Cover

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Die Suche beginnt (Band 1)
Am Großen Bärensee (Band 2)
Auf dem Rauchberg (Band 3)
Die Letzte Große Wildnis (Band 4)
Feuer im Himmel (Band 5)
Sternengeister (Band 6)
Insel der Schatten (Band 7)
Das Schmelzende Meer (Band 8)
Der Fluss der Bärengeister (Band 9)
Alle Abenteuer auch als Hörbücher (bis Band 7)
und Printausgaben bei Beltz & Gelberg

www.seekers-die-bären.de
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Über den Autor
Hinter dem Namen Erin Hunter verbergen sich gleich mehrere Autorinnen: Während Victoria Holmes meistens die Ideen für die Geschichten hat und das gesamte Geschehen im Auge behält, bringen Cherith Baldry, Kate Cary und Tui Sutherland die Abenteuer der Bären zu Papier.
Ebenfalls aus der Feder dieses erfolgreichen Autorinnenteams stammt die Katzenfantasy-Reihe WARRIOR CATS.
Die Abenteuer der SURVIVOR DOGS schreiben Gillian Philip und Inbali Iserless.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-81204-9)
www.beltz.de
© 2015 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstr. 10, 69469 Weinheim
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2013 Working Partners Limited
Die Originalausgabe erschien 2013 unter
dem Titel Seekers, River of Lost Bears
bei HarperCollins Children’s Books, New York
Aus dem Englischen von Anne Emmert
Lektorat: Ina Brandt
Umschlaggestaltung/Artwork: © Johannes Wiebel, punchdesign, München
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74565-1
Besonderer Dank an Tui Sutherland
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1. KAPITEL
Luca
Lusa träumte, ein leichter Windhauch streiche durch die Baumwipfel. Sie streckte sich, und als sie die warme, weiche Erde unter den Tatzen spürte, überkam sie ein tiefes Glücksgefühl. Endlich war sie wieder im Wald. Die Sonne fiel durch die Zweige auf ihren schwarzen Pelz. Über ihr zankten sich zwei Vögel so heftig, dass Blätter von den Ästen fielen und im Sonnenlicht durch die Luft tanzten. Lusa hob ausgelassen die Vordertatzen und schlug nach ihnen.
»Lusa?«
Das war Toklo.
»Lusa!«
»Zisch ab.« Lusa vergrub die Nase zwischen den Pfoten. »Ich will noch ein bisschen schlafen.« Nein, sie wollte nicht in der kalten Einöde des Schmelzenden Meers aufwachen. Schon der bloße Gedanke, weiterzuwandern über das raue Eis, das ihr die Tatzen aufscheuerte, war ihr zuwider. Sie wollte nicht gegen den beißenden Wind ankämpfen, der ihr die Ohren steif fror und ihr wie Kiefernnadeln in den Pelz stach. Und nicht schon wieder dieser fette Robbenspeck!
»Lass mich in Ruhe«, murmelte sie und wünschte, sie könnte ihren Traum vom warmen Wald weiterträumen.
»Wach auf, du Schlafmütze.«
Eine Tatze stieß sie in die Rippen. Lusa öffnete blinzelnd die Augen.
Über ihr stand Toklo. Sein breites, braunes Gesicht blickte auf sie hinab und seine Augen funkelten. »Wir müssen weiter.«
Lusa seufzte. »Ich komme.« Sie konnte ihre Freunde ja nicht draußen warten lassen, während sie in ihrem warmen Unterschlupf weiterschlief. Sie rappelte sich auf und wappnete sich innerlich für die Kälte.
Zweige strichen ihr über den Rücken. Warum schlafe ich unter einem Busch?
Sie schaute sich genauer um. So weit das Auge reichte, sah sie nichts als schlanke, dunkelbraune Stämme.
Bäume!
Sie hatte völlig vergessen, dass sie im Wald angekommen waren! Erleichtert schüttelte sie ihren noch etwas benommenen Kopf. Natürlich! Schon vor einem Viertelmond hatten sie der Küste des Schmelzenden Meers den Rücken gekehrt und waren landeinwärts gewandert. Davor waren sie so lange auf dem Eis gewesen, dass sich die Erinnerung an die beißende Kälte und das grelle Sonnenlicht hartnäckig in Lusa festgesetzt hatte.
»Wir sehen uns am Fluss.« Toklo stapfte durch das Dickicht davon.
Lusa hob die Schnauze und atmete den Duft der Nadelbäume ein. Sie wollte ihre Wanderung durch die Schneewüste auch gar nicht vergessen, wo sie doch so lange ihr Ziel gewesen war. Viele Monde waren Lusa, Toklo und Kallik unter der Führung des rätselhaften Braunbären Ujurak durch den Schnee gewandert, bis sie das Ewige Eis erreicht hatten, wo das Meer niemals schmolz. Nachdem Ujurak sie verlassen hatte, war der Eisbär Yakone zu ihnen gestoßen. Zuerst waren sie zu Kalliks Geburtsort gewandert, dem Schmelzenden Meer. Dort hatten sie gemeinsam mit Kalliks Bruder Taqqiq eine Horde bösartiger Bären verjagt, die die Eisbärin Shila und ihre Familie schikaniert hatten. Taqqiq hatte sich für Shila entschieden, zu ihr gehörte er nun. Yakone aber war treu an Kalliks Seite geblieben, als sie darauf bestanden hatte, Toklo und Lusa zu begleiten, bis auch sie ihr Zuhause gefunden hatten. Dass ein zweiter Eisbär mitkam, hatte es Kallik bestimmt leichter gemacht, ihren Bruder zurückzulassen.
Lusa schauderte. Warum nur hatte Taqqiq das Eis auf keinen Fall verlassen wollen? Es war so kalt da. Nachdem sie den weiten Weg vom Eis an die Küste geschwommen waren, hatte Lusa ewig gebraucht, um wieder warm zu werden. Mit jedem Schritt, bei dem der Duft nach Rinde und Kiefernnadeln stärker wurde, hatte ihr Herz schneller geschlagen. Als sie endlich den Wald erreicht hatten, war sie losgerast, überglücklich, wieder die wunderbare Erde unter ihren Tatzen zu spüren.
Ein Wassertropfen fiel Lusa auf die Nase. Sie blickte nach oben und sah durch die Zweige der riesigen Kiefern den blauen Himmel. Auf den obersten Ästen der Bäume lag noch Schnee, der aber nach und nach verschwand. Die Schneeschmelze vertrieb die letzten unwirtlichen Tage der Kalterde. Lusa verließ den Unterschlupf und trottete zwischen den Bäumen durch. Am Waldrand zwängte sie sich durch dichtes Gebüsch, und als sie ins Freie kam, kniff sie im grellen Licht unwillkürlich die Augen zusammen. Vor ihr toste ein Fluss, breit wie der Himmel und weiß vor Schaum.
