1.Auflage 2017
©Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld
Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:
ISBN 978-3-667-11056-5 (Print)
ISBN 978-3-667-11234-7 (Epub)
Fotos: Tanja und Denis Katzer
Text: Denis Katzer
Lektorat: Dr. Sigrun Künkele, Stephanie Jaeschke
Titelgestaltung und Layout: Felix Kempf, fx@fx68.de
Lithografie: Mohn Media, Gütersloh
Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice, München
Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk, auch
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»DAS LEBEN IST WIE FAHRRAD FAHREN. UM DIE BALANCE
ZU HALTEN, MUSST DU IN BEWEGUNG BLEIBEN.«
ALBERT EINSTEIN
DIE GROSSE REISE
SIBIRIEN
MONGOLEI
CHINA
AUSRÜSTUNG
30 Jahre unterwegs zu sein und damit die längste dokumentierte Expedition der Menschheitsgeschichte zu unternehmen, das ist unser Ziel, dem wir uns seit 1991 widmen. Dabei haben wir mittlerweile 400.000 Kilometer auf dem Rücken von Kamelen und Pferden zurückgelegt sowie zu Fuß oder mit landesüblichen Verkehrsmitteln unzählige Länder bereist. Es ist eine Reise zu Grenzen und über diese hinaus. Zu den Grenzen der Länder, der Kontinente, der Völker und Kulturen – und an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit des eigenen Ichs. Dabei geht es uns nicht nur um das Reisen, sondern auch darum, der westlichen Welt andere kulturelle und philosophische Werte und Anschauungen näherzubringen und sie für den Schutz unserer bereits schwer in Mitleidenschaft gezogenen Erde zu sensibilisieren. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass wir nur diese eine Welt haben, auf der wir leben, und setzen uns dafür ein, dass die Kinder von morgen noch Bäume sehen und Vögel zwitschern hören können und nicht mit Atemschutzmasken herumlaufen müssen. Unsere Reise will dazu beitragen, die Menschen daran zu erinnern, dass es neben der Arbeit, den vermeintlichen Verpflichtungen und dem Hinterherjagen nach Geld auch andere Dinge gibt, die es weitaus mehr wert sind, gelebt zu werden. Unsere Reise ist eine große Reise, eine wichtige Reise für uns selbst. Es ist eine Selbstfindung, eine Selbsterfahrung, eine Erneuerung, eine Erforschung von Psyche, Seele und Körper, die wir offen, ungeschminkt und ehrlich mit vielen Menschen teilen. Denn wenn wir mit unserem Leben nur ein Bruchteil dazu beitragen können, den einen oder anderen positiven Gedankenanstoß zu geben, sehen wir eine Bestätigung unseres frei gewählten Expeditionsdaseins.
Nachdem wir 2011/2012 bei den Tuwanomaden überwintert hatten und bald 3.000 Kilometer auf Pferden durch die Mongolei geritten waren, wollen wir unsere Reise nun mit E-Bikes fortsetzen. Damit wir dort weitermachen können, wo unsere Expedition zu Pferd aufgehört hat, werden wir unsere Räder mitsamt Ausrüstung mit der Transsibirischen Eisenbahn von Berlin über Moskau bis nach Ulan-Ude in Sibirien transportieren.
»Es muss ein Wunder geschehen, um das alles zu schaffen«, sage ich zu Tanja. Es ist schon eigenartig, da kann man mit der Vorbereitung zu einer großen Reise noch so zeitig beginnen, und trotzdem wird die Zeit kurz vor Aufbruch immer knapp. Ich denke, es ist für einen Außenstehenden kaum nachvollziehbar, was es bedeutet, sich für gut zwei Jahre aus Deutschland zu verabschieden. Selbst für uns, die wir solch einen Prozess in den letzten 25 Jahren schon oft durchlebt haben, ist es immer wieder verblüffend, an was man dabei alles denken muss. Allein der Papierkram ist unfassbar. Und obwohl wir mittlerweile fast alles zusammen haben, fehlen drei Wochen vor Aufbruch noch die Kameraausrüstung, ein Laptop sowie wichtige Komponenten, mit denen wir unsere E-Bike-Akkus laden wollen. Aber leider hatte der Laptop einen Defekt und wird gerade repariert. Die Kameras hingegen sind neu auf dem Markt, und ein Objektiv wird erst in wenigen Tagen geliefert. Und die fehlenden Komponenten für unsere Solaranlage befinden sich in der Entwicklungsabteilung bei Bosch, die wartet ebenfalls auf spezielle Teile, die ein Zulieferer schon lange versprochen hat. Tja, so geht es mit der Planung. Man steckt nicht immer drin, und es kommt meist anders, als man denkt. Aber irgendwie werden wir es schaffen.
