© 2018 Amrûn Verlag
Jürgen Eglseer, Traunstein


Covergestaltung: Claudia Toman, Traumstoff

Buchsatz: Kim Leopold, ungecovert
Lektorat & Korrektorat: Tatjana Weichel, Wortfinesse


Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-558-0


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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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1 18

Für alle Winterkinder, die den Schnee und die Berge genauso sehr lieben wie ich.


Saying goodbye to you

felt like breaking apart

My heart nothing more than thousand parts

Saying goodbye to you

was the hardest thing to do

but it was due, it was due, it was due …

Coming back to you

was the best I have ever done

felt like strike home after a long run

Coming back to you

saved my soul

Love is my goal, my goal, my goal …

Viereinhalb Jahre ist es nun her, dass ich wegen eines Mädchens alles hinter mir gelassen und hier auf Sardinien ein neues Leben begonnen habe. Die Schatten sind verblasst, aber das dumpfe Gefühl ist immer da, wenn ich an Deutschland zurückdenke.

Ich horche ein letztes Mal in mich hinein, überlege, ob es tatsächlich der richtige Schritt ist, weiterzuziehen. Es fällt mir nicht leicht, meine Zeit auf Sardinien hinter mir zu lassen und von vorne zu beginnen. Wieder einmal. Und auch, wenn wieder einmal ein Mädchen eine große Rolle spielt, sind diesmal die Vorzeichen gänzlich anders. Ich flüchte nicht. Aber trotz der gehörigen Portion Respekt vor allem, was auf mich zukommt, verspüre ich keine Angst.

Mir ist klar, dass ich noch einen weiten Weg vor mir habe, bis ich Frieden mit mir schließen kann. Aber jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt. Ich habe einiges zu klären, bis ich unbeschwert in die Zukunft starten kann. Meine Zukunft mit Lin.

Ob ich jemals wieder hierher zurückkehren werde? Ich hoffe es. Nein, ich habe mir fest vorgenommen, weiter an meinem Traum festzuhalten und irgendwann für immer hier zu leben.

Kurz flackern Josie, Nino und Nevio in meinem Kopf auf. Peter und Maria. Aber vor allem das Grundstück hoch über den Klippen, das zu den schönsten Plätzen hier auf der Insel zählt. Nirgends sonst spüre ich diese tiefe Zufriedenheit - außer bei Lin.

Hier möchte ich leben. Hier möchte ich alt werden.

Aber jetzt hat das Leben erst einmal etwas anderes mit mir vor.

Ich lasse es zu, dass mich so etwas wie Wehmut überschwemmt, als ich meinen Gitarrenkoffer schnappe und das Gepäck schultere, in dem sich die Dinge befinden, von denen ich glaube, dass ich sie in Deutschland brauchen werde. Viel ist es nicht.

Liebe und Mut passen in keinen Koffer.



LiN

»Brauchst du das Haarspray noch?« Emilia streckt ungeduldig ihre Hand nach der Dose aus, die vor mir auf dem kleinen Pult steht. Ich werfe einen Blick auf meine Frisur. Ich sehe wie eine Vogelscheuche aus, dabei werde ich in gut einer Stunde ein Äffchen aus König Louis’ Hofstaat aus dem Dschungelbuch mimen.

Wortlos gebe ich meiner Freundin die goldene Spraydose und mache mich stattdessen daran, die dunkelbraune Grundierung auf meine Haut aufzutragen. Emilia ist mit ihrem Outfit schon wesentlich weiter. Sie hat noch nicht so viel Bühnenerfahrung wie ich und ist entsprechend nervös. In Momenten wie diesem bin ich dankbar für die Zeit, die ich im Aquamarina, dem wahrscheinlich angesagtesten Campingclub auf Sardinien, verbringen durfte. Dort konnte ich Erfahrungen sammeln, nicht nur für das Leben und in der Liebe, sondern besonders auch auf der Bühne. Dank der vielen Abendshows, die ich als Animateurin mitgestaltet habe, verfüge ich nun über eine gewisse Routine und weiß, dass mir noch jede Menge Zeit bleibt, bis ich auftreten muss. Ich seufze. Zu gerne wäre ich nun in Barisardo und würde mich mit Jonah und dem Rest der Crew auf unseren Auftritt vorbereiten. Mir fehlen meine Freunde. Das Lachen. Die Unbeschwertheit.

Aber vor allem fehlt mir Jonah.

Wir telefonieren fast täglich. Schreiben uns, so oft es die Zeit zulässt. Sogar Briefe habe ich von ihm bekommen. Doch all das kann wirkliche Nähe nicht ersetzen. Ich sehne mich nach seinen Blicken, die mich gefangen nehmen. Nach seinen zärtlichen Berührungen, die mich erschaudern lassen. Seinem Geruch, der mir dieses berauschende Gefühl der Geborgenheit schenkt. Aber vor allem vermisse ich das Gefühl, vollständig zu sein, denn ein Teil meines Herzens ist bei ihm geblieben. Auf Sardinien.

»Lin!« Emilia schnippt vor meinem Gesicht herum, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Träumst du schon wieder von gut gebauten Männern?«

»Nur von einem«, gebe ich wehmütig zu und ziehe einen Mundwinkel hoch. Ich kann nichts dagegen tun, dass sich Bilder in meinem Kopf auftun. Unheimlich schöne Bilder. Bilder, die sich in einem sexy Surfer-Kalender gut machen würden und (zugegeben) nicht ganz jugendfrei sind. Ich grinse dümmlich.