»Toklo!«
Der Grizzly stand am Ufer und sah ins Wasser. Die Gischt spritzte bis zu seiner Schnauze, doch er rührte sich nicht.
»Toklo!«, rief Lusa noch einmal, aber ihr Freund schien tief in Gedanken versunken zu sein.
Lusa ging vorsichtig um die letzten Schneeflecken herum, bis sie bei ihm war.
»Suchst du nach Bärengeistern?«, flüsterte sie. Dem Glauben der Braunbären nach wanderte die Seele nach dem Tod in den Fluss und schwamm mit den Lachsen ins Meer hinaus.
Toklo nickte. »Es ist gut, sie wieder in der Nähe zu wissen.«
Lusa spähte das Ufer entlang. »Wo sind denn Kallik und Yakone?« Was die beiden Eisbären wohl von den Bäumen und dem weiß schäumenden Wasser hielten? Ob sie es schon bereuten, dass sie das Eis, ihre vertraute Heimat, verlassen hatten, um Lusa und Toklo nach Hause zu begleiten?
»Sie sind jagen gegangen.« Toklo spitzte die Ohren.
Lusa musterte ein wenig ängstlich den breiten, sprudelnden Fluss. Sie waren ihm gefolgt, seit sie das Schmelzende Meer verlassen hatten. Bei Nacht hatten sie in den Wäldern Schutz gesucht, bei Tag im flacheren Wasser Fische gejagt.
»Führt uns der große Fluss dorthin, wo du geboren wurdest?«, fragte Lusa.
Es folgte ein kurzes Schweigen, dann antwortete Toklo leise: »Ich hoffe es, denn mit meiner Mutter bin ich an einem Fluss gewesen, der genauso roch wie dieser hier.« Er verstummte. Lusa wusste, wie traurig seine Kindheit gewesen war. Toklo schüttelte sich und richtete sich auf. »Tief in mir zieht mich irgendetwas zur untergehenden Sonne«, brummte er. »Das Geräusch des Flusses, der Duft der Bäume, alles sagt mir, dass wir auf dem richtigen Weg sind.«
»Aber wir könnten auch hierbleiben, oder?«, fragte Lusa. »Hier gibt es alles, was wir brauchen, und wir sind trotzdem noch ziemlich nah am Schmelzenden Meer. Kallik und Yakone hätten es nicht weit zu den anderen Eisbären und wir könnten hier im Wald leben.« Beim Anblick des Waldes, der auf der anderen Seite des Flusses weiterging, kribbelte es Lusa in den Tatzen. Sie hatte noch keinen Baum erklommen und eigentlich waren die Stämme hier zu dick für sie.Aber die raue Rinde schrie geradezu danach, die Krallen in sie hineinzuschlagen. »Wäre es nicht herrlich, für immer an einem Ort zu bleiben, statt ständig unterwegs zu sein?«
Toklo sah sie verständnislos an. »Aber ich bin hier noch nicht zu Hause.«
Nicht weit von ihnen war ein lautes Klatschen zu hören. Kurz darauf hievte sich Kallik auf einen großen Felsbrocken, tropfnass, einen zappelnden Fisch zwischen den Zähnen. Yakone zog sich neben ihr auf den Stein.
»Seht mal!« Kallik schleuderte ihnen den Fisch hinüber. Er landete direkt vor Toklos Tatzen. »Endlich habe auch ich einen gefangen!« Kallik hatte im Fluss zu fischen versucht, seit sie das Schmelzende Meer verlassen hatten. Sie hatte es ja schon vor Monden gelernt, aber weil ihr die Übung fehlte, hatte sie nie Glück gehabt. »Ich habe es genauso gemacht, wie du es mir beigebracht hast, Toklo.«
Toklo schnupperte an ihrer Beute. »Das ist ein guter Fang, Kallik.«
»Ich finde die Jagdmethode bescheuert.« Yakone schüttelte sich verdrießlich das Wasser aus dem Pelz. »Wie soll man denn einen Fisch aus dem Wasser ziehen, der so schnell unterwegs ist?«
»Das ist eigentlich nicht besonders schwer«, erwiderte Toklo. »Wenn man weiß, wie es geht, ist es sogar recht einfach.« Er klang ein wenig herablassend, und Lusa musste daran denken, wie schwer es Toklo gefallen war, die notwendige Geduld für das Fischen auf dem Eis aufzubringen. Er war eben lieber Lehrer als Schüler.
Der Wind strich leise raschelnd durch das Farngebüsch, das den Waldrand säumte. Yakone drehte sich um und fletschte die Zähne. »Was ist das denn?«
»Das ist nur der Wind«, beruhigte ihn Lusa. Yakone war schon so schreckhaft, seit sie das Eis verlassen hatten. Die fremde Welt der Bäume, der Sträucher und des fließenden Wassers verunsicherte ihn. So oft es ging, stellte er sich ans Flussufer und sah hinauf in den Himmel, als müsste er prüfen, ob er noch da war.
Kallik rutschte vom Felsen, Yakone folgte ihr. Seine Krallen schrappten über den Stein.
»In dem harten Zeug finden meine Krallen keinen Halt«, brummte er, als er neben Kallik ankam. »Und in dem weichen Waldboden versinke ich mit den Tatzen.«
Kallik besänftigte ihn mit einem freundlichen Schnäuzeln. »Ich weiß, du vermisst das Eis.«
Yakone schnaubte. »Und wie!« Er schnupperte an ihrer Beute. »Fressen wir den jetzt?« Toklo nickte und riss den Fisch in vier Stücke.
»Du kannst meinen Teil haben.« Lusa schob Toklo ihre Portion hin.
Toklo kniff die Augen zusammen. »Du musst aber etwas fressen, Lusa«, grummelte er leise.
»Keine Sorge«, beruhigte sie ihn. »Ich kann mir später im Wald etwas suchen.« Bei dem Gedanken, saftige Larven und fette Käfer zwischen den Baumwurzeln auszugraben, lief ihr das Wasser im Maul zusammen. Sie hatte fast vergessen, was es im Wald alles gab: zum Beispiel die Ameisen in den Ritzen der Baumrinde oder die süßen Wurzeln, die man aus dem weichen Waldboden buddeln konnte. Doch die Kalterde war noch nicht vorüber. Die Wildobststräucher hatten noch nicht geblüht, im Unterholz wuchsen keine frischen Triebe, die so lecker schmeckten, und Ameisen und Larven gab es auch erst wenige. Lusa konnte froh sein, dass der Fluss ihnen Fisch lieferte.
