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© Piper Verlag GmbH, München 2019
Illustrationen: Wolfgang Pfau und Francesco Iorio
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Vorwort
Mein Büro befindet sich in einem historischen Gebäude aus dem Jahr 1820, mitten in Baden-Baden. Hohe Decken kennzeichnen die Räume. Doch so schön hohe Decken in einem Altbau sind, sie führen dazu, dass man auf dem Weg in mein Büro, das im zweiten Stock liegt, viele Stufen überwinden muss. Nein, es gibt keinen Fahrstuhl. Treppensteigen ist angesagt.
Dieses Treppenhaus hat mir schon viele spannende Erkenntnisse verschafft: Wenn Gäste zu mir kommen, sehe ich schon von oben, wie die geplante Besprechung in etwa verlaufen wird. Da gibt es die dynamischen Kollegen, die zwei, drei Stufen auf einmal nehmen und die Treppe emporrasen – sie stürzen in mein Zimmer, wedeln mit Konzepten und Businessplänen und sind in Gedanken schon beim nächsten Meeting; das wird meist ein kurzer Termin. Dann gibt es die Bedächtigen, die eigentlich sowieso schon zu spät kommen, aber trotzdem langsam Schritt für Schritt nach oben stampfen. Sie nehmen jede Stufe genau in Augenschein und betrachten nebenher gemütlich die Bilder im Treppenhaus. Bei denen weiß ich, dieser Termin wird dauern … Und dann gibt es noch die Untrainierten, die sich zuerst etwas verloren im Eingangsbereich umsehen – hoffend, dass es vielleicht doch irgendwo einen Aufzug gibt. Enttäuscht nehmen sie schließlich die Expedition in Angriff und steigen trotzig die Treppe hinauf. Ab und zu bleiben sie keuchend stehen und werfen einen prüfenden Blick nach oben: Wie lange wird die Tortur wohl noch dauern? Jede Stufe wird für sie zu einer Herausforderung, jeder Schritt ist begleitet von einem langsam anschwellenden Schnaufen – und ich weiß, auch dieses Gespräch wird sich hinziehen. Der Partner muss seinen Puls erst mal auf Normalwert herunterfahren … Ausnahmen bestätigen die Regel.
Nachhaltig beeindruckt war ich von einem Besucher, der im Sommer 2016 in eigenartigen Verrenkungen zu mir hochhüpfte. Manchmal schien er seine Füße zu verwechseln, und mehr als einmal fürchtete ich, dass er in dem weitläufigen Treppenhaus zuerst Rhythmus und Orientierung und dann den Halt verlieren könnte. Ich gebe zu, ich konnte und wollte ein Grinsen nicht unterdrücken. Gleichzeitig wurde mir ein bisschen bang, denn ausgerechnet mit diesem Mann wollte ich ein Buch über Fitness schreiben. Na, das kann ja heiter werden, dachte ich.
Der Mann, der mich an diesem Sommertag besuchte, war der Präventiv- und Sportmediziner Prof. Gerd Schnack. Zu diesem Zeitpunkt hatte er mir schon viele seiner Erkenntnisse und Übungen vermittelt, die Vorteile der naturrichtigen gegenüber den naturfalschen Bewegungen erklärt und voller Leidenschaft die Entspannungshocke und das Faszien-Joggen vorgeturnt. Die meisten seiner Vorschläge hatte ich ausprobiert. Vieles hatte tatsächlich recht schnell funktioniert, für einige Ergebnisse brauchte ich etwas länger, bei manchen Übungen bin ich noch heute nicht ganz so erfolgreich wie erhofft. Doch das wird schon werden; die Hauptsache ist, man setzt sich in Bewegung. (Zwischenzeitlich habe ich sogar versucht, die Hebb’sche Lernregel bei der Erziehung meiner Hunde anzuwenden. Ich muss sagen: Die ersten Ergebnisse waren recht ermutigend …)
Wenn wir über »Bonusjahre« reden, dann meinen wir, mein Koautor Gerd Schnack und ich, erfüllte Lebensjahre: Es sind dazuverdiente Jahre, die man erleben kann, wenn man sich einen Bonus verdient. Wir alle wissen und haben es oft genug gehört, was wir für diesen Bonus tun müssen: Wir müssen uns ernähren, am besten vernünftig, wir müssen uns bewegen, am besten täglich, wir müssen die eine oder andere lieb gewonnene Gewohnheit einschränken oder am besten ganz aufgeben.
