Die Suche beginnt (Band 1)
Am Großen Bärensee (Band 2)
Auf dem Rauchberg (Band 3)
Die Letzte Große Wildnis (Band 4)
Feuer im Himmel (Band 5)
Sternengeister (Band 6)
Insel der Schatten (Band 7)
Das Schmelzende Meer (Band 8)
Der Fluss der Bärengeister (Band 9)
Wald der Wölfe (Band 10)
Brennender Himmel (Band 11)
Der Längste Tag (Band 12)
Alle Abenteuer auch als Hörbücher (bis Band 7)
und Printausgaben bei Beltz & Gelberg

www.seekers-die-bären.de
Über den Autor
Hinter dem Namen Erin Hunter verbirgt sich ein ganzes Team von Autorinnen. Gemeinsam konzipieren und schreiben sie die erfolgreichen Tierfantasy-Reihen WARRIOR CATS, SEEKERS und SURVIVOR DOGS.
Impressum
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-74808-9 Print
ISBN 978-3-407-74478-4 E-Book (EPUB)
© 2017 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2014 Beltz & Gelberg
© 2012 Working Partners Limited
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Seekers, Island of Shadows bei HarperCollins Children’s Books, New York
Übersetzung: Anne Emmert
Lektorat: Ina Brandt
Einbandgestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, München
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de
Besonderer Dank an Tui Sutherland

1. KAPITEL
Lusa
Lusa stapfte über den schneebedeckten Strand. Vor ihr lag flach und glitzernd das Eis, eine endlose weiße Fläche, die bis zum Horizont reichte. Ihr kribbelten vor Aufregung die Tatzen. Ein Schwarzbär wie sie gehörte nicht in so eine Landschaft, und doch marschierte sie munter zum gefrorenen Meer, gemeinsam mit einem Braunbären und zwei Eisbären. Ujurak war nicht mehr bei ihnen, doch da sich Yakone, ein Eisbär von der Sterneninsel, Lusa, Kallik und Toklo angeschlossen hatte, waren sie wieder zu viert. Sie hatten eine neue Reise vor sich, eine Reise, die sie nach Hause führen sollte.
Als Lusa zurückblickte, sah sie unter den grau-lila Wolken die Hügel der Sterneninsel liegen. Die Konturen der Eisbären, die dort lebten, wurden mit jedem Tatzenschritt kleiner. Lebt wohl. Der Gedanke, dass sie die Bären wohl nie wiedersehen würde, versetzte Lusa einen Stich. Doch sie war dort zu Hause, wo es Bäume, grüne Blätter und sonnenwarmes Gras gab, weit weg von diesem eisigen Ort, an dem sich der Wind wie scharfe Krallen ins Fell grub.
Lusa fragte sich, ob Yakone der Abschied schwerfiel. Obwohl die Sterneninsel seine Heimat war, hatte er sich entschieden, seine Familie zu verlassen und Kallik zu begleiten. Entschlossen marschierte er neben ihr her, ohne sich auch nur ein Mal umzusehen. Sein rötlicher Pelz leuchtete im Sonnenaufgang.
An der Spitze der kleinen Gruppe trottete Toklo mit gesenktem Kopf. Er wirkte erschöpft, doch dass ihm jeder Schritt Mühe bereitete lag nicht an der Müdigkeit.
Er trauert um Ujurak, dachte Lusa.
Der kleine Grizzly war ums Leben gekommen, als er seine Freunde vor einer Lawine gerettet hatte. Lusa trauerte auch um ihn, tröstete sich aber mit dem Gedanken, dass Ujuraks Leben in Wahrheit gar nicht zu Ende war. Die vertraute Gestalt des Braunbären, der sie den weiten Weg zur Sterneninsel geführt hatte, war mit Sternen im Fell entschwebt und zu seiner Mutter Silaluk in den Himmel aufgestiegen: zwei Sternenbären, die nun als Sternbilder verewigt am Himmel standen. Ujurak würde immer bei ihnen sein, das wusste Lusa. Aber ob Toklo das auch so sah? Der Schmerz schloss sich wie eine kalte Klaue um ihr Herz, und sie wünschte, sie könnte ihm irgendwie helfen.
Vielleicht kann ich ihn ablenken …
»He, Toklo!«, rief Lusa, lief an Kallik und Yakone vorbei und schloss zu dem Grizzly auf. »Was meinst du, sollen wir jagen gehen?«
Toklo zuckte zusammen, als hätte ihn Lusas Stimme aus einer anderen Welt geholt. »Was?«
»Ich habe gefragt, sollen wir jagen gehen?« So nah an der Küste erwischten sie auf dem Eis vielleicht eine Robbe oder sogar ein junges Walross.
Toklo warf ihr von der Seite einen kurzen Blick zu, trottete aber unbeirrt voran. »Nein. Es wird bald dunkel. Wir müssen weiter, solange es noch geht.«
Dann ist es zu dunkel zum Jagen. Lusa verkniff sich die Bemerkung. Sie wollte sich ja nicht mit Toklo streiten, sondern ihm helfen, die düsteren Gedanken an den Freund zu vertreiben, den er verloren zu haben meinte.
»Glaubst du, es landen manchmal Gänse auf dem Eis, um Rast zu machen?«, fragte sie.
Diesmal sah Toklo sie nicht einmal an. »Du Bienenhirn«, schnaubte er. »Warum sollten sie das tun? Gänse finden ihre Nahrung an Land.« Er beschleunigte seine Schritte und hängte Lusa rasch ab.
Lusa sah ihm traurig nach. Wenn Toklo früher schlechte Laune gehabt hatte, hatte sie ihn aufheitern können oder einfach so lange geärgert, bis er seinen Missmut vergessen hatte. Aber diesmal saß der Schmerz zu tief.
Am besten lasse ich ihn in Ruhe, dachte sie. Fürs Erste jedenfalls.
