwiesen hatte.

»Die Talente sind nun einmal unterschiedlich verteilt«, meinte Eberhard. »Nicht jeder kann ein guter Geschäftsmann sein. Vielleicht gibt es ja auch Dinge im Leben, die mehr zählen als Geld und Geldeswert.«

»Ohne Zweifel gibt es die«, beeilte sich Freimann zu versichern. »Zum Beispiel dieses wundervolle Schloss, dass Sie nun Ihr Eigen nennen, Herr von Gronau. Meinen Glückwunsch dazu.«

»Herzlichen Dank.«

Eberhard war froh, als Freimann gegangen war. Er hatte schon vor einigen Stunden versucht, Elisabeth zu einem Gespräch zu gewinnen, aber sie hatte ihm die kalte Schulter gezeigt. Alle Angestellten des Schlosses vom Gärtner bis zur Kammerzofe – waren damit beschäftigt, den Besitz der Fürstin in das notdürftig renovierte Verwalterhaus zu bringen.

Eberhard hatte versucht Elisabeth dazu zu bewegen, im Schloss zu bleiben. Umsonst. Sie hatte ihn wissen lassen, dass sie nur das mitnehmen würde, was sie damals mit in die Ehe gebracht hatte und was sie als ihre persönliches Eigentum betrachte. Einige Möbel und Teppiche, Kleider, die Spielsachen ihrer Kinder, Andenken an ihren verstorbenen Mann … Sie würde ihm eine Liste der Gegenstände zukommen lassen. Falls er etwas davon für sich beanspruchen wolle, würde sie ihm selbstverständlich keine Probleme machen.

Als der Direktor endlich fort war, begab sich Eberhard in den Westflügel, um Elisabeth zur Vernunft zu bringen. Warum dieser Starrsinn? Er wollte ihr ein angenehmes Leben sichern, wollte ihr ermöglichen, ihre Kinder angemessen zu erziehen …

Er fand sie im ehemaligen Arbeitszimmer ihres Mannes, damit beschäftigt, seinen Schreibtisch zu leeren. Als er eintrat, sah sie nur kurz auf, ihre dunklen Brauen zogen sich zusammen, dann fuhr sie in ihrer Arbeit fort.

»Kommst du, um zu kontrollieren, ob ich auch nicht zu viel mitnehme?«, fragte sie ohne ihn anzusehen.

»Überhaupt nicht. Nimm alles, was dir gefällt und was du brauchst, Elisabeth. Ich will keine Aufstellung sehen, es ist mir gleichgültig. Es ist nur schade, dass du mein Angebot ausgeschlagen hast.«

Sie legte einen Stapel Akten in den bereitstehenden Karton.

»Dein großzügiges Angebot, mich und die Kinder in deinem Schloss zu dulden? Danke, ich brauche weder deine Großmut noch dein Mitleid.«

Sie warf das lange Haar zurück, das sich aus der Spange gelöst hatte. Ihre dunklen Augen waren schmal. Ungeduldig riss sie eine der Schubladen des Möbelstückes auf.

»Du verstehst mich falsch, Elisabeth. Ich wollte nur …«

Jetzt hob sie den Kopf und blitzte ihn mit zornigen Augen an.

»Du wolltest dieses Schloss für dich haben. Das habe ich sehr gut verstanden. Für dich allein. Zehn Jahre lang hast du geschachert und gespart, um jetzt der Herr von Schloss Gronau zu werden. Aber glaube nicht, dass ich mich von dir abhängig mache. Ein Schloss kann man kaufen, Herr von Gronau. Menschen kann man nicht kaufen.«

Sie war schön in ihrem Zorn, so schön wie sie immer in all seinen Träumen vor ihm gestanden hatte. Träume, die er niemandem, nicht einmal sich selber hatte eingestehen wollen.

»Warum verurteilst du mich, Elisabeth? Ich biete dir Schutz und Hilfe an. Ich bin bereit, dir und deinen Kindern eine Leibrente zu zahlen, damit ihr in Ruhe und Frieden leben könnt. Was willst du denn noch?«

Sie war so wütend, dass sie die Akte, die sie gerade aus der Schublade gezogen hatte, vor sich auf den Schreibtisch knallte.