Die Zugtickets sind auf jeden Fall gebucht. Von Nürnberg nach Augsburg, dann umsteigen in einen Nachtzug nach Berlin. Dort nehmen wir einen Zug, der von Frankreich via Berlin und Warschau nach Moskau fährt. In Moskau müssen wir dann circa 20 Kilometer zu einem anderen Bahnhof radeln, wo wir unser Hab und Gut in die Transsibirische Eisenbahn laden, um bis an den Baikalsee zu gelangen. Damit wird ein Traum wahr. Momentan wissen wir allerdings noch nicht, wie viel Kilogramm Gepäck es werden und ob wir unsere Räder und Anhänger überhaupt in die Transsib laden dürfen. Denn dafür gibt es keine Bestimmungen; jedenfalls konnte uns das bisher niemand sagen.
Insgesamt, so schätze ich, werden wir knapp 300 Kilogramm in das Abteil stopfen müssen. Eines der schwersten »Gepäckstücke« bringt dabei 35 Kilogramm auf die Waage, ist weiß wie Neuschnee, unglaublich haarig und heißt Ajaci. »Bist du verrückt?«, habe ich zu Tanja gesagt, als sie meinte, wir sollten unseren Hund einfach mitnehmen. Denn eigentlich sollte er während unserer Abwesenheit bei Freunden bleiben. Doch als sich Ajaci als recht stürmisch erwies, wollten wir ihnen das nicht antun, und eine professionelle Unterkunft war uns zu teuer. Also beschlossen wir, Ajaci mitzunehmen. Aber war das überhaupt möglich? Wie sah es mit den verschiedenen Quarantänebestimmungen der unterschiedlichen Länder, Impfungen, internationalem Impfausweis, Maulkorbpflicht für die Eisenbahn, einem speziellen Hundeanhänger mit großer Zulademöglichkeit, Testfahrten mit Hund und Hänger usw. aus? Wohin sollte das Gepäck, das Tanja ansonsten im Radanhänger transportiert hätte? Schlussendlich hat die Entscheidung, Ajaci mitzunehmen, unserem Zeitplan etwas strapaziert, aber so wie es jetzt aussieht, könnte es funktionieren.
Was uns allerdings noch fehlt, ist das Visum für China. Da wir das Land mindestens sechs Monate, noch lieber zwölf Monate, bereisen möchten, benötigen wir ein spezielles Visum. Denn im Normalfall darf sich ein Reisender nur vier Wochen in China aufhalten und ist dabei verpflichtet, für jeden Tag eine Hotelbuchung vorzuweisen. Das wäre für uns jedoch das Ende vor dem Anfang. Also fahre ich im Juni zur chinesischen Botschaft nach Berlin zu einem Gespräch, von dem es abhängt, ob wir nach China reisen dürfen oder nicht. Schon irre, wenn man bedenkt, dass wir seit etwa zwei Jahren diese Tour planen und so ein Stempel im Pass darüber entscheidet, ob wir unseren Traum verwirklichen können oder nicht. Aber es geht alles gut, und am 16. Juni bekommen wir grünes Licht aus Peking und von der chinesischen Botschaft in Berlin: Wir erhalten beide ein Sechsmonatsvisum. Das ist uns gegenüber ein großer Vertrauensbeweis, und wir sind den Verantwortlichen dafür sehr dankbar, auch wenn wir wegen der Größe des Landes gern länger durch China reisen würden. Leider ist die maximale Aufenthaltsdauer von Journalisten jedoch auf sechs Monate begrenzt. Daher werden wir jeder einen weiteren Pass mitnehmen, diesen noch aus der Mongolei nach Deutschland schicken und ein Geschäftsvisum beantragen. Auf diese Weise sollten wir mit etwas Glück dann weitere drei Monate bleiben dürfen.
Mittlerweile steht die Ausrüstung auch so weit, und ich hoffe, wir haben nichts vergessen. Inklusive Ajaci müssen wir pro Rad circa 140 bis 150 Kilogramm transportieren. Hoffentlich geht das bei dem Gewicht gut, aber ich war mehrfach bei Riese & Müller, unserem Fahrradhersteller, zur Schulung, damit ich die Räder bei Bedarf reparieren kann. Auch haben wir gestern bei Bosch noch mal andere Antriebsritzel eingebaut. Mit dem 15-Zahn-Ritzel sollten wir nun auch steile Anstiege überwinden können.
