Bärenreiter BasiswissenHerausgegeben vonSilke Leopold und Jutta Schmoll-Barthel
Annegret HuberKlaviermusik55 Begriffe, die man kennen sollteBärenreiter Kassel §Basel §London § New York §Praha
Gefördert durch die Landgraf-Moritz-Stiftung, KasselBibliograsche Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograe; detaillierte bibliograsche Daten sind im Internet über www.dnb.deabrufbar.eBook-Version 2014© 2014 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, KasselUmschlaggestaltung:+ Lektorat: Sven Hiemke, Hamburg, und Diana RothaugKorrektur: Daniel Lettgen, KölnNotensatz: Tatjana Waßmann, WinnigstedtInnengestaltung und Satz: Dorothea Willerding978-3-7618-7011-2111-03www.baerenreiter.comeBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, FreiburgDie Bände dieser Reihe: Grundwortschatz Musik · 55 Begriffe, die man kennen solltevon Marie-Agnes DittrichMusikalische Meilensteine · 111 Werke, die man kennen sollte2 Bände · vonSilke Leopold, Dorothea Redepenning und Joachim SteinheuerMusik und Bibel · 111 Figuren und Motive, Themen und Texte Band 1: Altes Testament· Band 2: Neues Testament· von omas SchippergesMusikalische Formen · 20 Möglichkeiten, die man kennen solltevon Marie-Agnes DittrichKlaviermusik · 55 Begriffe, die man kennen solltevon Annegret Huber
In dem Meer der Informationen, die das Internet,die Enzy-klopädien, die wissenschaliche Spezialliteratur bereitstellen, fehlt vorallem eines: Orientierung. Woanfangen,woraufaufbauen? Welche Begrie muss ich kennen, um zu finden, wonach ich suche? Welche historischen und kulturellen Grund-lagen helfen mir, das schier unendliche Universum der Musik besser zu verstehen? Was muss ich wissen und kennen,um zu neuen, unbekannten Ufern aufbrechen zu können? Bärenreiter Basiswissengibt auf diese Fragen Antworten.Die Bände sind Navigationsinstrumente: Sie helfen, sich in der Flut der verfügbarenMaterialien zurechtzufinden und Pflöcke einzuschlagen,auf denen später Wissensgebäude errichtet werden können. Sie vermitteln Grundlagenwissen und geben Tipps für die Erweiterungdes Bildungshorizonts. Komplexes Wissen wird knapp, aber fundiert zusammengefasst. Die Bände sind für Musikinteressierte jeden Alters geschrie-ben, vor allem aber für Schüler und Studierende, die trotz verkürzter Ausbildungszeiten solidesBasiswissen erwerben wollen. Sie erleichterndas Hören, Lesen, Studieren und Ver-stehen von Musik.Die eBook-Versionbietet neben denüblichen Verlinkungenvon Inhaltsverzeichnis und Querverweisen auch Verweise auf andere Bände der Reihe BärenreiterBasiswissen; sie sind mit und Band und Seitenzahl gekennzeichnet.Bärenreiter BasiswissenEin Navigator durch die Wissenslandschaft
Einleitung 81 Album 122 Artikulation 143 Ballade 164 Bar 185 Blues 206 Boogie Woogie 227 Capriccio 248 Clavier / Klavier 269 Clavier Übung 2810 Etüde /Étude3011 Fantasie 3212 Frauen 3413 Fuge 3614 Hammerklaviersonate 3815 Improvisieren 4016 Interpretieren 4217 Jazz 4418 Kammermusik 4619 Kinder 4820 Kino 5021 Klavierauszug 5222 Klavierbau 5423 Klavierlied 5624 Klavierschulen 5825 Klavierstück 6026 Konzert 6227 Lied ohne Worte 6428 Mechanik 6629 Nocturne 6830 Orte des Klavierspiels 7031 Paraphrase 72Inhalt
32 Pedale 7433 Präludium/ Prélude7634 Präparierung 7835 Ragtime 8036 Reproduktionsklaviere 8237 Rhapsodie 8438 Rock’n’Roll 8639 Romanze 8840 Rondo 9041 Salon 9242 Scherzo 9443 Sonate 9644 Suite 9845 Tänze 10046 Temperatur 10247 Toccata 10448 Transmusikalisch 10649 Üben 10850 Variationen 11051 Verzieren 11252 Virtuosen 11453 Walzer 11654 Wettbewerb 11855 Zyklus 120Abkürzungen 122Sachregister 122Werkregister 124Personenverzeichnis 128Abbildungsverzeichnis 130Literaturhinweise 132Über die Autorin 136