»Nichts! Gar nichts will ich von dir, Eberhard. Werde glücklich mit deinem Schloss, ich wünsche es dir von Herzen. Werde glücklich mit all dem Geld und dem Besitz, den du angesammelt hast. Nur fürchte ich, dass es dir nicht gelingen wird, lieber Schwager. Weil dir etwas Wichtiges fehlt, um ein zufriedener Mensch zu sein.«

Sie schwieg und sah ihn voller Verachtung an. Wie klein und schwach er sich in diesem Moment vorkam. Was zählte jetzt auf einmal sein millionenschwerer Besitz? Was bedeutete ihm noch das Schloss? Es hatte sich nichts verändert.

»Worauf spielst du an?«, fragte er mit scheinbarer Gelassenheit, während er innerlich vor Furcht bebte.

»Das weißt du selbst ganz genau«, gab sie kühl zurück. »Ich wünschte dir etwas von der Großherzigkeit deines Bruders. Etwas von seiner fröhlichen Gelassenheit, von seiner vorbehaltlosen Güte und von seinem Verständnis für die Gefühle anderer Menschen. Aber du bist ein geiziger Kleinkrämer, der glaubt, Menschen kaufen und von sich abhängig machen zu können. Deine Rechnung wird nicht aufgehen, Eberhard.«

Es war ein niederschmetterndes Urteil, das sie über ihn aussprach. Das Schlimmste aber war, dass er deutlich spürte, wie Recht sie hatte. Er hatte sie in einen goldenen Käfig sperren wollen, diese schöne, junge Frau, die er seit über zehn Jahren so sehnsüchtig für sich begehrte. Sie hatte Claus gewählt, den Großherzigen, Gütigen, Verstehenden. Was konnte er dem entgegensetzen? Nichts. Er hatte zehn Jahre umsonst gehofft und gearbeitet.

Sie war ein wenig erstaunt, als sie bemerkte, wie sehr ihre Worte ihn trafen. Einen Augenblick lang spürte sie den Wunsch, ihn zu trösten. Dann verwies sie solche Anwandlungen energisch in das Reich der Irrtümer und Tagträume. Wenn er wirklich betroffen war, dann hatte er das redlich verdient.

Er sammelte sich und versuchte, das Gespräch nicht abreißen zu lassen.

»Es tut mir Leid, Elisabeth, wenn ich deine Gefühle verletzt habe. Es geschah jedoch – das versichere ich dir – aus der besten Absicht heraus. Ich mache mir Sorgen um dich und um deine beiden Kinder. Wovon willst du leben?«

Stolz hob sie den Kopf.

»Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen, Eberhard. Ich werde arbeiten und unseren Lebensunterhalt verdienen.«

Er wagte nicht zu fragen, was sie arbeiten wolle. Wilde Spekulationen bestürmten sein Hirn. Was – um Gottes willen – hatte sie gelernt? Wie wollte sie mit zwei kleinen Söhnen Arbeit finden? Es konnte nur über die Protektion von Freunden oder Verwandten gehen. Wem würde sie in die Hände fallen? Von wem würde sie abhängig werden?

»So gestatte mir wenigstens, das Verwalterhaus gründlich renovieren zu lassen. So wie es jetzt aussieht, kann dort niemand wohnen. Denk doch an die Gesundheit deiner Kinder, wenn dir deine eigene schon gleichgültig ist.«

»Danke, ich habe alles schon arrangiert. Wir kommen sehr gut ohne deine Hilfe aus.«

Einer der Angestellten erschien, um den Karton hinauszutragen, den Elisabeth mit Akten gefüllt hatte. Es war ein junger Mann, der seit einiger Zeit im Garten half. Er griff sich den Karton, trug ihn zur Tür und fragte:

»Wir haben die Wände verputzt, Fürstin. Dürfen wir jetzt den Turm in Angriff nehmen?«

»Schafft ihr das denn noch? Ihr seid seit heute Früh an der Arbeit«, wandte sie ein.

