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ISBN 978-3-492-97459-2
Juni 2016
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1978
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: Keystone
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Im hohen Sommer ist der Fluß ein tausendstimmiger Gesang, der, vom Gefälle getragen, das Land ringsum mit Rauschen füllt. Nahe am Ufer aber ist er stiller, murmelnder und wie in sich selbst versunken. Er ist breit, und seine Kraft, die sich zwischen das Land legt, bedeutet Trennung. Gegen Norden ist das Tal dunkel und dicht, nahe liegt Hügel an Hügel, aufwärtsgewölbt hängen Wälder nieder, und in der Ferne heben sich die steileren Höhen, die an hellen, freundlichen Tagen einen milden Bogen in das Land hinein bilden. Über den Fluß liegt im ersten Dunkel der waldigen Enge das Herrenhaus. Der Fährmann Josip Poje sieht es, wenn er Menschen und Last hinüberführt. Er hat es immer vor sich. Es ist von brennender weißer Farbe und scheint plötzlich vor seinen Augen auf.
Josips Augen sind jung und scharf. Er sieht, wenn sich ferne im Gesträuch die Zweige biegen, er wittert die Gäste der Fähre, gleich, ob es die Korbflechterinnen sind, die um Ruten an das andere Ufer fahren, oder Handwerksleute. Manchmal kommt auch ein Fremder oder ganze Gesellschaften mit lachenden Männern und buntgekleideten, heiteren Frauen.
Der Nachmittag ist heiß. Josip ist ganz mit sich allein. Er steht auf der kleinen Brücke, die vom Ufer über die lange Strecke weichen Sandes führt. Die Anlegestelle ist mitten in die Einsamkeit des Buschlandes gebaut, eine Fläche, die sich sandig und versteint bis zum allmählichen Übergang in Wiese und Feld ausdehnt. Man kann das Ufer nicht überschauen, jeder Blick ertrinkt im Gesträuch, und kleine, wenig verhärtete Wege sind dazwischen wie frische Narben. Allein das Wechselspiel der Wolken an diesem unsteten Tag ist Veränderlichkeit. Sonst ist die Ruhe ermüdend, und die schweigende Hitze drückt allen Dingen ihr Mal auf.
Einmal wendet sich Josip. Er blickt zum Herrenhaus hinüber. Das Wasser liegt dazwischen, aber er sieht doch an einem der Fenster den »Herrn« stehen. Er, Josip, kann viele Stunden ruhig stehen oder liegen, er kann Tag für Tag das gleiche Wasser hören, aber der Herr im weißen Haus, das sie manchmal das »Schloß« nennen, muß Ruhelosigkeit in sich tragen. Er steht bald an diesem, bald an jenem Fenster, manchmal kommt er den Wald herunter, daß Josip meint, er wolle den Fluß überqueren, aber dann verneint er, so gut dies über das Brausen geht. Er streift zwecklos am Ufer entlang und kehrt wieder um. Josip sieht das oft. Der Herr ist sehr mächtig, er verbreitet Scheu und Ratlosigkeit um sich, aber er ist gut. Alle sagen es.
Josip mag nicht mehr daran denken. Er sieht forschend nach den Wegen. Es kommt niemand. Er lacht. Er hat jetzt seine kleinen Freuden. Er ist schon ein Mann, aber es macht ihm noch immer Vergnügen, die platten Steine aus dem Sand zu suchen. Er geht bedächtig im feuchten, nachgebenden Sand. Er wiegt den Stein prüfend in den Händen; dann schwingt er, sich beugend, den Arm, und in schwirrendem Flug saust das übermütige Stück über die Wellen, springt auf und weiter und springt wieder auf. Dreimal. Wenn er es öfter macht, springen die Steine aber achtmal auf. Sie dürfen nur nicht plump sein.
Stunde auf Stunde stiehlt sich fort. Der Fährmann ist lange schon ein stummer, verschlossener Träumer. Die Wolkenwand über den entfernten Bergen wird höher. Vielleicht geht der Schein der Sonne bald weg und schlingt goldene Säume in die weißnebeligen Paläste. Vielleicht kommt dann auch Maria. Sie wird wieder spät kommen und Beeren im Korb tragen oder Honig und Brot für den Herrn. Er wird sie über den Fluß fahren müssen und ihr nachsehen, wenn sie gegen das weiße Haus geht. Er versteht nicht, warum Maria dem Herrn alle Dinge in das Haus tragen muß. Er soll seine Leute schicken.
Die späten Nachmittage bringen Verwirrung. Die Bedenken verfliegen mit dem Ermüden. Die Gedanken sind auf heimlichen Wegen. Der Herr ist nicht mehr jung. Er wird kein Verlangen tragen, das so schmerzt wie das des jungen Josip Poje. Warum muß Maria an ihn denken, wo er nie nach ihr sieht, sondern an große Dinge denkt, die unverständlich und dunkel für sie sind! Sie kann viele Male zu ihm kommen, er wird sie nicht sehen, wenn sie kein Wort sagt. Er wird ihre Augen nicht verstehen und die Schweigende fortschicken. Er wird nichts von ihrer Traurigkeit und ihrer Liebe wissen. Und der Sommer wird vergehen, und im Winter wird Maria mit ihm tanzen müssen.
Die kleinen Mücken und die Fliegen, die nach Sonnenuntergang so lebendig werden, schwärmen schon. Sie suchen immer durch die Luft, fliegen geruhsame Kreise, bis sie mit einem Mal zusammenstoßen. Dann lösen sie sich und schweben weiter, bis sich das wiederholt. Irgendwo singen noch Vögel, aber man hört sie kaum. Das Rauschen des Flusses ist Erwartung, die alles andere in sich erstickt. Es ist ein lautes Lärmen, das mit Bangen und Erregung gefüllt ist. Kühle weht auf und ein trüber Gedanke in ihr. Man müßte blind sein und sähe doch den weißen Fleck der Mauer vom anderen Ufer durch den Wald scheinen.
Der Abend ist da. Josip denkt daran, nach Hause zu gehen, doch er wartet noch ab. Es ist schwer, einen Entschluß zu fassen. Aber nun hört er, daß Maria kommt. Er sieht nicht hin, er will gar nicht hinsehen, aber die Schritte sagen genug. Ihr Gruß ist zag und hilflos. Er blickt sie an.
