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Textgrundlage: Werke, Band 4, herausgegeben von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, Piper Verlag, München 1982, 3. Auflage 1993.

ISBN 978-3-492-97458-5

Juni 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1981 Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Renate von Mangoldt

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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ESSAYS

Ludwig Wittgenstein – Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte

Als vor zwei Jahren Ludwig Wittgenstein in Cambridge starb, erschien in einigen Wiener Blättern eine kurze Notiz: »Im Alter von. . . verschied in … der bekannte Philosoph …« Nun, er war keineswegs bekannt; er war eigentlich der unbekannteste Philosoph unserer Zeit, ein Mann, auf den ein Wort seines Landsmannes Karl Kraus zutrifft, der von sich einmal sagte: »Ich bin berühmt, aber es hat sich noch nicht herumgesprochen.« Daß es sich nicht herumspreche, dafür hat Wittgenstein selbst gesorgt. Auch trägt das einzige Buch, das er zu seinen Lebzeiten herausgab, einen Titel so ohne »appeal«, daß sich, mit Ausnahme eines kleinen Kreises von Fachgelehrten, niemand dran vergriff. War er in seinem Werk nur wenigen erreichbar, so in seinem Leben keinem; er mied nach Abschluß des ›Tractatus logico-philosophicus‹[1] die Welt und den Ruhm, verwischte seine Spuren, zog für Jahre als Dorfschullehrer auf das Land, und von seinen letzten Jahren in Cambridge, wo er als Nachfolger von G. E. Moore den Lehrstuhl für Philosophie innehatte, erzählte man, daß er eine Hütte bewohnt habe und darin nur einen einfachen Stuhl als Ausstattung duldete. So hat die Legende sein Leben abgelöst noch zur Zeit, als er lebte, eine Legende von freiwilliger Entbehrung, vom Versuch eines heiligmäßigen Lebens, vom Versuch, dem Satz zu gehorchen, der den ›Tractatus‹ beschließt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« Und es war – um es vorwegzunehmen – der Versuch, die Philosophie schweigend zu vollziehen, ein absurder Versuch, wie es scheint, aber der einzig legitime für ihn, nachdem er alles Sagbare klar dargestellt hatte (wie er es von der Philosophie forderte), alles Denkbare, das das Undenkbare von innen begrenzt und so auf das Unsagbare deutet.

Dem Namen Wittgenstein begegnet man in der philosophischen Literatur durchwegs im Zusammenhang mit dem »Wiener Kreis«, der einzigen originalen Neuschöpfung der empiristischen Philosophie in der Gegenwart, der einst angefeindeten und gefürchteten »Vienna Dynasty« der logischen Positivisten, die, zu einem Teil wenigstens, von diesem eigenartigen Denker angeregt, eine neue Schule begründeten. Doch wäre es falsch, Wittgenstein – was fortwährend geschieht – mit dieser Schule zu identifizieren und neben seinem fundamentalen Beitrag zur symbolischen Logik und zu einer »mathesis universalis« (neu formuliert als »Einheitssystem der wissenschaftlichen Erkenntnis«) zu übersehen, was seinem Werk den höchsten Rang sichert. Nicht die klärenden, negativen Sätze, die die Philosophie auf eine logische Analyse der naturwissenschaftlichen Sprache beschränken und die Erforschung der Wirklichkeit an die naturwissenschaftlichen Spezialgebiete preisgeben, sondern seine verzweifelte Bemühung um das Unaussprechliche, die den ›Tractatus‹ mit einer Spannung auflädt, in der er sich selbst aufhebt – sein Scheitern also an der positiven Bestimmung der Philosophie, die bei den anderen Neopositivisten zur fruchtbaren Ignoranz wird –, ist ein erneutes, stets zu erneuerndes Mitdenken wert.