»Leicht, Fürstin. Heute noch den Turm und morgen die Küche.«

Das strahlende Gesicht des jungen Mannes sprach eine deutliche Sprache. Die Angestellten brannten darauf, ihrer Fürstin Hilfestellung zu leisten. Für ihren neuen Herrn, Eberhard von Gronau, hatten sie kaum einen Blick.

Der Sommer zeigte sich von seiner launischen Seite. Seit Tagen regnete es, große Pfützen standen im Schlosshof, im Park waren die Sandwege aufgeweicht, und die wenigen Besucher hinterließen tiefe Fußspuren, in denen sich das Wasser sammelte. Schwer vom Regen und vom Wind gebeutelt hingen die Kletterrosen, die Zweige der Bäume waren dunkel vor Nässe.

Eberhard von Gronau hatte sich im ehemaligen Arbeitszimmer seines Vaters eingerichtet. Der schwere, eichene Schreibtisch war bedeckt von Papieren, daneben hatte ein Notebook Einzug gehalten, Eberhard tätigte eine Menge seiner Geschäfte per Internet. Einige Stunden am Tag war er auf diese Weise beschäftigt, die übrige Zeit hatte er bisher darauf verwendet, Schloss und Park einer genauen Prüfung zu unterziehen. Sein Bruder hatte einige Umbauten veranlasst. Dennoch blieb der über dreihundert Jahre alte Bau eine beständige Aufgabe für seinen Besitzer. Besonders im Ostflügel, wo einige der Repräsentationsräume lagen, gab es noch viel zu tun.

»Wünschen Sie im Wintergarten zu speisen?«

Die junge Angestellte war so leise eingetreten, dass er sie nicht gehört hatte. Es war ein etwas unbedarftes Mädel aus dem Dörfchen, das unweit des Schlosses lag. Aber sie war eifrig und arbeitswillig. Er hatte einige der Angestellten entlassen müssen, einige waren auch von selbst gegangen. Man hatte ihm den Umzug der Fürstin ins Verwalterhaus nicht verziehen.

»Im Wintergarten – gern.«

Er beendete seine Arbeit und erhob sich. Mit dem heutigen Tag konnte er zufrieden sein – die Geschäfte gingen nicht schlecht. Wenn nur nicht dieses triste Wetter gewesen wäre. Es drückte ihm auf die Stimmung und ließ ihm Schloss und Park trübe und traurig erscheinen. Es warf die Frage auf, warum er so viel Geld und Kraft investiert hatte? Was hatte er eigentlich erreicht?

Der Wintergarten war regenverhangen, kleine Rinnsale zogen sich über die Glasscheiben wie ein dichtes Netz, man hörte die Tropfen auf das Dach fallen. Eberhard nahm auf einem der Korbstühle Platz und begann sein einsames Mahl.

Er war seit Jahren gewohnt, allein zu leben. Es hatte zwar hier und da eine Frau in seinem Leben eine Rolle gespielt, aber die Beziehungen waren meist kurz und enttäuschend verlaufen. Nicht zuletzt darum, weil er vor einer Ehe immer zurückgeschreckt war.

Es war sicher richtig gewesen, nicht in eine Torschlusspanik zu verfallen. Warum auch? Er war noch keine Vierzig und hatte noch genügend Zeit, eine Familie zu gründen. Die Richtige musste man finden. Die Frau, mit der man ein Leben lang zusammenbleiben wollte. Aber diese Frau war ihm bisher noch nicht über den Weg gelaufen. Oder doch?

Gedankenvoll sah er durch die regentrüben Scheiben. Der Wintergarten hatte sich seit seiner Kindheit kaum verändert. Noch immer stand die verschnörkelte Metallkonstruktion, die die Glaseinsätze hielt, immer noch gab es die hohen Palmen und Kakteen, die großen Farne und exotischen Pflanzen. Plötzlich fiel ihm der Nachmittag ein, an dem er seinen sechsten Geburtstag hier gefeiert hatte. Himmel, das war nun schon über dreißig Jahre her. Aber es stand ihm jetzt so deutlich vor Augen, als sei es gestern gewesen.