»Es ist spät.« Seine Stimme ist voll Vorwurf.
»Du fährst nicht mehr?«
»Ich weiß nicht«, erwidert er. »Wo willst du noch hin?« Er ist von fremder Unerbittlichkeit beherrscht.
Sie wagt nicht zu antworten. Sie ist stumm geworden. Sein Blick ist ein Urteil. Er bemerkt, daß sie nichts bei sich trägt. Sie hat keinen Korb, keine Tasche, auch kein Tuch, das sich zum Bündel wölbt. Sie bringt nur sich.
Sie ist ein törichtes Mädchen. Er ist voll Verwunderung und versteht sie nicht und verachtet sie ein wenig. Aber die Wolken haben nun ihren glühenden Saum. Die Wellen im Strom sind bedächtiger und breiter als am Tage, die Strudel inmitten dunkler und gefährlicher. Niemand wird wagen, jetzt mit einem Boot über das Wasser zu fahren. Nur die Fähre bietet Sicherheit.
Der Wind streicht über Josips Stirne, aber sie bleibt trotzdem heiß. Eine Regung, die ihn erzürnt, stürzt ihn in Verwirrung. Das Seil der Fähre stellt eine Verbindung her, löst die Grundlosigkeit und weist gerade und unfehlbar an das andere Ufer, auf das weiße Herrenhaus.
»Ich fahre nicht«, weist er Maria ab.
»Du willst nicht?« Ahnung steigt in dem Mädchen auf. Es hebt einen kleinen Beutel und frohlockt: »Ich werde dir doppelt so viel zahlen!«
Er lacht erlöst. »Du wirst nicht genug Geld haben. Ich fahre nicht mehr.«
Warum steht sie noch immer hier? Das Aufeinanderschlagen des Geldes verklingt. Zutraulichkeit ist in ihrem Gesicht und Bitte. Er verstärkt seine Abweisung und seinen Vorwurf.
»Der Herr wird dich nicht ansehen. Dein Kleid ist nicht fein, und deine Schuhe sind schwer. Er wird dich fortjagen. Er hat anderes zu denken. Ich weiß es, denn ich sehe ihn alle Tage.« Er ängstigt das Mädchen. Nach einer von Nachdenklichkeit erfüllten Minute stehen Tränen in ihren Augen.
»Im Winter wird der Herr nicht mehr hier sein. Er wird dich schnell vergessen.« Josip ist ein schlechter Tröster. Er ist bekümmert. Er wird sie nun doch über den Strom bringen. Die Ratlosigkeit in seinem Gesicht breitet sich mehr und mehr aus. Er sieht zu Boden. Hier ist aber nichts als die Fülle des Sandes. Ein schöner Plan verschwimmt in der Öde starrender Unentschlossenheit.
Als Maria sich langsam wendet, um zu gehen, versteht er sie zum zweitenmal an diesem Sommerabend nicht.
»Du gehst?«, fragt er.
Sie bleibt nochmals stehen. Er freut sich nun. »Ich werde auch bald gehen.«
»Ja?«
Er macht sich an der Fähre zu schaffen. »Ich denke an den Winter. Wirst du mit mir tanzen?«
Sie blickt auf ihre Schuhspitzen. »Vielleicht … Ich will jetzt heimgehen.«
Ein wenig später ist sie fort. Der Fährmann Josip Poje denkt, daß sie vielleicht trotzdem traurig ist. Aber es wird einen lustigen Winter geben. Josip sucht einen Stein und schleudert ihn über das Wasser. Der Fluß ist merkwürdig trüb, und in der Mattheit des Abends hat keine Welle den schäumenden Silberkranz. Es ist nicht mehr als ein graues Wogen, das sich mit breiter Kraft zwischen das Land drängt und Trennung bedeutet.
Über die Stirne Amelies lief ein roter Schatten. Sie trat vom Spiegel zurück und schloß die Augen. Da war die Spur für einen Augenblick vergangen, die Justins Hand über ihr Gesicht gezogen hatte. Er hatte sie nur einmal geschlagen und sich dann hastig zurückgezogen, um sich nicht zu früh zu verraten. In ihm war ein Sturm entfesselt, den tausend Schläge gegen Amelie nicht hätten beruhigen können.
»O Gott«, murmelt er und wusch sich die Hände. Er benützte Gott prinzipiell nur, wenn er glaubte, daß nichts mehr ausreiche, um seine Erregung auszudrücken. Amelie war zu verschreckt, um näher zu treten; aber sie wußte, daß es ihm gut tat, gefragt zu werden, und so fragte sie vom anderen Ende des Zimmers her ein leises »Was …?« Sie wagte jedoch nicht zu fragen: was gibt es, was ist dir zugestoßen, wer hat dich beleidigt? – denn sicher war sie der Grund seiner Erbitterung. Nach einer Weile überwand sie sich und errötete. »Kann ich es gutmachen?«
»Nein«, schrie Justin erlöst, »dieses verlorene Geld kannst du nicht mehr …«, er brach erschöpft ab, dann nahm er höhnend den Faden wieder auf: »Gutmachen! Gutmachen! Du bist wohl verrückt. Diesen Schuften kann man doch nicht an!«
»Hat man dich betrogen?«, flüsterte sie.
»Nein«, erwiderte er, »ich habe sie betrogen, wie sie es verdienen. Ich habe ihnen das Geld abgenommen, das sie nicht verdienen. Verstehst du das? Sie verdienen es nicht.«
»Ja«, antwortete sie und sah erleichtert, wie seine Stirn sich glättete.
Bald darauf ging er. Amelie zog ihre Arbeit hervor und versuchte, die vielen Stunden einzubringen, die er sie gezwungen hatte, Partnerin seiner Selbstgespräche zu sein. Ihre Finger stolperten über die Seide, in die sie viele bunte Stiche zu setzen hatte. Zwischendurch sah sie hastig nach der Uhr, und in ihre Wünsche, er möge früh nach Hause kommen, stieg ein anderer, es möge spät werden. Alle Wünsche aber liefen dahin, das Beste für Justin zu beschwören. Gegen Mitternacht versuchte sie sich aufzurichten; aber ihr Rücken war hart geworden, und sie deutete dies dahin, daß sie in ihrer Arbeit fortfahren solle. Eine seltsame Schläfrigkeit rieselte in ihre Gelenke, und als sie Justins Schritte vernahm und sich erheben wollte, war sie dazu unfähig. Sie starrte ihm entgegen.