»Jeder will alt werden, keiner will es sein«, meinte der Schauspieler Martin Held einmal. Und er hat recht. Wie mir scheint, setzen sich Schauspieler viel intensiver mit dem Altwerden auseinander als die meisten anderen Menschen. Zum einen, weil es die Rollen oft verlangen, zum anderen, weil sie sich permanent in verschiedenen Lebenslagen abgebildet sehen. So kann es passieren, dass man in einem aktuellen Tatort den brutalen alternden Clan-Boss spielt und auf einem anderen Programm in einer 50 Jahre alten Schnulze den tollpatschigen jugendlichen Liebhaber gibt. Dieses Doppelleben verursacht sicher eine spezielle Art der Schizophrenie.
»Altwerden ist nichts für Feiglinge«, wusste aber auch Christoph Wilhelm Hufeland, der Leibarzt von Goethe, der noch weitere Berühmtheiten wie Friedrich von Schiller und Johann Gottfried Herder behandelte. Wenn Sie sich an das Zitat anderweitig erinnern, dann freue ich mich besonders, denn sehr wahrscheinlich denken Sie dabei an meinen Freund Joachim »Blacky« Fuchsberger, der sich in bewundernswerter Weise mit dem – nämlich seinem – Alter beschäftigt hat und alles andere war als ein Feigling.
Seien wir also ehrlich: Wer 50, 60 oder – wie wir – schon 70 oder gar 80 Jahre auf dem Buckel hat, ist sicher nicht frei von Malaisen. Ganz ohne Zipperlein geht es im Alter für kaum jemanden ab. Dennoch können wir etwas tun: Wir können günstige Voraussetzungen schaffen, unsere Möglichkeiten nutzen und damit unsere Chancen auf den Bonus verbessern. Zwar werden wir nicht alle Risiken ausschalten können (wenn uns ein fallender Dachziegel im falschen Moment erwischt, hilft die ganze Fitness nichts), aber glücklicherweise kommt das nicht allzu oft vor: Die Statistik beweist, dass man heute als 65-jährige Frau locker 85 Jahre alt werden kann. Und ein 65-jähriger Mann tut gut daran, noch jede Menge Geld zu sparen, um an seinem 80. Geburtstag die große Feier mit allem Drum und Dran bezahlen zu können.
Natürlich gibt es keine Garantie, niemand kann ein sorgenfreies und gesundes Alter garantieren, durch keine Maßnahme der Welt. Manche kleineren oder größeren Gebrechen aber werden Sie vielleicht loswerden, wenn Sie die Tipps von Gerd Schnack befolgen, andere werden Sie hoffentlich gar nicht erst bekommen. Das würde uns freuen, denn nicht zuletzt deswegen haben wir dieses Buch geschrieben.
Dank seines unerschöpflichen Wissens kann uns Gerd Schnack viele Vorgänge des menschlichen Körpers und deren Auswirkungen auf unsere Fitness und unser Wohlbefinden verständlich machen – und auch genau erklären, was man gegen eine Vielzahl von alltäglichen Beschwerden unternehmen kann. Gegenüber vielen Fitnesspredigern hat er einen gewaltigen Vorteil: Er ist kein Theoretiker, sondern einer, der lebt, was er lehrt – auch wenn ich zugeben muss, dass das manchmal kurios aussieht. (Unter uns: Heute hüpfe auch ich die Treppe hoch. Wenn keiner zuschaut …)
Gerd Schnack ist bereits jenseits der 80, geht aber problemlos für 60 durch. Am 5. Mai 2007 war er zum ersten Mal in meiner Sendung Menschen der Woche. Sein Thema: »Abnehmen durch Nichtstun!« Tolles Thema. Toller Gast. Anlass für die Einladung damals: Eine Studie hatte gezeigt, dass sich die Deutschen zu wenig bewegen und zu viel essen. Knapp zehn Jahre später kommt eine weitere Studie zu dem erschreckenden Ergebnis, dass sich daran überhaupt nichts geändert hat, ganz im Gegenteil: Die Deutschen bewegen sich noch weniger als früher. 80 Prozent der Befragten verrichten keine intensive körperliche Arbeit, und 32 Prozent sind in ihrer Freizeit kein bisschen aktiv (DKV-Report »Wie gesund ist Deutschland?«). Fazit der Untersuchung: Über die Hälfte der Deutschen bewegt sich nicht genug. Und das, obwohl wir dachten, alle wüssten allmählich, wie wichtig Bewegung ist. (Übrigens: Männer und Frauen sind gleichermaßen träge, das Geschlecht macht in diesem Fall keinen Unterschied.)