Als im Jahre 1929 der Wiener Arbeitskreis um Moritz Schlick mit der Broschüre ›Der Wiener Kreis – Wissenschaftliche Weltauffassung‹ an die Öffentlichkeit trat und mit seinem kühlen, sachlichen Programm eine Protestwelle in der deutschen Philosophie auslöste, lag Wittgensteins ›Tractatus‹ schon acht Jahre vor. Im selben Jahr erschien die zweite Auflage von Heideggers ›Sein und Zeit‹, die der Arbeitsgemeinschaft in ihrem Kampf gegen den von Deutschland, dem Land der Depression, aus um sich greifenden Irrationalismus Recht zu geben schien. In Wien, und dies war vonnöten, kam die erbitterte Gegnerschaft der Gruppe zum österreichischen Klerikalismus, etwa in Form der Doktrinen des Staatsphilosophen Othmar Spann, hinzu. Es braucht nicht verschwiegen zu werden, daß die Aggressivität, die scharfen Polemiken gegen alle metaphysischen Richtungen, vor allem von seiten Neuraths, manchmal zu engstirnig waren oder zum Selbstzweck wurden: Doch rechtfertigten die aus echter Leidenschaft nach Genauigkeit und Richtigkeit gewonnenen Erkenntnisse der meisten Mitarbeiter den Anspruch, den der Kreis als internationale Schule von hohem Niveau geltend machte.

Für die Entstehung des Neopositivismus war Wien ein günstiger Boden. Seit für Ernst Mach Ende des neunzehnten Jahrhunderts an der Wiener Universität eine Lehrkanzel für »Philosophie der induktiven Wissenschaften« errichtet worden war, gab es in Österreich eine langjährige Tradition empiristischer Wissenschaft, die sich nahezu ausschließlich mit den Grundlagenproblemen der Naturwissenschaften beschäftigte. 1922 wurde Moritz Schlick auf diesen Lehrstuhl berufen; er hatte bei Planck studiert und stand mit Einstein und Hilbert in persönlichem Verkehr. Ähnlich seinen Vorgängern Boltzmann und Mach kam er also von der Physik her zur Philosophie, doch hatte er ihnen eine eingehende Kenntnis der Philosophie voraus. Um ihn bildete sich bald ein Kreis von Schülern und philosophisch interessierten Gelehrten: Rudolf Carnap, der puristische Logistiker, und die berühmten Mathematiker Menger und Hahn zählten zu ihnen. Schlick war überdies der einzige Gelehrte der Arbeitsgemeinschaft, den Wittgenstein hin und wieder bei sich sah und am stärksten beeinflußte: Die Stellung des Kreises Wittgenstein gegenüber war jedoch nicht einhellig. Es konnte nicht übersehen werden, daß der führende positivistische Logistiker, der dem Durchschnittsdenken das Recht auf jedes »Rätsel« absprach, von einem mystischen Erlebnis des Unsagbaren erschüttert, seine Skepsis nur gegen dessen Gewicht hielt. Der »unio mystica« des Forschers, der die unsagbare Gegenwart des Realen in wenigen Augenblicken der Gnade empfindet, galten auch die letzten Worte Schlicks, dessen Ermordung im Jahre 1934 für den Kreis einen unersetzlichen Verlust bedeutete. Nach seinem Tod wurde ein immer strengerer, »physikalistischer« Kurs eingeschlagen, und Carnap und Neurath verbanden sich zu einer Absage an Schlicks und Wittgensteins »Urerlebnisse«.

Die Hauptthesen des Neopositivismus finden wir im ›Tractatus logico-philosophicus‹ vorgebildet, der, formal gesehen, eine Kuriosität ist. Er besteht aus losen, brillant geschriebenen, numerierten Aphorismen und beginnt mit dem lapidaren Satz: »Die Welt ist alles, was der Fall ist« (1). Wittgenstein geht von der Grundthese Bertrand Russells aus, wonach die Welt sich aus voneinander völlig unabhängigen Tatsachen zusammensetzt. Über die Gesamtheit der Tatsachen hinaus, in die sie zerfällt, ist sie nichts. Als Abbild dieser voneinander unabhängigen Tatsachen muß unsere Erkenntnis immer vereinzelt sein. Nun bilden wir aber allgemeine Sätze, die dies zu widerlegen scheinen. Etwa: »Alle Menschen sind sterblich.« Doch die Wahrheit einer solchen allgemeinen Aussage, auf deren Zuverlässigkeit wir uns stützen, wird bestimmt durch die Wahrheit etwa der Einzelaussagen »Peter ist sterblich« und »Hans ist sterblich«, wobei das verbindende »und« die Funktion hat, die Wahrheit des allgemeinen Satzes zu gewährleisten. Ein neuer Sinn, eine neue, allgemeine Wahrheit, über die Wahrheit der Einzelaussagen hinaus, entsteht jedoch bei einem allgemeinen Satz nicht.

