Kurzweiligkeit trifft auf Raffinesse – auch nach mehreren Jahrzehnten lohnt sich das Lesen von Der lange Schatten (ursprünglich von 1975) auf jeden Fall.
Ein atmosphärischer Schauerroman mit spannenden Charakteren und einer guten Prise trockenem Humor!
Es ist erst wenige Monate her, dass Imogens Mann Ivor bei einem Autounfall ums Leben kam. Während die Witwe noch versucht, in ihrem neuen Leben Fuß zu fassen und sich fragt, was nun eigentlich gesellschaftlich respektabel ist und was nicht, wird sie direkt wieder vor neue Herausforderungen gestellt.
Nicht nur fallen kurz vor Weihnachten ihre beiden Stiefkinder samt Freundin, Ehemann und zwei Enkeln bei ihr ein, auch Ivors Ex-Frau Cynthia ist mit von der Partie.
Als wäre das nicht schon Trubel genug, konfrontiert ein seltsamer Mann Imogen immer und immer wieder mit seinen Bestechungsversuchen, denn er ist sich sicher: Imogen hat ihren Ehemann Ivor auf dem Gewissen! Und angeblich kann er das sogar beweisen.
Das ist wahrlich genug für einen trubeligen und spannenden Roman, denkt ihr?
Der lange Schatten bietet aber noch viel mehr als das!
Während all diese Akteure sich in Imogens Haus aufhalten, geschehen immer wieder merkwürdige Dinge, sodass es schon bald scheint, als sei Ivor noch am Leben – oder würde sie zumindest aus dem Jenseits heimsuchen. Da das natürlich nicht sein kann, muss jemand im Haus dahinterstecken, da ist sich Imogen sicher.
Geister gibt es schließlich nicht… oder etwa doch?
„Mit so vielen wild zusammengewürfelten Menschen unter einem Dach, die nichts verband als der feste Wille, irgendwo anders nicht zu sein, waren Verwirrungen nur eine Frage der Zeit.“
Celia Fremlin hat in diesem Werk ein atmosphärisches Setting geschaffen und dieses noch mit interessanten und unterhaltsamen Charakteren gespickt. Der lange Schatten ist auf keiner Seite reißerisch oder zu düster, aber die gespannte Grundstimmung kommt wunderbar zur Geltung.
Ein Whiskeyglas hier, ein herumliegendes Buch da – und dann haben die Enkel auch noch vermeintlich übersinnliche Erscheinungen.
Mit vielen kleinen Kniffen gelingt es der Autorin, uns einen kurzweiligen und unterhaltsamen Schauerroman zu präsentieren, der dann nach und nach an Komplexität gewinnt. Wir lieben es, wenn bis zum Ende nicht ganz klar ist, ob wir es mit übersinnlichen Phänomenen oder doch erklärbarem Realismus zu tun haben.
Genau durch diese Machart kann Der lange Schatten auch über die Jahrzehnte hinweg so gut bestehen.
„Über seine Ex-Frauen zu spotten war ein Lieblingszeitvertreib von Ivor und Imogen, sie brillierten darin – wie eines dieser perfekt aufeinander eingespielten Tänzerpaare, so kam es ihr immer vor. Irgendwie schuf es eine große Nähe zwischen ihnen beiden.“
Wenn euch die Kombination aus Kurzweiligkeit und Raffinesse reizt, könnte Der lange Schatten perfekt für euch sein. Dieser Schauerroman ist atmosphärisch, voller skurriler und faszinierender Charaktere und wahrlich unterhaltsam.
Der typisch trockene britische Humor kommt vor allem in Imogens Gedanken immer wieder gut zur Geltung. Da die Geschichte in einer Zeit spielt, in der niemand es wagen würde, solch bissige Kommentare laut auszusprechen, haben die kleinen Gemeinheiten und Anekdoten gerade beim Lesen in der heutigen Zeit einen ganz besonderen Charme und Reiz.
Von uns gibt es ganz eindeutig eine Leseempfehlung!
„Aber was können einem Freunde nützen, wenn man in Wahrheit Feinde braucht? Menschen, an denen man seine noch fragile, eben erst wieder erwachende Angriffslust austesten kann; Menschen, denen man es zeigen, die man vorführen und schlecht behandeln kann.“
* Inhaltswarnung: The Long Shadow wurde erstmals 1975 veröffentlicht und enthält diskriminierende Sprache.
Über Celia Fremlin
Celia Fremlin wurde 1914 in Kent geboren und verstarb 2009. Ihre schriftstellerische Tätigkeit zog sich über vier Jahrzehnte und brachte sechzehn Romane, einen Gedichtband und drei Geschichtensammlungen hervor.
Die Autorin studierte in Oxford klassische Philologie und Philosophie, sollte aber vor ihrem Debütroman erst noch etliche Jahre mit diversen Jobs, der Ehe und dem Aufziehen ihrer Kinder und auch der Leitung eines Luftschutzkellers im Zweiten Weltkrieg verbringen.
Der lange Schatten erschien 1993 erstmals in deutscher Sprache.