Doch geht es in unserem Buch nicht nur um Gesundheit und Fitness. Wir wollen nicht nur ein paar Übungen vorstellen, sondern widmen uns auch den Hintergründen. Wenn man weiß, warum eine Übung welche Wirkung entfaltet, ist man vielleicht motivierter, sinnvolle Anstrengungen zu unternehmen, als wenn man nur mechanisch einer Handlungsanweisung folgt. Wir haben also kein medizinisches Lehrbuch geschrieben, sondern geben persönliche Anregungen, die wir von der besten aller Lehrmeisterinnen, der Natur, übernommen haben. Wie es dazu kam? Vielleicht kurz ein paar Zeilen zu uns.
Ich erblickte das Licht der Welt am 19. April 1942. Dieses Erblicken war perspektiv ziemlich eingeschränkt, denn ich hatte nur ein funktionierendes Auge. Das räumliche Sehen war dadurch erst einmal beeinträchtigt, doch wenn man zweimal gegen eine offene Tür rennt, passt man beim dritten Mal eben besser auf. Meine größten Feinde in der Jugend waren allerdings die Briefkästen, die überall in halber Höhe herumhingen. Die rechts von mir habe ich fast nie gesehen, ihnen verdanke ich so manches blaue Auge. Irgendwann lernt man aber, die Entfernungen einzuschätzen, da reicht dann ein Auge aus. Was mich jedoch von einer erfolgreichen Sportlerlaufbahn abgehalten hat, war meine Mutter. Sie war Künstlerin, besaß eine Unmenge an Fantasie und malte sich bei jeder Sportart, die auch nur ganz entfernt für mich infrage gekommen wäre, die fürchterlichsten Szenarien aus. Was, wenn eine Skispitze versehentlich das Gesicht ihres Sohnes rammte, ein Fuß- oder Handball mit Wucht in sein Auge donnerte oder gar ein Medizinball explodierte? Sie befürchtete, dass ich durch den Sport das einzig funktionierende Augenlicht einbüßen könnte, das ich besaß.
Eine Sportskanone konnte ich mit einer überängstlichen Mutter also nicht werden und richtig fit auch nicht. Zum Spott der Klassenkameraden über mein Aussehen kam die Kränkung, beim Wählen der Teammitglieder nie als Erster aufgerufen zu werden. Im Gegenteil, oft wurde ich eher als eine Strafe empfunden von der Mannschaft, die mich am Schluss nehmen musste.
Genug des Jammerns. Immerhin wurde ich trotz meines eingeschränkten Gesichtsfelds noch ein ganz passabler Tischtennisspieler – was vielleicht auch daran lag, dass keiner meiner Gegner aus meinem Blick so genau ablesen konnte, wohin ich eigentlich zielte.
Dass aus mir kein Olympiasieger geworden ist, daran ist also ganz allein meine Mutter schuld. Sie ist aber auch verantwortlich für eine andere Karriere, die meinen Interessen und Neigungen letztlich besser entsprochen hat. Ich wurde Rundfunksprecher, Moderator, Journalist. Begonnen hat das damals beim SWF in Baden-Baden: Für die Hörfunkproduktion von Bambi suchte der Sender ein Kind, das hochdeutsch sprach. Meine Mutter schlug mich vor, ich machte das Reh und merkte sofort, das hier ist meine Welt. Es folgten Aufträge im Kinderfunk, daneben die Schulzeit, danach das Angebot von Radio Luxemburg und 18 Jahre lang eine spannende und ergiebige Zeit in dem kleinen, aber vitalen und internationalen Nachbarland.
Politisch war ich nie sonderlich aktiv, das lag auch daran, dass ich als Kind so oft umziehen musste: in Linz geboren, in Wien getauft, über Brünn nach Berlin gekommen, dort eingeschult, in Köln umgeschult, dann weiter nach Rastatt und Baden-Baden … Kein Wunder, dass ich bei dem ganzen Hin und Her nicht nur wenig Interesse an Politik entwickelte, sondern auch ein eher mäßiger Schüler war.
Trotzdem habe ich es später geschafft, mit Radio Luxemburg einen der angesagten Radiosender Europas zu managen und dort eine kompetente Nachrichtenredaktion aufzubauen. Einer der Gründe, warum ich mich dieser Aufgabe mit großer Hingabe widmete, war eine blutige Auseinandersetzung rund 10 000 Kilometer entfernt, der Krieg in Vietnam.