»Warum gehst du nicht schlafen?«, fragte er mit einem Lächeln, das sie alles vergessen ließ. Sie sprang in wilder Freude auf und schlug hart hin. Sie wehrte seinen Händen, die ihr zu Hilfe kamen. »Es ist nichts«, stammelte sie.
Sein Gesicht stand dunkel vor ihr. »Du bist doch nicht krank? Du wirst mir doch keine Scherereien machen!«
»Ich bin nur ganz steif vom langen Sitzen«, besänftigte sie ihn.
»Amelie«, sagte er, und seine Stimme erhob sich vor erwachendem Mißtrauen, »willst du bestreiten, daß du nur sitzen geblieben bist, weil du wissen wolltest, wann ich nach Hause komme?«
Sie schwieg und griff nach dem Stück Seide, das ihr entfallen war.
»Du hast wieder getrunken?«, sagte sie tapfer.
»Hast du auf mich gewartet, um das festzustellen?«, fragte er dringender. »Ich habe mein letztes Geld verloren und du sitzt hier und wartest, um mir Vorwürfe zu machen.« Er wurde immer lauter, um ihr Schweigen zu übertönen. »Amelie«, sagte er dann so zärtlich wie zu einem kleinen Kind, »wir wollen vernünftig miteinander reden. Das geht nicht so weiter, daß du zu Hause sitzt, mir zur Last fällst und mir Vorwürfe machst. Siehst du das ein?«
Sie nickte ihm zu und sah ihn bewundernd an.
»Ich glaube, ich habe mich jetzt lange genug auf diesem barbarischen Jahrmarkt des Lebens abgemüht.« Er warf sich in einen Sessel, zog die Taschen seines Rockes hervor und drehte sie um. »Ausgeraubt, ausgestohlen«, stellte er fest und lachte, daß Amelies Blut stillstand. Dann bewegte sie sich stumm gegen den Kasten und suchte ein schmales Kuvert unter ihrer Wäsche hervor. Sie drückte es ihm rasch in die Hand. »Das ist alles. Ich habe genäht, wenn du nicht zu Hause warst.«
Er steckte es zu sich. »Wie lange schon?«, fragte er.
Sie gab keine Antwort und legte sich ins Bett. Nachdem sie das Licht verlöscht hatten, holte er tief Atem. »Es hat mich tief erschüttert, daß du schon so lange Zeit etwas vor mir geheimhältst« – er räusperte sich –, »tief erschüttert«, wiederholte er und betonte jede Silbe. Sie drehte das Licht wieder auf und sah ihm mit wilder Entschlossenheit ins Gesicht. Sie stand auf und setzte sich wieder an ihre Arbeit.
»Es ist vollkommen sinnlos, daß du jetzt weiterarbeitest. Du darfst nicht hoffen, mich dadurch zu rühren«, sagte er kühl, ohne sich ihr zuzuwenden. Sie nähte noch eine Weile, dann mußte sie innehalten, weil zu viele Tränen über ihr Gesicht liefen und sie nicht wußte, wie sie sie verbergen sollte.
»Komm zu mir«, sagte er ruhig.
Sie gehorchte.
Er drückte ihr einen Schlüssel in die Hand. »Du wirst jetzt in meine alte Fabrik gehen und aus dem Panzerschrank im Kontor meine schwarze Mappe holen, die ich vergessen hatte, als ich wegging.«
»Die braune Mappe«, verbesserte sie ihn.
»Eine schwarze Mappe«, wiederholte er, »ich habe sie erst unlängst gekauft.«
»Es wird jetzt niemand dort sein«, gab sie zu bedenken.
»Ja, natürlich«, erwiderte er zerstreut, »du tätest mir aber einen großen Gefallen, wenn du doch jetzt gingest. Es macht nichts aus, weil man davon weiß.«
»Versuch zu schlafen«, mahnte sie und lief dann leise aus dem Zimmer …
Als sie zurückkehrte, sah sie verwundert, daß er noch wach lag. Sie entdeckte, daß ihre Bereitschaft ihn versöhnt hatte, und wagte mit hellen Augen und einer leisen Melodie auf den Lippen, ihr Nähzeug wegzuräumen. Sie ging still zu Bett, flüsterte ihm »Gute Nacht!« zu und hörte glücklich die Erwiderung ihres Grußes.
Der Morgen war schön und sonnig. Es klingelte. Amelie stellte die Blumen ans Fenster und ging dann zur Türe. Freundlich beantwortete sie die Fragen der drei Polizisten und bat sie, weiterzukommen. Justin kam verschlafen dazu, tat befremdet und mischte sich nicht in das Gespräch. Die Beamten erstaunte Amelies Gleichmut, und einer fragte nun geradezu, ob sie die Mappe aus dem Kontor gestohlen habe. »Nein«, erwiderte sie, »ich habe sie heute nacht geholt.«
Justin ärgerte sich maßlos über Amelies einfältige Augen. Der Beamte forderte sie auf, mitzukommen, aber sie wollte das nicht begreifen. Sie lächelte ihn nachsichtig an und wandte sich, noch immer lächelnd, Justin zu. Da stürzte die Einfalt aus ihren Augen und wechselte mit einem Abgrund des Wissens, der mit einemmal ihn und sie und das Gefüge ihrer Beziehungen verschlang. Sie lief, ohne etwas fragen zu müssen oder erfahren zu wollen, ans Fenster und sprang in den dunklen Hof, der wie ein Schacht ein kleines Viereck gegen den Himmel freihielt…
»O Gott, o Gott«, murmelte Justin, weil er Gott prinzipiell nur benützte, wenn er glaubte, daß nichts mehr ausreiche, um seine Erregung auszudrücken.
In einer Zeit, in der alle Regierenden gefährdet waren – zu erklären, worin diese Gefährdung bestand, ist müßig, denn Gefährdungen haben zu viele Ursachen und doch keine zugleich –, befiel den Herrscher des Landes, von dem die Rede sein soll, Unruhe und Schlaflosigkeit. Nicht daß er sich »von unten«, von seinem Volk her, bedroht fühlte; die Bedrohung kam von oben, von unausgesprochenen Forderungen und Weisungen, denen er folgen zu müssen glaubte und die er nicht kannte.