»In ein paar Tagen hast du es ja geschafft. Holt er dich am Flughafen ab?« Sie zupft weiter an ihrer Frisur herum und betrachtet sich prüfend im Spiegel. Ich bin noch immer nicht ganz bereit für die Realität und träume weiter von schwarzen Haaren, den schönsten blauen Augen, die ich je gesehen habe, von karamellfarbener Haut, die sich unaufdringlich über astreine Muskeln spannt. Gedankenversunken reiche ich Emilia die Spraydose, die sie noch braucht, um ihre blonden Haare an die der Affenherde anzugleichen.

»Gott, Lin! Was soll ich denn mit Glitzerhaarspray?« Emilia schüttelt verständnislos über mein Versehen den Kopf und beugt sich über mich, um sich die Haarfarbe zu holen.

»Soll doch eine Überraschung werden!« Beim Gedanken daran, dass ich in wenigen Tagen nach Sardinien fliegen werde, wird mir ganz warm ums Herz. Aufgeregt rutsche ich auf dem Plastikstuhl hin und her und widme mich wieder meiner Maske. Mein Herz pocht auf einmal ganz schnell, und die Muskeln in meinem Gesicht wollen mir einfach nicht gehorchen. So wird das nichts mit der Schminke.

»Die Sache mit London auch?« Emilia dreht ihren Kopf und zieht die Augenbrauen fragend hoch.

Sofort gefriert das Lächeln auf meinen Lippen, und das schlechte Gewissen ist zum Greifen nah. Jonah weiß nichts von meinen Telefonaten mit Adrian. Und auch nichts davon, dass ich nach den Weihnachtsferien nicht mehr an die Stage School zurückkehren werde. Ich kenne Jonahs Einstellung zu dem Thema. Er würde mir nie im Weg stehen, allerdings glaubt er mir nicht, dass das Gesangsstudium genau das ist, was ich tun möchte. Er will, dass ich glücklich werde, und da ich von klein auf davon geträumt habe, in einem Musical zu tanzen, würde er nicht verstehen, warum ich nun an diesem Weg zweifle.

Aber das tue ich. Die Gespräche mit Adrian, aber auch der Zuspruch der Coaches an der Royal Academy, an der ich im Herbst vorgesungen habe, haben mir einen Traum in greifbare Nähe gerückt, den ich mir nie zu träumen erlaubt habe. Nicht weil ich mir nicht wünschte, Sängerin zu werden, sondern einzig und allein, weil ich immer daran gezweifelt habe, gut genug zu sein. Langsam wächst in mir aber das Selbstbewusstsein, ein Talent in mir zu tragen, das ich ausleben möchte. Ich brenne darauf, Neues auszuprobieren. Das, was mir die Stage School zu bieten hat, reicht mir nicht mehr. Ich habe mit meinem Mentor hier in Hamburg lang und breit die Chancen und Risiken erörtert, und jetzt steht mein Entschluss fest: Ich möchte es wagen und nach London gehen. Meine Stimme ist prägnant genug, um als einzigartig wahrgenommen zu werden, und mit dem Feinschliff, den ich in London bekommen werde, stehen mir alle Wege auf die ganz großen Bühnen offen. Bleibt die Gefahr, dass Jonah meinen Weg nicht gutheißen könnte. Aber ich bin hier, und er ist tausende Kilometer entfernt. Wer weiß schon, wie lange das zwischen uns gutgeht und wann es ihm mit mir zu langweilig wird? Soll ich tatsächlich diese Chance ungenutzt lassen, zumal unser Beziehungsstatus noch zwischen Sommerliebe und Fernbeziehung hängt?

»Steht unser Date mit dem Gänsemarkt?«, lenke ich ab und beuge mich näher an den Spiegel, um meine Augen zu schminken. Zum Glück hatten wir in der Stage School inzwischen die ersten Maskenbildner-Stunden und kennen daher ein paar Kniffe und Tricks. Dennoch sind meine Schminkkünste weit entfernt von denen eines Profis. Für die Weihnachtsaufführung der Musical-Schüler sollte es allerdings reichen. Außerdem habe ich keine Hauptrolle – die ist den Schülern im Abschlussjahrgang vorbehalten.

»Nichts könnte mich davon abhalten, Süße! Nicht einmal der Herzinfarkt, den ich wohl gleich erleiden werde.« Emilia seufzt und zeigt mir ihre zitternden Hände. Ich versuche meine Freundin aufzumuntern und lächle sie breit an.

»Kopf hoch – du packst das schon.«

»Ladies, kommt ihr später mit? Wir gehen das Strand Pauli unsicher machen.« Ich zucke zusammen, als ich Davids Stimme viel zu nahe an meinem Ohr höre. Es hat Zeiten gegeben, da habe ich eine wohlige Gänsehaut von diesem Klang bekommen. Heute lässt er mich eher erschaudern.

Unentschlossen hebe ich die Schultern. Normalerweise mache ich einen großen Bogen um David und gehe ihm, wo es möglich ist, aus dem Weg. Dass wir ins selbe Team gesteckt wurden, kann nur Zufall und kein Schicksal sein. Außer es hat etwas ganz Furchtbares mit mir vor - oder einen üblen Humor.