Während die Sterneninsel hinter den Bären immer kleiner wurde, verblasste der Schneehimmeltag und wich dunklen Schatten, bis Grau- und Schwarztöne die weiße Welt verschluckt hatten. Als sich Lusa umsah, waren die letzten Spuren der Hügel, die ihr so vertraut geworden waren, im Dämmerlicht verschwunden. Die ersten Sternengeister blitzten über den Köpfen der Bären am Himmel und der Mond hing über dem Horizont wie eine leuchtende Kralle. Die Bären wanderten an Schneewehen vorbei, die der peitschende Wind zu sonderbaren Gestalten geformt hatte und die nun im blassen Licht schimmerten.
»Wir müssen uns einen Schlafplatz suchen.« Kallik machte bei einer hohen Schneewehe halt. »Hier könnte man bestimmt eine gute Höhle bauen.«
»Ich helfe dir«, erbot sich Yakone sofort und begann am Fuß des Schneebergs zu buddeln.
Lusa sah den beiden Eisbären zu, die kraftvoll ein Loch in den Schnee gruben. Es war die erste Nacht, die Yakone von seiner Familie und der Höhle seiner Kindheit getrennt war. Trotzdem wirkte er gefasst, ja geradezu gelöst, wie er da mit Kallik eine Nische im Schnee schaffte, die sie vor dem Wind schützen sollte. Die beiden Eisbären kratzten Seite an Seite den Schnee weg, der unter der weichen oberen Schicht vereist war. Yakone sagte etwas und Kallik schleuderte ihm vergnügt schnaubend eine Tatze Schnee ins Gesicht.
Lusa, die die beiden nicht belauschen wollte, ging ein paar Schritte weiter. Wieder überkam sie beim Anblick Toklos, der ein wenig abseits stand, ein Anflug von Traurigkeit. Der Braunbär beobachtete wortlos die beiden Eisbären, drehte ihnen dann das Hinterteil zu und ließ den Blick über die Sterne schweifen.
Als Lusa ebenfalls nach oben sah, erkannte sie den hellen Lichtpunkt der Großen Bärin Silaluk und neben ihr Ujurak. Die Sternbilder linderten Lusas Trauer und gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit, denn sie wusste, dass ihr Freund über sie wachte.
Toklo dagegen war untröstlich, dass Ujurak, der zweite Braunbär auf dieser merkwürdigen und langen Reise, sie verlassen hatte. Sein düsterer Blick in den Himmel zeigte seine Einsamkeit besser als alle Worte.
»Wir sind hier, Toklo«, brummte sie so leise, dass der Grizzly sie nicht hören konnte. »Du bist nicht allein.«
Toklo hatte Ujurak nähergestanden als alle anderen. Er hatte die Verantwortung für den kleineren Braunbären übernommen. Toklo glaubt sicher, er hat versagt, weil Ujurak gestorben ist, dachte Lusa. Das stimmt nicht, aber wie soll man ihm das begreiflich machen?
Hinter ihr ertönte Kalliks fröhliche Stimme. »Wir sind fast fertig.«
Als Lusa sich umdrehte, sah sie die Eisbärin rückwärts aus der Höhle kriechen. Sie schüttelte sich und dicke Schneeklumpen stoben aus ihrem Fell. »Alles in Ordnung, Lusa?«, fragte sie. »Du siehst so bedrückt aus.«
Lusa nickte zu Toklo hinüber, der immer noch in den Himmel starrte. »Er vermisst Ujurak. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen.«
Kallik musterte Toklo und schüttelte dann traurig den Kopf. »Wir vermissen Ujurak alle«, erwiderte sie. »Aber wir wissen doch, dass er eigentlich gar nicht tot ist.«
»Toklo sieht das anders«, erklärte Lusa.
»Ich weiß.« Kalliks Stimme klang sanft. »Es ist schwer hier draußen ohne Ujurak. Aber denk mal, was wir zusammen erreicht haben! Wir haben die Ölbohrinsel zerstört und die Geister zurückgeholt. Jetzt ist die Wildnis wieder sicher vor den Krallenlosen. Das darf Toklo nicht vergessen.«
»Toklo vergisst vor allem nicht, dass Ujurak sein Leben für uns gegeben hat.«
Während Lusa die letzten Worte sprach, tauchte Yakone am Eingang der Höhle auf. Er schob den Schnee, den er im Inneren gelockert hatte, mit starken Tatzen nach draußen. Kallik trottete zu ihm, sah sich aber noch einmal nach Lusa um.
»Ujurak ist nach Hause zurückgekehrt«, sagte sie. »Er ist jetzt glücklich bei seiner Sternenmutter. Kein Bär muss sich um ihn sorgen, auch Toklo nicht.«
Lusa schüttelte den Kopf. So einfach, wie Kallik das sieht, ist es aber nicht, dachte sie. Und so einfach, wie Toklo es sieht, ist es auch nicht. Ujurak ist vielleicht nicht hier bei uns auf dem Eis, aber ich glaube, wir werden noch viel von ihm hören.
Als sich einer der anderen Bären umdrehte, wachte Lusa auf. Eisige Kälte stach ihr durchs Fell. Missmutig grummelnd legte sie die Tatzen über die Schnauze. Sie wollte wieder in den Schlaf sinken wie in einen warmen, dunklen See. Schon umspülten sie die Wellen und zogen sie immer tiefer nach unten.
»Lusa!« Eine Tatze stupste sie kräftig in die Seite, und als sie sich zwang, die Augen zu öffnen, sah sie Kalliks Kopf über sich. »Lusa, wach auf!«
An dem schwachen Licht, das durch den Höhleneingang fiel, war zu erkennen, dass es schon Morgen war. Yakone und Toklo hatten ihre Schlafplätze bereits verlassen. Es waren nur noch die Kuhlen zu sehen, in denen sie sich zusammengerollt hatten. Lusa riss das Maul zu einem herzhaften Gähnen auf, streckte sich und folgte Kallik nach draußen. Yakone stand vor der Höhle, Toklo ein paar Bärenlängen von ihm entfernt.
»Tut mir leid«, murmelte Lusa. »Das ist wieder der lange Schlaf. Es fällt mir so schwer, wach zu bleiben.« Ihre Instinkte befahlen ihr, in den kalten, dunklen Monaten des Sonnenkreislaufs zu schlafen. Ihr Appetit hatte nachgelassen, zumal es immer nur fettiges Robbenfleisch zu fressen gab, und wenn sie einschlief, dann war der Schlaf tief und fest. Lusa sehnte sich danach, dass die Tage wieder länger wurden und sie mehr Zeit zum Wandern und Jagen hatten. Ihr fiel nichts anderes ein, womit sie sich hätte wach halten können.