Dieser Krieg war auch für Gerd Schnack ein Ereignis, das sein Leben dramatisch veränderte. Er kämpfte gegen die Auswirkungen der grausamen Kampfhandlungen, nicht als Soldat, sondern als Arzt auf dem »weißen Schiff der Hoffnung«, wie die Vietnamesen das deutsche Hospitalschiff nannten, das von 1966 bis 1972 vor ihrer Küste lag. Deutschland wollte sich nicht militärisch an dem Krieg des Bündnispartners USA beteiligen, sondern wenn überhaupt nur humanitäre Hilfe leisten. Dazu benutzte man einen Dampfer, der die Nachfolge des Seebäderschiffs »Bunte Kuh« angetreten hatte und zwischen Cuxhaven und Helgoland hin und her schipperte: die »Helgoland«. 1966 wurde das Schiff vom Deutschen Roten Kreuz übernommen und zu einem schwimmenden Krankenhaus umgebaut. Es folgte der bis dahin größte humanitäre Einsatz Deutschlands in einem Kriegsgebiet. Zwei Jahre lang war Gerd Schnack der chirurgische Leiter an Bord. Hier, in Da Nang, einer Großstadt in Südvietnam, wurden hauptsächlich zivile Opfer des Kriegs behandelt: von Minen, Granaten und durch Napalmbomben Verwundete mit schwersten Verletzungen, oft kleine Kinder, deren Haut verbrannt und deren Gesichter zerschossen waren. 11 000 Menschen wurden auf dem schaukelnden Schiff operiert, die Ärzte arbeiteten bis zur vollkommenen Erschöpfung. Auch wenn nicht alle gerettet werden konnten, die »Helgoland« mit ihren Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern war die beste Klinik Indochinas. Die psychische Belastung der Helfer war enorm, der alltägliche Umgang mit oft grauenvoll verstümmelten Körpern ging an die Substanz. Das Bild dieses Kriegs war das kleine Mädchen Kim Phuc, das weinend nackt auf der Straße läuft. Kurz zuvor war sie von einer Napalmbombe getroffen worden. 2002 war Kim Phuc in meiner Sendung Menschen der Woche. Ich habe sie gefragt, was das für ein Gefühl war, voller Angst um sein Leben zu rennen und dabei fotografiert zu werden. Da erzählte sie, dass der Fotograf Nick Ut sie sofort nach dieser Aufnahme in ein Krankenhaus gebracht habe und sie ihm ihr Leben verdanke.
In diesem Krieg starben zwischen drei und vier Millionen Vietnamesen. 75 Prozent der Opfer waren Zivilisten. Während der täglichen Arbeit in dem engen Hospitalschiff, beim Kampf um jedes Leben, fragte sich Gerd Schnack oft: Wie konnte es sein, dass dieses kleine Land über solch einen langen Zeitraum dem übermächtigen Gegner standhielt? Die nordvietnamesischen Truppen waren den amerikanischen Streitkräften ja in allen Belangen hoffnungslos unterlegen. Was war das Erfolgsrezept der Widerstandskämpfer? Auf diese Frage werden wir später noch zurückkommen.
Nach dem Einsatz auf dem »weißen Schiff der Hoffnung« kehrte Gerd Schnack nach Deutschland zurück. Sein Weg führte ihn nach Hamburg, wo er sich verstärkt in der Handchirurgie weiterbildete. Dabei stellte er bedauernd fest, dass er als Arzt oft zu spät kam; häufig verloren die Operateure den Wettlauf mit der Krankheit und konnten, wenn überhaupt, nur unter großen Mühen heilen. Gerd Schnack erkannte die Möglichkeit, effektiver zu helfen, und zwar durch Prävention. Diese Methode entwickelte er vor allem bei einer Berufsgruppe, bei der Verspannungen und Verschleißerkrankungen an Muskeln, Sehnen und Gelenken an der Tagesordnung sind: bei den Berufsmusikern.