Dieses harmlose Beispiel aus der Logik hat nun weniger harmlose Folgen. Denn es demonstriert, daß die Logik – dies ist wörtlich und banal zu verstehen – gar nichts besagt. Sie hat – um mit Wittgenstein zu sprechen – rein tautologischen Charakter. Somit kann die Logik die Wirklichkeit nicht erforschen und nichts über sie lehren. Da die Philosophie nun als logische Analyse der Sprache definiert wird, kann auch sie nichts über die Wirklichkeit aussagen; sie ist nur eine Tätigkeit und übt eine Art Kontrolle aus.

Ihr analytisches Werkzeug, die Logik, erfuhr schon gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts eine tiefgreifende Umgestaltung durch die Verwendung von Symbolen nach Analogie der Mathematik. Russell und Whitehead hatten in ihren ›Principia mathematica‹ gezeigt, daß die mathematischen Grundbegriffe (die natürlichen und erweiterten Zahlen, die Begriffe der Analysis und der Mengenlehre) mit logischen Grundbegriffen, aufgrund logischer Grundsätze, konstituiert werden können, wenn man zwei neue Axiome – das Unendlichkeits- und das Auswahl-Axiom hinzunimmt. Die Mathematik war als Zweig der Logik entdeckt. »Die Logik der Welt, die die Sätze der Logik in den Tautologien zeigen, zeigt die Mathematik in den Gleichungen« (6.22), formuliert Wittgenstein. Verstehen wir es richtig: Wie die Zahlen in der Mathematik nicht Gegenstände unserer Erfahrungswelt bedeuten und die Geometrie nicht den wirklichen Raum beschreibt, so beschreiben die Symbole der Logik nicht die Gegenstände und deren Beziehungen. Wir ordnen sie, wenn wir denken, ihnen nur zu.

Der Neopositivismus nimmt also einerseits am Empirismus, anderseits an Kant eine empfindliche Korrektur vor: Die Gesetze der Logik sind zwar a priori, aber ihre Aussagen sind zugleich leer und nichtssagend; das heißt also, daß auch Kants These, sie seien synthetisch, unhaltbar ist. Die einzigen Sätze, die sinnvoll sind und etwas besagen, sind Erfahrungssätze – Sätze also, die sich auf die Sachverhalte der Wirklichkeit beziehen. Diese Sätze treten in den empirischen Einzelwissenschaften auf. Spezifisch philosophische Sätze aber, wie sie die Metaphysik aufstellt, müssen, da sie der empirischen Wissenschaft und ihren Methoden unzugänglich sind und dennoch mehr sein wollen als Tautologien, als Scheinsätze bezeichnet werden.

Wie im Wiener Kreis Scheinsätze »entlarvt« wurden, soll an der Heidegger-Kritik von Rudolf Carnap gezeigt werden.

In seinem Aufsatz ›Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache‹[2] gibt Carnap einige Proben aus Martin Heideggers Schrift ›Was ist Metaphysik‹[3], um zu zeigen, daß derartige Satzbildungen auf einer Verletzung der logischen Syntax beruhen. »Erforscht werden soll das Seiende nur und sonst nichts; das Seiende allein und weiter – nichts; das Seiende einzig und darüber hinaus nichts. Wie steht es um dieses Nichts? – Gibt es das Nichts nur, weil es das Nicht, das heißt die Verneinung, gibt? Oder liegt es umgekehrt? Gibt es die Verneinung und das Nicht nur, weil es das Nichts gibt? – Wir behaupten: Das Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung. – Wo suchen wir das Nichts? Wie finden wir das Nichts? – Wir kennen das Nichts. – Die Angst offenbart das Nichts. – Wovor und warum wir uns ängsteten, war ›eigentlich‹ – nichts. In der Tat: das Nichts selbst – als solches – war da. – Wie steht es um das Nichts? – Das Nichts selbst nichtet.«

Carnap versucht nun, in einem Schema die einzelnen sinnlosen Bildungen herauszustellen, indem er ihnen unter ›I‹ Sätze in grammatischer Analogie zur Seite gibt und unter ›III‹ die Schreibweise der Logistik beifügt:

I. Sinnvolle Sätze der üblichen Sprache

II. Entstehung von Sinnlosem aus Sinnvollem in der üblichen Sprache

III. Logisch korrekte Sprache

A. Was ist draußen?

dr (?)