»Rubbel dir das Gesicht mit Schnee ab«, schlug Yakone vor. »Das macht munter.«
Zweifelnd nahm Lusa eine Tatzevoll Schnee und rieb ihn über Schnauze und Augen. Das eisige Stechen hauchte ihr wieder Leben ein, doch ihre Beine fühlten sich immer noch schwer und plump an.
»Danke, ein bisschen besser ist es schon«, sagte sie zu Yakone.
»Ehe wir weiterwandern, müssen wir noch jagen gehen.« Kalliks Magen knurrte unüberhörbar.
Toklo brummte zustimmend. »Bestimmt sind Robben in der Nähe«, meinte er.
»Ja, wir finden sicher bald ein Loch«, warf Yakone ein. »Du kannst das mir und Kallik überlassen.«
Lusa zuckte zusammen. Das waren die falschen Worte für Toklo. Der Braunbär war nicht gern auf jemand anders angewiesen, wenn es um Nahrung oder einen Schlafplatz ging. Lusa warf dem Grizzly einen besorgten Blick zu, weil sie eine spitze Antwort erwartete, doch Toklo sagte nichts. Er sah den Eisbären kurz an, drehte sich dann um und trottete davon. Kallik und Yakone wechselten einen Blick, ehe sie ihm folgten. Lusa bildete die Nachhut, immer noch damit beschäftigt, den Schlaf abzuschütteln und ihre trägen Beine in Schwung zu bringen.
Schon wenige Bärenlängen entfernt wichen die Schneewehen einer Eisfläche, die sich eben und klar vor den Bären erstreckte. In der Ferne lag eine weitere Insel, die Lusa aber nicht genau sehen konnte.
»Da drüben!«, rief Yakone.
Lusa folgte seinem Blick und entdeckte ein dunkles Robbenloch im Eis. Kallik und Yakone waren bereits auf dem Weg dahin.
»Bald haben wir eine Robbe«, versprach Kallik, während sie sich dicht neben Yakone am Rand des Lochs niederließ.
Toklo beobachtete sie, unruhig von einer Tatze auf die andere tretend. »Das kann den ganzen Tag dauern«, brummte er. »Ich schaue mal, ob ich ein anderes Loch finde.«
Lusa trottete hinter ihm her, blickte sich aber immer wieder ängstlich zu Kallik und Yakone um. Bei dem Gedanken, hier in der Fremde ihre Freunde aus den Augen zu verlieren, drehte sich ihr der Magen um, aber sie wollte Toklo auch nicht alleine lassen. Zu ihrer Erleichterung entdeckte Toklo ein weiteres Robbenloch nicht sehr weit entfernt, sodass sie Kallik und Yakone noch sehen konnten. Ächzend ließ er sich am Rande des schwarzen Wassers nieder. Lusa wartete in einigem Abstand und kam sich ziemlich nutzlos vor.
Zu dieser Art von Jagd tauge ich nicht, dachte sie traurig. Und ich kann nicht einmal mit Toklo reden, sonst wird er wütend, weil ich die Robben vertreibe.
Seufzend schob Lusa die Tatzen unter ihren Bauch und ergab sich ins Warten. Wieder wurde sie schläfrig und hatte das Gefühl, langsam in tiefen Schlamm zu sinken. Als sie Kallik rufen hörte, schreckte sie mit klopfendem Herzen auf.
»Hallo, Toklo! Lusa! Yakone hat eine!«
Lusa sah Kallik über das Eis eilen, gefolgt von Yakone, der, etwas langsamer, die Robbe zwischen den Zähnen hinter sich herschleppte.
In diesem Moment kräuselte sich in dem Loch, vor dem Toklo wartete, das Wasser. Es folgte ein Blubbern und Lusa erhaschte einen Blick auf die Nase einer auftauchenden Robbe. Toklo schlug mit der Tatze zu, doch die Robbe tauchte ab, ehe er sie packen konnte.
Toklo stieß ein wütendes Brüllen aus. Er sprang auf und wirbelte zu Kallik herum. »Fast hätte ich sie gehabt! Was soll denn der Lärm?«
Kallik blieb stehen und sah ihn verwirrt an. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Aber du brauchst dich nicht zu ärgern. Yakone hat eine Robbe. Davon werden wir alle satt.«
Toklo fletschte die Zähne. »Man darf keine Beute verschwenden!«, knurrte er.
Lusa stand erschrocken auf, denn in Kalliks Augen blitzte kalte Wut auf. »Bitte streitet euch nicht …«, begann sie. Doch die beiden Bären achteten nicht auf sie.
»Verschwendung wäre es, wenn wir zwei Robben töten würden, obwohl wir nur eine brauchen«, fauchte Kallik.
Toklo öffnete das Maul, um ihr eine zornige Antwort zu geben, wurde aber von Yakone unterbrochen, der ebenfalls eingetroffen war und die Beute vor Kallik fallen ließ. Es war eine große, fette Robbe, die für die vier Bären genug Fleisch bot.
»Bitte schön«, verkündete Yakone. »Dann mal ran an den Speck!« Erst in diesem Moment fiel ihm die Anspannung zwischen Kallik und Toklo auf und er sah unsicher vom einen zum andern. »Stimmt was nicht?«, fragte er.
»Alles in Ordnung«, erwiderte Kallik und blickte Toklo herausfordernd an. Dann kauerte sie sich neben der Robbe aufs Eis und biss einen Happen Fleisch ab. »Toller Fang«, lobte sie Yakone.
Lusa dachte schon, Toklo würde seinen Anteil ausschlagen. Sei nicht dumm, dachte sie und sah ihn flehend an. Ist doch egal, wer die Beute fängt!