»Wir sind dabei«, beschließt Emilia, ohne auf meine Reaktion zu warten, und strahlt David an. Ich weiß, sie steht insgeheim auf ihn, und ich kann es ihr noch nicht einmal verübeln. Obwohl wir befreundet sind, habe ich ihr nichts von meiner Vergangenheit mit David erzählt. Nichts von Yvi und der Nacht, die alles verändert hat. Nichts von dem Schmerz, der mich fast zerbrochen hätte. Auf Sardinien habe ich zu mir gefunden. Dennoch tun die Erinnerungen immer noch weh.

»Super! Ich wusste, ich kann auf euch zählen. Das wird eine affenstarke Party.« Schon schlüpft David in seine Rolle als King Louis und läuft vorgebeugt und mit affenartig schlenkernden Armen davon. Emilia kichert entzückt, und auch mir entschlüpft ein leises Lachen. Davids Humor war eines der Dinge, die ich immer an ihm gemocht habe.

Um mich abzulenken, werfe ich einen Blick auf mein Handy. Mit etwas Glück hat sich Jonah gemeldet. Tatsächlich wartet eine Nachricht von ihm darauf, gelesen zu werden. Wärme verdrängt das eisige Gefühl, das David hinterlassen hat, und augenblicklich kann ich all die blöden Gefühle abschütteln, die ich noch immer habe, wenn ich mich an unsere gemeinsame Zeit und besonders ihr Ende zurückerinnere.

- Hey, Äffchen! In welchem Baum kann man dich denn später bewundern? Toi Toi Toi! Das wird eine großartige Aufführung! -

Äffchen? Woher weiß Jonah, dass ich …? Ich habe ihm zwar erzählt, dass wir an einer Interpretation des Dschungelbuchs arbeiten. Dass ich aber bei den Affen eingeteilt bin, habe ich ihm nicht erzählt. Oder? Immer und immer wieder lese ich seine Worte. Mein Pulsschlag beschleunigt sich mit jedem Buchstaben. Jonahs Wortwahl macht mich stutzig. Kann es etwa sein …? Ich springe auf und renne, ohne weiter darüber nachzudenken, los.


JONAH

Wie gebannt starre ich auf mein Smartphone und lehne mich in dem samtigen grauen Sitz zurück. In meinem Magen rebelliert ein ganzer Bienenschwarm und macht es mir schwer, ruhig zu bleiben. Wie Lin wohl reagieren wird?

Keine Stunde länger habe ich es ohne mein Mädchen ausgehalten, und doch hatte ich viel zu viel zu regeln, bevor ich endlich zu ihr konnte. Der Abschied von Barisardo und damit der Entschluss, hier neu zu starten, waren hart genug. Ich wollte zumindest etwas in der Tasche haben, bevor ich auf Lin treffe. Einen Plan mindestens, der mir ein Leben an ihrer Seite ermöglicht. Alles organisiert im besten Fall.

Es heißt, man macht keinen Fehler zweimal. Das habe ich wohl gelernt und breche nicht mehr kopflos die Zelte hinter mir ab, in dem Vertrauen, dass sich schon etwas anderes auftun wird. Zwar habe ich es damals mit dem Aquamarina verdammt gut getroffen. Aber es war dennoch eine harte Zeit, mir auf Sardinien ein neues Leben aufzubauen. Heute bin ich schlauer als damals. Heute weiß ich, worauf es ankommt. Dass ich mich nicht von Luft und Liebe ernähren kann, ist mir inzwischen auch klar. Alles sollte perfekt sein, und dabei habe ich zu viele kostbare Augenblicke verstreichen lassen.

Lin weiß nicht, dass ich in Deutschland bin, geschweige denn, dass ich das Weihnachts-Musical ihrer Schule besuche. Ihrer Frage, ob wir die Weihnachtsfeiertage gemeinsam verbringen, bin ich bislang erfolgreich ausgewichen. Sie denkt sicher, ich würde mich wieder einmal nicht festlegen wollen. Dabei will ich sie einfach nur überraschen. Mit meinem Besuch. Mit der Nachricht, dass ich bei ihr bleiben werde. In Hamburg.

- Äffchen? Jonah, wie kommst du ausgerechnet auf Äffchen? -

Ich grinse breit und spüre die Aufregung. Lin hat den Köder offensichtlich geschluckt. Wann sie wohl hier auftauchen wird? Noch vor der Vorstellung? Ich werfe einen Blick auf das Foto im Programmheft, das alle Darsteller zeigt – auch Lin mit brauner Schminke, zerzausten Haaren und Affenkostüm. Zugegeben, ich habe ein bisschen gebraucht, um sie auf dem Foto zu finden. Das Ensemble ist riesig und das Aufgebot der unterschiedlichsten Verkleidungen enorm. Alles in allem hat Lin es gut getroffen, im Dschungelbuch gibt es durchaus schlechtere Rollen.

Statt einer ausschweifenden Antwort schicke ich ihr nur einen zufrieden lächelnden Smiley und hoffe, sie versteht die Botschaft. Ob sie sich freut, dass ich hier bin? Ich für meinen Teil kann es kaum erwarten, sie endlich wiederzusehen. Viel zu lang waren die Monate ohne sie. Ich wollte es mir erst nicht eingestehen, aber ihre Nähe habe ich schon vermisst. Ach, was sage ich: Es hat mich fast umgebracht, von ihr getrennt zu sein. Sonst säße ich heute nicht auf gepackten Koffern hier.