In Fernsehshows sind die Arbeitstage der Musiker geprägt von langen Wartezeiten, dazwischen gibt es Stellproben, Lichtproben, Soundcheck. Die meiste Zeit verbringen die Musiker in der Garderobe. Anders ergeht es den Mitgliedern der kleinen und großen Orchester, sie üben oft stundenlang. Zwei Drittel der Musiker leiden deshalb unter typischen Berufskrankheiten. Dabei geht es nicht nur um Hörschäden (obwohl: eingezwängt zwischen Pauken und Trompeten ist die Schallemission sicher nicht geringer als in unmittelbarer Nähe eines startenden Jumbo-Jets), sondern auch um extrem unnatürliche Haltungen, zu denen viele Instrumente die Musiker zwingen. Vor allem die Streicher können davon ein Lied singen, sie leiden fast immer unter Verspannungen und Gelenkschmerzen. Gerd Schnack hat schon früh erkannt, dass es in solchen Fällen nicht reicht, ein Fitnessprogramm aufzurufen, so umfangreich es auch sein mag. Um effektiv zu helfen, muss man in die Mechanik des menschlichen Körpers eindringen – oder, warum so bescheiden, muss man sich die Gesetze der Natur zu eigen machen. Dieses Vorhaben aber setzt voraus, dass wir diese Gesetze und Prinzipien überhaupt erst einmal verstehen. Und mit »wir« meine ich in dem Fall nicht die Experten und Wissenschaftler, sondern Sie und mich.
Das ist auch einer der Gründe, warum ich dieses Buch mit Gerd Schnack zusammen schreiben wollte: Ich wollte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und vor allem, wie mir dieses Wissen hilft, einigermaßen fit älter zu werden. Goethe schrieb es schon vor 200 Jahren: »Die sogenannte Gesundheit kann nur im Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte bestehen, wie das Aufheben derselben entsteht und besteht nur aus dem Vorwalten der einen über die andern.« Gesundheit ist also viel mehr als die Tatsache, dass wir uns nicht krank fühlen, keine Rückenschmerzen haben und uns über eine gut funktionierende Verdauung freuen können. Es ist ein Zustand, in dem wir unser Leben aktiv genießen und gestalten können. Und wer möchte das nicht?
Frank Elstner
KAPITEL 1
Die Vagus-Meditation
FRANK ELSTNER
Alles muss im Gleichgewicht sein. Um ins Gleichgewicht zu kommen, müssen wir die richtige Balance zwischen Anspannung und Entspannung finden. Und zur Entspannung eignet sich am besten die Meditation. Prof. Schnack ist in Vietnam erstmals mit diesem Thema in Berührung gekommen. Und das hat ihn, wie er mir erzählte, nie mehr losgelassen. Warum?
PROF. GERD SCHNACK
Weil die Meditation sicher einen großen Anteil daran hatte, dass diese von Krieg, Gewalt und Hunger bedrängten Menschen selbst noch unter den schlimmsten Umständen unglaublich gelassen bleiben konnten. Unvergessen ist für mich die hohe Schmerztoleranz, die ich selbst bei Kindern beobachten konnte. Noch heute sehe ich zwei Jungen ruhig und entspannt in der Aufnahme sitzen. Die Röntgenaufnahmen zeigten zahlreiche Splitterverletzungen im ganzen Bauchraum verteilt – sie müssen unglaubliche Schmerzen gehabt haben. Sie haben es ertragen, ohne mit der Wimper zu zucken … Oder ich sehe die junge Frau mit zahlreichen Oberschenkel- und Unterschenkelbrüchen, die so stark unter Schock stand, dass sie von den Schwestern kaum gehalten werden konnte – aber gar nicht wusste, was mit ihr los war. Wegen der vielen Frakturen und eben dieses Schockzustands hatten wir sie nicht sofort operiert, sondern wollten erst einmal die Arme und Beine in einer speziellen Extensionsbehandlung ruhigstellen – da werden schwere Gewichte eingesetzt, um die betroffenen Partien zu stabilisieren. Kurz darauf wurde ich dringend in die Intensivabteilung gerufen, und plötzlich kam mir die Frau am Boden kriechend und alle Gewichte hinter sich herziehend entgegen. Ich habe dann drei große Extremitätenbrüche gleichzeitig operiert. Aber auch nach der Operation stand die Frau noch unter Schock, sie riss sich die Verbände von den Wunden, prompt kam es an einem Bein zu einer schlimmen Infektion – ich musste das Bein später amputieren.
Nicht gerade eine Erfolgsgeschichte …
Doch, denn nachdem dieser Schockzustand behoben war, war die Frau die Gelassenheit selbst. Alle Wunden verheilten komplett, ohne Komplikationen, sie konnte dann bald das Bett verlassen und war eine unsere nettesten und freundlichsten Patientinnen, all unsere Schwestern hatten sie ins Herz geschlossen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass man auf der »Helgoland« großen physischen und noch extremeren psychischen Belastungen ausgesetzt war. Es herrschte Krieg, man konnte jeden Augenblick selbst getroffen werden, dann die langen Schlangen von halb toten Kriegsverletzten, viele schwerstverwundete Kinder, das alles auf einem engen Schiff, das ja auch sicher mehr oder weniger heftig gewackelt hat. Wie war denn die »Helgoland« ausgerüstet?