»Komm schon, Toklo«, sagte sie laut und nahm ebenfalls einen Bissen. Das Robbenfleisch war ihr zu fett und schmeckte schrecklich. Ihr Magen sehnte sich nach Nüssen und Beeren, aber die vielen Monde der Wanderung hatten sie gelehrt, nicht wählerisch zu sein. Bären mussten fressen, wenn sie Nahrung fanden. Es ist ewig her, seit ich das letzte Mal anständiges Schwarzbärenfutter hatte, dachte sie. Ich habe fast vergessen, wie es schmeckt. »Danke, Yakone«, murmelte sie mit vollem Maul.
Toklo zögerte. Dann trat er zu Lusas Erleichterung näher, beugte sich über die Robbe und riss ein Stück Fleisch heraus. »Ja, danke, Yakone«, grummelte er, als koste ihn jedes Wort Überwindung. »Das ist ein guter Fang.«
Während die vier Bären fraßen, ließ die Anspannung nach.
Aber es ist noch nicht vorbei, dachte Lusa. Toklo muss lernen, mit Yakone auszukommen. Wie sollen wir zusammen wandern, wenn er das nicht schafft? Müssen wir uns dann trennen? Oh, Toklo, zwing mich nicht, mich zwischen dir und Kallik zu entscheiden!

2. KAPITEL
Toklo
Das Robbenfleisch lag Toklo schwer im Magen, als er sich wieder aufrappelte. Beim Anblick Yakones fragte er sich, ob der Eisbär so zufrieden wirkte, weil er so satt war, oder weil er sich etwas auf seinen Jagderfolg einbildete.
Ich hätte auch eine fangen können, wenn Kallik nicht so rumgebrüllt hätte.
»Am besten wandern wir zu der Insel da drüben«, schlug Yakone vor und deutete mit der Schnauze zu der fernen Erhebung am Horizont. »Ich war selber noch nie da, aber zu Hause auf der Sterneninsel haben einige Bären davon erzählt. Vielleicht finden wir dort auch Beute.«
»Prima Idee!«, stimmte Kallik sofort zu. »Lusa tut es sicher gut, wieder mal an Land zu kommen«, fügte sie mit einem mitfühlenden Blick in Richtung der Schwarzbärin hinzu. »Da kann sie vielleicht ein paar Blätter und Wurzeln aus dem Schnee graben.«
Yakone ging los, ohne Toklo auch nur anzusehen. Der Grizzly schluckte ein Knurren hinunter, das schon in seiner Kehle aufstieg. »Ja, nur zu, mich braucht ja keiner zu fragen«, murmelte er und folgte Yakone.
Wie er da so über das Eis trottete, drehte sich Toklo vor Elend und Verbitterung der Magen um. Hier war alles anders. Nichts stimmte. Schnee, Eis und diese endlose weiße Einöde hatte er satt bis oben hin. Er sehnte sich nach Wäldern mit großen Bäumen und dichtem Gebüsch, mit warmer Luft, in der er Beute wittern konnte, nach langen, sonnigen Tagen, ja, sogar nach Wolken und Regen. Alles wäre besser als diese kurzen Tage, in denen die Sonne nur für ein paar Stunden über den Horizont lugte.
Und statt Ujurak haben wir nun diesen Eisbären bei uns.
Toklo hatte es nie etwas ausgemacht, sich von Ujurak führen zu lassen. Von Anfang an war ihm klar gewesen, dass der kleine Braunbär manches besser wusste als er, vor allem, was die Richtung ihrer Wanderung anging. Er hatte zwar gegen die eine oder andere Entscheidung Ujuraks Einspruch erhoben, aber sein Freund hatte sich nie geirrt. Doch dann wurde Ujurak am Ende ihrer Reise von einer Lawine getötet. Hatte Ujurak sein Schicksal etwa die ganze Zeit gekannt? Hatte er gewusst, dass am Ziel ihrer Reise der Tod auf ihn wartete?
Jedes Haar in Toklos Pelz, jeder Muskel in seinem Körper stöhnte vor Schmerz, weil Ujurak sie verlassen hatte. Er versuchte sich einzureden, dass Ujurak eigentlich gar nicht tot, sondern nur in seine Geburtshöhle bei den Sternen zurückgekehrt war. Aber das half nicht.
Wir sind so weit zusammen gewandert! Habe ich ihn wirklich hergebracht, damit er in den Himmel aufsteigen und Teil eines Sternbilds werden kann? War er vielleicht gar kein echter Braunbär gewesen?
Toklo war noch nie so einsam gewesen, nicht einmal, als seine Mutter Oka ihn verjagt hatte und er lernen musste, allein im Wald zu überleben. Damals hatte er nicht gewusst, wie es war, einen Freund zu haben – nur einen Bruder, der gestorben war, und eine Mutter, die seinen Anblick nicht ertragen konnte.
Am Abend zuvor hatte er am Himmel zwischen den Sternen die leuchtende Gestalt gesehen, die Ujurak war, doch das hatte ihn auch nicht getröstet. Der Anblick hatte ihm nur noch stärker ins Bewusstsein gerückt, wie weit Ujurak weg war: viele Himmelslängen weit, weiter, als ein Bär wandern konnte.
Ich würde alles darum geben, zu den Sternen zu gelangen und Ujurak zurückzuholen.
Nacht für Nacht konnte Toklo seinen Freund am Himmel sehen, doch nie wieder würde er mit ihm jagen, mit ihm reden. Nie wieder würde er neben Ujurak hertrotten, mit ihm raufen und über den Boden kullern, das Leuchten in seinen Augen sehen, wenn Toklo eine dicke Gans oder einen saftigen Hasen anbrachte.
Es wird nie wieder sein wie früher.
Die Bären wanderten weiter durch das graue Halblicht des Schneehimmels, doch die dunkle Erhebung am Horizont schien nicht näher zu kommen. Schnee fiel vom Himmel, erst wenige feine Flocken, dann immer dickere, bis die Insel vor ihnen völlig im Schneetreiben verschwand. Toklo, der hinter den anderen Bären herstapfte, verlor sich in einem Tagtraum. Er meinte, vor sich Ujurak zu sehen, eine kleine braune Gestalt, die sich mühelos durch den Schneesturm bewegte. Obwohl Toklo seine Schritte beschleunigte, war Ujurak immer so weit vor ihm, dass er ihn nicht erreichte. Schließlich verlor Toklo ihn in den wirbelnden weißen Flocken aus den Augen. Als der Schneefall nachließ und er wieder weiter sehen konnte, suchte er mit klopfendem Herzen nach der kleinen braunen Gestalt, nach Tatzenspuren im frischen Schnee, die ihm den Weg wiesen. Doch Ujurak war nicht da. Er war nie da gewesen.