Dass Lin für mich etwas Besonderes ist, habe ich vom ersten Moment an gewusst. Ich glaube nicht an die Liebe auf den ersten Blick. Habe lange nicht einmal an die Liebe an sich geglaubt. Aber da war etwas zwischen uns. Schon beim ersten Zusammentreffen. Vielleicht war es eine Vorahnung, dass wir mehr füreinander sein würden als Kollegen. Oder aber auch nur die Neugier, was dieses Mädchen auf die Insel getrieben hat. Was es auch war, bis heute hat es mich nicht losgelassen.

»Jonah?«, höre ich Lins aufgelöste Stimme, die augenblicklich ein wohliges Kribbeln in mir hervorruft. »Jonah!«, hallt es in dem Zuschauerraum. Fragend, unsicher.

Ich drehe den Kopf, schaue mich in dem kleinen Theater um, in dem die Schüler der Stage School ihre Weihnachtsvorstellungen darbieten. Verglichen mit den fulminanten Musical-Theatern, in denen die großen Shows für gewöhnlich aufgeführt werden, ist dieses hier recht klein und familiär. Goldglitzer und roten Samt sucht man vergeblich. Alles wirkt nüchtern, weniger verspielt. Dennoch hat der Saal eine freundliche Atmosphäre. Neben mir finden sich hauptsächlich Familien mit Kindern unter den Zuschauern, jüngere Leute, vermutlich Freunde der Darsteller, und ältere Damen, die sich wohl ein bisschen Kultur zu einem moderaten Preis gönnen wollen. Mein Blick schweift weiter über die Köpfe, mit dem einzigen Ziel, Lin endlich zu sehen.

Ich könnte aufstehen. Könnte mich zu erkennen geben und das Wiedersehen abkürzen. Aber das will ich nicht. Ich will es in vollen Zügen genießen.

Will sie sehen, bevor sie mich sieht.

Will auf sie zugehen, bevor sie zu mir kommt, bevor sie ihre Arme ausbreitet, um sie um meinen Hals zu schlingen.

Das Wiedersehen soll perfekt werden.

Plötzlich verspüre ich ein seltsames Gefühl in meinem Magen, das meine Vorfreude dämpft. Wie es wohl gleich sein wird, auf Lin zu treffen? Nach all den Wochen, in denen wir nur telefoniert und geskypt haben. In denen wir uns lange Briefe geschrieben und von unserem Alltag erzählt haben. Hat all das ausgereicht, um unsere Liebe über die endlose Distanz hinüberzuretten? Werde ich noch immer diese tiefe Zufriedenheit spüren, wenn ich sie gleich in die Arme schließe? Was, wenn es ganz anders ist als auf Sardinien? Was, wenn der Zauber verflogen ist? Ich schlucke, um den Kloß loszuwerden, aber er wiegt schwer.

Der Gedanke, genau dort weiterzumachen, wo wir im Aquamarina aufgehört haben, fühlt sich seltsam an. Die Zeit stand nicht still. Nicht für Lin. Nicht für mich. Die Welt hat sich seither weitergedreht. Und doch bin ich nun hier.

»Jonah! Verdammt, wo steckst du?« Ich grinse breit, denn ihre Stimme ist ganz nah. Ich habe es schon auf Sardinien gemocht, wenn sie sauer wurde. Dann bekommt sie diesen kämpferischen Ausdruck auf ihrem Gesicht, der ihr verdammt gut steht. Ich genieße es noch einen Augenblick, unentdeckt zu sein. Dann drehe ich mich in die Richtung, aus der ihre Stimme gerade kam und erblicke sie.

Für einen Moment steht alles still. Da ist nur Lin. Wie sie auf den Treppenstufen steht und sich wild umschaut, auf der Suche nach mir. Der braune Tüllrock, an dem ein langer Affenschwanz befestigt ist, umschmeichelt ihre Beine, die in braunen Leggins stecken. Fast muss ich lachen, als ich ihr halb fertig geschminktes Affengesicht sehe. Das Weiß ihrer Augen leuchtet, was neben der braunen Farbe auf ihrer Haut irgendwie ulkig aussieht. In diesem Moment weiß ich, dass all meine Sorgen unbegründet sind. Wie sehr ich dieses Mädchen doch liebe.


LiN

»Jonah? Jonah?«, rufe ich voller Panik, in der Angst, dass mein Hirn mir einen Streich spielt. Dass ich in seine Worte mehr hinein­interpretiert habe und gleich in ein tiefes Loch plumpsen werde. Was, wenn er doch nicht da ist? Ich scanne die Menschen, die bereits in ihren grauen Plüschsitzen darauf warten, dass es endlich losgeht. Die Vorstellung ist gut besucht, wenn nicht gar ausverkauft, doch das ist mir egal. Ich würde auch vor leerem Haus spielen - wenn diese eine bestimmte Person anwesend wäre. Jonah.

Ich dränge mich durch eine Gruppe älterer Leute, die ihre Plätze suchen, stolpere die Treppenstufen hinauf und kann mich kaum genug konzentrieren, um methodisch die Reihen abzusuchen. Wirr und unstet gleitet mein Blick über die Köpfe. Und endlich bleiben meine Augen an einem dunklen Wuschelkopf hängen. Er sitzt in einer der letzten Reihen. Seine Haare trägt er kürzer, verstrubbelter, und die gebräunten Wangen und das Kinn sind mit kurzen Bartstoppeln gesprenkelt. Seine blauen Augen strahlen, und die Grübchen treten dank des breiten Grinsens deutlich auf seinen Wangen hervor. Er sieht genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe. Wie er in unzähligen meiner Träume die Hauptrolle gespielt hat. Und doch ist es etwas anderes, ihn jetzt live und in Farbe tatsächlich vor mir zu sehen.