Toklo schlang seinen Anteil hinunter und leckte sich das Maul. »Kommt.« Er deutete mit der Nase stromaufwärts. »Es ist schon spät. Wir müssen weiter.«
Als er lostrottete, packte Lusa die Enttäuschung. Warum konnte Toklo nicht hier heimisch werden? Sie folgte ihm seufzend, drehte sich aber noch einmal zu Kallik und Yakone um. Die beiden hatten einander. Toklo war bereit, die halbe Welt zu umrunden, um Artgenossen zu finden. Und wenn es so weit war, würden Kallik und Yakone zum Eis zurückkehren. Was wird dann aus mir? Sie schob den Gedanken beiseite. Das musste sie nicht jetzt entscheiden.
Sie folgten dem Fluss, bis die Felsen am Ufer zu groß und zu zerklüftet waren.
»Am besten gehen wir außen herum«, schlug Lusa vor. Ohne eine Antwort abzuwarten, trottete sie in den Wald. Während sie sich einen Weg durch das Gestrüpp bahnte, stellte sie mit einem Blick zurück fest, dass die anderen ihr folgten. Die weißen Pelze Kalliks und Yakones schimmerten wie Schnee in der Nacht. Die beiden musterten jeden Baum mit unsicherem Blick, als fürchteten sie, er werde sie gleich erschlagen.
»Ich glaube, Kallik und Yakone haben Angst vor Bäumen«, sagte sie zu Toklo, der dicht hinter ihr war.
»Dann hätten sie auf dem Eis bleiben sollen«, brummte Toklo.
Lusa blieb stehen und sah ihn vorwurfsvoll an. »Aber sie sind mitgekommen!«
»Wir sind mitgekommen, weil unsere Reise erst vorbei ist, wenn ihr eure Heimat gefunden habt.«
Toklo zuckte zusammen, als Kalliks Stimme hinter ihnen ertönte. Die Eisbären hatten aufgeholt.
Toklo schüttelte den Kopf. »Das war eure Entscheidung«, knurrte er. Dann fügte er jedoch schnell noch hinzu: »Aber ich bin froh darüber. Ich … mir würde sonst was fehlen.«
Lusa wusste, dass es ihm schwerfiel, so etwas zu sagen. Und dass er es ehrlich meinte. Toklo bewunderte Kallik, die ihr Zuhause verlassen hatte, um mit ihnen weiterzuwandern. Genau wie Yakone für Kallik sein gewohntes Leben aufgegeben hatte. Toklo weiß das zu schätzen! Zusammen sind wir viel stärker. Bei dem Gedanken daran, wie ihre Reise verlaufen wäre, wenn Kallik und Yakone nicht mitgekommen wären, kribbelte Lusa der Pelz.
Yakone schob sich an ihnen vorbei und trottete weiter durch den Wald. »Wir wollten doch das Licht ausnutzen.«
Lusa jagte ihm nach. Als sie an Yakone vorbeischoss, wurde das Gelände plötzlich abschüssig. Vor sich hörte sie ein Dröhnen.
»Ich glaube, da unten ist noch ein Fluss!«, rief sie. Sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, dass sie das Bärengehege, in dem sie geboren worden war, einst für groß gehalten hatte. Was war sie doch für ein Bienenhirn gewesen!
»Warte!«, hörte sie Kallik hinter sich brüllen.
Lusa wollte anhalten, doch der Abhang wurde mit jedem Schritt steiler. Sie verlor das Gleichgewicht, kullerte abwärts und versuchte vergeblich, auf den rutschigen Nadeln Halt zu finden.
»Lusa!« Yakone jagte hinter ihr her.
Lusa schlug wild mit den Beinen. Warum klangen die Eisbären so erschrocken?
Da stieg ihr ein beißender Geruch in die Nase. Vor ihr blitzten Lichter auf. Das dröhnende Geräusch steigerte sich zu einem Brüllen. Das ist kein Wasser! Entsetzen hämmerte in Lusas Ohren, während sie hilflos talwärts purzelte. Das ist ein Feuerbiest!
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2. KAPITEL
Lusa
Das Feuerbiest jagte brüllend an ihr vorbei, kurz bevor Lusa auf dem Schwarzpfad aufschlug. Erschrocken blickte sie ihm hinterher. Der Gestank raubte ihr den Atem.
»Lusa!« Yakone stürmte aus dem Wald und kam schlitternd neben ihr zum Stehen. Schon kam das nächste Feuerbiest angedonnert. Yakone packte sie am Nacken und zog sie zur anderen Seite des Schwarzpfades in einen Graben. Das Feuerbiest stürmte an ihnen vorüber.
»Ich dachte, du kennst dich aus in der Welt der Krallenlosen!« Yakone sah sie vorwurfsvoll an.
»Ich … ich habe hier keine Feuerbiester erwartet«, stammelte Lusa. »Sind wir nicht viel zu weit weg von den Flachgesichtern?«
»Die Krallenlosen sind überall«, knurrte Yakone. »Das hast du doch auf dem Eis gesehen.«
»Lusa!«, brüllte Toklo von der anderen Seite des Schwarzpfades. »Alles in Ordnung?« Er und Kallik sahen besorgt zu ihnen hinüber.
»Alles in Ordnung.« Das Donnern eines weiteren Feuerbiestes übertönte ihre Stimme. Als sie sich umdrehte, raste es schon mit seinen riesigen leuchtenden Augen heran.
Toklo und Kallik versteckten sich im Wald. Yakone drückte Lusa ins Gras, während der Boden unter ihren Tatzen bebte. Dröhnend jagte das Feuerbiest an ihnen vorbei. Lusa presste sich flach in den Graben. Eine Ladung Steinchen landete prasselnd auf ihrem Pelz.
Arcturus, schütze uns!
Die Feuerbiester strömten an ihnen vorüber wie Baumstämme auf einem Fluss. Lusa drückte sich die Tatzen auf die Ohren und hielt den Atem an. Der Lärm und der Gestank waren unerträglich. Während der langen Zeit auf dem Eis hatte sie völlig vergessen, wie ekelhaft es auf dem Schwarzpfad roch. Am liebsten wäre sie weggelaufen und hätte sich zwischen den Bäumen versteckt, doch Toklo und Kallik saßen noch auf der anderen Seite fest.
Endlich folgte ein Augenblick der Stille, gerade so, als ringe der Wald nach Luft. Lusa spürte Yakones Schnauze an ihrer Flanke. Er stupste sie sanft an, damit sie aufstand.
»Bleib einfach stehen. Uns passiert nichts«, brummte er. Dankbar lehnte sich Lusa an ihn und sah über den Schwarzpfad. Aus der Ferne näherten sich schon die nächsten Feuerbiester. Einen Herzschlag später donnerte das erste an ihnen vorbei, gefolgt von einem weiteren, das beißenden Rauch in die Luft pustete. Toklos Blick war fest auf die Feuerbiester gerichtet. Jedes Mal, wenn eins an ihm vorbeijagte, zuckte seine Nase.