Draußen ist Regen.

dr (Re)

A. Was ist draußen?

dr (?)

Draußen ist nichts.

dr (Ni)

A. Es gibt nicht (existiert nicht, ist nicht vorhanden) etwas, das draußen ist.

~ (Ǝ x) · dr (x)

B. Wie steht es um diesen Regen (d. h.: was lässt sich über diesen Regen sonst noch aussagen)?

? (Re)

B. »Wie steht es um dieses Nichts?«

? (Ni)

B. Alle diese Formen können überhaupt nicht gebildet werden.

1. Wir kennen den Regen.

k (Re)

2. Der Regen regnet.

re (Re)

1. »Wir suchen das Nichts«,

»Wir finden das Nichts«,

»Wir kennen das Nichts«,

k (Ni)

2. »Das Nichts nichtet«.

ni (Ni)

3. »Es gibt das Nichts nur, weil …«

ex (Ni)

Carnap argumentiert nun: Schon die Satzform II A als Frage und Antwort entspricht nicht den Forderungen, die an eine logisch korrekte Sprache zu stellen sind, aber sie ist noch sinnvoll, weil man sie in die logisch korrekte Sprache übersetzen kann (III A). Ihre Unzweckmäßigkeit zeigt sich aber, wenn wir zu den Sätzen II B weitergehen, die sich in der logisch korrekten Sprache überhaupt nicht bilden lassen. Denn in II B 1 wird das Wort »nichts«, mit dem man in der üblichen Sprache einen negativen Existenzialsatz formulierte, als Gegenstandsname verwendet. Im Satz II B 2 kommt das bedeutungslose Wort »nichten« hinzu und macht diesen Satz doppelt sinnlos. Der Satz II B 3, der als einziger Satz nicht in grammatischer Analogie zu I B steht, stimmt mit den vorhergehenden Sätzen in dem Fehler überein, das Wort »nichts« als Gegenstandsnamen zu benutzen, und selbst wenn es zulässig wäre, »nichts« zur Kennzeichnung eines Gegenstandes einzuführen, enthielte er einen Widerspruch, weil in demselben Satz diesem Gegenstand wieder die Existenz zugeschrieben wird, die ihm in seiner Definition abgesprochen wurde. Dieser Argumentation freilich – dessen ist Carnap sich bewußt – entzieht Heidegger sich. »Im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens« glaubt er die Idee der Logik sich auflösen zu sehen und fühlt sich ihr darum nicht mehr verpflichtet. Aber der Neopositivist muß daran festhalten, daß eine zweite größere, »wahre« Wirklichkeit, in der auch das »Nichts« beheimatet sein soll, nur behauptet werden kann; doch von vornherein ist gewiß, daß sie sich nicht verifizieren lassen wird.

Wittgenstein geht somit von der Erforschung der Logik aus, die gleichbedeutend mit der Erforschung aller Gesetzmäßigkeit ist: »Und außerhalb der Logik ist alles Zufall« (6.3). Die Gesetzmäßigkeiten, die erforscht werden, sind aber keine Erklärung. »Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien« (6.371). Geschieht doch in der Welt alles, wie es geschieht, und ist doch alles, wie es eben ist: »Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist«[4] (6.44). »Sinn«, der aus einer Erklärung kommen müßte, ist nicht in der Welt.

Von der Welt als der Gesamtheit aller Tatsachen machen wir uns Bilder, die wiederum den Tatsachen zuzurechnen sind. Zwischen dem Bild nun und der Wirklichkeit, die es abbildet, ist etwas Gemeinsames, das die Abbildung ermöglicht: die Form (räumliche Form bei Abbildung von Räumlichem, farbige Form bei Abbildung von Farbigem und so weiter). Zudem ist jede Form, unter allen Umständen, logische Form, und jedes Bild ist daher auch ein logisches Bild. »Das logische Bild kann die Welt abbilden« (2.19). Mit anderen Worten: Da das logische Bild der Gedanke ist, ist alles, was denkbar ist, auch möglich, und da die Sprache die Gesamtheit der Sätze ist, muß Philosophie notwendig Sprachkritik – logische Analyse der Sprache – sein. Denn: »Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft« (4.11). »Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften« (4.111). »Das Resultat der Philosophie sind nicht ›philosophische Sätze‹, sondern das Klarwerden von Sätzen« (4.112).