8EinleitungZum Thema »Klaviermusik« könnte manetliche Bücher füllen, ohne auch nur die Grundlagen zu verlassen. Der Versuch, mit 55 Begrien auf 110 Seiten »Basiswissen Klavier musik« in enzyklopädischem Umfang zu vermitteln, istrea litätsfern; seine Verwirklichung würde zu unsachgemäßen Verkürzun-gen führen.Das vorliegende Buch soll vielmehr angesichts des ungleich größeren Volumens anderer Lexika und des Inter nets Orientierungbieten, die das Navigieren durch deren Daten-ut erleichtert.Die im vorliegenden Buch auf einer Doppel-seite versammelten Informationen können kaum anders als unvollständig sein; daher häufen die hier dargebotenen Texte keine Fakten um die Frage »Was ist das?«, sondern untersuchen die einzelnen Stichwortein zugespitzter Weise daraufhin, wel-chen künstlerischen Vorhaben oder kulturellen Handlungen sie sich verdanken. Jeder Artikel beginnt mit einer kurzen Erklärungdes Stichworts, von der aus sein Kontexterläutert wird. Dabei wurde versucht,in jedem Eintrag möglichst viele Ausdrücke zu verwenden, die im gegebenen Rahmen der 55 Begriffenicht als Lemma berücksichtigt werden konnten. Alle sind im Sachregisteraufzunden.Sie weisen über den Text dieses Buches hinaus und den Lesern und Leserinnen den Weg zu weiterführenden Recherchen.Das Konzept, dem sich die Auswahl der 55 Begrie verdankt,beruht auf einem einfachen Gedankengang: Welche Fakto-ren müssen zusammenwirken, wenn Klaviermusik erklingen soll? Ein Klavier muss gebaut,Musik erfunden werden. Kla-vierspiel muss gelehrt und geübt werden. Klaviere müssen an Orten aufgestellt werden, andenen Musik vorgetragen und gehört werden kann.Welche Hintergründe spielen eine Rolle, wenn Menschen eine bestimmte Art der Musik für das Klavier ernden, sie an unterschiedlichsten Orten spielen und hören?Die blauen Randbemerkungen ergänzen Details oder exemplizieren, was im Haupttext erläutert wird.
9Aus diesen Überlegungen ergeben sich fünf Sachgruppen:1) Auf welchem Instrument wird »Klavier«-Musik gespielt?Musikinstrumente mit Klaviaturen gibtes zuhauf; dieses Buch geht jedoch von Saitenklavieren mit Hammermechanik aus.Die Anfänge des Hammerklavierbaus reichen bis in die Zeit um 1700 zurück, was den Betrachtungszeitraum nach hin-ten abgrenzt.Berücksichtigt wird jedoch darüber hinaus nur Musik, die üblicherweise auf akustischenKlavieren gespielt wird. »Akustisches Klavier«ist ein Retronym,das erst geprägt wurde, nachdem die elektronische Klangerzeugung für Kla-vierinstrumente erfunden worden war.Diese stelltein weiteres Ausschlusskriterium dar.Die sich daraus ergebenden Fragen werden in den Artikeln Klavierbau, Mechanik, Pedale, Re-produktionsklaviere und Temperaturbehandelt.2)Welche Tätigkeiten(abgesehen vonden instrumenten-baulichen) sind notwendig,damit Klaviermusik erklingenkann?Musik»gibt« es nicht einfach; jemand muss sie zunächst »er-funden« haben.Und auch dann ist sie erst Musik, wenn sie erklingt.Improvisierte Musik erklingt unmittelbar in dem Moment, in dem sie erfunden wird.Wird die komponierte Musikzunächst aufgeschrieben, muss sieanschließend ge-lesen, verstanden, geübtund vorgespielt werden. Häug wirdihr üchtiger Schall im Studioauf Speichermedien xiert, ihre Klanggestalt digital überarbeitetund damit reproduzierbar. Das Erklingen von Musik ist jedochkaum denkbar ohne ein mehr oder weniger bewusstes Zuhören. Kurz: Musikbezoge-nes Tun ist nichtallein auf Komponieren oder Klavierspielen beschränkt; daher müssen wir nichtnur vonKompositionen oder Interpretationen, sondernvon einer größeren Vielfalt möglicher »Ergebnisse« dieserTätigkeiten ausgehen, wenn wir von Klaviermusik sprechen. Praktiken wie Resultate verdanken sich jedoch zumeistden Absichten handelnder Menschen.Clavier / Klavier HammerklaviersonateImprovisieren Üben InterpretierenUm den Unterschied zwischen Praxis und Ergebnis zu verdeutlichen, wurden für manche Stichworte bewusst keine Nomen gewählt, sondern Verben (Improvisieren anstelle von Improvisation).