»Wie sollen sie nur da rüberkommen?«, flüsterte Lusa.
»Toklo merkt sich die Abstände.« Yakone beobachtete den Braunbären. »Er muss nur den richtigen Moment abpassen.«
Toklo beugte sich zu Kallik und raunte ihr etwas ins Ohr. Kallik nickte und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Schwarzpfad.
Das nächste Feuerbiest schoss vorbei. »Jetzt!«, rief Toklo, und Kallik stürzte los. Sie überquerte den Schwarzpfad unmittelbar hinter dem Feuerbiest, doch das nächste brauste bereits heran.
Sie schaffte es gerade rechtzeitig auf die andere Seite. »Den Geistern sei Dank!« Ihr Atem ging schnell, und Lusa meinte fast, ihren Herzschlag zu spüren. »So viele Feuerbiester habe ich noch nie gesehen!«
»Es hat geklappt!« Lusa schmiegte sich glücklich an ihre Freundin.
»Gütige Geister, beschützt Toklo.« Kalliks Blick wanderte zu dem Grizzly auf der anderen Seite des Schwarzpfades.
Toklo ließ die Feuerbiester nicht aus den Augen. Sie kamen immer schneller, wie eine ganze Horde in wilder Flucht vor unsichtbaren Verfolgern. Wenn eins an ihm vorüberhetzte, zuckte Toklo zusammen, wich aber nicht von der Stelle.
Lusa hielt den Atem an. Bitte, ihr Geister, macht, dass er es schafft!
Plötzlich preschte der Braubär los. Lusa sah, wie er zwischen dem Schwanz des einen und der Nase des nächsten Feuerbiestes über den Schwarzpfad jagte. Keuchend und stolpernd erreichte er die andere Seite.
Lusa eilte zu ihm. »Alles in Ordnung?«
Toklo schüttelte sich den Schmutz aus dem Pelz. Er zitterte. »Das war knapp.«
»Sehr knapp.« Dankbar drückte sie sich an ihn. »Aber wir sind in Sicherheit.«
Yakone marschierte auf einen breiten Streifen mit Brombeergestrüpp zu, das den Schwarzpfad vom Kiefernwald trennte. »Schauen wir, dass wir hier wegkommen.«
»Je eher, desto besser.« Toklo trabte an ihm vorbei und übernahm die Führung. Kallik gab Lusa einen Stups mit der Schnauze und lief hinter den beiden her.
»Wartet.« Lusa sah sich noch einmal zu den Feuerbiestern um. Einige hatten einen langen, flachen Rücken, auf dem sie Berge übereinandergestapelter Baumstämme trugen. Äste und Wurzeln fehlten, und Lusa konnte das Holz der Stämme sehen, das nackt dem Himmel entgegenstarrte.
»Die stehlen Bäume«, flüsterte Lusa.
»Komm schon, Lusa!«, rief Kallik. »Wir müssen schleunigst von hier weg.«
Lusa lief an Kallik und Yakone vorbei. Als sie Toklo eingeholt hatte, roch sie den Holzstaub in ihrem Fell. Er duftete würzig und frisch. Warum nahmen die Flachgesichter den Wald weg? Vielleicht bauten sie ja woanders einen neuen auf. Aber die Bäume brauchten doch sicher ihre Wurzeln und Zweige zum Wachsen?
Toklo stupste sie mit der Nase an. »Gehen wir lieber weiter, ehe die Feuerbiester darüber nachdenken, was Eisbären in ihren Wäldern zu suchen haben.«
»Das sind nicht ihre Wälder. «
»Geh einfach weiter.« Toklo legte einen Zahn zu und Lusa folgte ihm. Als sie sich nach Kallik und Yakone umsah, stachen ihre weißen Pelze aus dem Unterholz hervor.
»Haben wir beide da draußen auf dem Eis auch eine so seltsame Figur abgegeben?« fragte Lusa.
»Wir haben wahrscheinlich ausgesehen wie Robben mit Pelz«, meinte Toklo.
Hinter ihnen war Yakone stehen geblieben und schüttelte sich einen Dornenzweig aus dem Fell. Er sah sich auf dem nadelbedeckten Waldboden um. »Schmilzt das ganze Zeug hier bei Feuerhimmel?«
Lusas Augen blitzten belustigt. »Nein. Das verrottet einfach und dann duftet die Erde noch besser.«
Vor ihnen glitzerte etwas zwischen den Bäumen. Als Lusa die Ohren spitzte, hörte sie Wasser rauschen. »Was ist denn das?«
Toklo leckte sich die Lippen und schnupperte in die Luft. »Das riecht wie der Große Fluss«, erklärte er.
Lusa ging langsamer. »Müssen wir wieder über einen Schwarzpfad?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Toklo. »Hier rieche ich keine Feuerbiester.«
Lusa schnupperte ebenfalls. Toklo hatte recht. Es lag lediglich der Geruch von Erde, Bäumen und Schmelzwasser in der Luft.
Als sie aus dem Wald kamen, senkte sie in dem grellen Licht unwillkürlich den Kopf, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Am Horizont türmten sich weiße Wolken wie Schneeberge und der breite, schäumende Fluss zerschnitt den Wald in zwei Hälften. Toklo beschleunigte das Tempo und überquerte einen sumpfigen Streifen, an den sich ein steiniges Ufer anschloss.
Dort war der Fluss flach und plätscherte gemächlich dahin. Toklo watete zum Trinken hinein. Lusa, die ihm folgte, merkte erst jetzt, wie durstig sie war. Das Wasser, das ihr um die Tatzen sprudelte, war so kalt, dass sie beim Schlucken ein eisiger Schauer durchlief. Doch es schmeckte frisch wie der Wind, der durch den Wald strich. »Sollen wir Fische fangen?« Als sie zu Toklo aufblickte, tat ihr vor Kälte die Schnauze weh.
Toklo sah sich zu Kallik und Yakone um. »Ich jage für uns alle«, rief er ihnen zu.
Yakone blieb wie angewurzelt stehen. »Glaubst du etwa, ich kann das nicht?«
»Noch nicht«, erwiderte Toklo, wenn auch freundlicher als zuvor. »Und ich freue mich, dass ich wieder wie ein richtiger Braunbär Beute machen kann.« Seine Augen funkelten. »Lasst mich für euch jagen. Ihr könnt euch ausruhen.« Er nickte zu mehreren flachen Felsen am Ufer hin. »Die Steine sind bestimmt warm von der Sonne.«
»Warm!«, schnaubte Yakone. »Ich habe genug von der Wärme.«
Kallik stupste den Eisbär sanft mit der Nase in die Seite. »Sei nicht so eine griesgrämige alte Robbe.«
Toklo schnaubte vergnügt. »Auf dem Eis war ich die griesgrämige alte Robbe«, rief er Kallik in Erinnerung. »Es ist hart, wenn man sich vorkommt wie ein nutzloses Bärenbaby.«
»Ich bin ja wohl kaum nutzlos«, grummelte Yakone.