Von der klaren Darstellung des Sagbaren ausgehend, verweist Wittgenstein unvermutet darauf, daß die Philosophie damit das Unsagbare bedeute. Was ist nun dieses Unsagbare? Zuerst begegnet es uns als Unmöglichkeit, die logische Form selbst darzustellen. Diese zeigt sich. Sie spiegelt sich im Satz. Der Satz weist sie auf. Was sich zeigt, kann nicht gesagt werden; es ist das Mystische. Hier erfährt die Logik ihre Grenze, und da sie die Welt erfüllt, da die Welt in die Struktur der logischen Form eintritt, ist ihre Grenze die Grenze unserer Welt. So verstehen wir den Satz: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (5.6).

Diesseits der »Grenzen« stehen wir, denken wir, sprechen wir. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes entsteht, weil wir selbst, als metaphysisches Subjekt, nicht mehr Teil der Welt, sondern »Grenze« sind. Der Weg über die Grenze ist uns jedoch verstellt. Es ist uns nicht möglich, uns außerhalb der Welt aufzustellen und Sätze über die Sätze der Welt zu sagen. Darum kann es auch keinen Wert geben – »und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert« (6.41). Es kann keine Sätze der Ethik geben, da ein Satz nichts Höheres ausdrücken kann. Es kann auch der Wille nicht Träger des Ethischen sein, denn die Welt ist unabhängig von unserem Willen. Nichts, was die Sprache auszudrücken vermag – also die Tatsachen der Welt –, ist durch den Willen veränderbar. Veränderbar sind nur die Grenzen der Welt, und darüber müssen wir schweigen. Keine der Fragen, die wir an die Philosophie zu richten gewohnt sind, kann sie uns also beantworten. Mit der Frage nach dem »Sinn von Sein« werden wir auf uns selbst verwiesen.

Die Bewegung, die hinter diesem Philosophieren steht, das nicht zur Lösung unserer Lebensprobleme beitragen kann, das in seiner Leidenschaft nach der ganzen Wahrheit nur die dürre, formelhafte, »ewige« Wahrheit der Logik zu bieten hat – Sätze, die wir überwinden müssen, um die Welt richtig zu sehen –, ist die gleiche, von der Baudelaire in seinem Gedicht ›Le gouffre‹ spricht. Wie Pascal bewegt sich Wittgenstein in und mit seinem Abgrund; von allen Grenzen strömt, was er nicht nennen darf, auf ihn ein und setzt ihn dem »drame cardinal« aus. »Ah, jamais sortir des nombres et des êtres!«

Im Wiener Kreis hat man sich allerdings darauf beschränkt, sich an das augenfällige Motto des ›Tractatus‹ zu halten: »… und alles, was man weiß, nicht bloß rauschen und brausen gehört hat, läßt sich in drei Worten sagen.«[5] Die logische Analyse der Sprache wurde vervollkommnet, einem »Einheitssystem der wissenschaftlichen Erkenntnis« vorgearbeitet, einer Universalsprache, wie sie schon Leibniz anstrebte, in die alle wissenschaftlichen Teilsprachen übersetzbar sein sollen: Durch eine enge Zusammenarbeit mit der modernen Mathematik und Physik wurde eine Lücke im philosophischen Denken unserer Zeit geschlossen. Auf glänzenden internationalen Kongressen konnte die Wiener Schule ihren Einfluß auf die angelsächsischen und skandinavischen Länder ausdehnen. Deutschland, Frankreich und Italien standen dem Neopositivismus jedoch immer ablehnend gegenüber. In Wien selbst ist es um den Wiener Kreis still geworden. Zwischen 1933 und 1939 wurden seine hervorragendsten Vertreter an ausländische Universitäten berufen; einige gingen in die Emigration, andere wurden Opfer des Nationalsozialismus. Das Publikationsorgan des Kreises, die ›Erkenntnis‹, wurde als »zersetzend« verboten und mußte in England durch das Journal of Unified Science‹ ersetzt werden. Wohin eine Entwicklung der Ideen unter günstigeren Umständen geführt hätte, läßt sich freilich schwer sagen. Die logistische Spezialliteratur, die uns heute von den ehemaligen Angehörigen der Arbeitsgemeinschaft erreicht – Rudolf Carnap, v. Mises, Popper und Reichenbach führen mit verwandten Denkern in den Vereinigten Staaten und England die Arbeit weiter –, läßt erkennen, daß die große Zeit des Neopositivismus vorbei ist, daß man sich in der Behandlung von Details erschöpft.