Um 0 Uhr verlassen wir den Ort Selenga. »Eine Stunde noch«, sage ich, klettere von meinem Stockbett und beginne, die Satteltaschen und Taschen aus den Fächern zu räumen. Draußen ist es schon seit zwei Stunden hell, nicht weil hier ewig die Sonne scheint, sondern weil sich das Leben im Zug nach wie vor nach Moskauzeit richtet. Mittlerweile haben wir fünf Zeitzonen durchquert, und es ist in Wirklichkeit nicht Mitternacht, sondern 5:00 Uhr morgens. Damit wir während der Ankunft keinen Stress beim Ausladen haben, bringen wir unsere Ausrüstung schon jetzt in den schmalen Bereich vor der Zugtür. »Ich gehe schon mal zum Gepäckabteil und versuche, die Räder dort rauszubekommen«, sage ich zu Tanja. Dort angekommen, hole ich die E-Bikes nervös aus dem Abteil, setze die Vorderräder ein und untersuche sie auf Schäden. Außer einem kaputten Schutzblech und ein paar Kratzern kann ich im Augenblick nichts feststellen. Dann rucken die Waggons, und der Zug kommt zum Stehen. Ein Fahrgast ist so freundlich und hilft mir beim Ausladen der Anhänger und Fahrräder, während Tanja zwei Waggons weiter zusammen mit einem hilfsbereiten Schaffner die gesamte Ausrüstung auf den Bahnsteig trägt. Alles geht völlig reibungslos vonstatten. Kaum stehen die Räder auf der Plattform, unterziehe ich sie einer erneuten Untersuchung. »Alles klar?!«, ruft Tanja, die etwa 50 Meter von mir entfernt neben einem Berg von Taschen steht und diesen mit Ajaci bewacht. »So wie es aussieht, ist nicht viel kaputtgegangen!«, antworte ich und packe mein Werkzeug und die Ersatzteile aus, um die gebrochene Schutzblechhalterung zu reparieren. Die Zugchefin kommt noch mal bei mir vorbei und wünscht uns eine gute Reise. Dann rucken die Waggons erneut. Einige der Reisenden und Schaffner winken uns zu, als die Transsibirische Eisenbahn in Richtung Wladiwostok verschwindet. Ich unterbreche kurz meine Arbeit und blicke ihr etwas wehmütig hinterher, denn mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit werden wir in diesem Leben keine Gelegenheit mehr bekommen, noch einmal mit diesem Zug zu fahren.
Kaum ist er verschwunden, montiere ich die Anhänger an die Räder, befestige die Solarpanels darauf, klicke sie an die E-Bikes und fahre zu Tanja, um den Taschen- und Ausrüstungsberg auf ihnen zu verladen. Nach einer knappen Stunde sind wir bereit, den Bahnhof zu verlassen. »Schon faszinierend, dass wir alles irgendwie untergebracht haben«, freut sich Tanja. Dann schieben wir die Räder aus dem Bahnhof, verladen Ajaci in seinen Anhänger, gurten ihn an und steigen in den Sattel. Anschließend holpern wir vorsichtig über den aufgebrochenen Gehsteig los, und Ajaci quietscht regelrecht vor Vergnügen, endlich unterwegs zu sein. Nach etwa dreieinhalb Kilometern stehen wir vor unserer Unterkunft. »Sieht ganz nett aus«, stellt Tanja fest. »Ja, liegt vor allem sehr zentral. Ich denke, da werden wir uns die kommende Woche wohlfühlen«, pflichte ich ihr bei. Wir klingeln und nach einem kurzen elektronischen Ton öffnet sich die Tür. Eine freundliche Russin hat bereits auf uns gewartet, da Tanja die Unterkunft noch von Deutschland aus reserviert hat. Wir dürfen unsere Räder in den Empfangsraum stellen und bekommen dann unser Zimmer gezeigt, das sich direkt unter dem Dach befindet und nur Dachfenster hat. »Verdammt stickig hier drin«, stelle ich fest. »Wird schon gehen«, meint Tanja. »Na, ich weiß nicht, wenn es jetzt schon morgens um 8 Uhr so heiß ist, glaube ich, dass sich dieser kleine Raum schnell zu einer Sauna entwickelt«, entgegne ich.