Toklo watete ins tiefere Wasser, während sich Kallik und Yakone auf den Felsen niederließen und Lusa im Flachwasser herumtapste. Plötzlich entdeckte sie einen Schwarm silberner Fische. Aufgeregt hob sie die Vorderbeine und stürzte sich auf den nächstbesten. Als sie die Klauen um den weichen Körper schließen wollte, spürte sie stattdessen jedoch etwas Hartes.
Ein Stein!
Sie richtete sich auf und musterte enttäuscht ihre nutzlose Beute. Wo war der Fisch geblieben? War sie so langsam gewesen?
Als es hinter ihr laut klatschte, ließ sie den Stein fallen. Toklo war in die Stromschnellen gesprungen. Er tauchte mit dem Kopf unter und das Wasser sprudelte ihm über den breiten Rücken. Mit einem riesigen Lachs zwischen den Zähnen tauchte er wieder auf. Er trottete ans Ufer und legte ihn stolz zwischen Yakone und Kallik ab. Yakones Blick huschte über Toklos durchnässten Pelz.
»Das ist eine ganz schön ungemütliche Art des Fischfangs«, grummelte der Eisbär.
Toklo warf den Kopf hoch. »Aber sie funktioniert.«
Yakone stupste den Lachs mit der Nase an. »Das hat aber doch mehr mit Glück als mit Planung zu tun«, knurrte er. »Du brauchst dafür längst nicht so viel Geschick und Geduld wie für das Fischen auf dem Eis.«
»Wenn du genug gemeckert hast, kannst du fressen.« Toklo schüttelte sich und eine Ladung Wassertropfen ging auf Yakone und Kallik nieder. Dann wandte er sich wieder dem Fluss zu. »Ich fange uns noch einen.«
Lusa durchströmte ein tiefes Glücksgefühl. Nun, da Toklo wieder im Wald war und in reißenden Flüssen jagen konnte, schien ihm nichts mehr etwas auszumachen, nicht einmal die schlechte Laune Yakones.
Lusa watete stromaufwärts, den Blick fest auf die Fische gerichtet, die verlockend nah an ihren Tatzen vorbeiflitzten. Als sie in flacheres Wasser kam, entdeckte sie einen in einer Ausbuchtung zwischen zwei Steinen. Knurrend stürzte sie sich auf ihn und spießte ihre Beute mit den Krallen auf.
»Seht mal!« Stolz zeigte sie Kallik ihren Fang. »Schwarzbären können auch fischen!«
Kallik, die noch mit dem Lachs beschäftigt war, musste erst schlucken. »Gut gemacht, Lusa!«, sagte sie dann.
Lusa ließ ihren Fisch neben den halb verzehrten Lachs auf den Boden fallen. Sie ekelte sich vor dem bitteren Geschmack, den sie auf der Zunge spürte. Wie sie die süßen Beeren und Früchte vermisste!
Toklo kam mit einem zweiten Fisch aus dem Fluss, genau wie er es versprochen hatte. Er legte ihn neben seinen Freunden ab und ließ sich nun auch zum Fressen nieder.
»Schau mal.« Lusa schob ihm ihren Fisch hinüber. »Hab ich selbst gefangen.«
»Sehr gut!«, brummte Toklo.
Yakone setzte sich auf und knabberte an seiner Vordertatze. »Wie bekommt ihr nur den Dreck aus den Pfoten?«
Toklo hob eine seiner nassen Tatzen. »Meine hat der Fluss sauber gemacht.«
Kallik stupste Yakone mit der Nase in die Seite. »Siehst du, je früher du lernst, im Fluss zu jagen, desto sauberer sind deine Tatzen«, neckte sie ihn.
Yakone schnaubte. Er watete knurrend in die seichte Strömung. »Ihr wisst schon, warum das Wasser es hier so eilig hat, oder?« Seine Augen funkelten verschmitzt.
Lusa bemerkte es nicht. »Nein, warum denn?«, fragte sie.
»Weil es unbedingt zum Schmelzenden Meer kommen will, damit es wieder anständiges Wasser sein kann.«
Toklo riss sich ein Stück von seinem Fisch ab. »Erzähl mir nicht, dass du es lieber salzig magst!«
Yakone watete aus dem Fluss. »Das Zeug hier schmeckt doch nach gar nichts.«
»Sag nicht solche Sachen!«, knurrte Lusa. »Zumindest kann man es trinken, ohne dass man davon krank wird.«
»Aua!« Kalliks Schrei schreckte Lusa auf.
»Was ist denn?«
Kallik drehte sich verzweifelt nach hinten, um mit der Schnauze an ihre Flanke zu kommen.
Hatte sie etwas gebissen? Lusa musterte die Spalten zwischen den Steinen, auf denen sie saßen. Gab es hier womöglich Schlangen?
Toklo schob mit der Nase Kalliks Schnauze zur Seite und zog ihr einen Kiefernzapfen aus dem Fell.
»Da habe ich draufgesessen«, beschwerte sich Kallik und knabberte sich im Pelz.
Lusa brummte vor Lachen. »Du kannst froh sein, dass es keine Distel war.«
Kallik blinzelte sie verständnislos an. »Eine Distel?«
»Das ist so etwas Ähnliches wie ein Kiefernzapfen, nur noch viel stachliger«, erklärte Toklo.
»Toll.« Yakone trottete zu ihnen. »Im Wald gibt es wohl noch so manche Kostbarkeit zu entdecken.«
Lusa sah ihn mit ernster Miene an. »Du wirst dich daran gewöhnen«, versprach sie. »Und dann wirst du sehen, wie wunderbar es dort ist.«
Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, da drang aus den Bäumen ein tiefes Knurren. Lusa stellte sich vor Angst der Pelz auf. »Was ist das?«
Toklo war aufgesprungen. »Ich weiß nicht genau«, brummte er mit gefletschten Zähnen, »aber das klingt ziemlich gefährlich.«
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3. KAPITEL
Toklo
Toklo fuhr die Krallen aus. Er meinte, diesen Geruch zu kennen. »Versteck dich hinter Kallik, Lusa«, sagte er und schob sich an den beiden Eisbären vorbei. »Ich gehe mal nachsehen.«
Lusa zögerte und starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Wald.
»Mach schon!«, knurrte Toklo, und Lusa gehorchte. Toklo verfluchte seine eigene Dummheit. Ich hätte mir ja denken können, dass ein Bär hier sein Revier hat. Was bin ich für ein Wolkenhirn! Plansche im Fluss herum, als wäre ich hier zu Hause.
