Michael Ende
Mitternachtslieder und leise Balladen
Das Lied hat seine eigene Geschichte, ist geprägt von der Zeit und von den Ländern, in denen es entstanden ist, und ist dennoch zeitlos, unvergänglich, immer gültig. Es wurzelt in den Wirklichkeiten der Menschen, von alters her, es drückt aus, was Menschen leben, lieben, leiden, ihre Sehnsüchte und Träume, ihre großen und kleinen Hoffnungen und Wünsche, Sorgen und Kümmernisse, es singt und sagt von Empörung und Schmerz, Widerstand und Ergebung: von Liebe, von Leben und Tod.
In Deutschland ist das Lied seit der Romantik in die Salons abgewandert und Bestandteil einer bürgerlichen Kultur geworden. Es fehlt ihm heute sein wesentlichstes Merkmal: Dass es lebendig unter uns ist.
Das Lied gehört in unseren Alltag, wie es in unseren Nachbarländern der Fall ist, da gibt es das chanson in Frankreich, den canto in Spanien, den song in England und Irland und die canzone in Italien, wo die Liedermacher cantautori heißen. Seit alters her werden dort die Lieder auch von den Dichtern geschrieben. Und ist, was hier entsteht, nicht oft interessanter und lebendiger als das, was in so manchen esoterischen Lyrikbändchen enthalten ist?
Liedertexte sind keine Gedichte. Sie halten einen Freiraum offen für die Musik, sie provozieren Musik geradezu. Das Lied singt und sagt – in dieser Reihenfolge –, das meint, es rankt sich beim Lied das Wort um die Melodie. Ein Gedicht zu vertonen, ist schwierig, weil es bereits eine Wortmelodie enthält, so erübrigt sich oft die Vertonung. Liedertexte dagegen erzählen manchmal eine Geschichte, leben aber hauptsächlich von Stimmungen und Bildern, die absichtlich vieles offen und unausgesprochen lassen, das man erraten muss. Es bleibt ein merkwürdiges Geheimnis, etwas Träumendes, Schwebendes, das die Musik gleichsam hervorruft.
In diesem Band werden fünfzig Liedertexte Michael Endes vorgestellt – Texte, die lustig, seltsam, bitter und versöhnlich sind.
Voraus ging der melodische Einfall, danach entstand der Text. Endes Lieder haben alle ihre Melodie, die sie trägt, nur soll sie nicht verbindlich sein, vielmehr soll jeder, der kann und mag, eine eigene Melodie erfinden.
Ende hat unterschiedliche Liedarten zusammengestellt: die Ballade, das Chanson, das Lied mit Volksliedcharakter, den Choral, das Couplet, das Spielchanson; und es steht die traditionelle Liedform neben der ganz freien. Die entscheidende Rolle spielt hier der Rhythmus – vom 3/4- bis zum 7/8-Takt, von der Samba über den Tango bis zur Polka. Liest man die Texte rhythmisch, versteht man ihre Form und kann die Melodie vernehmen.
Michael Ende hat seine Lieder im Laufe einiger Jahre geschrieben, für verschiedene Auftraggeber, hauptsächlich Komponisten, zu ganz unterschiedlichen Anlässen. Sicher wäre es wünschenswert, könnte die Veröffentlichung der vorliegenden Sammlung dazu beitragen, unsere Liedkultur zu beleben. Vielleicht haben wir uns diese Lieder eines Tages so zu eigen gemacht, dass sie Allgemeingut geworden sind. Dann wäre das Lied lebendig unter uns wie ehedem.
Vor Fortunas Zauberbude
steht ein magerer Kumpan.
Halb ein Magier, halb ein Lude,
preist er seine Wunder an.
Schief der Hut des Herzbezwingers.
Rostig klingt sein Redeschwall.
Auf der Spitze seines Fingers
kreiselt unser Erdenball.
Ihr Damen und Herren, hier könnt ihr mal sehen,
wie Dinge verschwinden und wieder entstehen.
Dort drin ist schon alles parat.
Das Kinderspiel von der Liebe und Treue,
das Sünderspiel von der Schuld und der Reue – und alles im Taschenformat!
Ernst und heiter sind die Spiele,
bitter oder zärtlich auch.
Für besondere Kunden viele,
andre für den Hausgebrauch.
Schattenspiele sind darunter,
dunkel wie die Nacht der Welt,
andre sind vergnügt und munter,
alles das für wenig Geld.
Der König, die Dame, der Bube, der Weise,
die Liebespaare, die Narren und Greise,
der Teufel und auch der Soldat:
Gemischt ist das Spiel nach Fortunas Launen.
Ein Abrakadabra – wer will, der mag staunen!
Und alles im Taschenformat.