Eine Menge Kinder waren eingeladen gewesen, Freunde aus seiner Schulklasse und auch Freunde seines Bruders Claus. Es gab Torten, Limonade, Kakao, alles, was ein Kinderherz begehrt. Dazu hatten seine Mutter und die Kinderfrau eine Menge Spiele vorbereitet, für die sie Preise bereithielten. Natürlich hatte er den Ehrgeiz gehabt, einige dieser Preise zu gewinnen.

Aber alles war anders gekommen. Noch bevor der große Tortenschmaus begann, bekam er plötzlich fürchterliche Zahnschmerzen. Heulend stand er bei seiner Mutter, die ihn erschrocken zu trösten versuchte, während die anderen sich über die leckeren Kuchen und Torten hermachten.

Die Kinderfrau brachte ihn schließlich zum Zahnarzt und der setzte den Bohrer an, um den schmerzenden Zahn zu behandeln. Er konnte sich daran erinnern, dass der Schmerz sehr rasch nachließ, die Enttäuschung, dass seine so sehnlich erwartete Geburtstagsfeier so verdorben worden war, hatte er bis heute nicht vergessen. Als er vom Zahnarzt kam mit der Auflage, eine Stunde lang nichts zu essen, hatten die anderen schon längst mit den Spielen begonnen. Und Claus war gerade dabei, einen der begehrten Preise zu gewinnen.

Wieder einmal Claus, der Glückspilz. Natürlich konnte er nichts dafür, dass sein kleiner Bruder an seinem Geburtstag Zahnschmerzen bekam. Aber warum musste es immer so sein, dass er, Eberhard, der Pechvogel war? Wer war damals mit dem neuen Fahrrad verunglückt und hatte sechs Wochen mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus liegen müssen? Er, der Unglücksrabe. Wer hatte von den Windpocken eine Narbe am Hals zurückbehalten? Natürlich er, Eberhard. Dabei hatte Claus als erster die Windpocken bekommen. Aber Claus war immer an allen Tücken und Gefahren sicher vorbeigekommen.

Eberhard unterbrach seinen Gedankengang. Warum ergab er sich eigentlich seinem Selbstmitleid? Claus war tot, gestorben durch einem dummen, sinnlosen Unfall. Einmal in seinem Leben war er nicht davongekommen. Ein einziges Mal, und das war endgültig gewesen. Er, Eberhard, hatte eher Grund, seinen unglücklichen Bruder zu bedauern.

Er rief die junge Angestellte und ließ sich einen Kaffee bringen. Dann grübelte er vor sich hin.

Was hätte Claus wohl angefangen, wenn er nicht verunglückt wäre? Seine Schuldenlast war so groß gewesen, dass der Verkauf des Schlosses nur eine Frage der Zeit gewesen wäre. Wie hätte Elisabeth sein Geständnis aufgenommen, dass er Haus und Hof durch verunglückte Finanzaktionen verloren hatte? Hätte sie dann immer noch von ihrem großherzigen Ehemann gesprochen? Hätte sie dann nicht mit Fug und Recht zornig auf ihn sein müssen?

Er seufzte. Nein, so wie er Elisabeth einschätzte, hätte sie auch diese Katastrophe mit Claus gemeinsam gemeistert. Sie hätte zu ihm gehalten, so wie sie es am Hochzeitstag versprochen hatte. In guten und in bösen Tagen. Ein ganzes Leben lang.