Vor ihm raschelten Zweige. Ein Schwarzbär zwängte sich durch das Brombeergebüsch. Er war ausgewachsen, etwa eineinhalbmal so groß wie Lusa und einen Kopf kleiner als Toklo. Seine Schnauze war von Narben übersät, die Ohren an mehreren Stellen eingerissen. Unter dem gesträubten Fell spannten sich die Muskeln. Sie hatten einen echten Kämpfer vor sich.
Der Schwarzbär sah sie mit eiskaltem Blick an. »Was habt ihr hier zu suchen?«
Toklo blickte ungerührt zurück. »Wir sind auf der Wanderung.« Wenn es zu einem Kampf kommen sollte, würde Toklo ihn mit Sicherheit gewinnen, einfach schon, weil er schwerer war als sein Gegner.
»Ihr klaut mir meine Fische«, knurrte der Bär. Er machte einen Schritt nach vorn, ohne sich auch nur im Geringsten von Toklos Größe einschüchtern zu lassen.
Toklos Gedanken rasten. Vielleicht war dieser Bär gefährlicher, als er aussah? Womöglich hatte er noch Freunde in der Nähe. Jedenfalls ließ sich Toklo lieber nicht auf einen Kampf ein. »Tut mir leid wegen der Fische«, entschuldigte er sich. Dem Knurren, das aus Yakones Kehle drang, entnahm Toklo, dass der Eisbär lieber kämpfen wollte. Er warf ihm einen warnenden Blick zu. Wir müssen nicht beweisen, dass wir einen Schwarzbären besiegen können!
»Wir waren schon lange nicht mehr im Wald«, fuhr Toklo fort. »Wir haben noch keine Übung darin, das Revier eines Bären am Geruch zu erkennen.«
Der Schwarzbär musterte Kallik und Yakone und schnaubte verächtlich. »Die haben hier sowieso nichts zu suchen.«
Kallik stellte sich dicht neben Toklo. »Wer sagt das?«
Bei Kalliks drohendem Unterton sträubte sich Toklos Nackenfell. Besorgt sah er sich nach Lusa um. Ihre Augen waren kugelrund vor Angst.
Der Schwarzbär verzog feindselig das Maul. »Ich sage das«, knurrte er. »Und andere Bären, die Eisbären an Orten gesehen haben, wo sie nicht hingehören, sagen das auch.«
Das machte Lusa neugierig. »Sind denn noch mehr Eisbären im Wald?«
»Zu viele«, schnaubte der Schwarzbär. »Es heißt, die Eisbären wandern landeinwärts. Die sollten besser am Schmelzenden Meer bleiben, wo sie hingehören.«
Lusa sah ihn bittend an. »Aber die Bären hier helfen uns –«
Toklo unterbrach sie. »Sieh mal, wir sind auf der Reise. Wir wollen dein Revier nicht und wir nehmen dir auch keine Fische mehr weg.«
Der Schwarzbär verengte die Augen. »Dann lasse ich euch diesmal ziehen«, knurrte er. »Aber ich will euch hier nicht wieder sehen.«
»Danke«, sagte Toklo schnell. Die Wut fuhr ihm heiß durch den Pelz. War dem Bären denn nicht klar, dass er keine Gegner besiegen konnte, die dreimal so groß waren wie er?
Kallik gingen offenbar ähnliche Gedanken durch den Kopf. Toklo spürte ihre Anspannung. »Wieso bedankst du dich?«, flüsterte sie.
»Lass uns gehen«, zischte er zurück. »Wenn er glaubt, wir hätten uns vertreiben lassen, soll er doch.«
»Was flüstert ihr da?«, fuhr der Schwarzbär ihn an.
Toklo drehte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. »Ich habe ihr nur erklärt, dass wir jetzt gehen.«
»Ach so«, schnaubte der Schwarzbär verächtlich. »Ja, Eisbären sind ziemlich schwer von Verstand.«
Toklo juckten die Krallen. Er presste sie noch fester auf den Boden, damit er dem Bären nicht einen Hieb gegen die Schnauze versetzte. »Lasst uns gehen, ja?« Er drehte sich um und trottete stromaufwärts.
Den zornigen Blick des Schwarzbären im Rücken, ging er vor Kallik, Yakone und Lusa über die Felsen davon. »Wir halten uns am besten nah am Wasser.« Er drehte sich zu Kallik um und sah ihr in die Augen, damit sie begriff, was er meinte. Ihre Wanderung war schon beschwerlich genug gewesen. Da war es die beste Lösung, einem Schwarzbären in seinem eigenen Revier einfach aus dem Weg zu gehen.
Kallik nickte, doch Yakone grummelte immer noch vor sich hin.
»Wir hätten ihn verjagen sollen«, brummte der Eisbär. »Wir waren drei gegen einen.«
»Vier gegen einen«, verbesserte ihn Lusa.
Toklo schaute Lusa verwundert an. »Hättest du denn gegen einen Schwarzbären gekämpft?«
Lusa schnaubte. »Ich würde gegen jeden Bären kämpfen, der meint, er sei der Größte!«
»Weiß ich ja.« Toklo dachte an Taqqiqs missratene Freunde. Lusa hatte sich ihnen so tapfer entgegengestellt wie ein Grizzly. »Aber du hast doch gehört, was der Schwarzbär gesagt hat. Die Bären hier mögen keine Eisbären in ihrem Gebiet. Wenn wir gegen ihn gekämpft hätten, dann hätte sich das schnell herumgesprochen, und wir hätten gegen jeden Bären zwischen hier und –«
»Und wo?«, unterbrach ihn Yakone. »Weißt du überhaupt, wo wir hingehen?«
Lusa lief voraus. »Er weiß es, wenn wir da sind.«
»Wenn wir dem Fluss in Richtung der untergehenden Sonne folgen, finde ich mein Zuhause in den Bergen wieder.« Dessen war Toklo sich ganz sicher. Der Geruch des Flusses hatte eine tiefe Sehnsucht in ihm geweckt, ein Heimweh nach seinem einstigen Zuhause.
Yakone holte ihn ein. »Sollen wir dich wirklich begleiten?«, schnaubte er. »Wenn es stimmt, dass die Bären hier keine Eisbären in ihren Wäldern haben wollen, dann sollten wir dich und Lusa vielleicht besser allein wandern lassen.«
Toklo wurde es eng um die Brust. Wollte Yakone Kallik etwa überzeugen, zum Schmelzenden Meer zurückzukehren? Sie hatten doch versprochen, bei ihm und Lusa zu bleiben, bis sie zu Hause waren!