Nachdem die Räder in der kühlen Lobby unten verstaut und abgesperrt sind und wir die gesamte Ausrüstung ins Zimmer getragen haben, erkunden wir erstmal die nähere Umgebung. Wir wollen wissen, wo wir die kommenden Tage verbringen werden, bevor wir in Richtung Mongolei aufbrechen und unsere große Abenteuerfahrt auf den E-Bikes beginnt.
Heute ist es tatsächlich so weit: Wir brechen endlich auf. Diesmal werden wir nichts verladen, irgendwohin transportieren, einen Testtrip unternehmen oder eine Kurzstrecke fahren, um die Unterkunft zu wechseln. Diesmal brechen wir tatsächlich zu unserer lang geplanten E-Bike-Tour auf. Um der kommenden Hitze ein wenig zu entgehen, frühstücken wir bereits um 6 Uhr. Noch sind die Temperaturen angenehm. Ich trage mit Tanja die ersten Satteltaschen vom ersten Stock nach unten, und während ich unsere Räder startklar mache, schleppt Tanja den Rest herunter. Dann geht sie mit Ajaci Gassi. Da die Routine noch fehlt und ich noch einige Einstellungen an den Satteltaschen vornehmen muss, damit sie nicht an der Gabel schaben, dauert es über eine Stunde, bis wir startklar sind. »Dritter Gang und Stufe Eco«, sage ich zu Tanja, um unsere schwer beladenen E-Bikes aus dem Stand in Schwung zu bringen, ohne dass uns das Gewicht gleich auf den ersten Metern zu Boden reißt. »Alles klar?«, frage ich. »Ja, alles klar«, antwortet sie, und dann starten wir Richtung Süden und mongolischer Grenze. Noch etwas unsicher jonglieren wir die Räder mit Anhänger um die Löcher im Asphalt. Ajaci quietscht und winselt. Obwohl wir mit ihm das Anhängerfahren schon geübt haben, ist es für ihn noch gewöhnungsbedürftig. »Dort vorn müssen wir rechts!«, ruft Tanja. »Ja, ich weiß«, antworte ich und lenke auf die Hauptstraße. Die ersten Autos hupen uns an. Die Fahrer lachen freundlich und halten ihre Faust mit den erhobenen Daumen aus dem Fenster. »Das ist großartig!«, ruft Tanja lachend. »Absolut!«, antworte ich, überglücklich wieder unterwegs sein zu dürfen.
»Gdje nachoditza ulitsa Iwolginsk? (Wo ist die Straße nach Iwolginsk?)«, fragen wir ab und an, um keine unnötigen Umwege zu fahren. Dann befinden wir uns auf der Fernstraße A165. Auch hier begrüßen uns die Autofahrer auf beiden Straßenseiten mit ihrem Gehupe. Anfänglich fühlen wir uns noch geehrt, doch nach einiger Zeit erschreckt es uns, wenn uns ein großer Lastwagen mit seinem lauten Horn fast vom Sattel bläst, um dann freundlich zu winken. Gegen 10 Uhr ist es schon gnadenlos heiß, und die Sonne verbrennt das Land. Alles um uns herum ist trocken und verdorrt. Wer hätte gedacht, dass es in Sibirien so heiß werden kann?
Um unser System besser kennenzulernen, fahren wir noch immer auf der leichtesten Unterstützungsstufe Eco. Unser Bordcomputer hat fünf Stufen: keine Unterstützung, Eco, Tour, Sport und Turbo. Noch wissen wir nicht, wie viele Kilometer ein Akku bei dieser Affenhitze, den teils schlechten Straßen und der gewaltigen Zuladung hält. In den kommenden Tagen wollen wir uns daher langsam herantasten und herausfinden, mit welcher Unterstützungsstufe wir wie lange fahren können. Eine spannende Sache, da wir nicht riskieren wollen, plötzlich ohne Unterstützung dazustehen, vor allem nicht dann, wenn wir über die zahlreichen Pässe fahren müssen, die teilweise auf über 900 Meter führen. Schon während unserer letzten Sibiriendurchquerung mit dem Rad mussten wir häufig schieben. Und da hatten wir keinen Hund, Hundefutter, sechs Akkus, zwei Ladebatterien, zwei große Solarpanels und eine komplette Winterausrüstung für bis zu –30 °C dabei. Damals waren wir insgesamt circa 80 bis 100 Kilogramm leichter. Mein Rad wog rund 100 bis 130 Kilogramm, je nachdem, wie viel Wasser wir geladen hatten. Tanjas lag bei insgesamt etwa 80 Kilogramm. Und dennoch war es ein gewaltiger Kraftakt, unsere schweren Fahrräder Tausende von Kilometern über die Karpaten, den Ural, das Baikalgebirge, das Chamar-Daban-Gebirge und die mongolischen Berge bis nach Ulan-Bator zu bringen.