Als der Herrscher überdies vom Auftreten eines Schattens an den Zufahrtstraßen seines Schlosses in Kenntnis gesetzt wurde, drängte sich ihm die Überzeugung auf, daß er den Schatten, der vielleicht die Bedrohung barg, anrufen und ins Leben zwingen mußte, um ihn bekämpfen zu können. Und er stieß alsbald auf den Schatten, den man ihm gemeldet hatte; es war schwer, von ihm auf die Gestalt zu schließen, die ihn vorausschickte, weil er zu groß war, um mit einem Mal ins Auge treten zu können. Am Anfang sah der Regent nichts als ein ungeheures Tier, das sich langsam durch die Gegend schleppte; später erst gelang es ihm, an der Stelle, an der er den Schädel vermutete, ein plattes, breites Gesicht zu entdecken, das jenem Wesen gehörte, das jeden Augenblick den Mund öffnen und derart fragen konnte, daß man vor ihm seit Jahrhunderten versagte, ihm die Antwort schuldig blieb und verloren war: Der König hatte die furchteinflößende, seltsame Sphinx erkannt, mit der er um das Fortbestehen des Landes und seiner Menschen zu ringen hatte. Er öffnete also zuerst den Mund und forderte sie heraus, ihn herauszufordern.
»Das Innere der Erde ist unserem Blick verschlossen«, begann sie, »aber ihr sollt einmal hineinsehen, die Dinge vor mir ausbreiten, die sie birgt, und mir über ihr Feuer und ihre Festigkeit Bescheid sagen.«
Der Herrscher lächelte und wies seine Gelehrten und Arbeiter an, sich über den Leib der Erde zu machen, ihn zu durchbohren, seine Geheimnisse freizulegen, alles zu messen und das Gefundene in die feinnervigsten Formeln zu übertragen, deren Präzision unvorstellbar war. Er verfolgte selbst den Gang der Arbeit, der sich in prächtigen Tabellen und dicken Büchern spiegelte.
Eines Tages war es denn so weit, daß der Herrscher sein Gefolge anweisen konnte, die geleistete Arbeit vorzulegen. Die Sphinx konnte nicht umhin zuzugeben, daß die Arbeit vollkommen und unangreifbar ausgefallen war; nur schien es vielen, sie drücke zu wenig Achtung vor den Resultaten aus. Aber keiner konnte ihr nachsagen, daß sie sich nicht korrekt verhalten habe.
Wenn einige noch gefürchtet hatten, es würde nun offenbar werden, daß die Sphinx den König nur in Sicherheit hatte wiegen wollen, um dann doch noch eine Falle in der Formulierung des Rätsels zutage treten zu lassen, wurden ihre Bedenken jetzt zerstreut. Die zweite Frage war wieder unmißverständlich und einfach im Wortlaut. Gelassen forderte das beinahe entzauberte Ungeheuer, daß sich nun alle an die Feststellung der Dinge machen sollten, die die Erde bedeckten, einschließlich der Sphären, die sich um sie schlossen. Diesmal taten die Wissenschafter mit ihren Stäben noch ein übriges. Sie fügten den Aufzeichnungen eine unerhört feingliedrige Untersuchung des Weltraums an, die alle Planetenbahnen, alle Himmelskörper, Vergangenheiten und Zukünfte der Materie enthielt, mit der heimlichen Schadenfreude, der Sphinx damit eine dritte Frage vorwegzunehmen.
Auch dem König schien es ausgeschlossen, daß noch etwas zu fragen blieb, und er übergab die Lösung mit aufkeimendem Triumph. Schloß die Sphinx die Lider oder war sie überhaupt blicklos? Vorsichtig suchte der Herrscher in ihren Mienen zu lesen.
Die Sphinx ließ sich so lange Zeit, die dritte Frage zu stellen, daß alle zu glauben begannen, sie hätten mit ihrem Übereifer in der Beantwortung der zweiten Frage tatsächlich das tödliche Spiel gewonnen. Als sie aber an ihrem Mund ein leises Zucken wahrnahmen, erstarrten sie, ohne daß sie zu sagen gewußt hätten, warum.
»Was mag wohl in den Menschen sein, die du beherrschst«, fragte sie in des Königs große Nachdenklichkeit. Der König hatte Lust, mit einem raschen Scherz zu antworten, um sich zu retten, nahm aber noch rechtzeitig Abstand davon und begab sich zu einer Beratung. Er stieß seine Leute an die Arbeit und zürnte ihnen, weil sie sich stoßen ließen. In Versuchsserien begannen sie, die Menschen zu entkleiden; sie zwangen ihnen die Scham ab, hielten sie zu Geständnissen an, die die Schlacken ihres Lebens zutage fördern sollten, rissen ihre Gedanken auseinander und ordneten sie in hunderterlei Zahlen- und Zeichenreihen.
Es war kein Ende abzusehen, aber das verschwiegen sie sich, denn der König ging ohnedies durch die Laboratorien, als gewänne er ihnen nicht das geringste Vertrauen ab und sinne einem schnelleren und treffenderen Verfahren nach. Diese Vermutung bestätigte sich eines Tages, als er die bedeutendsten Gelehrten und die fähigsten Staatsbeamten kommen ließ, den sofortigen Abbruch der Arbeit befahl und ihnen in geheimen Sitzungen Gedanken unterbreitete, deren Inhalt niemand weiter mitgeteilt wurde, wenngleich alle alsbald von den Auswirkungen betroffen wurden.
Kurze Zeit später lenkte ein Befehl die Menschen gruppenweise nach Orten, an denen hochspezialisierte Guillotinen errichtet waren, zu denen mit peinlicher Genauigkeit jeder einzeln aufgerufen wurde und die ihn dann vom Leben zum Tod brachten.
Die Offenbarung, die dieses Verfahren ergab, war so überwältigend, daß sie die Erwartung des Königs übertraf; er zögerte dennoch nicht, um der Vollständigkeit und Vollkommenheit willen auch die restlichen Männer, die ihm bei der Organisation und der Aufstellung der Guillotinen nützlich waren, zu veranlassen, sich den Maschinen zu übergeben, um die Lösung des Rätsels nicht zu gefährden.
Gebeugt und stumm vor Erwartung trat der König vor die Sphinx. Er sah ihren Schatten sich wie einen Mantel über die Toten breiten, die nun nicht aussagten, was zu sagen war, weil sich der Schatten über sie gelegt hatte, um sie zu bewahren.