Hinter ihm ertönte Kalliks Knurren. »Wir wandern, wo es uns gefällt, Yakone. Uns verscheucht so schnell keiner. Nicht jetzt, wo wir es zusammen so weit geschafft haben.«
»Aber wenn wir dauernd Ärger bekommen, nur weil wir hier sind …«
Lusa blieb stehen und drehte sich zu Yakone um. »Dieser unverschämte Grobian hätte jeden vertrieben, egal, welche Farbe sein Pelz hat.«
»Immerhin war es sein Revier«, erinnerte Kallik Yakone. »Hättest du dich auf der Sterneninsel im Revier eines anderen Bären auf einen Kampf eingelassen?«
»Wahrscheinlich nicht.« Yakone blickte in den Wald. Seine Nüstern zuckten, als nehme er Witterung auf.
Toklo marschierte schneller, bis er und Lusa außer Hörweite waren. »Ich lasse es nicht zu, dass Yakone einen Keil zwischen uns treibt.«
»Er macht sich doch nur Sorgen.« Lusa blickte sich zu dem Eisbären um. »Weißt du noch, unsere ersten Tage auf dem Eis? Alles war so fremd.«
»Kann schon sein.« Toklo wandte sich ebenfalls um. Yakone und Kallik stolperten über Felsblöcke, Spalten und Ritzen, unbeholfen wie neugeborene Bärenjunge. Immer, wenn sie an eine Stelle mit schmelzendem Schnee kamen, wirkten sie sicherer.
»Gib’s zu«, schnaubte Lusa. »Du hast dir bei jedem Schritt auf dem Eis gewünscht, du wärst wieder im Wald. Genau wie ich.«
»Aber wir haben nicht aufgegeben, stimmt’s?«, entgegnete Toklo. »Wir sind geblieben, bis wir alle es geschafft hatten.«
»Das machen die beiden auch«, versprach Lusa.
Toklo schnaubte. »Das will ich hoffen.«
Die Sonne stieg höher. Hier und da blieb Lusa stehen, suchte zwischen den Gräsern nach Wurzeln, holte Toklo wieder ein und trottete kauend neben ihm her.
»Toklo!«
Der Grizzly drehte sich um. Überrascht stellte er fest, dass die Eisbären weit zurückgefallen waren. »Was ist?«
Kallik blickte ihn müde an. »Ich bin an die Kälte auf dem Eis gewöhnt.«
»Es ist ja noch nicht einmal warm.« Toklo spürte den Wind in seinem Pelz. Er führte noch die kühle Frische der Kalterde mit sich.
»Für dich mag es nicht warm sein«, schnaufte Yakone. »Aber wir schmelzen wie der Schnee.«
»Ihr könntet doch schwimmen gehen«, schlug Lusa vor. »Der Fluss ist eiskalt.«
»Gute Idee.« Toklo blickte zurück. Ob sie das Revier des Schwarzbären wohl schon verlassen hatten? »Und ich suche uns in der Zwischenzeit ein kühles Plätzchen, das vor der Sonne geschützt ist.«
Yakone und Kallik wateten in den Fluss und ließen sich das sprudelnde Wasser über den Rücken laufen, während sich Toklo und Lusa am Ufer umsahen.
»Da drüben ist eine Höhle!«, rief Lusa, die ein paar Bärenlängen weiter vorn auf einem Felsblock stand. Sie sprang herunter und verschwand.
Toklo erklomm den Felsen und blickte sich um. »Lusa?« Von der Schwarzbärin fehlte jede Spur. Rasch rutschte Toklo von dem Stein und wollte los Richtung Strand. »Lusa!«
»Hier bin ich!«, hallte ihre Stimme unter dem Felsblock hervor.
Als Toklo sich bückte, schaute er in eine flache Höhle, wo der Fluss in früheren Zeiten den Felsen ausgewaschen hatte. Lusa stand im Dunkeln. Sie hob die Nase. »Hier ist es schön kühl.«
Vom Wasser her kam eine Brise, die Toklo das Fell zerzauste. »Gut gemacht, Lusa!«
»Ich hole Kallik und Yakone!« Lusa ging nach draußen und sah sich nach den beiden Eisbären um. Sie waren tiefer ins Wasser gewatet und tauchten nun ab in die reißenden Fluten.
Während Lusa fröhlich zum Fluss lief, schnupperte Toklo, ob Bärengeruch in der Luft lag. Nichts. Nur der kühle Duft von Wasser und Moos. Warum sollte sich auch ein Schwarzbär hier herumtreiben, wenn er den ganzen Wald zur Verfügung hatte?
»Sie fangen Fische!« Am Höhleneingang schüttelte sich Lusa das Wasser aus dem Pelz. »Kallik bringt Yakone bei, wie ein Grizzly zu jagen.«
»Gut.« Toklo trottete zu Lusa in die Sonne hinaus. Die frischen Gerüche des Waldes lagen ihm in der Nase. »Geh ruhig auch. Ich sehe mal nach, ob wir das Revier des Schwarzbären auch wirklich verlassen haben.«
»Mittlerweile bestimmt«, schnaubte Lusa. »Wir sind doch seit Ewigkeiten unterwegs.«
»Aber wir wissen ja nicht, wie groß sein Revier ist«, wandte Toklo ein.
»Sei vorsichtig.« Lusa ging zum Fluss zurück und watete stromaufwärts.
»Du auch«, rief Toklo. »Bleib besser im flacheren Wasser. Weiter draußen ist die Strömung zu stark für dich.«
Lusa wandte sich zu ihm um. »Bloß weil ich klein bin, bin ich noch lange nicht dumm.« Sie deutete mit der Nase auf den reißenden Fluss. »Nur ein Idiot würde in den Stromschnellen fischen!«
»Tut mir leid.« Lusa war draußen auf dem Eis ebenso mutig und klug gewesen wie jeder andere Bär. Aber weil sie so klein war, hatte Toklo immer den Drang, sie beschützen zu müssen.
Er verließ das Ufer und überquerte einen mit Sauergras bewachsenen Streifen, der den Wald säumte. Der kühle Duft nach Baumsaft und Kiefernnadeln zog Toklo geradezu magisch in den Wald hinein. Grüne Hügel, dicht mit Moos bewachsen, erhoben sich zwischen den schlanken Stämmen. Toklo trottete weiter, die Nüstern geweitet. Als er an den Wurzeln einer Fichte schnupperte, konnte er keine Bärenspuren erkennen. Flecken von Sonnenlicht tüpfelten den Waldboden und auf den Mooshügeln quatschte der feuchte Boden unter Toklos Tatzen.
Das Gelände stieg an und bald wichen die Hügel flachem Waldboden. Zwischen den Bäumen rollten sich frische Farnwedel auf und strichen Toklo gegen die Beine. Von jedem Zweig zwitscherte ein Vogel und hoch oben über den Wipfeln sah er einen Adler kreisen. Nach dem langen Marsch über das Eis war es ein herrliches Gefühl, allein durch den Wald zu streifen. Zum ersten Mal seit vielen Monden war Toklo völlig ruhig. Da zerschnitt ein bösartiges Fauchen die Luft.