Ich starre ihn an, unfähig mich zu bewegen. Unfähig zu begreifen, dass es wahr ist. Jonah ist hier. Er ist tatsächlich hier!

Ich schnappe nach Luft, da ich vergessen habe zu atmen. Mein Herz rast unkontrolliert davon, prescht auf Jonah zu. Die Gewissheit sickert wie heilende Medizin in mein Herz, und ich kreische lauthals seinen Namen, stürme auf ihn zu, und ehe er es sich versieht, habe ich mich schon auf ihn gestürzt und bedecke sein Gesicht mit Küssen.

Seine Stoppeln piksen mich in die Lippen doch das ist mir egal. Seine Haut ist angenehm kühl und sein Geruch … Ich schließe die Augen, sauge die Nähe auf, die ich so schmerzlich vermisst habe. Küsse ihn, bis mir schwindelig ist und alles um mich herum verschwimmt. Seine Lippen sind so weich. Wie konnte ich so lange ohne ihn sein, ohne vor Sehnsucht zu zerbrechen? Ich schlinge die Arme um seinen Nacken und ziehe ihn noch enger an mich, kein Blatt passt mehr zwischen uns, und ich wünsche mir, ich könnte mich in ihn verkriechen.

Das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich spüre Jonahs Hände auf meinem Rücken, meinem Hals. Meiner Wange. Ich kann gar nicht genug von seinen Berührungen kriegen, gebe mich ihnen hin und spüre, wie sich in mir eine tiefe Ruhe ausbreitet. Eine Zufriedenheit, die ich monatelang vermisst habe. Seine Zunge neckt mich, erobert mich, bis ich kaum genug Luft bekomme. Ich grinse unter seinen Küssen, denn es fühlt sich wundervoll an, Jonah endlich wieder zu spüren. Ihn zu berühren, zu riechen.

Aber plötzlich mischt sich unter das lautstarke Pochen meines Herzens ein anderes Geräusch, und ich löse mich etwas von ihm. Erst jetzt wird mir bewusst, dass uns alle anstarren und applaudieren. Literweise Blut schießt mir in den Kopf, als mir klar wird, dass ich mit meiner kopflosen Aktion die ganze Aufmerksamkeit auf uns gezogen habe.

Ich suche in Jonahs tiefblauen Augen Halt und grinse ihn schüchtern an.

»Du bist da.« Drei Worte, die so viel Gewicht haben. Die alles für mich bedeuten, denn es ist das, was ich mir so sehnlich gewünscht habe.

Jonah lächelt sanft, mein Blick bleibt an seinen wundervollen Grübchen hängen, die sich wie Halbmonde auf seinen Wangen abzeichnen. Er sieht so wunderschön aus, dass ich einfach nicht genug von diesem Anblick kriege.

»Hey, Surfergirl!« Jonah hört sich heiser an, und er räuspert sich schnell, um davon abzulenken, dass ihn unser Wiedersehen wohl ebenfalls ganz schön mitnimmt. Ganz gelingen will es ihm allerdings nicht. Ich liebe es, den Kosenamen, den er mir auf Sardinien gegeben hat, wiederzuhören. Es erinnert mich an unsere gemeinsame Zeit am Strand und im Wasser auf dem Paddleboard.

»Was machst du hier? Woher weißt du …?« Ich hebe noch immer völlig aufgelöst die Arme. Fassungslos über die Überraschung schüttle ich unentwegt den Kopf und kriege das dümmliche Grinsen nicht in den Griff. Ebenso wie mein Herzschlag ist meine Mimik völlig außer Kontrolle geraten.

»Du weißt doch, dass ich dich stalke«, scherzt Jonah und grinst schief. Seine Augen leuchten, und seine Gesichtszüge sind so entspannt, wie ich ihn von unseren morgendlichen Treffen am Strand in Erinnerung habe.

Ich kann nicht anders. Erneut presse ich meine Lippen auf seine. Küssen. Ich muss ihn einfach küssen. Immer und immer wieder. Er scheint nichts dagegen zu haben, denn mit einem Seufzen zieht er mich näher und vergräbt seine Hände in meinen zerzausten Haaren. Wie sehr ich seine Berührungen vermisst habe. Sie fühlen sich so vertraut und gleichzeitig auch aufregend neu an. Als hätten wir uns nicht schon tausende Male zuvor geküsst. Uns nicht hunderte Male berührt. Ich gebe mich seinem Drängen hin, lasse mich von seiner Zunge necken und ertrinke in dem Kuss, der so sehnsüchtig schmeckt.

»Ich muss hinter die Bühne«, stöhne ich, als der Gong ertönt, der die Zuschauer auf ihre Sitze lotsen soll. Aber was, wenn Jonah einfach verschwindet? Wenn er später nicht mehr da ist oder alles nur Einbildung war? »Sehen wir uns nachher?«

»Ich weiß nicht … Eigentlich hatte ich noch etwas anderes vor.«

Fragend lege ich den Kopf schief. In mir schrillen sämtliche Alarmglocken, und mein Herz droht ins Bodenlose zu plumpsen. Warum kommt er her, wenn er nicht bleiben möchte? Doch Jonah lacht schon los und pustet damit die Schwere einfach davon.

»Ich gehöre ganz dir.« Auch wenn es nur ein blöder Spruch sein soll, fühlt es sich fantastisch an, das zu hören. Mir. Mir allein!