Atemlos forderte der König die Sphinx auf, sich wegzuheben, um seine Antwort entgegenzunehmen, aber sie bedeutete ihm durch eine Gebärde, daß sie danach nicht verlange; er habe auch die dritte Antwort gefunden, er sei frei, sein Leben und das seines Landes stünden ihm zur Verfügung.
Über ihr Gesicht trat eine Welle, aus einem Meer von Geheimnissen geworfen. Sodann lächelte sie und entfernte sich, und als der König sich aller Ereignisse besann, hatte sie die Grenzen überschritten und sein Reich verlassen.
Als der alte Mann, der gestorben war, sich nach wenigen Schritten umsah, begriff er nicht, warum sich auch hinter ihm die unabsehbare Wüste dehnte, die vor ihm lag. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob es Sand war, auf dem er so mühelos dahinging, oder glatter Asphalt, denn das Licht, das über der leeren Landschaft lag, war nicht Licht in irgendeinem Sinn, in dem er es früher gekannt hatte. Es gab weder Farben noch Schatten, es war glanzlos, ungreifbar, seine Wellen waren wohl nicht zu messen, seine Geschwindigkeit nicht festzustellen; es war also nicht Licht, und doch nannte es der alte Mann bei sich so.
Einfach war die Landschaft beschaffen, in die er geraten war. An welcher Stelle er sie betreten hatte, war nicht auszumachen, es schien ihm nach allen Seiten keinen Anfang und kein Ende zu geben, und dennoch wußte er, daß er erst kurze Zeit in dieser Wüste wanderte. Der Mann erinnerte sich noch der quälenden Schmerzen, von denen er in den letzten Tagen seines Lebens befallen gewesen war, und fühlte befremdet, daß es ihn nicht erleichterte, sie verloren zu haben und so mühelos ausschreiten zu können.
Als er sich nach einer Weile wieder umwandte, sah er sich nicht mehr allein. Hinter ihm, in einem Abstand, den er nicht zu schätzen vermochte, marschierte mit fröhlich erhobenem Kopf ein Knabe, und ein paar Schritte hinter dem Kleinen bemerkte er ein junges Mädchen; ihr Kopf war von einer Haarflut überschwemmt, wie sie die magere, schwindsüchtige Gestalt kaum tragen zu können schien.
Der alte Mann hatte das Gefühl, daß der Knabe und das Mädchen ihn wahrgenommen hatten und einander wahrnahmen, aber er wußte nicht, wie eine Verständigung herzustellen war. Vielleicht war es das beste, stehenzubleiben und zu warten, bis sie ihn erreicht hatten.
Wie er es aber auch anstellen wollte, stehenzubleiben – es gelang ihm nicht. Das ist der Tod, stellte er bei sich fest; man kann nicht mehr stehenbleiben.
Er wandte sich einigemal um und blickte auf seine Weggefährten, die sich nun schon um zwei weitere Personen vermehrt hatten. Dem zerbrechlichen jungen Mädchen folgte ein junger Mann, der sich auf Krücken fortbewegte. Hinter dem Invaliden kam eine gebückte alte Frau und bildete den vorläufigen Abschluß der Karawane.
Je länger die Wanderung dauerte und Gleichgültigkeit und Gleichförmigkeit auf die kleine Menschenschar ihre Gewalt ausübten, um so trauriger und sinnloser wurde für jeden einzelnen der ziel- und weglose Marsch, wenn auch wirkliche Traurigkeit keinen von ihnen mehr hätte ergreifen können. Ihr Denken und Fühlen war keineswegs ganz erloschen, aber nahezu ohne lebendigen Inhalt, so daß es sich nur mit sich selbst beschäftigte, richtungslos und einsam kreiste, und Gedanken sich müde an Gedanken schlossen.
Manchmal dachte der alte Mann: Es war Frühling, und der Wind trommelte ans Fenster, als ich starb. Mein Sohn spielte auf seiner kleinen Geige, einem viel zu kleinen Instrument, als daß ich es richtig hätte hören können. Meine Tochter sagte: »Vater!« – und noch einige Male »Vater!«. Zum dritten Male schien die Sonne in diesem Jahr.
Manchmal dachte das junge Mädchen: Es war Frühling, und der Wind trommelte ans Fenster, als ich starb. Meine Hand lag in der Hand des kurzsichtigen Arztes, der sie sanft drückte und hin und wieder sagte: »Wie wunderschön ihr Haar ist!«
Der junge Mann schwang sein Bein ab und zu schneller vor, zwischendurch tat er, als greife er im Gehen in seine Tasche, um eine Zigarette hervorzuholen: Es war Frühling und ich dachte: Gott ist tot. Er drückt einem seine schwere Hand auf den Mund, damit man nicht schreien kann, und er läßt den Wind an unsre Brust trommeln, an unsre Augen und an unsre Stirn, und die Zigarette erlischt, ehe man schreien kann.
Hin und wieder hatte die alte Frau Lust zu murmeln: Ach, hätte doch jemand Feuer im Ofen gemacht, hätte mir doch jemand die dicken Strümpfe von den Füßen gezogen und mich zu Bett gebracht. Mit beiden Fäusten trommelte der Wind ans Fenster und rief: »Schlaf nicht ein, mach Feuer im Ofen, zieh dir die Wollmütze über den Kopf und denk dir ein Märchen für dein Enkelkind aus!« Ach, wäre doch das Kind gekommen und hätte mich gebeten, das Märchen von dem weißen Osterlamm zu erzählen, das in eine Wolke verwandelt wurde. Ach, wäre doch der Wind durchs Fenster geflogen und hätte Feuer gemacht…
Nur der Knabe wußte nichts von Geigen, die zu leise klingen, und von Töchtern, die »Vater« sagen, nichts von schönen Haaren, nichts von Gott, der tot ist und einem dennoch die Beine vom Leib reißen kann; nicht einmal von Großmüttern wußte er, die auf Enkelkinder warten und kein Feuer mehr im Ofen anfachen können.
Was ist Frühling? hätte er fragen wollen. Das ist doch nicht der Frühling, von dem ihr sprecht! Den müßt ihr mir einmal zeigen, den wunderbaren, goldblauen Frühling, der mit einem Gefolge von Kirschblüten und klingenden Himmelschlüsseln kommt, in dessen Wolkenwagen die Engel fahren und die Sonne wie einen feurigen Schild tragen, an dem die Pfeile des Winters zerbrechen. Oh, was wißt ihr vom Frühling!