103) Welcher Art sind die Ergebnisse solcher Tätigkeiten?Aus der Perspektivemusikbezogener Praktiken können Ent-stehungsprozesse und damit auch das Wesenhae vonMusik dierenziert werden, die nicht dem konventionellen Werk-begri entspricht – also nichtnur im Druck veröentlichte Kompositionen,sondern auch improvisierte Musik, deren Ergebnisse (wie etwa Stile des Jazz) mit Tonaufnahmen und Reproduktionsklavieren auf andere Speicherformen als die Notenschri angewiesen sind.Anders als das Improvisie-ren erhielt das Komponieren keinen Stichworteintrag; es ist durch seine greifbareren Ergebnisse– Gattungen der Klavier musik – repräsentiert,denen ein Stichworteintrag ge-widmet ist.Ausgedehnte Werkwürdigungennden sich in diesem Buch nicht;diverse Kompositionen werden jedoch als Beispiele he-rangezogen,um bestimmte Sachverhalte zu veranschaulichen. Sie sind im Werkregisteraufgelistet. Zwei Stichworteinträge– »Clavier Übung« und »Hammerklaviersonate« – könnten den Anschein erwecken, es handelte sich um Werkwürdigungen; tatsächlich aber werden am Beispiel der gleichnamigen Kom-positionen Fragen der Betitelung kontextualisiert.4)Welche Personen sind daran beteiligt?Tätigkeiten können kaum unabhängig vonden Personen er-örtert werden, die sie ausführen. Gleichwohl nden sich im vorliegenden Band keine biograschen Informationen zu den erwähnten Einzelpersonen. Diese können unschwer aus Lexika (z. B. ausführlich: Die Musik in Geschichteund Gegen-wart) und dem Internet bezogen werden. Personen, die als kulturell und künstlerisch Handelnde exemplarisch erwähntwerden, sind im Personenverzeichniserfasst.Soziale Grup-pen sind jedochdurch Stichworteinträge vertreten: So werden beispielsweise die »Spielräume« von Frauenam Klavier im bürgerlichen Musikleben des 19. Jahrhunderts erörtert.Manche Stichworte der einen Sachgruppe spielen auf eine andere an – wie etwa das »Ergebnis« Klavierschule. Als »Praxis« sind Unterrichten und als »Personen« Lehrende impliziert.