Ich habe mir das nur eingebildet. Weil ich ihn unbedingt wiedersehen wollte.
Es hörte auf zu schneien, und der Himmel klarte auf, während sich der kurze Tag dem Ende zuneigte. Die Insel war nun deutlich näher gerückt und felsige Berge erhoben sich dunkel über dem Eis. Im dichten Schneetreiben waren die Bären von ihrer Route abgekommen. Als sie nun wieder direkt Kurs nahmen, spürte Toklo, dass seine Tatzen eiskalt waren und dicke Schneeklumpen in seinem Fell klebten. Seine Muskeln schmerzten vor Erschöpfung. Weil er mit aller Macht versucht hatte, Ujurak zu folgen, hatte er gar nicht bemerkt, wie anstrengend es gewesen war, sich durch den Schneesturm zu kämpfen.
»Können wir eine kleine Pause einlegen?«, wimmerte Lusa.
»Wir können genauso gut hier übernachten«, erwiderte Toklo, ehe Yakone antworten konnte. »Die Insel würden wir sowieso erst in der Dunkelheit erreichen.« Er machte sich auf Widerspruch gefasst, doch Yakone nickte nur.
»Hier kann man allerdings nirgends eine Höhle graben«, gab Kallik zu bedenken. »Aber du hast recht, Toklo. Die Insel ist so weit weg, dass wir da auch keinen Schutz mehr finden würden. Komm, Lusa, du kannst dich neben mich legen. Aber pass auf, dass du nicht wieder in den langen Schlaf fällst.«
Kallik und Yakone legten sich Seite an Seite aufs Eis und Lusa rollte sich neben ihnen zusammen. Nach kurzem Zögern gesellte sich Toklo zu ihnen, überprüfte die Windrichtung und legte sich so hin, dass er der kleinen Schwarzbärin Schutz bot. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu und drückte ihm die Schnauze ins Fell. Die kleine Geste der Zuneigung tröstete Toklo, doch dann fiel sein Blick auf Yakone und schon war die Eifersucht wieder da.
Auf der Insel gibt es vielleicht Hasen oder Hirsche, dachte er. Dann zeige ich dem Eisbären mal, wie man jagt!
Trotz der Kälte schlief Toklo rasch ein, aber Kalliks Stimme schreckte ihn wieder auf. »Seht mal!«
Toklo hob den Kopf, blickte sich müde um und befürchtete schon fast, dass ein Feind in der Nähe war – ein Eisbär oder ein ausgewachsenes Walross. Da sah er, dass Kallik in den Himmel schaute. Über der Insel zogen schwache Farbstreifen über das dunkle Firmament, golden, eisblau und grün wie die Bäume des Waldes. Mit einem aufgeregten Quieken rappelte sich Lusa auf.
»Die Geister sind hier!«
Unter den Blicken der Bären wurden die Farben kräftiger und verwandelten sich in leuchtende Flüsse, die über den Himmel strömten, heller noch als die glitzernden Sterne. Das Licht bauschte sich zu riesigen Wolken auf und färbte das Fell der Bären: grün, blau, golden, rot und dann wieder grün.
»Die Iqniq.« Yakones Stimme klang verhalten und ehrfürchtig. »Und wir dachten, sie hätten uns für immer verlassen.«
»So etwas Schönes …« Kallik legte den Kopf an Yakones Schulter. »Nisa ist da oben, daran glaube ich fest. Meine Mutter wacht über mich und sie tanzt über den Himmel, das Fell voller Farben.«
»Arcturus!«, sagte Lusa glücklich, als ob sie einen alten Freund begrüßte. Sie hatte den Kopf erhoben und das Maul geöffnet, als wollte sie das Himmelsfeuer wie Wasser trinken.
Toklo hatte das Gefühl, die Geister stürzten hinab aufs Eis, wirbelten um ihn herum, tanzten mit ihm und fegten dann wieder hinauf in den Himmel. Bist du hier, Ujurak? Wenn ja, zeige dich mir, bitte! Aber er erhielt keine Antwort, um ihn herum war nur das leuchtende Feuer. Toklo wusste nicht, wie lange er dastand, während sich die Lichtströme über den Himmel ergossen. Den Blick fest auf das Firmament gerichtet, hielt er Ausschau nach der Gestalt eines kleinen Bären, bis ihm die Augen brannten. Schließlich verblassten die Farben und der Himmel wurde wieder dunkel. Seufzend ließ sich Toklo aufs Eis sinken und kuschelte sich an seine Reisegefährten. Der Schlaf überwältigte ihn wie eine wogende schwarze Welle.
Toklo stand vor einem schmalen Gang zwischen dunklen Klippen, die so steil waren, dass fast kein Schnee daran haften blieb. Über ihm kreisten Möwen und stießen ihre heiseren Schreie aus, doch sonst regte sich nichts.
Als sie sich am Morgen auf den Weg gemacht hatten über das zugefrorene Meer, das sie von der Insel trennte, hatte Toklo die Führung übernommen. Nun erhoben sich vor ihnen die schwarzen Klippen der Insel, die sie unmöglich erklimmen konnten. Sie mussten der Schlucht folgen, obwohl es Toklo ganz und gar nicht gefiel, zu beiden Seiten von Felswänden eingeschlossen zu sein. Sie erinnerten ihn an die Schlucht, in der Ujurak von der Lawine getötet worden war. Was, wenn hier auch eine Lawine niederging? Musste er dann zusehen, wie seine Freunde unter den Schneemassen begraben wurden?