Aber die Zeit für die Entdeckung Wittgensteins dürfte gekommen sein. Aus England erfahren wir, daß eben ein zweites, bisher unbekanntes Werk, ›Philosophische Untersuchungen‹, erschienen ist; auch von der Existenz eines ›Blaubuches‹, das Wittgenstein erst nach seinem Tod veröffentlicht wissen wollte, weiß man zu berichten.

Ob er sein Schweigen aufgehoben und den Schritt zu einem Bekenntnis getan hat, ist ungewiß und wenig wahrscheinlich. »Gott offenbart sich nicht in der Welt« (6.432) ist einer der bittersten Sätze des ›Tractatus‹. Aber läßt Wittgenstein uns nicht wissen, daß die sittliche Form, die wie die logische nicht darstellbar ist, sich zeigt und Wirklichkeit ist? »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«, sagt er am Ende und meint eben diese Wirklichkeit, von der wir uns kein Bild machen können und dürfen. Oder folgerte er auch, daß wir mit unserer Sprache verspielt haben, weil sie kein Wort enthält, auf das es ankommt?

Ins tausendjährige Reich

Um möglichen Irrtümern zuvorzukommen, versuchte Musil in dem Entwurf zu einer ›Selbstanzeige‹, sein Buch zu definieren.

»Es ist nicht der seit Menschengedenken erwartete große österreichische Roman, obwohl …

Es ist keine Zeitschilderung, in der sich Herr … erkennt, wie er leibt und lebt …

Es ist kein Bekenntnis, sondern eine Satire …

Es ist keine Satire, sondern eine positive Konstruktion.« Wenn ein Autor verspricht, mit seinem Werk eine positive Konstruktion zu liefern, liefert er sich nicht nur einer Prüfung seiner dichterischen, sondern auch seiner geistigen Kapazität aus. In das Abgangszeugnis, mit dem Musil die deutsche Literatur verlassen wollte, schlug er einmal vor, einzutragen: »Betragen ungewöhnlich, Begabung zart, wenn auch zu Ausschreitungen neigend«, aber eines Tages bemerkte die Kritik unter anderem, daß sein Roman der größte geschichtsphilosophische Versuch und der schonungsloseste Roman der Weltanschauungskritik seit Voltaires ›Candide‹ sei. So ist Musil einige Gerechtigkeit widerfahren; denn er wollte sehr viel mehr als einen Roman schreiben, mehr als die Geschichte vom untergehenden Kakanien erzählen und mehr als an den abgewirtschafteten Ideen der Zeit Kritik üben.

Aber er wollte nicht – was ihm zuweilen vorgeworfen wird – seine Kompetenz überschreiten. Immer war ihm bewußt: »Der Dichter kann und soll nicht bis zum philosophischen System vordringen.«

Er ging nicht »aufs Ganze«, sondern gab Vor- und Richtbilder, Partiallösungen, nicht die Lösung. Aber er wollte sich nicht nur über die Wirklichkeit verständigen, sondern die Möglichkeit miteinbeziehen oder, wie sein Held Ulrich sich einmal ausdrückt, »den offenen Horizont hereinnehmen, von dem aus das Leben dem Geist angepaßt wird«.

Der Held Ulrich, ein junger Mathematiker, der ein exaktes naturwissenschaftliches Denktraining hinter sich hat, ist schon als »Mann ohne Eigenschaften« konzipiert, als ein Held also, dem die Voraussetzung zu handeln und die Tauglichkeit, einen geläufigen Romankonflikt auszutragen, fehlen.