Die war sehr gut ausgestattet. Wir arbeiteten auch eng mit den amerikanischen Hospitalschiffen »Repose« und »Sanctuary« zusammen, mit deren plastischen Chirurgen, mit den Neurochirurgen etc., denn diese Schiffe der Navy waren alle mit ausgewiesenen Spezialisten bestückt und hochmodern ausgerüstet.
Die Kriegsverletzten in der Ukraine, in Syrien, in Afghanistan oder in anderen Kriegsgebieten wären sicher froh, wenn sie so ein Hospital hätten. Dort müssen ja teilweise unmenschliche Bedingungen herrschen.
Vor allem, wenn 30 Schwerverletzte akut eingeliefert werden, wie ich das mehrmals auf der »Helgoland« erlebt habe. Wir haben wirklich Tag und Nacht operiert, standen pausenlos im Einsatz. Und ganz ehrlich, das ging natürlich nicht spurlos an mir vorüber. Nach einem Jahr konnte ich das frische Blut der Verletzten nicht mehr riechen, ich musste ausgetauscht werden. Ich habe dann eine Zeit lang als Unfallchirurg im Hafenkrankenhaus Hamburg gearbeitet. Das Schicksal der vom Krieg verfolgten Menschen in Südostasien hat mich aber niemals wirklich losgelassen, und deswegen bin ich später noch einmal für ein Jahr nach Vietnam zurückgekehrt. Insgesamt war ich circa zwei Jahre der leitende Chirurg auf der »Helgoland«.
Unter dem Eindruck all der erschütternden Ereignisse in Vietnam nahm ich dann an einer Fernsehsendung über Meditation im Bayrischen Rundfunk Anfang der 70er-Jahre teil, in der ich eine Diskussion mit dem Sinologen Prof. Paul Ulrich Unschuld führen konnte. Das Thema Meditation hat mich seither nicht mehr losgelassen, ich habe alles gesammelt und gelesen, was ich zu diesem Thema finden konnte. Und manches hat mich zu neuen Erkenntnissen gebracht – zum Beispiel der Artikel in der Medical Tribune über einen Notfall in den Rocky Mountains. Da ist Folgendes passiert:
Ein amerikanischer Arzt findet im Hochgebirge einen Bergsteiger, am Boden liegend. Sein Herz rast mit 200 Schlägen pro Minute, er hat starke Brustschmerzen, eine »paroxysmale Tachykardie« – also Herzrasen. Der medizinische Kollege hat nichts zur Behandlung zur Hand, erinnert sich aber an den Okulo-Ciliar-Reflex. Dieser tritt auf, wenn man auf den Augapfel drückt oder an den Augenmuskeln zieht. Die Reaktion darauf, wie bei jedem Reflex, kann man nicht willentlich steuern. Was passiert: Die Herzschlagfrequenz fällt deutlich ab, der Blutdruck sinkt. Also testet der Arzt diesen Reflex bei dem Bergsteiger und macht einige Minuten lang eine leichte Augenpressur. Und tatsächlich – nach kurzer Zeit halbiert sich der Herzschlag des Bergsteigers auf 100 Schläge pro Minute, die Herzschmerzen bilden sich zurück, und der Mann kann ohne fremde Hilfe ins Tal absteigen.
Diese Geschichte erzählte ich später einer Anästhesistin in Berlin. Sie antwortete, dass ihr diese Situation bekannt sei, denn wenn Augenärzte am Auge operierten und ständig mit den Händen auf die Augen drückten, müsse sie immer extrem aufpassen und bei der Operation eventuell den abgefallenen Blutdruck wieder durch eine stärkere Infusion in die Höhe treiben.
Und welche Folgerung haben Sie aus dieser Geschichte gezogen?
Ich habe mir gedacht, dass dieser Reflex, der bei einer Augenoperation eigentlich eine unerwünschte Komplikation darstellt, etwas ist, was wir im Stressalltag dringend benötigen, nämlich eine ganz einfache Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. Die Augenpressur sendet, vereinfacht gesagt, eine Botschaft an das vegetative Nervensystem, das daraufhin den Herzschlag verlangsamt und die Herzschmerzen abklingen lässt. Das vegetative Nervensystem steuert ganz viele lebenswichtige Körperfunktionen – die Herzfrequenz, den Blutdruck, die Verdauung, den Stoffwechsel, ja sogar das Immunsystem, außerdem checkt es, ob die Organe richtig funktionieren; Funktionen also, die man eigentlich mit dem Willen nicht beeinflussen kann. Deswegen heißt das Nervensystem »autonom«, was so viel bedeutet wie »nicht dem Willen unterliegend«, also »unwillkürlich«.