Er hätte keinem von den anderen geglaubt, daß das schon der Frühling war, wenn wirbelnde Winde an die Fenster des Waisenhauses trommelten, in dem er sein Leben lang still auf dem gleichen Platz gelegen war. Seine unentstiegene Sehnsucht wartete auf wunderbare Töne, die er noch nicht kannte, auf Worte, die er noch nie gesprochen hatte, und auf einen Menschen, der noch nicht auferstanden oder schon lange gestorben war.
Das weite, leere Land, in dem er sich jetzt fand, war nicht leerer als das, in dem er gelebt hatte, und es dünkte ihn, daß noch nichts anders geworden war, daß sich aber noch vieles ändern müsse.
Jeder seiner Schritte war von einer Fröhlichkeit, die er den anderen gerne mitgeteilt hätte. Aber diese Fröhlichkeit hatte keinen Namen, und er hätte sie nicht über die Lippen gebracht, selbst wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte. Plötzlich aber brach in die Eintönigkeit und die unbeschreibliche Leere eine Erschütterung, unter der der Knabe wankte und zusammenzubrechen drohte, wenngleich er weiterschritt und man kaum eine Veränderung an ihm wahrgenommen hätte. Bei der zweiten Erschütterung, die folgte, vermochte er die Hände zu regen und den Mund zu öffnen, aus dem ein Laut grenzenlosen Erstaunens brach, ohne daß das gleiche auch dem alten Mann und den anderen, die sich hinter ihm befanden, widerfuhr. Und als er zum drittenmal von dem rauschenden, dröhnenden Klang geschlagen wurde, wußte er, daß Glocken mit solch ungeheurer Wucht die Karawane in der Abgeschiedenheit und Verlorenheit ihres Unternehmens trafen und daß die Stunde gekommen war, in der es am Entschluß der Wandernden lag, ihren ziellosen Weg zu beenden und heimzukehren, wo sie noch nie oder schon immer zu Hause gewesen waren.
Mit einer Beweglichkeit, die er nie gekannt hatte, stürzte der Knabe aus der Reihe, die bisher keiner sprengen konnte, und stürzte vor zu dem alten Mann, der zwar verwundert wahrnahm, daß dem Knaben eine Kraft gekommen war, die er selbst nicht besaß und keiner der anderen, aber nicht verstand, was ihm das Kind mit zitternden Lippen vortrug.
»Alter Mann«, sprach es aus dem Kind, das mit einem Male, ohne eine einzige Sprache zu beherrschen, alle Sprachen auf seinen Lippen hatte, »die Glocken schlagen zum vierten und fünften Male! Hörst du die Glocken nicht, die ›Vater‹ rufen?«
Als der Knabe merkte, daß der alte Mann die Glocken nicht vernahm, stürzte er zurück und überfiel das Mädchen mit seinen stürmischen Bitten: »Horch! Sechsmal … siebenmal … die Glocken schlagen …« Aber das Mädchen hob kaum den Kopf und ging unberührt weiter. Der Invalide hört wohl auch die Glocken nicht, denkt der Knabe und zählt jeden Glockenschlag. Acht… neun …
Vielleicht spürt die alte Frau, daß ich ihr Enkelkind bin. »Großmutter, der Wind trommelt ans Fenster und will Feuer machen, sobald du nur deine Wollmütze über den Kopf gezogen hast und auf die Glocken hörst! Zehn … Großmutter!« Fremde alte Frau! Elf …
Der Knabe schluchzt, und Flammen schlagen in ihm empor, und er möchte eine Stimme haben, stärker als die große, dunkle, mächtige Glocke, die das zwölfte und letzte Mal an das weite, leere Land schlägt.
Und wenn sie auch niemand hört, jetzt sehen alle das flammende Kind, denn sie sehen und gehen ja noch, der alte Mann, der Invalide, das schwindsüchtige Mädchen und die Großmutter. Und die Glocke schlägt zum zwölften Male und schlägt stärker als alles, was je an ihre Ohren geschlagen hat, und sie bleiben stehen. Und das weite, leere Land ist nicht mehr, und der Weg ist nicht mehr, und die Wandernden selbst sind nicht mehr.
Nur an der Stelle, wo das Kind zu brennen anfing, steht eine kleine Flamme im unermeßlichen Dunkel, das alles Zwielicht verschlungen hat.
S. fuhr schwer aus dem Schlaf. Im Fenster traten die Vorhänge auseinander. Dunkel und dicht lag die Nacht draußen. Er hielt die Augen in Schwarzblau geöffnet, ohne etwas darin wahrzunehmen, während in seinem Kopf fremde Geräusche gurgelten. Müdigkeit griff nach seinem Arm, der sich verängstigt in die Richtung des Lichtschalters bewegte, und überfiel ihn so plötzlich, daß er sein Vorhaben aufgeben mußte.
Er fand sich kaum zurecht. Doch da war die breite Straße wieder, eine begeisternde, tiefrote, breite Straße. Fröhlich schritt er aus und näherte sich der Station. Ein Zug rollte heran. Nur mehr wenige Schritte hatte er zu machen, um ihn zu erreichen und mitzukommen; dennoch hielt er an. Es wurde ihm noch rechtzeitig bewußt, daß er seine Ausweispapiere vergessen hatte. Was war ihm nur eingefallen, ohne Ausweis wegfahren zu wollen!
Er kehrte zurück. Kühl und wohltätig, seine Hast dämpfend, umfing ihn das strenge Weiß seiner Wohnung. Ehe er sich erneut auf den Weg machte, ließ er sich in den kühlsten und weißesten der Stühle fallen und atmete ein paarmal tief.
Die Station erreichte er gleichzeitig mit dem Zug. Das erschien ihm köstlich und bedeutungsvoll, und er erklomm die hohen Stufen behender, als er es zu tun pflegte.