Zorn regte sich in seinem Inneren. Während die Angestellte das Tablett mit dem Kaffee auf den Tisch stellte, erhob er sich und trat an die gläserne Tür des Wintergartens. Draußen lief ein Angestellter mit einem großen Regenschirm in der Hand, unter dem Arm ein Paket. Immer noch wurden Gegenstände hinüber ins Verwalterhaus getragen. Bücher, Bilder, Wäsche, sogar Lebensmittel, wie er zufällig bemerkt hatte. Die neuen Angestellten waren rasch über den Stand der Dinge informiert worden, sie versuchten zwar, sich neutral zu halten, aber auch bei ihnen war zu spüren, dass ihre Sympathien auf der Seite der Fürstin waren.

Was dachte sie sich eigentlich? Warum hetzte sie das Personal gegen ihn auf? Gestern Abend hatte sich kaum jemand im Schloss befunden – die Fürstin hatte alle zu ihrer Einweihungsfeier ins Verwalterhaus geladen.

Alle Angestellten: Er, der Schloss­herr, war nicht geladen gewesen. Natürlich nicht.

»Was ist das für ein Kaffee?«, fuhr er die erschrockene Angestellte an.

»Schmeckt er nicht? Wir haben extra eine neue Kaffeemaschine angeschafft.«

»Wer hat das angeordnet?«

»Herr Schultheiß, der Butler. Es ist wegen Paula. Niemand kann den Kaffee so machen, wie sie es gemacht hat. Sie hatte da ein ganz besonderes System.«

Er begriff nicht gleich.

»Sie hatte? Was ist mit ihr? Ist sie krank?«

Die junge Angestellte senkte unsicher den Blick und druckste herum. Immer musste sie sich mit ihrem geschwätzigen Mundwerk Ärger bereiten. Aber nun war es passiert.

»Paula ist zur Fürstin ins Verwalterhaus gezogen. Sie hat heute früh gekündigt.«

Er musste sich zusammenreißen, um seinen Zorn und seine Enttäuschung bei dieser Nachricht zu verbergen. Paula, die alte Paula, hatte ihn verlassen. Auch sie.

»Es ist gut, Sie können gehen«, sagte er mit erzwungener Gleichgültigkeit.

Elisabeth würde ohne Zweifel noch bereuen, was sie tat.

*

Gerlinde von Steinfurt war die Angelegenheit höchst lästig. Was konnte schon Gutes dabei herauskommen? Nicht viel. Ein Klotz am Bein, weiter nichts. Und sie war schließlich Chefin eines der größten Modehäuser der Umgebung. Jede neue Kollektion ein Sprung ins kalte Wasser. Gefällt es, oder gefällt es nicht. Leben oder Tod. Ein Koloss auf tönernen Füßen. Eine einzige misslungene Saison konnte das Aus für ihr Unternehmen bedeuten.

Sie steckte sich eine Zigarette an und tat einen tiefen Zug. Sie war kein Wohltätigkeitsunternehmen, das hatte sie der Kleinen gesagt. Aber sie hatte sich nicht abweisen lassen. Wollte ihre Entwürfe vorführen, mit Gerlinde unter vier Augen darüber reden, sie könne der Firma neue Impulse geben. Beharrlich war sie, das musste man ihr lassen. Und dann war da noch etwas, das Gerlinde nicht so einfach aus den Augen verlieren durfte.

Die Kleine hatte Beziehungen. Auch wenn sie momentan völlig abgebrannt war – sie gehörte dem hohen Adel an, war verwandt mit diesem und mit jener. Gerlinde hatte keinerlei Anlass, sich mit ihren hoch gestellten Kundinnen zu verfeinden. Im Gegenteil, sie war auf sie angewiesen. So gesehen konnte die Kleine ihr vielleicht sogar nützlich sein. Auch wenn sie nicht zeichnen konnte. Und was die Ideen anbelangte, so hatte Gerlinde sich gerade einen neuen Modedesigner aus Paris geholt.

Gerlinde seufzte, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und teilte ihrer Sekretärin mit, dass Frau von Gronau jetzt hereinkommen dürfe.

Sie hatte Elisabeth auf einigen ihrer Modenschauen als sachverständige Kundin in Erinnerung, eine sehr elegant und damenhaft gekleidete junge Frau. Jetzt hätte sie sie fast nicht wiedererkannt, so anders trat sie auf.