»Komm schon!«, drängte Lusa von hinten. »Worauf warten wir?«
»Wir müssen sicher sein, dass da keine Gefahren auf uns lauern«, gab Toklo zurück. »Bleibt hier.«
Als er in den Gang hineintrottete, kratzten seine Krallen auf dem Eis. Wenn Ujurak noch bei ihnen gewesen wäre, hätte er seinen Freund gebeten, sich in einen Vogel zu verwandeln und die Gegend aus der Luft auszukundschaften. Dass Ujurak die Gestalt von Vögeln und anderen Tieren annehmen konnte, manchmal bewusst, manchmal auch versehentlich, hatte Toklo anfangs fast um den Verstand gebracht, doch mit der Zeit hatten sich die Bären daran gewöhnt. Bei Gelegenheiten wie diesen, wenn eine Möwe viel weiter sehen konnte als ein Bär, vermisste Toklo Ujurak besonders schmerzlich.
Hast du Wolkenflaum im Hirn?, schalt er sich selbst. Wir müssen jetzt ohne Ujurak zurechtkommen.
Da nichts zu hören war, bedeutete er den anderen mit einem Nicken, ihm zu folgen. Zunächst war das Eis glatt, ein schmaler Meeresarm zwischen den Felsen. Bald wurde der Gang immer schmaler, bis Toklo mit dem Fell rechts und links an der Felswand entlangstreifte. Vor ihm erhob sich eine Woge aus Eis, die sich über die zerklüfteten Felsen erstreckte, ein Wasserfall, der mitten in der Bewegung erstarrt war. Es gab keinen anderen Weg aus der Schlucht.
»Folgt mir!«, rief Toklo. »Und um der Geister willen, achtet auf eure Tatzen!«
Er schlug die Krallen ins Eis und zog sich nach oben. Wenn die Sonne zurückkehrt, verwandelt sich das Eis in einen Fluss, dachte er und stellte sich vor, er müsste gegen die Kraft des strömenden Wassers anklettern. Das würden wir nie schaffen.
Am Ende des Wasserfalls angekommen, zog er sich, ächzend vor Anstrengung, auf die Klippe und beugte sich dann über den Rand, um Lusa hochzuhelfen. Er versenkte die Zähne in ihrem Nacken und zog sie nach oben.
»Danke, Toklo«, keuchte Lusa und sank neben ihn.
Während sie auf Kallik und Yakone warteten, blickte Toklo hinaus über das flache, öde Plateau. Gefrorene Bäche, die bei wärmerem Wetter Furchen in den Boden gegraben hatten, durchzogen die Ebene wie schmale Adern. An den Ufern wuchsen ein paar struppige, vom Wind niedergedrückte Büsche und in der Ferne erhob sich ein Höhenrücken. Von Tieren, die sie hätten jagen können, gab es keine Spur, und er konnte auch nichts wittern.
»Wir müssen über die Berge da drüben«, erklärte Yakone, kaum dass er oben angekommen war. »Die Bären, die schon hier waren, haben berichtet, dass auf der anderen Seite ein sanfter Abstieg zum Meer führt.«
Toklo brummte. Dann entdeckte er in einiger Entfernung eine Ansammlung von Flachgesichterhöhlen. Er erstarrte. »Du hast nicht gesagt, dass es hier Flachgesichter gibt.« Er drehte sich zu Yakone um und blickte ihn vorwurfsvoll an.
Was nützt er uns, wenn er so wichtige Sachen verschweigt?
»Das wusste ich nicht«, verteidigte sich Yakone. »Die anderen Bären haben nichts davon erzählt.«
»Vielleicht sind die Flachgesichter noch nicht lange hier«, versuchte Kallik ihrem Freund zu helfen. »Aber wir können ihnen ja auch leicht aus dem Weg gehen.«
Lusa hatte etwas Schnee von den Felsen gekratzt und schnupperte an den Flechten, die darunter wuchsen. Sie probierte eine und wandte sich angewidert ab. »Viel gibt es hier nicht«, stellte sie fest. »Und Beutetiere sehe ich auch keine. Ich glaube, wir gehen besser los und schauen uns die Flachgesichterhöhlen einmal genauer an. Vielleicht finden wir da etwas zu fressen.«
»Krallenlosenfraß?«, fragte Yakone überrascht. »Ich dachte, ihr seid wilde Bären.«
»Sind wir auch«, knurrte Toklo. »Je weniger wir von den Flachgesichtern sehen, desto besser.«
Zu seinem Ärger wandte sich Lusa zu ihm um und widersprach ihm. »Hin und wieder warst auch du schon froh über Flachgesichterfutter, Toklo.«
Ehe Toklo etwas sagen konnte, erwiderte Yakone: »Aber auf der Sterneninsel hast du uns davor gewarnt, zu fressen, was die Krallenlosen wegwerfen. Du hast gesagt, wir würden vergessen, wie es ist, als wilder Bär selbst Beute zu machen.«
»Ich weiß.« Lusa kratzte verlegen mit einer Tatze im Schnee. »Aber das war etwas anderes. Da gab es nicht genug Flachgesichterfutter für euch alle. Und außerdem waren Beutetiere da, die ihr jagen konntet. Aber wenn man unterwegs ist, muss man fressen, was man kriegt.«
»Lusa hat recht.« Toklo schlug sich auf Lusas Seite, nur damit er Yakone widersprechen konnte. »Ich glaube, wir sollten uns die Flachgesichterhöhlen ansehen. Aber wir warten, bis es dunkel ist.«
»Keine Sorge«, beruhigte Kallik Yakone. »Wir haben das früher auch schon gemacht.«
Obwohl in Yakones Augen deutliche Zweifel standen, widersprach er nicht.
Im Schutz der Dunkelheit führte Toklo seine Gefährten über das Plateau zu den Flachgesichterhöhlen. Sie standen in Reihen an schmalen Schwarzpfaden. Ein breiterer Schwarzpfad führte auf der anderen Seite aus der Siedlung hinaus. Vor den Höhlen kauerten mehrere Feuerbiester.
»Ich glaube, sie schlafen«, murmelte Lusa, die sich neben Toklo hinter einen Felsen duckte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie uns nicht gesehen haben.«
Toklo nickte. Nun, da sie sich zum Beutezug entschlossen hatten, kribbelte es ihn vor Aufregung von den Ohren bis zu den Tatzen. Das ist immerhin besser, als über nackte Felsen zu wandern und nach Beute zu suchen, die nicht da ist!