Ein Klingeln zeigte die Abfahrt an. Im allerletzten Augenblick gelang es ihm, mit einem gefährlichen Sprung wieder die Straße zu erreichen. Seine Vergeßlichkeit war ihm ärgerlich bewußt geworden; er hatte seine Legitimation nicht zu sich genommen, und es blieb ihm nicht erspart, noch einmal zurückzugehen. Diesmal gönnte er sich keine Ruhe, er wagte nicht einmal, sich einem der verlockend bequemen Stühle zu nähern, sondern verließ die Wohnung sofort wieder, nachdem er sie betreten hatte.
An der Station unterdrückte er die Verzweiflung, die in ihm aufbrannte, denn er wußte sich wieder ohne Dokument. Aber nun war er entschlossen, auch ohne die wichtigen Papiere auf dem Fußweg sein Ziel zu erreichen!
Er nahm alle Abkürzungen, die ihn zeitsparend dünkten, und kam nach kürzester Zeit zur Kontrollbarriere XIII. Seine Vermutung bestätigte sich. Vier bis fünf Männer standen, ihren Dienst aufmerksam versehend, vor der kleinen Hütte neben der Barriere.
»Guten Tag«, lächelte S. vorsichtig.
»Die Papiere, bitte«, begann einer freundlich.
»Ich will nicht hinüber«, versicherte S., berauscht von einem Einfall. Die Männer blickten einander an, als mißtrauten sie ihm. Er zerstreute ihre Bedenken.
»Wir haben einen heißen Tag heute«, sprudelte er munter hervor.
Einer der Uniformierten zerkaute eine Überlegung.
»Wenn Sie in die Hütte hineingehen«, setzte der Posten endlich ein, »sehen Sie drin einen von uns liegen. Vielleicht ist er betrunken, aber nehmen Sie ihm ruhig das Glas aus der Hand. Er hat heute dienstfrei und kann machen, was er will.«
Blinzelnd nahm S. dies zur Kenntnis. Das gefiel allen, und nachdem er eine Weile in der Hütte gewesen war, kamen die anderen dazu, um nach ihm zu sehen.
»Ausgezeichneter Keller«, lobte S. und reichte das Glas herum. »Ihr müßt mir aber Gesellschaft leisten, sonst habe ich keinen rechten Genuß.«
Sie tranken zögernd.
»Es versteht sich von selbst«, erklärte S., »daß ich darüber zu niemandem sprechen werde, am wenigsten zu eurem Kommandanten.«
»Wenn man nur überhaupt verstünde, warum man für dieses bißchen Trinken bestraft wird!«, sagte einer, schluckte hastig und dachte weiter nach. »Man könnte ebenso gut für das Essen von Obst bestraft werden.«
Sie tranken und scherzten fort; ab und zu sah einer nach der Barriere, aber niemand kam an diesem heißen Tag vorbei. Nachdem eine geraume Zeit vergangen war, wollte S. die Hütte verlassen. Er warf sein Glas an die Wand, so daß die Scherben den erschrockenen Wächtern vor die Füße fielen und keiner wagte, ihn aufzuhalten. Als er sie verlassen hatte, tröstete der Älteste die anderen. »Dieser Mann wird uns nicht gefährlich werden.«
Der Gedanke übertrug sich auf S. »Ich werde diesen armen Burschen nicht gefährlich werden«, dachte er und setzte seinen Weg fort, als kennte er ihn.
In Wahrheit wußte er jedoch nicht, wohin ihn seine Absicht führte, die ihm nun nicht mehr so deutlich schien, wie anfangs. Er hatte sich zum Beispiel gedrängt gefühlt, seine Papiere ordnungsgemäß mitzuführen – nicht daß sie ihm hätten Aufschluß geben können, aber man hätte ihm vielleicht an der Barriere bedeutet, daß er diese oder jene Bestimmung habe, oder an einen bestimmten Ort befohlen werde. Nun aber gehorchte er nicht einem Weg, der ihm vorgeschrieben war und der aus seinen Papieren hervorging, sondern einem, von dem er hoffte, er würde ihn aus eigenem wählen und finden dürfen.
Zu beiden Seiten der Straße sausten die Telegraphendrähte; er horchte den fliegenden Signalen nach und war wunderbar belebt von dem Gedanken der Mitwisserschaft, bis ihm einfiel, daß er wohl vom Sausen der Drähte und der Übersendung von Berichten wußte, keinesfalls hingegen von ihrem Inhalt, der vielleicht ihn selbst betraf. Müde senkte sich sein Kopf zu Boden, aber sein Tempo ließ nicht nach; noch hatte er keinen Grund, aufzugeben und zurückzuschrecken, denn nach jeder Seite vermutete er Gutes und Böses, ohne daß er für das eine oder andere Bestätigungen finden konnte. Der Wein, der sich leicht in ihm eingenistet hatte, verscheuchte seine Gedanken und schob ihm ein fröhliches Lied auf die Lippen.
Plötzlich hielt er an. Tönte seine Stimme nicht vertäusendfältigt in die Gegend? Er preßte seine Hand auf den Mund, der sich anfühlte, als wäre er zu einem riesigen Instrument angewachsen, aber das Lied sang sich trotzdem weiter. Vielleicht fehlte nun die Stimme, die er dazu beigesteuert hatte, aber wer hätte das genau feststellen können? Endlich klärte sich der Himmel zu beiden Seiten der Straße und gab die Urheber der Stimme frei. Ein unübersehbarer Trupp von Uniformierten marschierte singend auf gleicher Höhe mit S., ja, man könnte sagen, eine Handbreit hinter S., wenn nicht auf diese Weise der Eindruck entstünde, daß S. die Marschierenden anführte – und es wäre ihm nichts ferner gelegen, als diese Leute anzuführen, da er ja selbst seines Weges und Zieles nicht sicher war. Es kam ihm jedenfalls nicht zum Bewußtsein, daß er ihnen in der Mitte der Straße um diese Handbreit voranschritt und daß die Kolonnen am Straßenrand den Eindruck eines Gefolges erweckten.
Immerhin sang sich das Lied jetzt, seit es Unterstützung gefunden hatte, leichter, und man bezwang die öde, endlos wirkende Straße müheloser und schneller.
Gegen Abend mündete die Straße in eine Treppe, die sich ebenso breit und grau gegen den Horizont abzeichnete. Über der Treppe erhob sich ein Bau von überwältigender Einfachheit. Fenster liefen so unaufhörlich zur Höhe, einer grandiosen Höhe, daß man die Augen schließen mußte. Zwischen ihnen verbarg sich ein Netz feiner Apparate und ließ eine komplizierte Maschinerie hinter der kahlen Fassade ahnen.