115) An welchen Orten ereignet sich Klaviermusik?Klavierestehen in wirklichen Räumen. Soziale Räume ent-stehen jedocherst durch Handlungen vonPersonen, durch die Ergebnissedieser Tätigkeiten und den Umgang von Per-sonen mit diesen Resultaten. Daher sind soziale Räume wan-delbar:In öentlichen und privaten Bereichen galt nicht im-mer dieselbe Musikals angemessen, hatten Musikinteressierte nie dieselben Möglichkeiten zur Teilhabe. Näheres dazu ndet sich im Stichwortartikel Orte des Klavierspiels.Abschließend lassen sichdiese Überlegungen folgendermaßen zusammenfassen: Klaviermusik soll nicht als »Gegebenheit«, ihr Erklingen vielmehr als Ereignis begrien werden. Um die-ses Darstellungsziel zuerreichen, wurden ebensoImpulse aus den Kulturwissenschaen gewonnen wie jüngere musikwis-senschaliche Forschungsergebnisserecherchiert. Die heran-gezogenen Forschungsbeiträgesind im Literaturverzeichnis nachgewiesen. Gleichzeitig ist dieses Buch mit den bereits erschienenen Bänden »Basiswissen« vernetzt:»Grundwortschatz Musik«: GW: Stichwort»Musikalische Formen«: MF: Stichwort oder Seitenzahl»Musikalische Meilensteine«: MSt: StichwortAuchwenn sich einzelne Stichworte des vorliegenden Ban-des in einem der anderen nden, handeltes sich dabei nicht um Verdopplungen: Was in »Grundwortschatz Musik« und » Musikalische Formen« grundsätzlich geklärtwurde (etwa Sonate /Sonatensatz oder Fuge), wird im vorliegenden Bandim Hinblick auf Klaviersonaten oder Klavierfugen speziziert. Umgekehrt werden einzelne Klavierwerke (etwa Beethovens Mondscheinsonate), die in den »Musikalischen Meilensteinen« speziell gewürdigt werden, im vorliegenden Band als Fall-beispiele in generelle (etwa aufführungspraktische) Kontexte der Klaviermusik eingeordnet.Manche Stichworte gehören zwei Sachgruppen an – wie etwa das Konzert. Es ist gleichzeitig sozia ler Ortund als Gat tung ein Ergebnis.
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12In einem Album werden in der Regel Dinge zusammengetra-gen, die für den Sammler oder die Sammlerin einen besonde-ren Wert besitzen. Zunächsthatten Alben üblicherweise die Form eines Buchs; der Begri Album (von lat. albus: weiß)verweist auf die zu füllenden leeren Seiten des Buchs. Später wurden auch Tonträgerals Alben bezeichnet. ImUnterschied zu einem Zyklus,der durch einen inneren Zusammenhang seiner Bestandteile entsteht, sind die in einem Album versam-melten Elemente lediglich aneinandergereiht. Anordnungs-kriterien wie z. B. eine chronologische oder alphabetische Folge konstituieren nicht zwangsläug einen Zyklus.Im 19. Jahrhundert– in einer Zeit also, in der das Klavier-spiel in Privathaushalten derart präsentwar,dass Eduard Hanslick gar von einer »Clavierseuche« (nicht nur in Wien) sprach – publizierten viele Verlage Anthologien, die den unterschiedlichsten Bedürfnissen gerecht wurden: Neben Zusammenstellungen von Vortragsstücken in allen nur denk-baren Schwierigkeitsgraden erschienen auch Sammlungen, die Opern- und Orchestermusikins Wohnzimmer trugen: Der Klavierpädagoge Louis Köhler etwa legte 1881 ein Melodien- Albumin drei Bänden vor – darin: Opern-,Volks-, Marsch- Vor Entwicklung der Langspielplatte wurden längere Stücke auf mehrereSchellackplatten verteilt, die buchartig verpackt ein Album bildeten.SalonAlbumBeilage zeitgenössischer MusikAlbumblatt an seinem Fundort (F. Hensel für ihre Cousine)