Hier und da glühten die Löcher in den Höhlenwänden golden und warfen lange Lichtkegel ins Freie. Aus der Höhle, die ihnen am nächsten war, hörte Toklo ein hohes blechernes Geräusch. Doch Flachgesichterstimmen oder -schritte waren nicht zu hören. Toklo erhob sich, duckte sich aber gleich wieder hinter den Fels, als ein Eingang sich öffnete. Aus einer der Höhlen tauchten zwei männliche Flachgesichter auf und kletterten in das nächste Feuerbiest. Es erwachte mit einem kehligen Knurren zum Leben und entfernte sich mit hell leuchtenden Augen auf seinen runden schwarzen Pfoten.
»Das war knapp«, keuchte Toklo, der die prickelnde Gefahr genoss.
»Die Krallenlosen da hatten dieselben grünen Pelze an wie die auf der Sterneninsel«, bemerkte Kallik, die um den Felsen spähte und dem Feuerbiest hinterherblickte. »Warum sehen die alle gleich aus?«
»Was soll’s?«, brummte Toklo. »Jetzt sind sie weg. Kommt mit.«
Er trottete über die freie Fläche zwischen dem Fels und den ersten Höhlen. Lusa ging neben ihm, Kallik und Yakone eine Bärenlänge dahinter. Er spürte Yakones Anspannung.
»Gut«, brummte er zufrieden. »Der wird heute etwas lernen.«
»Wir müssen zur Rückseite der Höhlen«, flüsterte Lusa Toklo ins Ohr. »Da haben die Flachgesichter immer das Futter stehen.«
Toklo nickte. »Weiß ich doch.«
Sich vorsichtig nach allen Seiten umschauend, führte er seine Gefährten über einen Schwarzpfad und durch einen engen Gang zwischen zwei Höhlen. Als sie auf der anderen Seite herauskamen, entdeckte er neben der Höhlentür drei große glitzernde Behälter. Lusa hüpfte vor Aufregung. »Da!«
Bei dem Geruch von Flachgesichterfutter, der in der Luft hing, lief Toklo das Wasser im Maul zusammen. Sein Magen knurrte, als er stehen blieb und lauschte. Die Höhlen zu beiden Seiten lagen dunkel und still da. »Also gut«, flüsterte er Yakone zu, »wir müssen jetzt sehr leise sein. Wenn wir in der Eile die Behälter umwerfen, entdecken uns die Flachgesichter. Folge mir und sieh genau zu, was ich mache.«
Vorsichtig eine Tatze vor die andere setzend, schlich Toklo die Behälter an wie ein Beutetier. Dann stemmte er sich gegen den ersten, bis er kippte. Kallik war schon zur Stelle, um ihn aufzufangen, und gemeinsam ließen sie ihn vorsichtig zu Boden sinken. Lusa setzte die Tatze auf den Deckel, damit er nicht herunterfiel, ehe der Behälter am Boden lag.
»Das habt ihr wohl schon öfter gemacht«, murmelte Yakone anerkennend.
Stolz erfüllte Toklos Brust. »Schauen wir mal, was drin ist. Yakone, du passt auf und warnst uns, wenn Flachgesichter auftauchen.«
»Toklo, lass mich …«, begann Lusa, doch Toklo achtete gar nicht auf sie.
Das ist meine Beute!
Er stieß Kopf und Schultern in den Behälter und tastete sich mit der Nase vor. Da er mit dem Körper das nachlassende Tageslicht abschirmte, konnte er nichts sehen, doch der Fleischgeruch war sehr stark. Als er mit der Nasenspitze gegen etwas Glattes stieß, versenkte er die Zähne in einen Knochen.
Großartig! Schauen wir mal, was wir da haben.
Doch als sich Toklo aus dem Behälter zurückziehen wollte, klemmte er fest. Er scharrte mit den Vordertatzen und dabei fiel ihm stinkendes Faulfutter auf den Kopf. Er spürte, wie etwas Klebriges in sein Fell sickerte. Der Gestank war widerlich und er konnte kaum noch atmen.
Von außen hörte er Yakone sagen: »Ich glaube, er steckt fest.«
Toklo presste die Tatzen auf den Boden und stemmte sich gegen das Faulfutter, doch diese Bemühungen beförderten ihn nur noch tiefer in den Behälter. Er kämpfte gegen die aufsteigende Panik an.
Ich bin in diesem Ding gefangen! Was, wenn mich die Flachgesichter nun finden?
»Toklo, halt still.« Das war Kalliks Stimme. »Yakone und ich versuchen, den Behälter wegzuziehen.«
Toklo stellte seine Gegenwehr ein. Kallik tat das Richtige, das wusste er, doch bei dem Gedanken, von Yakone gerettet zu werden, durchströmte ihn ein Gefühl von Erniedrigung. Dabei war er doch so stolz gewesen, dem Eisbären etwas Neues beizubringen. Von außen hörte er ein Kratzen und dann rutschte der Behälter plötzlich nach oben weg. Zwischen den Zähnen hielt Toklo immer noch den fleischigen Knochen, den er nun fallen ließ, um tief Luft zu holen. In seinem Fell hingen Faulfutterreste, und als er aufstand und sich schüttelte, flog das eklige Zeug nur so durch die Luft.
Lusa sprang ein paar Schritte zurück. »Igitt!«, rief sie.
Toklo atmete noch einmal tief ein. Am liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen, doch mitten in der Flachgesichtersiedlung war das wohl kaum möglich. »Danke«, grummelte er in Richtung der beiden Eisbären.
»Gern geschehen.« Yakone schnupperte an dem Knochen, den Toklo hatte fallen lassen. »Sieht ja so aus, als hättest du etwas gefunden.«
Dicke Fleischfetzen hingen an dem Knochen. Toklo lief wieder das Wasser im Maul zusammen, doch er machte einen Schritt zurück und bedeutete den Eisbären zu fressen.