Eine mädchenhaft schlanke Frau in hellen Jeans und lockerer Jacke, das lange dunkle Haar zu einem Zopf geflochten, eine Mappe unter dem Arm. Nichts in ihrem Verhalten ließ den schmerzlichen Verlust ahnen, den sie erlitten hatte. So, wie sie den Raum betrat, strahlte sie Energie und Selbstbewusstsein aus.

»Es freut mich, dass Sie sich nun doch die Zeit genommen haben«, sagte sie lächelnd und reichte Gerlinde die Hand.

»Sie haben mich einfach neugierig gemacht.«

»Das war auch meine Absicht.«

Gerlinde bot ihr einen Platz an und fuhr fort, sie zu beobachten. Während Elisabeth von ihrer Ausbildung als Modezeichnerin berichtete, die sie noch vor ihrer Heirat in Wien abgeschlossen hatte, überlegte Gerlinde, dass die junge Frau eine angenehme Art zu sprechen hatte und sich hervorragend ausdrücken konnte. Vielleicht könnte man sie als Conference bei Modenschauen einsetzen.

»Darf ich Ihnen jetzt meine Entwürfe zeigen?«

»Na schön. Schauen wir sie uns einmal an. Aber bitte erwarten Sie von mir keine Begeisterungsausbrüche. Dazu bin ich einfach zu lange im Geschäft und habe zu viel gesehen.«

Elisabeth nickte und legte ihre Mappe auf den Boden. Sie hatte drei Nächte lang gezeichnet, um diese Entwürfe zeigen zu können und sie wusste, dass sie keineswegs ausgereift waren. Dazu war die Zeit zu kurz gewesen, das Licht zu schlecht, und außerdem hatte Benedict Bauchschmerzen gehabt und war immer wieder zu ihr hinuntergelaufen. Dann hatte sie trösten müssen, Tee kochen, eine Wärmflasche füllen, gut zureden …

Es war nicht gerade ermutigend. Gerlinde sah schweigend auf die Blätter, während Elisabeth eines nach dem anderen umwandte. Sicher, was hatte sie sich auch erhofft? Sie war über zehn Jahre aus dem Geschäft und erwartete, dass ihre Ideen der letzte Schrei waren. Wo doch bekannt war, dass Gerlinde von Steinfurt sich einen Designer direkt aus Paris geholt hatte. Ein aufstrebender junger Mann, der die neue Kollektion kreieren würde …

»Ja, das ist vorerst alles. Ich habe erst vor einiger Zeit wieder mit der Arbeit begonnen. Aber ich denke, dass ich gut wieder hineinkommen werde.«

Sie sah in das unbewegliche Gesicht der vor ihr sitzenden Frau, und der Mut wollte ihr sinken. Sie brauchte diesen Job. Aber das durfte sie Frau von Steinfurt auf keinen Fall deutlich machen. Niemand bekommt einen Job aus Mitleid. Nur wer etwas zu bieten hat, ist für eine Firma interessant. Und sie hatte etwas zu bieten. Ihre Kreativität und ihre Beziehungen. Wenn Gerlinde von Steinfurt sie schon nicht wegen ihrer großartigen Ideen einstellte, dann doch wenigstens wegen ihrer Connections.

Gerlinde von Steinfurt wartete, bis Elisabeth ihre Blätter wieder in der Mappe verpackt hatte. Sie zündete sich die nächste Zigarette an und blies den Rauch gedankenverloren in den Raum. Es galt jetzt vorsichtig zu sein, nicht zu viel zu versprechen, aber auch nicht zu wenig. Die Entwürfe waren hervorragend. Frech, phantasievoll und voller Gefühl für das, was eine Frau tragen kann.

»Nun, was sagen Sie dazu?«

Gerlinde klopfte die Zigarettenasche am Aschenbecher ab und ließ sich Zeit.

»Sie sind nicht übel. Natürlich kann ich sie nur als Arbeitsprobe werten, aber ich denke, dass Ihre Ideen entwicklungsfähig sind.«