Ein Konflikt ist immer ein moralischer Konflikt, und Ulrich, von dem wir hören, daß er zu den »moralisch schwachsinnigen« Dekadents gehört, könnte uns nicht beschäftigen, wenn der Autor ihm nicht ein Abenteuer zugedacht hätte, das als Abenteuer eines Helden vollkommen neu ist. Er läßt den Wunsch in ihm erwachen, das Denken und Handeln wieder zu aktivieren, anstatt »mit den Wölfen zu heulen«. Diesem etwas theoretisch anmutenden Unternehmen geht die Überlegung voraus, daß die Reaktivierung nur aus einer neuen Moral, und da die Wurzel der Moral der Glaube ist, nur aus einem neuen Glauben kommen kann. Der Mann ohne Eigenschaften macht sich nicht auf schmerzliche Suche nach dem verlorenen Glauben und der verlorenen Moral, sondern experimentiert mutig, und, wenn es sein muß, mit der gebotenen Vorsicht, an der Entfesselung geistiger Atomenergie und macht Kräfte frei, die er und seine Zeit noch nicht nützen können.

Ulrichs Konflikt liegt vor allen Konflikten. Es geht ihm um die »Moral« der Moral, weil unsere Moral sich in einem um Jahrhunderte verspäteten Denkzustand befindet. Die moralischen Werte, an denen sich unsere Gesellschaft orientiert, erkennt Ulrich als Funktionsbegriffe: Die gleiche Handlung kann gut oder böse sein, und im Endeffekt zeigt sich als einziges Charakteristikum der europäischen Moral, daß sich ihre Gebote hilflos widersprechen. (Am Fall des Prostituiertenmörders Moosbrugger erleben wir das dissonante Zusammenspiel von Gerichtsmedizin, Justiz und Seelsorge.)

Der Weg des Denkens, den Ulrich einschlägt, fällt mit dem Weg der Liebe zusammen. Was von Ulrich und seiner Schwester Agathe, in der er die schattenhafte Verdopplung seiner selbst zu finden glaubt, erzählt wird, ist nicht eine Liebesgeschichte, sondern »die letzte Liebesgeschichte«, weniger als ein Versuch des Anarchismus in der Liebe als ein Versuch, die Leidenschaft mit dem Grund aller Leidenschaft eins werden zu lassen, der einmal Gottesleidenschaft genannt wurde. Ulrich und Agathe geraten, ohne fromm zu sein, auf einen Weg, der mit dem der »Gottergriffenen« vieles gemeinsam hat. Sie beschäftigen sich mit den Zeugnissen großer Mystiker, um dahinterzukommen, wie Bewußtsein und Welt entgrenzt werden können, und sie erreichen für eine kurze Zeit den »anderen Zustand«, in dem sie moralisch in einen »Uratomzustand« aufgelöst werden. Alle Gedanken Ulrichs kreisen um die Frage: Was läßt sich überhaupt glauben? Mystik als beständige Gottergriffenheit erscheint ihm »liederlich«; er bildet den Begriff einer »taghellen Mystik« – als Möglichkeit einer vorübergehenden Abweichung von der gewohnten Ordnung des Erlebens. Diese Abweichung in eine direkte Wendung zu Gott überzuführen, widerstrebt ihm. Als Wissenschaftler weiß er, daß sie das Erkennen nicht fördern kann. Jede Wendung, wenn sie fruchtbar sein will, muß auf das »Ahnen ›nach‹ bestem Wissen« geschehen. Alles andere, »das sei nur wie die Wachsflügel des Ikaros, die in der Höhe zerschmelzen, rief er aus; wolle man nicht bloß im Traum fliegen, dann müsse man es auf Metallflügeln erlernen«.

Der Rückgriff des Manns ohne Eigenschaften auf die Idee vom tausendjährigen Reich, sein Verlangen nach dem »anderen Zustand«, der »unio mystica«, ist weniger befremdend, wenn man sie mit Musil als eine mögliche Utopie begreift und die Utopie nicht als Ziel, sondern als Richtung vor Augen hat. Musils Denken ist ziel-feindlich, beweglich, es rennt gegen die herrschenden Ordnungen an, in denen jedes Ding »ein erstarrter Einzelfall seiner Möglichkeiten« ist. Ja, jede Ordnung erscheint ihm absurd und wachsfigurenhaft, wenn man sie über ihre Zeit hinaus ernst nimmt und an ihr festhält. Er bevorzugt die Überlegung, daß die »Welt – als Ordnung – nur eine von x Versuchen sei und Gott vielleicht Teillösungen gebe, aus der die Welt immer wieder eine relative Totale bilde, der aber keine Lösung entspricht. Gott freilich ist zweifelhaft. Man muß sich der Ahnung überlassen.«