»Wie lange bleibst du?«, will ich noch wissen und bereue schon, gefragt zu haben. Ich möchte nämlich gar nicht hören, dass unsere Zeit gezählt ist. Dass jede Sekunde kostbar ist und schon wieder ein Abschied wie eine dunkle Gewitterwolke über uns hängt. Auch wenn ich mir natürlich schmerzlich bewusst bin, dass Jonah nicht ewig bleiben kann.

»Solange du möchtest.« Auch Jonahs Mundwinkel sind wie festgetackert und er hat Mühe, ernst zu bleiben. Seine Worte bewirken, dass sich alles in mir leicht und unbeschwert anfühlt. Am liebsten würde ich losjubeln, obwohl mir klar ist, dass Jonah nur scherzt.

»Für immer?«, hauche ich gespielt ungläubig und presse mir die Hände an die Wangen. Ich weiß zu gut, dass er sich ungern in die Ecke drängen lässt. Aber die Vorlage, die er mir gegeben hat, kann ich schwerlich ungenutzt lassen.

»Dir wird es wie eine Ewigkeit vorkommen!«, knurrt er drohend und wackelt mit den Augenbrauen, so dass ich glücklich auflache. Eine Antwort, mit der ich leben kann. Für den Moment.

Ich stehle mir noch einen Kuss und reiße mich schweren Herzens los. Es schmerzt schon förmlich, mit dem Entgleiten seiner Hand auch die letzte Verbindung abreißen zu lassen. Ich möchte nicht gehen, ihn nicht zurücklassen. Nicht wieder.

Also drehe ich noch einmal um. Nur noch ein letzter Kuss.

»Wehe, du bist nachher nicht mehr da«, warne ich ihn atemlos zwischen seinem Kuss und seinem Lachen. »Nicht, dass du dich in Luft auflöst. Oder alles nur ein Traum war.« Der nächste Gong drängt mich dazu, endgültig zu gehen, und ich renne die Treppen hoch, um hinter die Bühne zu eilen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht und einem polternden Herzen in der Brust.

Emilia starrt mich mit zusammengekniffenen Augen an, als ich in die Garderobe komme.

»Bist du irre? So kurz vor unserem Auftritt zu verschwinden? Seit wann bist du unter die Qualm-Fraktion gegangen? Warum lässt du mich hier so allein stehen? Du weißt doch, ich sterbe vor Lampenfieber!« Emilia fuchtelt mit den Armen. Ich kann ihren Worten dennoch kaum folgen. »Jetzt grins nicht so dämlich!«

»Er ist da«, flüstere ich tonlos und kann mein rasendes Herz nicht beruhigen. Es klopft so heftig, dass ich befürchte, es springt gleich aus meiner Brust. Ich drücke meine Hände darauf, in der Hoffnung, dass es nicht platzt. Vor Glück. Vor Aufregung.

»David? Ja, natürlich ist er da – du hast vorhin sogar mit ihm geredet. Was ist denn los mit dir? Drehst du jetzt völlig durch? Hey, ich bin hier diejenige, die das erste Mal auf einer Bühne stehen wird.« Sie zieht die Augenbrauen zusammen und mustert mich mit einem besorgten Gesichtsausdruck. »Du kippst jetzt aber nicht um und lässt mich da allein raus? Lin … jetzt sag doch was?!«

»Jonah …« Ich hole tief Luft und schaue ihr direkt in die Augen. »Jonah ist hier.« Erst als ich die Worte sage, realisiere ich, dass es tatsächlich kein Traum ist. Mich durchströmt eine Nervosität, die mich ganz zappelig macht.

»Hä?« Sie dreht sich theatralisch zur einen, dann zur anderen Seite. »Wo?«

»Blödie! Er schaut sich die Vorstellung an.« Ich deute in Richtung des Saales, in dem das Publikum bereits die ersten Akte vom Dschungelbuch dargeboten bekommt.

»Cool! Scheint als hätte er dieselbe Idee gehabt wie du. Nur war er schneller.« Sie zwinkert mir zu und scheint sich köstlich zu amüsieren, dass ich so durch den Wind bin. »Freust du dich?«

»Lin! Du musst dich fertig machen. Hopp, hopp!« Nathalie läuft durch die Garderobe, um unsere Kostüme zu kontrollieren und steht nun demonstrativ hinter mir. Abwartend tippt sie mit dem Fuß auf den Dielenboden. »In fünfzehn Minuten Treffpunkt hinter der Bühne«, pfeffert sie ihre Anweisungen und macht damit deutlich, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, um in meinen Gedanken zu schwelgen. Schnell greife ich nach der braunen Schminke und tunke den Schwamm in die Dose. Ich sollte mich schleunigst in ein Äffchen verwandeln, wenn ich nicht gleich aus der Truppe unangenehm herausstechen möchte.

»Komm, ich helf dir«, bietet sich Emilia an und beginnt meine Haare zu toupieren. Ich konzentriere mich derweil darauf, regelmäßig ein- und auszuatmen, womit ich maßlos überfordert bin. Immer wieder halte ich unwillkürlich die Luft an und grinse nicht ganz äffchenlike, während ich mir das braune Schwämmchen auf meine glühende Haut tupfe.