»Wenn du meinst …«, murmelte Kallik. »Danke, Toklo.«
Währenddessen schnupperte Lusa in dem Behälter herum. »He!«, brummte sie erfreut. »Da sind auch Kartoffelstäbchen! Und Obst!«
»Das frisst besser du, Lusa«, sagte Toklo. »Ist noch Fleisch drin?«
»Warte mal.« Lusa verschwand in dem Behälter und Toklo hörte sie wühlen. Dann kroch sie rückwärts wieder heraus. »Hier. Fleisch.«
Sie ließ einen weißen Beutel vor Toklos Tatzen fallen. Das Fleisch darin sah aus, als wäre es in lauter kleine Stückchen gekaut worden, und etwas Zähes, Weißes hielt die Fetzen zusammen. Toklo steckte die Nase in den Beutel und schlang das Fleisch samt dem weißen Zeug hinunter.
»Toll, Lusa«, murmelte er mit vollem Maul. »Danke.«
Yakone sah von dem Knochen auf. »Lusa, das ist echt ein toller Trick«, erklärte er. »Und du hast wohl überhaupt keine Angst vor den Krallenlosen?«
Lusa senkte verlegen den Kopf. »Die meisten Flachgesichter sind in Ordnung. Sie kennen sich nur nicht mit Bären aus.«
»Da hat Lusa recht.« Toklo schluckte den letzten Bissen Fleisch hinunter. »Sie wollen uns eben nicht in der Nähe ihrer Höhlen haben. Deshalb müssen wir auch schnellstens hier weg.«
Er sah sich kurz nach Feuerbiestern um und machte sich dann auf den Rückweg, gefolgt von den anderen. Nun, da er wieder vorneweg ging, fühlte sich Toklo wohler. Die Schande, festgesteckt zu haben, hatte er allerdings noch nicht vergessen.
Und es wird ewig dauern, bis ich diesen Gestank aus dem Fell habe!

3. KAPITEL
Kallik
Kallik folgte Toklo aus der Siedlung. Sie unterdrückte ein missmutiges Brummen. Immer muss er alles bestimmen, dauernd muss er die Führung an sich reißen. Ist denn das wirklich so wichtig?
Toklo war schon so unleidlich, seit sie die Sterneninsel verlassen hatten. Kallik wusste natürlich, dass er um Ujurak trauerte, und sie bemühte sich, Verständnis für ihn zu haben.
Aber wir alle haben Ujurak verloren. Wir sind alle traurig. Es geht doch nicht immer nur um Toklo.
Während sie hinter Toklo auf die fernen Berge zustapfte, rief sich Kallik die guten Dinge in Erinnerung. Sie hatten auf der Sterneninsel mit so vielen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt: die vergifteten Robben, von denen die Eisbären krank wurden, und die Ölplattform, die die Wildnis in Gefahr brachte und die Verbindung mit den Geistern der Ahnen gefährdete.
Das haben wir alles in Ordnung gebracht! Das war eine tolle Leistung. Und jetzt können wir nach Hause gehen.
Kalliks Gedanken wanderten zum gefrorenen Meer, wo sie und ihr Bruder Taqqiq als Bärenjunge so sorglos miteinander gespielt hatten. Ihre Mutter Nisa war schon lange tot, doch Taqqiq lebte noch, zumindest war Kallik fest davon überzeugt. Hoffnung stieg in ihr auf. Vielleicht ist Taqqiq dorthin zurückgekehrt? Vielleicht sehe ich ihn wieder?
Kallik blickte Yakone, der unbeschwert neben ihr hertrottete, von der Seite an. »Habe ich dir schon mal von meinem Bruder erzählt?«, fragte sie.
Yakone schüttelte den Kopf. Kallik erkannte echtes Interesse in seinen dunklen Augen und freute sich darüber.
»Ich habe ihn verloren, als unsere Mutter starb …«, begann sie und erzählte ihm die ganze Geschichte, wie sie und Taqqiq auf dem Eis getrennt worden waren und sie ihn schließlich wiedergefunden hatte, am Großen Bärensee, wo alle Bären sich versammelten, um den längsten Tag des Feuerhimmels zu feiern. Aber als sich Taqqiq entschloss, doch nicht mit auf Ujuraks Reise zu gehen, hatte sie ihn wieder verloren.
»Am See trieb er sich mit ziemlich üblen Bären herum«, vertraute Kallik Yakone an. »Sie haben anderen das Fressen gestohlen. Einmal haben sie sogar ein Schwarzbärenjunges entführt und wollten die anderen Schwarzbären zwingen, ihnen ihre Nahrung zu überlassen!«
»Das war bestimmt schwer für dich«, meinte Yakone mitfühlend. »Immerhin ist er doch dein Bruder!«
»Das war wirklich schwer«, bestätigte Kallik. »Er war so anders als der Taqqiq, den ich als Eisbärenjunges gekannt hatte. Ich glaube, ihm war klar, dass das Verhalten seiner Freunde falsch war, und er machte sich wegen ihnen eine Menge Feinde. Ich hoffe nur, er hat den Weg zum gefrorenen Meer gefunden.« Freude stieg in ihr auf. »Irgendwann gehe ich nach Hause, Yakone, und ich hoffe, Taqqiq ist dort!«
Die Wanderung über die Insel schien kein Ende zu nehmen. Die Kälte war für Kallik kein Problem, aber der beißende Wind, der ihr Eiskristalle ins Gesicht fegte, und der harte Fels unter den Tatzen machten ihr zu schaffen. Es gab auch kaum Beute. Toklo gelang es zwar, einen Hasen zu fangen, doch der war dünn und zäh und reichte kaum für einen Bären, geschweige denn für vier. Wenn sie sich an Seemöwen oder Schneegänse anschlichen, stob die ganze Schar in die Luft, ehe sie nah genug an sie herangekommen waren. Mit einem Kreischen, das für Kallik wie der reine Spott klang, flatterten ihnen die Vögel davon.
Als sie die Hügelkette erreichten, suchten sie nach einem Weg zur anderen Seite. In jener Nacht schliefen sie dicht zusammengedrängt im Schutz eines überhängenden Felsens und im grauen Licht der Morgendämmerung kletterten sie schließlich auf den Kamm.