Fragt sich auch der Kompetente:
Ist der Zauber nicht Beschiss?
Schreit nicht gleich nach der Polente!
Nichts im Leben ist gewiss.
Darum kann es auch geschehen
und der Fall liegt umgekehrt:
Mancher kauft aus Versehen
schon ein echtes Stück von Wert.
Und zieh ich euch wirklich ein Ei aus den Nasen
und aus dem Zylinder lebendige Hasen,
dann glaubt eben, dass ich es tat!
Uns bleibe der Spielverderber gestohlen!
Ihn soll gleich ein Teufel mit Doktorhut holen –
natürlich im Taschenformat.
Kluge Herrn und schöne Damen,
steinarm oder bettelreich,
kommt in unsre Taschendramen!
Unser Spiel beginnt sogleich.
Eure Tränen, euer Lachen
sind des Gauklers höchstes Ziel.
Ohne euch – was soll er machen?
Tretet ein ins Taschenspiel!
Und sind denn die Spiele der Träume hienieden
so sehr von den Wirklichkeitsspielen verschieden
ums Geld und die Macht und den Staat?
Ihr glaubt nur zu spielen mit Tricks und mit Touren
und dient in dem größeren Spiel als Figuren –
und alle im Taschenformat.
So der magre Kerl dort oben,
der vor jener Bude steht.
Doch man muss den Bürger loben,
der geschwind vorübergeht.
Hört nur nicht auf seine Reden,
lasst euch lieber nicht drauf ein!
Denn zum Partner macht er jeden
seiner Taschenspielerein.
Die Mysterienspiele vom besseren Leben,
die Mysterienspiele vom Fortschrittsstreben,
ihr glaubt dann daran nicht mehr.
Dann zeigt sich Fortuna euch nackt, ohne Hüllen,
dann spielt ihr das Spiel um des Spieles willen
als Taschenspieler wie er.
Es war ein Mädchen aus Papier,
ganz weiß und zum Verlieben.
Es hatte keiner noch auf ihr
das kleinste Wort geschrieben.
Das gibt es, glaubt es mir!
Sie war nur aus Papier.
Das gibt es, glaubt es mir!
Da kam ein Junge aus Papier,
ein brauner, weit gereister,
ganz voll Adressen dort und hier,
gestempelt und voll Kleister.
Verzeiht ihm das Geschmier,
er war aus Packpapier.
Verzeiht ihm das Geschmier!
Auch Liebespaare aus Papier,
die können wahrhaft lieben.
Sie hat auf ihm, er hat auf ihr
mit eigner Hand geschrieben:
»Mein Herz gehört nur dir,
bin ich auch aus Papier.
Mein Herz gehört nur dir!«
Doch eines Tags das Unheil naht,
sie litten unaussprechlich:
Ihn rief ein ferner Adressat
und auf ihm stand »Zerbrechlich!«
»Ich kehr zurück zu dir,
mein Mädchen aus Papier!
Ich kehr zurück zu dir!«
Nun wartete sie jahrelang
und wurde langsam gelber.
Und war ihr einmal gar zu bang,
dann las sie auf sich selber:
»Mein Herz gehört nur dir,
bin ich auch aus Papier!
Mein Herz gehört nur dir!«
Ein Greis aus einem Zeitungsblatt,
zerknittert und voll Lügen,
der schrecklich viel Papiergeld hatt’,
der wollt sie zum Vergnügen.
Sie widerstand der Gier
und war nur aus Papier.
Sie widerstand der Gier!
Das nahm der Alte ihr sehr krumm,
und voller böser Tücke
mit einer Scher’ bracht er sie um
und schnitt sie in zwei Stücke.
Worüber lächelt ihr?
Ihr seid nicht aus Papier,
worüber lächelt ihr?
Und als der Liebste aus Papier
zurückkam wie versprochen,
da fand er sie und stand vor ihr
und hat kein Wort gesprochen,
weint keine Träne ihr.
Er war nur aus Papier,
weint keine Träne ihr.
So stand er, bis es dunkel war.
Sein Herz fing an zu brennen.
Und er verbrannte ganz und gar
und war nicht mehr zu kennen.
Dies schwarze Flöckchen hier
war Liebe und Papier.
Dies schwarze Flöckchen hier!
Es war ein Tänzer auf dem Seil
mit Namen Felix Fliegenbeil,
der größte aller Zeiten,
das kann man nicht bestreiten.
Ihm lag nicht viel an Gut und Geld,
nichts an der Menge Gunst,
ihm ging’s nicht um den Ruhm der Welt,
ihm ging es um die Kunst.
Schon in der Seiltanzschule war
er bald der Beste in der Schar,
und als ein Jahr vorüber,
–