13und Tanz-Musik für Klavier zu vier Händen. Maurice Schle-singers Album des pianistes(Abb. links) informierte als Bei-lage zur Pariser Revue et gazette musicaleüber zeitgenössische Klaviermusik.Eigene Reiseeindrücke vermittelte Franz Liszt im Album d’un voyageur(später überarbeitet zu den Années de pèlerinage).Im privaten Bereich werden Alben als Stammbüchererst nach und nach durch handschriliche Eintragungen gefüllt. Die dort notierten Musikstücke sind in vielerlei Hinsicht einzig-artig: Sie können unterschiedlichlang sein – von Aphorismen,vieldeutigen Zitaten bis hin zu vollständig ausgearbeiteten mehrseitigen Kompositionen. O istdie Beschaenheit ab-hängig vom Zeitrahmen der Entstehung: Wurde Kürzeres bei persönlicher Begegnung extemporiert (wie Beethovens Kla-vierstückB-Dur WoO 60 nachmittags am 14. 8. 1818)? Oder wurde eine längere Komposition erst nach einigen Erwägun-gen für ein Album freigegeben– wie Mendelssohn Bartholdys Venetianisches Gondellieds-Moll op.30/6, das an Henriette Voigt als Andenken postalischübersandtwurde? Handelt es sich um ein Anerkennung heischendes Werk (wie Richard Wag ners Album-Sonate) oder um ein Lied, das zum spontanen Musizieren einlädt(wie das nebenstehende Fanny Hensels)? Die Vielfalt dieser Erscheinungsformen verbietet jedenfalls, von einer Gattung »Albumblatt« zu sprechen.Der Trésor des pianistes (eine 23bändige Antho logie von Claviermusik von 1500 bis 1850, hrsg. in den Jahren 1861 bis 1872 von Louise und Aristide Farrenc) genügte profes sionellen Ansprüchen beim Studium am Pariser Conservatoire.AlbumblattAuch wenn Komponisten und Komponistinnen Gruppen von Klavierstücken als »Albumblätter« im Druck veröentlichten, ist das Albumblatt seinem Wesen nach eine handschriftliche Eintragung. Die Bezeichnung Albumblatt verweist daher auf einen Fundort(siehe linke Seite, rechts), der sich einer einzigartigen Entstehungssituation verdankt: In einem Album wird von einer Person »auf Begehren« einer anderen Musik verewigt, in der sich nicht zuletzt das Verhältnis der beiden zueinander spiegelt. Gelegentlich verbinden sich mit solcher Musik Bedeutungsebenen, die sich nur den Beteiligten, kaum aber Außenstehenden erschließen und die für die musik forschende Nachwelt häug verloren sind. Wird der Begri ungeachtet solcher sozialen Kontexte wie eine Gattungsbezeichnung verwendet, impliziertdies ein spontanes Komponieren, »als ob« es ein Albumblatt wäre.
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14Die Bedeutung der lateinischen Wörter »artus«, Diminutiv »articulus«, welche (kleines)Glied oder Gelenk bedeuten,könnte imZusammenhang mit dem Klavierspiel zu der An-nahme verleiten, dass Artikulation zum Terminus wurde, weil der Anschlagauf die Klaviatur mit den mehrgliedrigen ge-lenkigen Fingern auszuführen ist.Tatsächlich aber verdanktsich die Bedeutung von Artikulationder deutschen Kanzlei-sprache: Amtliche Schristücke mussten übersichtlich in »Artikel« gegliedert werden, die in einem erkennbaren Zu-sammenhangzueinander stehensollten.Ebenso sollen in der MusikTöne deutlich artikuliert und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Als Oberbegri umfasst »Artikulation« Ef-fekte der Tongestaltung – unabhängig davon, ob die Töne mit Zunge und Lippen (aufBlasinstrumenten), einem Bogen (auf Streichinstrumenten) oder (nicht nur)mit den Fingern am Klavier erzeugt werden. Daher werden nicht alle Artikula-tionszeichen in diversen Instrumentengruppen in derselben Weise gelesen.Die wichtigsten Artikulationsweisen umschreiben einenbe-stimmten Klangeindruck, der durchdiverse Spielbewegun-gen hervorgerufen werden soll: Wenn ein Ton staccato– vom folgenden abgetrennt– erklingen soll, erreicht man das am Klavier dadurch, dass sich der Finger von der Taste abstößt.Soll ein Ton mit dem folgenden verbunden, also legatoge-spielt werden, muss der erste so lange erklingen, bis der zweite angeschlagen