Wie muss man sich das denn konkret vorstellen?
Nehmen wir ein Beispiel: Sie wachen morgens auf und wollen aus dem Bett aufstehen. In dieser Mobilisierungsphase ist natürlich auch das Nervensystem gefordert, einmal das willkürliche durch die Einleitung des Handlungsimpulses aus dem Stirnhirn heraus, zum anderen aber auch unter Einbeziehung des vegetativen Nervensystems mit dem Sympathikus als Leistungsnerv, der die wichtigen Organfunktionen in Gang setzt, die Steigerung der notwendigen Herzfrequenz, den Blutdruckanstieg, die Intensivierung der Atmung, eine allgemeine Muskelanspannung eingeschlossen. Im gleichen Zug werden aber die Funktionen abgeschaltet, die für die anstehende Leistungssteigerung nicht benötigt werden, die gesamte Magen-Darm-Passage, die Arbeit der Leber, der Bauchspeicheldrüse, der Nieren und des gesamten Urogenitaltrakts.
Diese Impulse werden unter anderem über zwei Nervenstränge geleitet – der eine heißt Sympathikus und der andere Parasympathikus. So, und nun wäre es ja eine tolle Sache, wenn wir die Botschaften, die von diesen beiden Nervensträngen in unserem Körper hin und her »gemailt« werden, irgendwie beeinflussen könnten.
Deswegen nehmen wir einmal den Parasympathikus unter die Lupe. Der nämlich regelt eher die gemütlichen Körperfunktionen, während der Sympathikus gern etwas Panik verbreitet, das Herz rasen lässt, eher dafür zuständig ist, dass der Mensch vor etwas flieht und nicht so viel nachdenkt.
Der wichtigste Nerv im Parasympathikus heißt »Vagus«; er ist der 10. Hirnnerv und auch der größte. 75 Prozent des Parasympathikus werden von diesem Vagus kontrolliert und beeinflusst, der vom Hirnstamm zwischen Rückenmark und Gehirn entspringt und sich quasi im ganzen Körper »umhertreibt«, wovon er auch seinen Namen hat, denn lateinisch vagus bedeutet »umherschweifend«.
Wir wollen ja in diesem Buch dafür sorgen, dass unsere Leser ein paar gesunde »Bonusjahre« erleben. Inwieweit hilft dabei dieses Wissen vom Sympathikus und dem Parasympathikus?
Gut für unsere Bonusjahre ist es, wenn der Sympathikus und der Parasympathikus gleichermaßen beschäftigt sind – also eine Art Gleichberechtigung herrscht. Aber unsere Art zu leben, die Schnelligkeit, diese rasante Dominanz der Technik, die einseitigen Bewegungen – all diese Dinge betonen und fordern nur das sympathische Nervensystem, das uns antreibt und in Aufregung versetzt. Gleichzeitig ist der Parasympathikus stark unterbeschäftigt. Und wenn ich Ihnen jetzt sage, dass der Parasympathikus auch »Ruhenerv« genannt wird, dann werden Sie selbst die Frage beantworten können, ob ein extrem stiefmütterlich behandelter Erholungsnerv seinen Aufgaben gerecht wird …
… eher nicht?!
Richtig. Aus Sicht der Physiologie sind die stressbedingten Erkrankungen, an denen so viele leiden, eine Folge dieser vorherrschenden Dysbalance zwischen Sympathikus und Parasympathikus.
Welche Aufgaben übernehmen denn die beiden? Wer macht was?
Also:
•Herz: Der Sympathikus sorgt beim Herzen für erhöhtes Herzminutenvolumen, positive Schlagfolge, Kontraktionssteigerung, erhöhte Erregbarkeit. Der Parasympathikus vermindert das Herzminutenvolumen, sorgt für eine negative Schlagfolge, Kontraktionsminderung und vermindert die Erregbarkeit.
•Atmung: Der Sympathikus sorgt für erweiterte Bronchien, der Parasympathikus für verengte Bronchien.
•Gesamtstoffwechsel: Der Sympathikus ist für einen Anstieg des Gesamtstoffwechsels verantwortlich, der Parasympathikus für einen Abfall.