Mit den E-Bikes haben wir nun ein vollkommen neues Zeitalter erreicht. Laut Aussage von Bosch sowie Riese & Müller werden uns die technischen Errungenschaften das Leben, trotz höherem Gewicht, leichter machen. Ich kann nur beten, dass sie recht behalten, denn im Augenblick zeigt das Thermometer 45 °C in der Sonne, und obwohl mich der Elektromotor in der leichten Stufe unterstützt, ist es anstrengend. Klar spielt momentan auch unsere ausbaufähige Fitness eine wesentliche Rolle, denn in der heißen Phase der Vorbereitung haben wir nicht mehr als fünf bis acht Stunden in der Woche trainiert. Und das ist entschieden zu wenig! »Wir trainieren, wenn wir unterwegs sind. Wir lassen es einfach langsam angehen«, habe ich jedem geantwortet, der sich danach erkundigt hat. Nun sind wir unterwegs, und wieder zeigt sich die Realität anders als geplant. Obwohl wir den sibirischen Sommer kennen, sind Temperaturen von 40 °C im Schatten absolut ungewöhnlich und geradezu brutal kraftraubend.
»Ich schalte eine Stufe höher auf Tour!«, ruft Tanja von hinten. »Alles klar«, antworte ich. Wenig später, als es leicht bergauf geht, erlaube auch ich mir die bessere Unterstützungsstufe. Die Räder surren nach oben. »Dort vorn, das könnte Iwolginsk sein!«, freue ich mich, da wir uns in diesem Ort eine Unterkunft für die Nacht suchen wollen. Um 11 Uhr halten wir völlig verschwitzt und mit knallharten Oberschenkeln vor einem Straßenrestaurant in Iwolginsk. Als ich aus dem Sattel steige, merke ich erst, wie geschafft ich bin. Wir trinken erstmal ein paar kräftige Schlucke Wasser. »Puh, bis hierher waren es nur 31 Kilometer. Ohne die Unterstützung des Elektromotors wäre das mit dieser Ladung eine echte Herausforderung geworden«, sage ich, mir den Schweiß von der Stirn wischend. »Stimmt, aber so war es gar nicht so schlimm«, meint Tanja gut gelaunt. »Richtig. Und wenn wir erstmal die anderen Unterstützungsstufen nutzen, fliegen wir übers Land«, scherze ich und blicke durch die Fensterscheiben in das Restaurant. »Sieht geschlossen aus«, sage ich etwas enttäuscht. »Ob es in diesem Ort noch eine andere Gastiniza gibt als die von diesen Halsabschneidern da drüben?«, überlegt Tanja. Ich gucke in Richtung des einstöckigen Holzhauses und erinnere mich mit unguten Gefühlen an die Nacht, die wir dort vor Jahren einmal verbracht haben. Damals wurden wir nach über 14.000 Radkilometern zum ersten und einzigen Mal bestohlen, und zwar von den Inhabern selbst. Abgesehen davon, dass die Betreiberfamilie Langfinger sind, wurde in diesem schrecklichen Haus die Nacht über kräftig gesoffen und bis morgens laut herumgegrölt und geschimpft. »Da bringen mich keine zehn Pferde mehr hin«, sagt Tanja, als sie bemerkt, wo meine Augen hängen geblieben sind. »Vielleicht haben sie sich geändert? Wenn es keine andere Übernachtungsmöglichkeit in diesem wüstenähnlichem Kaff gibt, müssen wir wohl oder übel da hin«, antworte ich. »Schade, dass es hier kaum Bäume gibt, hinter denen wir uns verstecken können, um ungestört ein Zelt aufzubauen«, überlegt Tanja.
Neben dem Restaurant befindet sich eine Autowerkstatt, aus der es kräftig heraushämmert. Tanja geht hin und spricht den Mechaniker an. »Wo kommen Sie denn her? Aus Deutschland? Fantastisch!«, sagt er in offensichtlich bester Stimmung.