wird.Die graschen Zeichen, mit denen diese Anweisungenüber oder unter dem jeweiligen Notenkopf ausgedrückt werden, ahmen die Dauerdes Klangs nach: ein Punkt über einer Note für die Kürze des Staccato, ein Bogen über mehrereNoten hinweg für das Klangkontinuum des Legato. Entsprechendes gilt für das Zeichen für Tenuto: Ein »gehaltener« Ton soll zwar»abgetrennt« werden, aber nicht zu Bei Streichinstrumenten vermitteln Bögen nicht nur Artikulation oder Phrasierung, sondern auch, welche Tonfolge durch eine Bogenlänge gestrichen werden soll.Artikulation ist am Klavier auch ein Spiel mit den Dämpfern einzelner Tasten und dem Tonhaltepedal. Dadurch können Eekte erzeugt werden, die wie bei Streichern Flageolett genannt werden.Artikulation
15kurz erklingen; dies drücktein waagrechter Strich anschau-licher aus als ein Punkt.Ein physikalisch ähnlicher Eekt, der aber durch seine Schreibweise etwas anderes suggeriert, ist das Portato: Hier werden Staccato-Punkte von einem Bogen überspannt;die unverbundenen Töne sollen so»ge-tragen« werden, dass sie wie eine Einheit wirken.Der Bo-gen ist ein Beispiel für die Vieldeutigkeit von Artikulations-zeichen: Er signalisiert nicht nurdas Legato-Spiel,sondern fordertauch die Phrasierungmusikalischer Sinneinheiten. Betonungen(z.B. marcato) werden durch Keile und ver-tikale Striche versinnbildlicht,welche den Nachdruck des An-schlags nachzeichnen.Auf dem Klavier können Klänge auch erzeugt werden, ohne mit den FingernTasten anzuschlagen: Finger können über die Tasten im glissandogleiten, die Tasten müssen nicht mit den Fingern, sondern können auch mit der Faust oder dem Unter-arm geschlagen werden wie in Galina Ustwolskajas 6. Klavier-sonate(1988). HenryCowell verzichtet in e Banshee(1925) gar ganz auf den Gebrauch der Tasten und bespielt die Klavier-saiten direkt.Helmut Lachenmann ahmtin Guerodas latein-amerikanische Schrapinstrument nach, indem er mit einem Plektrum vorn an den Tasten vorbeistreifen und mit den Händen auf Rahmenstreben und Korpus schlagen lässt.Um Klangresul tate genauer vermitteln zu können, wurden oft auch Kombinationen von Zeichen verwendet; z. B.. – ¯. > ˘. ^ ¨Zeichen wandeln sich jedoch mit den Stilen im Lauf der Musikgeschichte. Besonders im 20./21. Jahrhundert ernden Komponisten und Komponistinnen neue Artikulationszeichen.Fingersatz (Applikatur)Artikulationen können am besten ausgeführtwerden, wenn die »bequemsteFingersetzung […], welche die wenigste Bewegung der Hände verursacht« verwendet wird(Türk ). Verfolgte man diesen Rat konsequent, könnte man kaum über den Fünfngerraum der Hand hinaus spielen. Tonleitern werden erst durch Daumenuntersatz oder Fingerüberschlag möglich. Die konsequente Verwendung des Daumens setzte sich erst im . Jahrhundertdurch: Vorher war es üblich, die Tasten nur mit den »längeren« Fingern ---() anzuschlagen. Man stelle sich vor, derart mit der rechten Hand eine Tonleiter aufwärts zu spielen: Das Ergebnis würde dem ähneln, das J. S.Bach für seine ApplicatioBWV vorschlägt (s. u.): Die Fingersatzpaare bilden unwill-kürlich kleine Artikulationsbögen.3434343434