•Magen-Darm-Passage: Der Sympathikus sorgt für ihre Hemmung, der Parasympathikus für die Förderung.
•Bauchspeicheldrüse: Der Sympathikus hemmt die äußere Sekretion, also die Abgabe wichtiger Substanzen, der Parasympathikus fördert sie.
•Schweißdrüsen: Der Sympathikus sorgt für kalten, klebrigen Schweiß, der Parasympathikus für warmen, dünnflüssigen.
•Auge: Der Sympathikus verursacht Pupillenerweiterung, der Parasympathikus Pupillenverengung.
•Harnblase: Der Sympathikus sorgt für Urinverhaltung, Anspannung des Schließmuskels, der Parasympathikus für Urinentleerung, Entspannung des Schließmuskels.
Gesundheit kann es nur geben im Gleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus.
Ich sehe schon, alles, was Stress macht, hat der Sympathikus unter seiner Fuchtel.
Genau. Die Arbeitsweise zwischen Sympathikus und Parasympathikus ist dabei völlig unterschiedlich. Die Aktivitäten des Sympathikus treffen uns in der Regel wie ein Blitz aus heiterem Himmel, der Parasympathikus arbeitet da eher unauffällig und ruhig im Hintergrund.
Nun wäre es ja ab und zu durchaus sinnvoll, wenn wir den Parasympathikus so stimulieren könnten, dass er dafür sorgt, dass wir zur Ruhe kommen und entspannter werden. Vor allem, wenn der Sympathikus quasi hyperaktiv ist und den ganzen Körper durch den Stress und die Hektik, die der Mensch hat, in Aufregung versetzt.
Und wie können wir das schaffen? Durch den »Herumtreiber«, diesen »Vagus«?
Genau – über den können wir quasi Botschaften verschicken. Die westliche Medizin geht oft davon aus, dass das vegetative Nervensystem autonom ist, das heißt, werkeln kann, wie es will, und nicht bewusst zu regulieren ist. Aber so total selbstständig ist diese Nervenzentrale gar nicht, denn es gibt mehrere Zugangskanäle, durch die sie beeinflusst werden kann. Das Kerngebiet des Vagus, der 10. Hirnnerv, liegt im Hirnstamm, der Verlängerung zwischen Rückenmark und Gehirn, genauer gesagt, im verlängerten Mark, der Medulla oblongata. Diese Hirnnerven besitzen einen Sonderstatus, denn sie sind praktisch nach außen verlagertes Hirngewebe und steuern wichtige Sinnesleistungen. Es gibt zwölf Hirnnervenpaare, wobei für uns aber nur der 3. – das ist der motorische Augennerv –, der 7. – der obere mimische Gesichtsnerv – und der 9. – der Zungen-Kehlkopf-Nerv – von Bedeutung sind. Diese drei Nerven stehen in enger Verbindung zum 10. Hirnnerv …
… unserem Vagus!
Ganz genau. Einfach gesagt: Die drei Hirnnerven, also der 3., 7. und 9., kommunizieren im Hirnstamm eng mit dem Vagus, sie tauschen ihre Botschaften miteinander aus, und der Vagus ist es dann, der diese Signale an Herz, Lunge und an den Magen-Darm-Trakt weiterleitet.
Stimulation des Vagus in Sekunden über die Hirnnerven 3, 7 und 9.
Diese Signale laufen aber nicht nur einseitig von der Zentrale in Richtung Peripherie, also körperwärts, sondern von dort auch gleichzeitig wieder zurück zur Zentrale – sie entsprechen daher eher einem Dialog als einer einseitigen Ansprache. Auf diesem Weg kommen also auch Botschaften zum Beispiel aus dem Herzen oder aus dem Bauchraum über den Vagus wieder zurück an das Gehirn. Dabei transportiert er auch die Gefühle und Empfindungen, die bei uns zu den viel zitierten Bauchentscheidungen führen, und bestimmt so unsere Gefühlsentscheidungen ausschlaggebend mit. Dieses »Bauchgehirn« kann durchaus mit unserer kognitiven Zentrale, also dem Gehirn und Verstand, mithalten. Berechtigterweise bewertet mittlerweile die Psychologie die »emotionale Intelligenz« wesentlich höher als die »kognitive«, die »erlernte«. Das Verhältnis liegt bei 70 zu 30 Prozent!
Also ist dieser Vagus für mein mulmiges Gefühl im Magen zuständig, ist schuld, wenn ich Lampenfieber habe oder aufgeregt bin?