»Gibt es hier einen Platz zum Übernachten?«, fragt Tanja. »Ja, ich habe eine kleine Gastiniza. Ist gerade erst im Bau, aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein Zimmer vermieten«, hören wir hoch erfreut. »Sie haben wirklich ein Zimmer?«, frage ich ungläubig. »Aber ja. Es ist nicht fertig, wenn Sie möchten, können Sie jedoch bleiben.« Wir betreten einen länglichen alten Bau. Drinnen riecht es frisch und ist im Verhältnis zu draußen relativ kühl. »Das wird einmal der Empfang«, sagt der Mann, der sich als Boris vorstellt, auf einen unfertigen Tresen deutend. »Kommen Sie nur«, meint er. Ich folge ihm durch einen Korridor, von dem einige Türen in kleine Zimmer münden. »Ist nicht groß, aber Sie haben eine eigene Dusche und Toilette«, sagt er. Ich bin überrascht. Solch relativ neue Zimmer hätte ich hier drinnen nie vermutet. »Die Betten werden noch überzogen«, verspricht Boris und deutet auf die gebrauchten Laken. »Was kostet die Nacht für zwei Personen?«, möchte ich wissen. »1.000 Rubel.« »1.000 Rubel (circa 17 Euro)? Das ist aber teuer.« »Das ist der Preis«, beharrt Boris, worauf ich eingedenk meiner Müdigkeit sofort einwillige. Schnell haben wir unsere Ausrüstung in das Zimmerchen getragen und die Räder und Anhänger in dem schmalen Gang davor untergebracht. »Und du hast nicht gehandelt?«, wundert sich Tanja. »Ich war froh, eine Alternative zur Diebesburg bekommen zu haben«, antworte ich. »Stimmt. Dann lass uns mal den kleinen Palast genießen«, sagt sie und setzt sich auf das ungemachte Bett. Es dauert nicht lang, und Boris legt neue, sogar noch verpackte Laken auf ein Bett. »Und was ist mit Bettbezügen?«, möchte Tanja wissen. »Aber das ist noch nicht richtig gebraucht«, antwortet er. »Egal, für 1.000 Rubel wollen wir gewaschenes Bettzeug auf beiden Betten«, antwortet sie. »Aber das ist noch fast frisch«, erwidert Boris. Tanja bleibt hartnäckig, worauf Boris den Kopf schüttelt und vor sich hin murmelnd davonschleicht. Eine Viertelstunde später bringt er dann original verpacktes Bettzeug. Tanja bittet Boris dann noch darum, die Toilette und die Dusche säubern zu lassen. Denn dort ist sicherlich schon seit Monaten nicht mehr geputzt worden.
Es dauert eine Stunde, bis ein Mädchen mit Putzeimer und Lappen in unser Zimmer kommt, sich aus Angst vor Ajaci in die kleine Toilette einsperrt und ganz wild zu scheuern beginnt. Es kracht, scheppert und klappert. Ab und an hören wir einen lauten Seufzer. »Lange kann sie das bei der irren Hitze in dem kleinen Raum nicht aushalten«, meine ich, als auch schon die Tür aufspringt und das völlig verschwitzte arme Ding nach Luft schnappend ins Zimmer hüpft. Dort liegt aber Ajaci, worauf sie fürchterlich erschrickt und aus dem Zimmer stürmt. Fünf Minuten später hat sie sich einigermaßen erholt und bittet uns, den Hund festzuhalten, um ihre Putzaktion in gleicher Manier fortzusetzen. Wieder schnauft, flucht und seufzt es durch die Wände. Dann öffnet sich die Tür, und die von Boris kurzfristig eingestellte Putzkraft torkelt aus dem Bad. Dieser kommt sofort, um ihre Arbeit zu prüfen. Nach ein paar Korrekturen nickt er zufrieden. Dann fällt das Wasser aus. »Kein Wasser mehr«, meint Boris mit stoischer Gelassenheit. Er verschwindet, kommt schnell wieder und sagt, er habe Wasser in einen Tank gefüllt. »Das reicht zum Händewaschen.« »Duschen ist wohl nicht mehr drin?«, frage ich. »Die von der Gemeinde haben mir das Wasser abgedreht. Die müssen irgendetwas an der Straße reparieren.« »Bei 41 Grad im Schatten und jetzt 56 Grad in der Sonne?« »Das ist Sibirien. Im Winter 40 Grad minus und im Sommer 40 Grad plus. Heute Abend gibt es sicherlich wieder Wasser. Aber ihr könnt ja inzwischen in meinem Restaurant essen«, bietet er an. Wir legen uns erstmal auf die Betten und fallen in einen tiefen Schlaf. Zwei Stunden später hat sich das Zimmer auf rund 35 °C aufgeheizt, und wir schlurfen schwitzend ins Restaurant, wo wir die einzigen Gäste sind.