Toklo erstarrte und versuchte, Witterung aufzunehmen. Hatte der Schwarzbär ihn entdeckt?
Dem Fauchen folgte ein verängstigtes Jaulen. »Hör auf, Hakan! Lass mich in Ruhe!« Es war der Ruf einer Bärin. Toklo folgte den Stimmen zum Rand einer Lichtung.
Er erkannte den Bären gleich wieder. Der Fiesling knurrte eine kleinere Bärin an, die sich furchtsam gegen einen Baum drückte. Es war eine Schwarzbärin, nicht größer als Lusa.
»Nein, Hakan!«
Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sich Hakan auf die Hinterbeine stellte und nach ihr schlug.
Toklo knurrte. »Lass sie in Ruhe!«
Hakan fuhr zu ihm herum. »Du schon wieder?« Er baute sich vor Toklo auf. »Ich dachte, ich hätte dir deutlich genug gesagt, du sollst verschwinden. Das hier geht dich gar nichts an!«
»Es geht mich immer etwas an, wenn ein Bär einen schwächeren schikaniert«, knurrte Toklo.
Die Bärin wich ängstlich zurück. »Alles in Ordnung, ehrlich.«
»Genau«, höhnte Hakan. »Hau ab hier. Ich habe die Nase voll davon, dich verscheuchen zu müssen.«
Toklo witterte Blut und sah, dass die Bärin am Ohr verletzt war. »Ich gehe erst, wenn ich mir sicher bin, dass du sie in Ruhe lässt.«
»Mir geht’s gut.« Die Bärin schüttelte sich und holte tief Luft.
Toklo betrachtete ihr blutendes Ohr. »Es sieht aber nicht so aus.«
Sie fuhr mit der Tatze über die Wunde und senkte den Blick. »Wirklich, mir geht’s gut.«
»Natürlich geht’s dir gut.« Hakan deutete mit der Nase in den Wald. »Und jetzt schau, dass du hier wegkommst, Chenoa. Das nächste Mal, wenn du das Revier verlässt, weil dir gerade danach ist, sagst du vorher Bescheid.«
»In Ordnung.« Chenoa stapfte durch den Wald davon.
Der Schwarzbär blickte ihr hinterher und wandte sich dann wieder an Toklo. »Misch dich nicht in Dinge ein, von denen du nichts verstehst. Wenn meine Schwester nicht in meinem Revier bleibt, kann ich sie nicht beschützen.«
Sie gehört zur Familie! Toklo fiel der Tag ein, an dem seine Mutter ihn, wahnsinnig vor Trauer, vertrieben hatte. Okas Grausamkeit hatte ihn zutiefst erschüttert, und er hatte sich nie vorstellen können, dass auch andere Bären ihre Familie so behandelten. Zorn kribbelte in seinem Pelz. Plötzlich hatte er das Gefühl, Chenoa verteidigen zu müssen. »Vorhin hast du aber nicht so ausgesehen, als würdest du sie beschützen.«
Hakan spannte die Muskeln an. »Sie muss eben auf mich hören. Sie ist jung, und ich weiß besser, was gut für sie ist. Ich habe sie aufgezogen, seit unsere Mutter von einem Feuerbiest …« Er brach ab, Trauer trat in seine Augen. »Hau ab. Das ist mein Revier!«, fuhr er dann fort. »Wenn ich dich hier noch einmal sehe, ziehe ich dir das Fell über die Ohren!« Er schlug wütend mit beiden Tatzen nach Toklo.
Toklo machte einen Schritt zur Seite und Hakan traf ins Leere.
»Na gut, ich gehe!« Toklo wandte sich ab. Er wollte nicht kämpfen. Hakan war kleiner als er. Außerdem konnte er verstehen, wie schrecklich der Verlust der Mutter für ihn gewesen sein musste. Toklo hielt inne. Aber was ist mit Chenoa? Sie hatte ihre Mutter auch verloren. Warum war Hakan so unfreundlich zu ihr? Er spürte wieder Zorn in sich aufsteigen und fragte sich, ob er diesem Schwarzbären einmal zeigen sollte, wie sich ein Riss im Ohr anfühlte. Doch er hielt sich zurück und trottete davon. »Du bist einen Kampf nicht wert«, murmelte er.
»Einen Kampf nicht wert?«, hörte er den Schwarzbären hinter sich brüllen.
Krallen bohrten sich in seinen Rücken und ein stechender Schmerz durchfuhr Toklos Körper. Entsetzt ließ er sich fallen und rollte zur Seite weg. Hakan stürzte sich sofort wieder auf ihn. Toklo rappelte sich auf und wich seinem Angriff aus, doch Hakan nahm schon den nächsten Anlauf.
Toklo stellte sich auf die Hinterbeine, die Vordertatzen erhoben. Glaubt dieser Bär etwa, er ist stärker als ich?
Hakan bäumte sich ebenfalls auf. »Ich werde dir schon zeigen, ob ich einen Kampf wert bin!« Mit hasserfülltem Blick holte er aus.
Toklo lenkte den Schlag ab, dann noch einen, doch ein dritter traf ihn an der Wange. Der Schmerz bohrte sich in sein Gesicht und um die Augen sammelte sich Blut. Er taumelte nach hinten und ließ sich auf alle viere fallen.
Hakan starrte ihn böse an. »Hast du genug? Gib auf, ehe es dir leidtut.«
Brüllend schlug Hakan nach Toklo und traf ihn mit der Tatze am Ohr. Toklo machte einen Schritt zur Seite. Seine Gedanken rasten. Er musste diesen Kampf beenden, wollte Hakan aber nicht allzu schwer verletzen, wenn seine Schwester seinen Schutz wirklich brauchte. Er duckte sich und biss Hakan in die Hinterbeine.
»Du kämpfst wie ein jämmerlicher Vielfraß!« Hakan schlug erneut mit der Vordertatze nach ihm.
Toklo erwischte den Schwarzbären an der Brust, ehe dessen Schlag ihn treffen konnte. Keuchend taumelte Hakan zurück. Toklo stürzte sich auf ihn und schlug noch einmal zu. Diesmal traf er Hakan an der Schulter. Obwohl er sich zurückhielt, reichte die Wucht des Schlags aus, um Hakan zur Seite zu schleudern.
In den Augen des Schwarzbären stand blankes Entsetzen. Taumelnd kämpfte er um sein Gleichgewicht. Hatte er endlich gemerkt, dass er es mit einem Bären aufgenommen hatte, der doppelt so groß war wie er?
»Hau ab«, fauchte Toklo. »Ehe ich dich wirklich zu Brei schlage.« Die Wunde in seiner Wange pochte.
»Glaub nicht, dass du gewonnen hast«, stieß Hakan hervor. »Das nächste Mal kommst du nicht so einfach davon.« Knurrend humpelte er davon.