Zu wissen, dass Jonah zwischen all den Zuschauern sitzt, fühlt sich wunderbar und seltsam zugleich an. Ich brenne darauf, ihm zu zeigen, wie ich mich in den letzten Monaten entwickelt habe. Seine Meinung ist mir so verdammt wichtig – und doch frisst sich die Nervosität in meine Eingeweide. Es ist etwas anderes, neben Sebi und Lola auf der Bühne zu stehen und zu glänzen. Ein Stück zu performen, das ich hunderte Male geübt habe, während Jonah dabei war. Doch jetzt wird er mich zum ersten Mal auf einer richtigen Bühne erleben. Neben anderen Musical-Schülern. Neben Menschen, die wie ich eine gewisse Begabung haben. Hier bin ich eine unter vielen.


JONAH

Puh, das Wiedersehen ist geschafft, und ich bin mehr als erleichtert, dass sich Lin ganz offensichtlich gefreut hat. Sie konnte kaum die Finger von mir lassen, und mir ging es ganz genauso. Vielleicht war es doch nicht die cleverste Idee, sie hier in aller Öffentlichkeit zu treffen. Eine andere - etwas intimere - Location hätte bessere Möglichkeiten eröffnet.

Aber im Grunde ist es nicht so übel, mich jetzt wieder runter zu kühlen und Lin damit die Gelegenheit zu geben, erst einmal zu verdauen, dass ich da bin. Ob ich ihre Pläne für Weihnachten durchkreuze? Selbst wenn, bin ich egoistisch genug, dass ich das Wiedersehen in vollen Zügen genießen werde.

Die Show beginnt mit einem Schattenspiel, das mich an die klassischen Vorführungen aus Bali erinnert. Ich räuspere mich und setze mich etwas aufrechter, um der Aufführung folgen zu können. Eine Erzählstimme aus dem Off entführt die Zuschauer in die Vergangenheit von Mogli, wie er zu den Wölfen kam. Als Kind habe ich die Geschichte geliebt, und auch heute fasziniert das Stück um Mogli und Balu die um mich herumsitzenden Menschen. Alle Augen sind gebannt auf die Bühne gerichtet, und im Zuschauerraum ist es mucksmäuschenstill.

Ungeduldig drücke ich mich auf dem Sitz herum, bis ich eine einigermaßen bequeme Position gefunden habe. So sehr ich mich bemühe, ich kann mich einfach nicht auf die Show konzentrieren. Jetzt wo ich Lin endlich wiedergesehen habe, fällt es mir noch schwerer, wieder von ihr getrennt zu sein. Und sei es nur für die Dauer dieser Show.

Ich zwinge meinen Blick auf die Bühne, um meine Gedanken in den Griff zu bekommen, die immer und immer wieder zu ihr schweifen. Mogli wird von einem jungen Mädchen gespielt, und schon beim ersten Song weiß ich, dass sie Lin nicht das Wasser reichen kann. Ihre Stimme ist toll, die Ausstrahlung grandios. Ich kann nachvollziehen, warum sie die Hauptrolle ergattert hat. Aber ihr fehlt das Besondere, das Einzigartige. Das, was Lin in ihrer Stimme trägt.

Ich blättere in dem Programmheft, das ich mir am Eingang gekauft habe. Das Mädchen ist bereits im dritten Jahr und wird im Sommer ihren Abschluss machen, verrät mir ihre Vita. Sicher hat sie eine große Karriere vor sich.

Mein Blick huscht immer wieder zwischen Bühne und Programmheft hin und her. Erst als ich an einem Namen hängenbleibe, weiß ich, dass ich unbewusst nach ihm gesucht habe. David. So sieht also das feige Arschloch aus, dem ich Lins Flucht ins Paradies zu verdanken habe.

Ich kneife die Augen zusammen und spieße den Kerl mit meinem Blick auf. Das Foto ist vorteilhaft getroffen. Er sieht gar nicht so falsch und mies aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Sicher ahnt keiner der Leute, die ihn hier in dem Magazin oder auf der Bühne sehen, zu was er fähig ist. Es gab Zeiten, da stand auf Verrat die Todesstrafe. Schade, dass wir heute in einer Demokratie leben.

Ich seufze, als ich lese, dass Lins Ex ebenfalls in der Crew der Affen spielt. Als King Louis mimt er den König der Affen. Warum um Himmels willen weiß ich davon nichts? Ist das Arschloch Lin inzwischen schon so egal, dass sie es nicht für nötig hält, in unserer wenigen Zeit am Telefon über ihn zu sprechen? Oder traut sie mir etwa nicht? Kurz überlege ich, wie ich mit der Info umgehen soll. Mir sollte es eigentlich egal sein, denn ich glaube kaum, dass Lin freiwillig mehr Zeit als nötig mit dem Kerl verbringt, der sie so tief verletzt hat. Aber um Lin tut es mir leid. Ich wäre gerne für sie da gewesen.

Wie es ihr wohl dabei ergangen ist, gezwungenermaßen mit ihrem Ex zu proben? Ob sie über all das, was er ihr angetan hat, schon hinweg ist? An ihrer Stelle hätte ich ihn wohl zu Kleinholz verarbeitet, wenn ich ihm gegenübergetreten wäre. Ich hoffe inständig für ihn, dass er im Anschluss an die Show die Biege macht. Ansonsten würde er mich auf eine harte Belastungsprobe stellen, denn zu gerne würde ich ihm zeigen, was ich davon halte, dass er mein Mädchen wie ein Stück Dreck behandelt hat.

Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne, auf der inzwischen Bagheera und Balu stehen und sich um das Menschenkind kümmern. Die Inszenierung ist wirklich gut gelungen. Was anderes hätte ich bei der Schüleraufführung der Stage School aber auch nicht erwartet. Hier werden die Talente der Branche ausgebildet. Die Stars von morgen. Die Produzenten können also aus den Vollen schöpfen, was die Besetzung angeht. Ganz zu schweigen von dem Equipment, das ihnen zur Verfügung steht.