S. blickte befriedigt auf die schwarzen Lettern, die zwischen der ersten und zweiten Fensterreihe die Aufschrift »Kommandantur« ergaben, und war überzeugt davon, daß man ihn vorgeladen hatte und daß er hier eine Weisung empfangen sollte.
Unbesorgt schritt er die Treppe hinauf und hörte, daß die marschierenden Kolonnen anhielten und er allein den Weg fortsetzte.
Lautlos flogen die Flügeltüren auf; er eilte an zwei undurchdringlich vor sich hinblickenden Wachen vorbei, die ihre Gewehre stumpf zu Boden gestreckt hielten, und sah sich in einer Halle, die ihm den Atem nahm vor Weite, Leere und Stille. Tiefer im Raum schien eine Beratung abgehalten zu werden. Dem Flüstern, das sich auf- und abschwellend zu ihm fortpflanzte, entnahm er, daß der neue Kommandant zur Übernahme der Geschäfte erwartet werde.
S. zögerte, weiter zu gehen, bis sich ein Mann aus der Gruppe löste und sich ihm mit entschiedenen, sicheren Schritten näherte. Mit einem gleichgültigen Blick maß er S. zuerst, nahm dann jedoch die Haltung einer niederen Charge an und bat ihn mit leiser, monotoner Stimme, sich zum Stab zu begeben.
Den Uniformierten mit einem halb wohlwollenden, halb Distanz gebietenden Blick zurücklassend, setzte S. die Durchquerung des Saales fort. Die letzten hundert Schritte, die ihn noch von der Gruppe der Beratenden trennten, machten ihn zum Zeugen einer lebhaften Auseinandersetzung. Niemand schien zu wissen, wer der neue, zu erwartende Kommandant war, und S. fürchtete, die Kommandantur in einem äußerst ungünstigen Augenblick erreicht zu haben und wenig oder gar nichts zur Aufklärung der erlauschten Zweifel beitragen zu können.
Zwanzig Schritte, zehn Schritte … Der Widerhall an den Wänden konnte kaum nachkommen, so atemlos stieß S. gegen das Ende des Saales vor.
Durch die Gruppe der Beratenden ging ein hörbarer Ruck. Die Partner ließen voneinander ab und wandten sich mit einem Ausdruck der Sammlung dem Ankommenden entgegen.
S. fühlte, daß dem Augenblick eine Bedeutung zukam; er streckte seine Hand aus, aber niemand wollte sie ergreifen. Schließlich fing er zu glauben an, man habe hier auf geheimnisvolle Weise schon erfahren, wie er ohne Legitimation die Barriere passiert hatte, und wurde totenblaß, als er sein Spiel verloren wähnte. Niemand schien jedoch darauf acht zu haben, denn alle starrten geradeaus oder an ihm vorbei. Endlich löste sich einer der Versammelten aus der Gruppe, trat auf S. zu und hieß ihn willkommen.
Hatte er »Mein Kommandant« gesagt? S. stand unbeweglich, versuchte in den Gesichtern der Umstehenden zu lesen, suchte Anklage, Hohn, Kritik und Urteil, aber er fand nur Zustimmungen, die alle zu einer so blassen, fürchterlichen, zweifelsfreien Zustimmung zusammenflossen, daß er den Kopf senkte, um nicht einen Befehl in diese Gesichter zu schleudern.
Der Kommandant, den man gesucht hatte, war er. Dünne Musik setzte minutenlang ein, verdünnte Trompetenstöße fanden aus einem Nebenraum in den Saal, und ein dünner Schrei, ein spitzes, farbloses »Hurra« drang von weit her, vom Treppenaufgang, so nahm S. an und erinnerte sich der uniformierten Truppen, die mit ihm des Wegs gekommen waren.
Dann schüttelte er alle die Stimmen und Töne ab, schritt auf den »Stab« zu, sprengte ihn mit einer Handbewegung auseinander, bedeutete ihm, sich zu seiner Verfügung zu halten, und verlangte nach seiner Arbeit.
Bei der Durchsicht des Fernsehmaterials entdeckte man die unzulängliche Bewachung der Barriere XIII. Der Akt entwickelte sich schnell, und als er in die dritte Rollbahn zu den »Hauptleuten« einschwenkte, enthielt er bereits die genauesten Details über dieses ungewöhnliche Vorkommnis. Die Hauptleute, die im allgemeinen an der Aufdeckung von Unzulänglichkeiten in ihrem Bereich wenig Anteil nahmen, versäumten diesmal die Gelegenheit nicht, die Unterlagen aufs Genaueste zu überprüfen, um damit vor den neuen Kommandanten treten zu können und seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Selbst das Spiegelzimmer, das der Kommandant bezogen hatte und welches zu betreten alle Untergebenen schreckte, vermochte sie nicht abzuhalten. An Hand einer Spezialkarte wiesen sie dem Kommandanten, dem die Strenge und Vielfalt der Spiegel fast das Gesicht zu rauben schien, die Zusammenhänge vor, die nun neuerdings ergaben, daß das Delikt sich nicht auf die Wachmannschaft der Barriere XIII beschränken konnte, sondern daß ein dazu nicht Befugter sie an der Ausübung ihres Dienstes gehindert oder zumindest ihre Aufmerksamkeit mit Vorbedacht abgelenkt hatte.
Die inzwischen festgenommene Wachmannschaft, die die Störung eines ungemein klug angelegten Netzes zugelassen hatte, wurde von den Hauptleuten schon bereit gehalten, um dem Kommandanten selbst die Untersuchung zu ermöglichen. Diese aufmerksam getroffene Maßnahme fand das Lob des Kommandanten, der nicht nur durch die Hauptleute ein Verhör der Wachposten verlangte, sondern auch selbst in die Befragung eingriff.
Es stand in kurzer Zeit fest, daß diese Leute einer Verurteilung nicht entgehen konnten. Entgegen dem Verbot hatten sie Alkohol zu sich genommen und außerdem eine Person, den Hauptschuldtragenden, nicht an der Überschreitung der Barriere gehindert, obwohl ihnen keine Papiere vorgelegt wurden, ja, die Papiere fanden sich sogar, ohne ihren Besitzer, in dessen verlassenen Aufenthaltsräumen und waren auf die Gruppe S. ausgestellt.