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16Im Mittelalter spielt in die Bedeutung des Begris Ballade noch die des Tanzens (provenzalisch balada:Tanzlied) hinein,was zum einen das Tänzerische mancher Balladen-Rhythmen erklären mag. Zum anderen entsteht durch die für Tanz lieder typischen Refrains ein Naheverhältnis zwischen Ballade und Rondeau. Als Erzählgedichtjedoch bildete die Ballade seit dem 17. Jahrhundert eine Strophenform aus, deren jambische Struktur sich in der wiegenden Bewegung mancher Klavier-balladen – etwa denen Chopins – spiegelt (siehe Abb. unten). Anders als das lyrische Gedicht,dessen Subjektivität zum eher kurz gefasst Kontemplativen neigt, vereinigt die Ballade nach Auffassung Goethes die drei Grundformen der Poesie in sich – das Epische,Lyrische und Dramatische. Bei Vertonun-gen solcher Erzählgedichte hat das Klavier omaßgeblichen Anteil an deren narrativer Wirkung.Seit 1830 ndet sich der Begri Ballade auch als Gattungsbe-zeichnung in der Klaviermusik.Dabei ist zu unterscheiden, ob eine Ballade zunächst als Vertonung eines Gedichts entstan-den war – wie etwa jene der Senta aus Wagners Fliegendem Holländer, die von Franz Liszt für Klavier transkribiert wurde (S.441)–, oder ob ein Komponist wie Frédéric Chopin eine »Geschichte« allein mit den Mitteln des Klaviers »erzählt«.RondoDiese Balladenstrophe wurde unter dem Namen ChevyChase Strophe bekannt: Sie besteht aus vier Versen von vier bzw.drei hebigen Jamben.KlavierliedAuch im Jazz kennt man Cover Versionen von Vokalballaden für Soloklavier.BalladeInmeasuringthelines,wefindWegetbothfoursandthrees.AballadstanzainapoemHaslinesaslongasthese.Selbsterklärende Balladenstrophe § Hauptthema aus Chopins Ballade op. 38, unterlegt mit dieser Strophe (Bearb.: A. Huber)
17Wenn ein Genre so klar durch das Narrative deniert ist, stellt sich die Frage, was durch ein derartbetiteltes Klavierstück »erzählt« werden kann. Dass Chopin (laut Robert Schumann)durch das Gedicht Konrad Wallenrod(1828) seines Zeitge-nossen Adam Mickiewicz zur Ballade g-Mollop. 23 angeregt worden sei, hat dabei eine ganz andere Aussagequalität,als wenn ein Musikforscher des 20.Jahrhunderts aus Chopins Ballade As-Durop. 38das Martyrium des polnisch- litauischen Volkes unter russischer Herrscha herausliest.Da sich musikalische Zeichen jedoch wegen ihrer Vieldeu-tigkeit kaum dazu eignen, solche Rätsel zu lösen, istes ziel-führender zu untersuchen,was die instrumentale Ballade von der gedichteten übernommen hat,um einen balladenhaen Ton auszubilden: Erzählgedichte springen o sofort ohne lange Einleitungmitten ins Geschehen; vieles, was im Folgenden erst Bedeutung gewinnt,wird gleich zu Beginn eingeführt. Häug treten auch unerwartete »Szenen«-Wechsel auf.Während Goetheund Schiller die BegrieBallade und Ro-manze synonym verwenden, sind bei Klaviermusik indivi-duelle Dierenzierungen zu bemerken: Chopins Balladen sind nicht mitseinen Nocturnes, jene von Brahms nicht mit seinen Rhapsodien zu verwechseln,während sich die Geschwister Mendelssohn mit dem Lied ohne Worte höchstwahrschein-lich sowohl von der Ballade als auch der Romanze abgrenzten.Anders als die Balladen Chopins trägt die Ballade Creole op. 3 von Louis Moreau Gottschalk neben diesem Hinweis auf die Musik seiner Heimat Louisiana noch den Programmtitel La Savane.TransmusikalischBarde und Trobairitz – am Klavier?Ohne erzählende Person wäre die Ballade undenkbar, auch wenn sie zumeist anonym bleibt, um nicht von der erzählten Geschichte abzulenken. Der Gedanke an die Erzählenden ruft aber auch jene Ortevor das geistige Auge, an denen Balladen gesungen wurden. In frühester Zeit wurden diese jedoch nicht am Klavier, sondern häug durch die leichter transportable Harfe begleitet.Reisende Barden wie Turlough O’Carolan (–) oder die Trobairitz Beatriz de Dia (um ) verkehrten dabei in vonhöschen Konventionen geprägten Räumen des höheren oder niederen Adels. Die Umstände ihres Wirkensmachen deutlich, welch langen Wegdie gesungene Ballade genommen hatte,bis sie im . Jahrhundertals Gattung der Instrumentalmusik »ohne Worte« auf dem Klavier im öentlichen wie privaten Musikleben des Bürgertums angekommen war.