Mein Magen kribbelt, als sich das Bühnenbild wie von Zauberhand ändert und Mogli inmitten einer Ruine schläft, die vom Dschungel überwuchert wird. Ich weiß, dass nun die Affen an der Reihe sind.

Ich horche beim ersten Ton von Primaten-David auf. Selten war mir ein Kerl auf Anhieb so unsympathisch. Liegt es daran, dass ich weiß, wie egal ihm die Gefühle anderer Menschen sind?

Gleich wird Lin ebenfalls auf der Bühne auftauchen. Gespannt beuge ich mich vor, um keinen Ton zu verpassen, um den Blick freizuhaben auf das Mädchen, das mein Herz höher schlagen lässt. Ob ihre Stimme noch immer dieses Ungewöhnliche hat? Ihre Stimme ist nicht so glatt und glockenhell wie die der anderen Mädchen. Aber sie hat eine faszinierende Nuance, die mir jedes Mal Gänsehaut verschafft. Ich hoffe sehr, dass die Coaches ihr dieses Raspeln nicht abtrainiert haben.

Ich brauche keine Sekunde, um Lin unter all den Affen, die auf der Bühne herumwuseln, auszumachen. Die Mädchen gleichen einander, wie es allzu oft im Ensemble üblich ist. Alle haben ungefähr die gleiche Größe, die gleiche Statur und dank der Maske nun auch dieselbe braune Haarfarbe. Keine sticht optisch besonders heraus, sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Austauschbar.

Ich versuche mich auf das Gesamtbild zu konzentrieren, mein Blick huscht dabei immer wieder zum Anführer der kleinen Gruppe. Affe – das passt zu ihm. Nicht nur zu seinem Verhalten, auch zu dem Bild, das ich von ihm habe. Seine Stimme ist nicht schlecht. Typisch Musical eben. In einer Band würde er jedenfalls gnadenlos untergehen. Ganz im Gegensatz zu Lin, die sich tatsächlich schwer damit tut, sich stimmlich ins Ensemble einzufügen, wie sich gerade bei ihrem Auftritt zeigt.

Liegt es nur daran, dass ich meine Augen kaum von ihr abwenden kann und ihre Stimme unter Tausenden heraushören würde? Ich muss an Adrians Worte denken, daran, dass er der Meinung ist, Lin sei im Musical nicht richtig aufgehoben.

Im Aquamarina war es kein Kunststück, herauszustechen. Keiner der anderen Animateure war ansatzweise so begabt wie Lin. Aber die Künstler auf dieser Bühne sind aus einem bestimmten Grund hier: Die Coaches der Stage School sagen ihnen eine große Karriere voraus. Rohdiamanten, die geschliffen werden wollen. Aber ist Lins Talent nicht zu schade, um all das Besondere daran abzuhobeln, bis sie im Einheitsschliff glänzt?

Ich verfolge jede ihrer Bewegungen und staune nicht schlecht, wie viel sie in den letzten Monaten doch dazugelernt hat. Ihr Tanz ist noch geschmeidiger, ausdrucksvoller als im Sommer, ihre Ausstrahlung einzigartig. Stolz macht sich in mir breit, denn diese talentierte junge Frau gehört zu mir.

Lins Szene geht viel zu schnell vorüber, und mit ihr verschwindet auch David von der Bühne, worüber ich weniger traurig bin. Ich atme tief durch. In mir brodeln die unterschiedlichsten Gefühle, und dieser Cocktail macht mich wirklich müde. Benommen lehne ich mich zurück und versuche zu entspannen.

Der Rest der Show plätschert an mir vorüber. Ich bin einzig und allein wegen Lin hier und daher kurz versucht, mich aus dem Raum zu stehlen. Doch ich bringe es nicht über mich – zu gut weiß ich, wie man sich fühlt, wenn man auf der Bühne steht und das Publikum verlässt den Raum. Automatisch bezieht man es auf sich und seine Leistung.

Ich krame mein Notizbuch hervor und versuche Worte zu finden. Zu viel schwirrt mir im Kopf herum. Das Wiedersehen mit Lin. Die unschönen Gefühle, die sich in mir auftun, sobald ich auch nur an David denke. Die Tatsache, dass Lin es vorgezogen hat, mich im Unklaren zu lassen, mit wem sie in der Gruppe performt ... Songs zu schreiben hilft mir, alles klarer zu sehen. Wie habe ich es nur all die Zeit überstanden, in der ich der Musik den Rücken zugewandt habe? Erst durch Lin habe ich den Mut gefunden, mich wieder mit allem auseinanderzusetzen, anstatt es einfach beiseitezuschieben.

Gedankenversunken blättere ich durch die Seiten, erinnere mich an die Schwermut, die zwischen den Zeilen steckt. Die Sehnsucht, die mich an manchen Tagen schier um den Verstand gebracht hat, schwingt in jedem Wort mit. Es fühlt sich seltsam an, von einem anderen Menschen so angezogen zu sein. Dabei wäre ich gerne frei und unabhängig. In gewisser Weise war ich das auch. Bis Lin einen Teil meines Herzens gestohlen hat. Nein, korrigiere ich mich, bis ich es ihr geschenkt habe. Aus freien Stücken.

Ich seufze. Und warte sehnsüchtig darauf, dass der Vorhang fällt.