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18An kaum einem anderen Ort haben das Klavier und die, die es spielen, einesolch soziale Funktion wie in der Piano Bar. Mag die dort gespielte Unterhaltungsmusik auch nicht so konzentriert gehört werden wie die in klassischen Konzerten, so ist sie doch ein Ort intensiver Aufmerksamkeit. Nicht die Zuhörenden, sondern der Mann oder die Frauam Klavier lauscht– und zwar der Stimmung seines bzw.ihres Publikums.Billy Joel beschrieb dies in seinem Song Piano Man(1973)aus Perspektive des Barpianisten: Er erzählt von denunerfüllten Träumen und Sorgen seines Publikums, das von ihm erho, durch seine Musik in eine bessereStimmung versetzt zuwerden: »Sing us a song… and you’ve got us feeling alright« (s.u.). An Musikkann in einer Bar von populärer Klassik über Filmmusik undEvergreens bis hin zu Jazzstandards praktisch alles gespielt werden,was in das Ambiente,zur Stimmung und zu den Wünschen des Publikums passt.Die Gemeinsamkeit von Bars mit ähnlichen Gastgewerbe-betrieben wie Music Hallsund Cafés Concertsbestehtda-rin, dass hier wie dort alkoholische Getränke und ein musika-lisches Unterhaltungsprogramm angeboten werden. Manche dieser Etablissements wurden nicht selten zum Schauplatz von Ereignissen, die für die Geschichte der Klaviermusik be-deutsam sind: In NewYork war dies in den 1940er Jahren Orte des KlavierspielsAuch das Barrelhouse ist ein Ort, an dem Klaviermusik und Alkohol Entspannung versprechen.Boogie WoogieBarSing us a song,You’re the piano man,Sing us a song tonight.Well we’re all in the mood for a melody,And you’ve got us feeling alright.Refrain aus: Piano Man (1973) von Billy Joel © CBS Inc. § Barpiano im allerwörtlichsten Sinn
19Minton’s Playhouse – eigentlich ein Jazzclubmit ange-schlossener Bar,die beide zum (heute nichtmehr existieren-den) Hotel Cecil gehörten. Dort fanden regelmäßig montags Jam-Sessions statt,bei denen Jazzgrößen umden Pianisten elonius Monk improvisierten und zur Entwicklung des Bebop beitrugen.Ein ähnlich inspirierendes Milieu fand Éric Satie im Pariser CabaretLe Chat Noir vor, wo er Ende 1887 als Pianist ange-stellt worden war.Vorgestellt hatte man ihn jedochmit der absurden Berufsbezeichnung »gymnopédiste«. Zu einem sol-chen machte er sich erst dadurch, dass er nachträglich drei Gymnopédiesschrieb – wunderliche Anspielungen auf Tänze nackter Jünglinge im antiken Sparta. Diese zeichnen sich durch schlichte Strukturen sowie ihreNeigung zum Repetitiven aus und lassen sich in keines der »klassischen« Schemata pressen, die bis dahin auf kürzere Klavierstücke anwendbar waren. Ihr wenig extrovertierter,eher meditativer Gestus brachte den Gymnopédiesebenso wie Saties Gnossiennesden Ruf ein,eine Art »Klangtapete« zu sein, die lediglich zur Hintergrund-musik taugt. Tatsächlich prägte Satie den Begri Musique d’ameublementerst 1917 als Bezeichnung für fünf Stücke für Salonorchester,die deswegen auch entsprechende Titel tragen (z.B. Tapisserie en fer forgé – pourl’arrivée desinvités(grande réception) – À jouer dans un vestibule).Die erste Gymnopédie und die erste Gnossienne werden häug in Soundtracks von Filmen verwendet.Zitat Satie: »Die Musique d’ameublement [hat kein] Ziel; sie erfüllt die gleiche Rolle wie das Licht, die Wärme und der Komfort in jeder Form.«MusikkabarettAuch in einem Cabaret (frz.: Schenke) werden alko-holische Getränke zu musikalischer Unterhaltung gereicht. Allerdings ist es unmöglich, ein Musikkaba-rett nur beiläug zu verfolgen. Daher nden sich Ka-barettprogramme auch auf Spielplänen anderer Auf-führungsortewie dem Theater. Kaum ein Kabarettist hat die Umstände des Klavierspiels so parodiertwie Victor Borge: Die Rituale des Konzertlebens, die er aufs Korn nahm, wirkten an keinem anderen Ort so komisch wie an wirklichen Konzertstätten.Kabarettist / Pianist Victor Borge